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3. Mephistopheles.

Nobody wartete nicht untätig. Einmal hatte er als Landwirt wie als Stellvertreter der Regierung zu tun, dann wollte er denn doch nicht so geduldig auf die Vorsehung hoffen, bis sie ihm den Schlüssel zur Lösung in seine Stube bringen würde. Was unterdessen getan werden konnte, wurde getan.

Die Recherchen nach jenem Monsieur Viktor Sinclaire hatten noch immer absolut keinen Erfolg gebracht. So mußte jetzt versucht werden, ob irgend ein Mensch jenes junge Mädchen vermisse, das Nobody als Leiche photographiert hatte.

Zuerst ließ Nobody das Kopfbild, welches er für das gelungenste hielt, im ›Punch‹ einrücken, dem weitestverbreiteten Witzblatt der englischen Zunge, unseren ›Fliegenden Blättern‹ entsprechend, auch nach der fernsten Hinterwäldlerhütte Amerikas wie unter die Goldgräber Australiens dringend.

Als Text nur die Worte darunter: ›Komme zurück, alles ist verziehen!‹ – Und dann als Adresse, an welche sich die Verschwundene zu wenden hätte, eine Chiffre, hauptpostlagernd London.

Das Einfachste ist manchmal oder sogar gewöhnlich das Beste. Wer das Mädchen gekannt hatte und von dessen Verschwinden oder Entführung wußte und diese Photographie sah, der würde sich auch ganz sicher mit einer Anfrage an diese Adresse wenden, in der Annahme, daß man endlich auf die Spur des Entführers gekommen sei. Würde sich aber gar der wirkliche Entführer melden, so lief er erst recht in eine Falle. Nobody holte die etwa eingehenden Briefe natürlich nicht selbst ab, sie wurden ihm nicht zugeschickt, er war doch der Champion-Detektiv der Königin, der erste Kriminalbeamte in England, dem auch der Polizeidirektor von London unterstand, nur der erste Postmeister des betreffenden Amtes wurde eingeweiht, soweit es dienlich war, und so brauchen wohl keine weiteren Erklärungen gegeben werden, wie geschickt alle Arrangements getroffen waren.

Dies war ja auch nur der erste Anfang, ein Probeversuch mit einer englischen Zeitung, das konnte später erweitert und noch ganz anders gemacht werden.

Es war in der dritten Nachmittagsstunde des neunten Tages. Nobody befand sich in seinem Arbeitszimmer.

Dasselbe zeigte nichts von dem Luxus, der sonst in diesem Hause herrschte. An der dunkeltapezierten Wand einige Landschaftsbilder, das Sofa und zwei Lehnstühle nur mit Leder überzogen, nicht einmal eine Statue aus der Hand seiner Gattin, an der sich das Auge des von seiner Arbeit aufblickenden Mannes hätte erfreuen können.

Auf diesen Lederpolstern hatte schon mancher Verbrecher und ihm aus dem Zuchthaus zugeführter Sträfling gesessen, hier hatte es in der kurzen Zeit, während welcher Nobody Englands erster Kriminalbeamter war, der sich in jeden Handel mischen durfte, schon zwei Verzweiflungskämpfe gegeben, damals hatte an der Wand noch ein Thermometer aus Bronze gehangen, es hatte einem herkulischen Menschen zur Waffe gedient, bis der schmächtige Nobody ihn niedergeschmettert hatte, und an solch einem Orte durften natürlich keine Nippsachen herumstehen, bei solchen Szenen konnte auch eine Marmorstatue in die Brüche gehen, da war schon eher der dicke Teppich angebracht, in dem der Fuß bis zum Knöchel versank. Er bedeckte den Boden vollkommen, bis zum letzten Winkel, und war mit etwa metergroßen Karrees gemustert. (Der geneigte Leser darf wohl glauben, daß es einen besonderen Zweck hat, wenn dieser Teppich so ausführlich beschrieben wird.)

Keine Bücherschränke, keine Akten. Das Hauptmöbel war der am Fenster stehende Schreibtisch, ein mächtiges Ding, mit einer Rolljalousie verschließbar, das hohe Hinterteil wie die massiven Seitenwände mit zahllosen Schubfächern bedeckt, ein kleines Bureau für sich, in dem der Schreiber ganz verschwand. Aber auf der Platte nur das notwendige Schreibgerät, nichts weiter; keine Klingel, keine elektrischen Drähte und Knöpfe, kein Telephon, keine Waffe, keine geheimnisvollen Figuren und dergleichen, was man vielleicht auf dem Schreibtisch eines Detektivs erwartet hätte, und dennoch liefen hier an diesem Schreibtisch alle Fäden seines die ganze Welt umspannenden Netzes zusammen, von hier aus, ohne aufstehen zu müssen, ließ er den ganzen gewaltigen Apparat funktionieren.

Nobody hatte einen Brief beendet, kuvertierte ihn, adressierte ihn an einen Herrn nach Buenos Aires in Argentinien. Er öffnete in der hinteren Wand des Schreibtisches ein Türchen, ein kleines, leeres Fach zeigte sich, in dieses legte er den Brief, machte das Türchen wieder zu und griff zu einem anderen Briefbogen. Als auch dieser beschrieben, kuvertiert und adressiert war, diesmal aber nur nach London, legte er den Brief in dasselbe Fach, da aber zeigte sich, daß der erste Brief bereits verschwunden war, jedenfalls schon unterwegs nach Argentinien.

Im Schreibtisch ertönte ein Glockenzeichen, Nobody öffnete ein anderes Fach, eine beschriebene Karte lag darin, sie wurde gelesen, auf die Rückseite eine Antwort gesetzt, sie wanderte zurück in dasselbe Fach.

Jedenfalls wurde die Expedition pneumatisch besorgt. Denn von hinten konnten die Sachen nicht herausgenommen werden, der Schreibtisch stand voll der Wand abgerückt.

»Wann soll Mr. Pearson wiederkommen?« fragte da eine Stimme; aber woher, das hätte kein Mensch sagen können.

»Morgen früh um acht,« entgegnete Nobody, ohne von seinem Schreiben aufzublicken.

Wieder ein leises Klingelzeichen; aber es mußte ein anderes gewesen sein als zuvor, Nobody öffnete ein anderes, ein größeres Fach. Eine Zeitung lag darin, eine Nummer des ›Punch‹, das Belegexemplar, welches sein Inserat enthielt. Unter das Publikum kam das Witzblatt erst heute abend.

Als Nobody den Abdruck des Kupferklischees, das er selbst gefertigt, betrachtete, das ganze Inserat auf seine Wirksamkeit prüfte, rollte unten ein Wagen vor. Nobody stand auf und trat ans Fenster, sah vor dem Portal eine Equipage halten, aus der soeben eine pelzgekleidete Dame stieg.

»Lady Osborne, sie besucht meine Frau.«

Mit diesen Worten setzte er sich wieder. Er hatte sich durch das Aufstehen nur einmal Bewegung machen wollen. Er hatte die Dame gar nicht weiter gesehen, nur eine Pelzboa, kannte auch die Equipage nicht, aber es konnte doch niemand anders sein, als der von seiner Frau für heute nachmittag erwartete Besuch, und sollte es doch jemand anders sein, so mußte ihm dies sofort sein geheimnisvoller Schreibtisch mitteilen.

Aber diesmal ließ ihn der, Nobodys eigene Erfindung, doch im Stich. Zum ersten Male sollte er in diesem Zimmer überrumpelt werden, auch trotz der strenggeschulten Dienerschaft.

Auf dem Korridor näherte sich dem Zimmer ein Stimmengewirr, eine durchdringende Frauenstimme behielt die Oberhand.

»Was?! Ich?! Ich?! Ich hätte keinen Zutritt?! Wißt ihr Escupideras denn überhaupt, wer ich bin?! Hier in diesem Zimmer befindet er sich, ich habe ihn am Fenster stehen sehen ...«

Da wurde schon die Tür aufgerissen und ... Die ganze nachfolgende Szene läßt sich schwer schildern, es ließe sich nur dramatisch wiedergeben.

Die langen Enden einer kostbaren Boa schwirrten durch das Zimmer, darüber ein kolossaler Hut, bei dem es einem Künstler gelungen war, mit Pelz und Straußenfedern den Nordpol mit dem äquatorialen Afrika harmonisch zu verbinden, darunter ein pelzverbrämtes Jackett, so phantastisch, daß ihm in Deutschland alle Kinder nachgelaufen wären – und dann wurde die Boa um Nobodys Ohren gehauen, d. h. nicht mit Absicht, sondern die Boa war wirbelnd auf das Sofa geschleudert worden, ihr nach folgten Pelzhut und Pelzjackett ... und das andere läßt sich noch weniger schriftlich wiedergeben.

Nobody konnte sich so ungefähr denken, wen er vor sich hatte, noch ehe er die Person richtig gesehen, und sein erstes war, daß er einen Griff unter die Schreibtischplatte machte, worauf sich die offengelassene Tür sofort von allein schloß, und hierdurch waren auch die Diener benachrichtigt, daß der Besuch trotz seines eigenmächtigen Eindringens angenehm war.

»Ooohhh, ooooooohhhh!!! Uuuuiiihhh! Rache! Racheee!!! Wenn Sie der Champion-Detektiv der Königin dieses Landes sind, so fordere ich von Ihnen Racheee für die mir angetane Schmaaach! Oooohh!«

Ritsch! Die diamantgepanzerten Finger hatten nach dem weißen Halse gegriffen, an dem es wie Tauperlen glänzte – Absicht oder Versehen! – wie ein Regen von Tauperlen strömte es durch das Zimmer und verschwand spurlos in dem dicken Teppich – ihr erstes war, daß sie die Perlenkette vom Halse gerissen hatte, eine Perlenkette, wie sie herrlicher nicht die Königin von Italien besitzt, welche in Perlenschmuck unerreichbar ist.

»Wissen Sie, wer ich bin?«

»Nee,« sagte Nobody so trocken, wie er auf seinem amerikanischen Drehstuhl saß.

Und nun in tiefem Tonfalle:

»La belle Hermoso!«

Schrum!! Ein Gewoge von zahllosen Fältchen und Spitzen flog herum, und dann stand sie da, das erst so weite Kleid plötzlich ganz eng an den schlanken Leib geschmiegt, den Oberkörper, den Kopf zurückgeworfen, die Arme in die Hüften gestemmt – stand so da, wie ihr Konterfei seit einigen Tagen an allen Straßenecken Londons prangte – La belle Hermoso, die spanische Tänzerin aus der Alhambra, die schon in allen Hauptstädten der Welt Triumphe gefeiert, Unheil angerichtet und junge und alte Goldgimpel gerupft hatte.

Nobody hatte schon schönere Weiber gesehen; aber schön war sie doch. Und nun dieses Leben, dieses Feuer, welches in diesem spanischen Weibe steckte! Das genügte nicht, nur aus den schwarzen Augen zu blitzen, dieses Feuer mußte sich jeden Augenblick in irgendeiner Weise Luft machen, sonst platzte der Vulkan.

»Ooooohhhh!!«

Nun eine Pirouette, daß alles flog und flatterte, daß das aus lauter Fälbchen und Fältchen und Spitzen bestehende Kleid das ganze Zimmer ausfüllte, dabei ein Schnalzen mit den Fingern, daß es wie Kleinfeuer knatterte – und bums, da lag sie vor dem Sofa, ein furchtbares Schluchzen erschütterte ihren ganzen Körper.

Und Nobody war ganz eingeschüchtert. Es gibt eben Personen, gegen deren Auftreten auch der energischste und selbst rücksichtsloseste Mann vollständig ohnmächtig ist.

»Aber ich bitte, gnädige Madam ...« begann er schüchtern.

Da schoß das Weib schon wieder wie eine Furie auf ihn los, daß Nobody gleich mit seinem ganzen Stuhl drei Schritte zurückprallte.

Von Tränen keine Spur, und – Herrgott! – wie diese Augen funkeln konnten!

»Bitten? Was haben Sie zu bitten?! Ooooohhh, dieser Spucknapf! Dieser Schpppucknapf!! Mein Herr, verschaffen Sie mir diesen Schschpppucknapf wieder!!«

Dabei nun immer dieses unausgesetzte Tanzen, Drehen und Fingerschnalzen, die heftigsten Gestikulationen – der geneigte Leser sieht wohl ein, daß man auf eine Beschreibung der Gebärden dieser unruhigen Tänzerin verzichten muß. Für jedes einzelne Wort hatte sie eine andere Geste, die sich von dem beweglichen Gesicht an bis hinab zur Fußspitze über den ganzen Leib hinweg erstreckte.

»Ihnen ist ein Spucknapf abhanden gekommen?« fragte Nobody, nur um etwas zu sagen, und man konnte ihm nicht verdenken, wenn er sich vor diesem Weibe wirklich zu fürchten begann, so interessant ihm die ganze Vorstellung sonst auch war.

»Ein Spucknapf, sage ich. Ein Schpppucknapf!! Wissen Sie nicht, was ein Spucknapf ist?«

»Ein Spucknapf ist ein Napf, in den man spuckt.«

»Einen menschlichen Spucknapf meine ich! Einen Kerl, der nicht einmal des Anspuckens wert ist!«

»Ah so! Und der hat Sie beleidigt?«

»Beleidigt?! Ich will mich kurz fassen.«

Na endlich! So schnell ging das nun freilich nicht, und da es sich um eine Aufzählung handelte, klabasterte sie immer mit ihren diamantstrotzenden Fingerchen vor Nobodys Nase herum.

»Also: Heute früh um neun stehe ich auf. Um zehn gehe ich aus, um etwas einzukaufen. Um elf bin ich wieder in meinem Hotel. Ich merke sofort, daß ich meinen Pompadour mit Portemonnaie verloren habe. Ich schicke meine Zofe nach der Polizei, da kommt schon – um zwölf Uhr – ein Mann, der den Pompadour gefunden hatte, eine darin enthaltene Visitenkarte sagte ihm, wem er gehöre. Das war also um zwölf Uhr. Um ein Uhr dinieren wir zusammen. Und um zwei Uhr – um zwei Uhr – da – da – da – sagte mir dieser Spucknapf, daß ich nicht unter die Galerie seiner schönen Frauenleiber passe!! Das sagte mir dieser Spucknapf!! Oooohhhh, ich Unglückliche!!!«

Bruch! – diesmal warf sie sich gleich der Länge nach auf den Boden hin, daß trotz des dicken Teppichs das ganze Haus wackelte. Nun, sie machte dasselbe Manöver dem Publikum jeden Abend auf der Bühne vor, ohne daß die Bretter von einem Teppich geschützt waren, und es tat diesen elastischen Gliedern nicht das geringste.

Nobody sprang ihr also nicht erschrocken zu Hilfe, sondern er freute sich schon darauf, wenn er dann beim Tee diese Szene mit dem ganzen Gebaren des verrückten Weibes vor seiner Frau wiederholen würde, und wenn dann nicht auch Edward Scott aus vollem Halse lachen mußte, dann ... war dem jungen Manne überhaupt nicht mehr zu helfen.

»Entsetzlich!« flüsterte Nobody, verständnisvolle Teilnahme heuchelnd.

Mit einem Sprunge, den kein Panther dieser Tänzerin nachmachen konnte, stand sie mit flammensprühenden Augen schon wieder vor ihm.

»Entsetzlich? Genügt das? Sagt dieses Scheusal, ich passe nicht in seine Sammlung schöner Frauenleiber, weil – weil ...«

Und nun geschah etwas, was Nobody auch nicht erwartet hätte.

Mit einem Griff hatte sie ihr Kleid aufgerafft und zeigte ihm über dem Strumpfband, welches sie noch oberhalb des Knies trug, einen haselnußgroßen, braunen Fleck.

» ... weil ich diesen kleinen Leberfleck habe! Herr, entstellt dieser kleine Fleck etwa meinen Körper?«

Zuerst schielte Nobody nach der Türe – Himmel Herrgott, wenn jetzt seine Frau hereinkäme! Nein, das durfte er dann freilich nicht vormachen! Und dann betrachtete er das gleichfalls mit Brillanten besetzte Strumpfband und das, was sich darüber befand, und er mußte sich gestehen, selten ein so schöngeformtes Bein gesehen zu haben, dabei trotz der spanischen Abstammung blütenweiß.

»Ich finde diesen kleinen Fleck vielmehr reizend,« sagte Nobody in aufrichtiger Bewunderung.

Sie hatte nur auf einem Beine gestanden, auf diesem schlug sie eine Pirouette, daß Nobody einen ganzen Schwall von parfümierten Spitzenröcken ins Gesicht bekam, und der Anstand war wiederhergestellt.

»Nicht wahr? Das hat mir auch der Herzog von Dupleans gesagt, der Prinz von Augidy, das haben mir Fürsten gesagt, sie alle waren entzückt von diesem kleinen Fleck – und er ist der einzige an meinem ganzen Körper – und ich bade mich jeden Tag zweimal in sterilisierter Milch – – in ste – ri – li – sier – ter Mil – lich! – – und dieser Spucknapf, den ich in der Gosse aufgelesen habe, sagt mir ins Gesicht, wegen dieses kleinen Fleckchens passe ich nicht in die Galerie seiner schönen Frauenleiber – und er läuft davon – läuft verächtlich davon! – als wenn ich eine aussätzige Hexe wäre!! Ooooouuuuiiiihhhhh!!!!«

Kniend vor dem Sofa liegend, brüllte und schluchzte sie sich wieder einmal aus. Zum Glück dauerte das niemals lange.

»Wer war denn dieser Unmensch, der Ihnen so etwas zu sagten wagte?«

»Weiß ich es? Wie soll ich denn das wissen?« fuhr sie schon wieder wild empor.

»Ja, Sie müssen den Herrn doch gekannt haben!«

»Nein, sage ich, nein! Ich erklärte Ihnen doch schon, er hatte meinen Pompadour gefunden, brachte ihn mir, ich fragte, was für eine Belohnung er fordere – einen Kuß – einen Kuuuußßß – aaaaach, wie er das zu sagen verstand! – und da lag er auch schon vor mir auf den Knien – und es war ein so reizender Mensch! – ich konnte ihm nicht widerstehen – ja, mein Herz schlug ihm sofort entgegen – wir dinierten zusammen – wir schäkerten zusammen – und dann – und dann – als ich ihm alles gewähren wollte – da sagte er jene Worte zu mir und wandte sich verächtlich von mir – aaaooouuuiiihhh!!!«

Sapperment, dachte Nobody, das ging ja furchtbar fix mit den beiden! Da muß der ihr kein schlechtes Geschenk mitgebracht haben, denn mit Kleinigkeiten gibt die sich doch nicht ab!

»War der Gentleman schon alt?«

»Ein Gentleman? Ein Spucknapf war er!! Starrend vor Schmutz, stinkend vor Kot, ich mußte ihn erst baden, und dabei häßlich wie die Nacht, schief, verwachsen, lahm, ein elender Krüppel, der einen Klumpfuß hinter sich her zog ...«

Und da mit einem Male verwandelte sich vor Nobodys staunenden Augen die Wut und der Haß des Weibes in etwas ganz anderes, mit einer Liebesleidenschaft, wie ihrer nur solch eine Spanierin fähig ist, sehnsüchtig die Arme ausbreitend, rief sie:

»O, bringen Sie mir das herrliche Scheusal wieder, damit ich es mit heißen, glühenden Küssen ersticke!!«

Jetzt war es mit Nobodys Fassungskraft vorbei. Entweder war sie verrückt oder er!

Nun, Nobody erkannte, daß hier kein gewöhnlicher Fall vorlag, sondern ein ganz rätselhafter, jetzt begann er erst der Sache Aufmerksamkeit zu schenken, jetzt verwandelte er sich in den Detektiv, der sachgemäß zu fragen verstand, er bändigte das zügellose Weib durch seine Willenskraft, und was er nun aus ihm herausbrachte, wollen wir hier im Zusammenhange wiedergeben.

Diese spanische Tänzerin war nicht etwa ein Weib, das sich in blinder Liebe dem ersten besten, der eine hübsche Larve hatte, an den Hals warf. Man muß nur bedenken, was für eine Rolle solch eine Tänzerin und Chansonette spielt, was für Bewunderer die zu ihren Füßen liegen hat, unter denen sie auswählen kann, und da ist der Geldsack oft genug auch verbunden mit Jugend und Männerschönheit – der Kitt ist der Leichtsinn.

Die Liebe hatte La belle Hermoso überhaupt schon so ziemlich hinter sich. Es war ihr ein Sport geworden, die Männer blind zu machen und dann auszuplündern, und welch praktischen Geschäftssinn sie mit aller Exzentrizität verband, das zeigten ihre Besitztümer, die sie dem Detektiven an den Fingern herzählte, um zu beweisen, daß sie kein Schäferstündchen umsonst gewährte: in Paris, in Madrid, in Petersburg je ein Haus mit voller Ausstattung und Dienerschaft, der Unterhalt pekuniär sichergestellt, an der Riviera gleich zwei Paläste, und dergleichen Grundstücke und Landgüter noch mehr, und allein das, was sie an Juwelen auf dem Leibe trug, repräsentierte ein Vermögen, von dessen Zinsen ein Kavalier hätte nobel leben können.

Heute war die mit ihren Triumphen prahlende Tänzerin, die also einen Sport daraus gemacht hatte, reiche Existenzen und Familienglück zu ruinieren, von der rächenden Nemesis erreicht worden. Es war ein guter Teil Humor dabei, den das Weib freilich nicht mehr empfand.

Der Finder des verlorenen Pompadours war ein schmieriger, ungewaschener Kerl gewesen, nur in Lumpen gehüllt, um die Füße mit Stricken Fragmente von Schuhen gebunden, schief, verwachsen, einen Klumpfuß nachschleifend – ein Individuum, welches an den Straßenecken sitzt und das öffentliche Mitleid anruft.

Bei seinem Anblick war die Tänzerin entsetzt in die äußerste Ecke des Salons geflüchtet. Das war ja von dem Zimmerkellner unverantwortlich, solch einen Menschen bei ihr eintreten zu lassen, wenn er auch den Pompadour, dessen Verlust sie im Hotel gemeldet, in der Hand hatte.

Sie wagte nicht, ihn ihm aus der ausgestreckten Hand zu nehmen, er mußte den seidenen Beutel auf den Tisch legen, und auch dann wollte sie ihn noch nicht berühren, um sich zu überzeugen, ob die bedeutende Geldsumme noch darin war. Das war ja auch selbstverständlich, sonst hätte der Kerl den Beutel doch gar nicht abgeliefert.

Doch mischte sich dem Grausen auch etwas Mitleid bei. Der später so gefeierten Tänzerin war nicht an der Wiege gesungen worden, daß sie dereinst in Gold und Juwelen wühlen würde, und solche Weiber sind überhaupt stets freigebig gegen Armut, sogar verschwenderisch, und da darf man von gar keiner Tugend sprechen, das hängt mit dem ganzen Charakter zusammen.

»Nehmen Sie den Pompadour, behalten Sie ihn, es sind ungefähr hundert Pfund Sterling darin, sie gehören Ihnen.«

So hatte die Tänzerin aus ihrer Ecke zaghaft gesprochen, ihr Kleid an sich raffend.

»Es ist mir nicht um das Geld zu tun,« hatte der Mensch entgegnet, »sonst hätte ich den Fund doch einfach behalten. Ich erbitte mir eine andere Belohnung.«

»Was für eine?«

Und da plötzlich hatte der Kerl auf den Knien gelegen und sehnsüchtig die Arme ausgebreitet.

»Einen Kuß von der schönsten aller schönen Frauen – einen Kuß von dir!«

Die Tänzerin konnte nicht weiter mit Ruhe erzählen, sie begann wieder im Zimmer herumzurasen.

»Und Sie haben ihn geküßt?« fragte Nobody.

»Ja! Ja!!« heulte das Weib. »Ich habe ihm einen Kuß auf sein ungewaschenes, nach Zwiebel stinkendes Maul gegeben – ein Dutzend Küsse – hundert Küsse!!«

»Ja, wie kamen Sie denn aber dazu? Ich denke, Sie ekelten sich vor ihm?«

»Ich weiß es selbst nicht – ich muß wahnsinnig gewesen sein – nein, nicht doch – diese Stimme! – und erst diese Augen! – ach, diese Augen!! – ich war plötzlich ganz vernarrt, ich mußte es tun, ich mußte ihn küssen, ich mußte!!«

Ein anderer Mensch hätte so eine Geschichte gar nicht geglaubt. Nicht so Nobody. Wenn er etwas nicht glaubte, so war es die Ahnung, die mit einem Male in ihm aufdämmerte.

Doch zunächst mußte er mehr hören.

»Was geschah nun weiter?«

»Er mußte erst ein Bad nehmen. Es ging nicht anders. Zu meinem Appartement gehört auch ein eigenes Badezimmer. Und er war bereit dazu ...«

»Das war sehr nett von ihm,« meinte Nobody trocken.

»Nicht wahr? Er war überhaupt ein reizender Mensch. Unterdessen ließ ich schon das Diner servieren. Es fiel nicht auf, da ich stets mit meiner Zofe zusammen speise, und diese war noch nicht da, kam auch nicht so bald. Seine schmutzigen Lumpen sollte er nicht wieder anziehen. Ihm schnell einen anderen Anzug zu verschaffen, hätte Schwierigkeiten gehabt. So gab ich ihm meinen Frisiermantel. Er hing ihn sich um. So dinierten wir zusammen ...«

»Er im Frisiermantel?«

»Im Frisiermantel.«

»Und was hatte er denn darunter an?«

»Was sollte er darunter anhaben? Gar nichts. Er war doch eben aus dem Bade gekommen.«

Nobody stellte sich das Bild vor – die pompös gekleidete Tänzerin und der nackte Kerl im Frisiermantel, wie die beiden am Speisetisch saßen! Aber er lächelte nicht, auch nicht innerlich.

»Ich saß auf seinem Schoß, er steckte mir die Bissen in den Mund.«

Jetzt wurde das Bild noch humoristischer.

»Sah er denn jetzt manierlicher aus?«

»Sein Bart war gerade noch so struppig wie zuerst, noch dieselbe Teufelsfratze.«

Teufelsfratze? Das Wort war gefallen! Und für einen Augenblick setzte Nobodys Herzschlag aus.

Doch immer noch stellte er erst andere Fragen, die sich auf die Geschehnisse bezogen.

Die Weltdame erzählte ihm alles in der größten Offenherzigkeit, was wir aber hier nicht wiedergeben dürfen. Es war alles so gekommen, was man voraussehen kann, wenn solch eine Weltdame zusammen mit einem Manne diniert, der nur mit einem Frisiermantel bekleidet ist, und wenn sie ihm schon auf dem Schoße sitzt.

»Ich habe sein Liebesflehen erhört – nein, er brauchte gar nicht zu flehen – ich war wie besessen – noch nie hat ein Mann solch einen dämonischen Einfluß auf mich ausgeübt – und da, als er den kleinen Leberfleck sieht, da sagt dieser Unhold: ›Ich bedauere, dieser Leberfleck entstellt Sie, Sie passen nicht in meine Galerie schöner Frauenleiber.‹ – So spricht er, und hohnlachend verläßt er mich! Ooohhh!!!«

»Er hat das Hotel doch nicht in Ihrem Frisiermantel verlassen?«

»Nein. Als ich wieder zu mir kam, lag der Frisiermantel da, aber seine Lumpen waren verschwunden, er hatte sie wieder angezogen.«

»Und den Pompadour? Das Geld?«

»Hat er auch nicht mitgenommen.«

»Sie sind ohnmächtig gewesen, daß Sie gar nicht bemerkt haben, wie er sich wieder entfernt hat?«

»Nicht gerade ohnmächtig. Ich war nur entsetzt über solch eine mir widerfahrene Schmach. Versetzen Sie sich nur in meine Lage. Mir so etwas zu sagen, mich zu verschmähen, mich, mich, die ...«

Das Wort erstarb ihr im Munde, das rastlos hin und her jagende Weib selbst erstarrte plötzlich zur Bildsäule, die Augen nach oben verdreht, daß nur noch das Weiße zu sehen war.

Nobody hatte einen günstigen Moment erspäht, um sie zu hypnotisieren, und es ist in den früheren Erzählungen genugsam geschildert worden, wie hierzu ein einziger Blick dieses Mannes, wenn er dabei seinen Willen konzentrierte, genügte.

Wir wollen hier nicht Frage und Antwort wiedergeben. Der Hypnotiseur vergewisserte sich, daß ihm die Tänzerin keine erfundene Geschichte erzählte, und dann vor allen Dingen auch, daß jener Mann selbst sie nicht hypnotisiert hatte.

Auch das ist ja in den früheren Erzählungen ausführlich erklärt worden, wie der Hypnotisierte aus seinem schlafwachen Zustande erinnerungslos erwacht – es ist dazu nicht einmal ein besonderer Befehl nötig, man tut dies nur zur Vorsicht – aber in einer neuen Hypnose erinnert sich der Betreffende stets wieder alles dessen, was man mit ihm in der früheren Hypnose getan hat, was er gefragt worden ist usw.

Nein, jener Mann hatte keine Hypnose angewandt, um sich das schöne Weib willfährig zu machen. Bei völligem Bewußtsein hatte es der häßliche, in Lumpen gehüllte Bettler, ein Krüppel, fertig gebracht, und hierzu mußte ein dämonischer Zauber seiner Persönlichkeit gehört haben, der noch unerklärlicher war als die Hypnose, über welche wir ja im Grunde genommen ebensoviel wie nichts wissen.

Außerdem überzeugte sich Nobody auch im Zustande der Hypnose, welche keine Unwahrheit und keine Verstellung kennt, daß die Spanierin mehr aus Liebestollheit denn aus Haßgefühl den berühmten Detektiv aufgesucht hatte, er sollte ihr jenen Mann wiederverschaffen, nicht damit sie Rache an ihm nehmen könne, sondern um ihn von neuem zu küssen. Allerdings war ja ein furchtbar beleidigtes Gefühl dabei, ihre Wut über diese Verschmähung kannte keine Grenzen, aber das alles läßt sich mit Liebessehnsucht recht wohl vereinen, besonders bei solch einer exzentrischen Spanierin.

Mehr brauchte Nobody von ihr im hypnotischen Zustande nicht zu erfahren.

»Erwachen Sie erinnerungslos!!«

Die verdrehten Augen kehrten in ihre natürliche Stellung zurück, sofort begann die Spanierin wieder ihren aufgeregten Tanz durch das Zimmer, und dort, wo sie vorhin stehen geblieben, fuhr sie fort:

» ... mich, die belle Hermoso, welche gewohnt ist, Fürsten zu ihren Füßen liegen zu sehen, mich zu verschmähen, dieser Bettler ... ooohhhh!!«

»War es vielleicht dieser hier?«

Nobody hatte aus einem Fache des Schreibtisches jene Skizze genommen, welche er damals im Boot gefertigt hatte, also die von Haß und Hohn verzerrte Teufelsfratze.

Das Bild sehen und darauf losstürzen, um es Nobody zu entreißen, war eins. Nobody ließ es sich nicht nehmen, aber nur zu deutlich bemerkte er dabei, daß sie es ihm nur entwenden wollte, um es mit glühenden Küssen zu bedecken.

»Er ist es, er ist es!« rief die Tänzerin außer sich. »Wo finde ich ihn, daß ich ihn an mein Herz drücken kann?«

»Madame,« entgegnete Nobody ernst, »es ist ein Glück gewesen, daß Sie sich sofort in dieser Sache an mich gewendet haben; denn Sie geben mir hierdurch ein neues Beweismittel in die Hand. Es handelt sich um ein Individuum, dem ich schon lange auf der Spur bin. Es ist ein Bösewicht, ein Kavalier aus der großen Welt, der beständig gewissenlose Wetten eingeht, wie er unschuldige Mädchen verführen will, und bei Ihnen hat er jedenfalls gewettet, sich Ihnen als Bettler zu nähern und auch als solcher Sie sich gefügig zu machen, dabei aber Sie maßlos zu beleidigen, das ist stets sein Triumph.«

Es war das Klügste gewesen, was Nobody hätte sagen können. Er hätte noch hinzufügen können: danken Sie Gott, daß Sie am Knie den Leberfleck haben, der Ihren Körper in seinen Augen entstellt, sonst hätte er Sie wirklich in seine Galerie schöner Frauenleiber aufgenommen, Sie nämlich in einen Eisblock einfrieren lassen.

Er sagte dies aber nicht, sondern begnügte sich nur mit jener aus der Luft gegriffenen Erklärung, an der aber doch ein gut Teil Wahrheit sein konnte. Dann wußte er sich des aufgeregten Frauenzimmers schnellstens zu entledigen. Dieses gefährliche Subjekt befand sich also in London, nun galt es für den Detektiv, den ganzen ihm zur Verfügung stehenden Apparat in Bewegung zu setzen, um des Mannes habhaft zu werden.

Die Tänzerin sah ein, daß sie jetzt überflüssig war, sie griff nach ihren auf dem Sofa liegenden Pelzsachen.

»Sie werden den Herrn festnehmen und zur Bestrafung ziehen?«

»Ein Grund zur Bestrafung liegt noch gar nicht vor, da müßte erst eine Anklage erfolgen, die nur von Ihnen erhoben werden könnte. Bitte, Senorita, lassen Sie Ihre werte Adresse da.«

Er erhielt eine Visitenkarte.

»Die Perlen Ihres zerrissenen Halsbandes werden zusammengesucht und nach Ihrem Hotel geschickt. Wissen Senorita, vielleicht, wieviel Perlen es gewesen sind?«

Die Tänzerin hatte die Frage gar nicht gehört, wußte wahrscheinlich auch gar nichts von dem Verluste ihres kostbaren Geschmeides, oder sie kümmerte sich gar nicht darum.

»Bringen Sie ihn mir nur wieder zurück, führen Sie ihn mir wieder zu, und Sie sollen meines grenzenlosen Dankes sicher sein!«

Unter diesen leidenschaftlich hervorgestoßenen Worten war sie hinausgestürmt.

Nobody war allein mit sich und mit seinen Gedanken. Es wurde finster in dem Gemach, und er hatte den Kopf in die Hände gestemmt und grübelte vor sich hin.

Also er hielt sich in London auf, der geheimnisvolle Unbekannte! Denn er war es, es gab nun keinen Zweifel mehr. Der Zahlmeister hatte vergessen, Nobody davon zu sagen, daß der Betreffende etwas verwachsen sei und hinke.

Was für eine rätselhafte Person war das nun?

Nobodys Ansichten kamen der Wahrheit sehr nahe, aber wir brauchen seinen Gedanken nicht zu folgen, denn wir werden die vollständige Wahrheit sogleich aus einem anderen Munde zu hören bekommen.

»Sir Willcox?« ließ sich wieder die Stimme aus dem Schreibtisch vernehmen.

»Was gibt es?«

»Ein Herr ist hier, er möchte Sie sprechen.«

»Wer ist es?«

»Ich kenne ihn nicht, er will auch seinen Namen nicht nennen, er sagt, Sie erwarteten ihn.«

»Ich erwarte heute niemanden.«

»Er behauptet es, und er hat seine Visitenkarte, auf die er etwas geschrieben, in ein Kuvert gesteckt, ich lasse es Ihnen unentsichert zugehen.«

Wieder ertönte im Schreibtisch ein Glockenzeichen.

Zunächst ließ Nobody seine elektrische Studierlampe und den an der Decke hängenden Kronleuchter aufflammen, dann entnahm er einem Fache ein Kuvert, welches ihm auf unsichtbarem Wege zugeflogen war.

Adressiert war es nicht, dagegen war mit Rotstift ein großes Kreuz daraufgemalt, welches wohl eine besondere Bedeutung haben mußte, hatte doch auch der unsichtbare Sekretär davon gesprochen, daß der Brief oder das Kuvert mit der Visitenkarte unentsichert sei.

Unter Nobodys Fingerdruck sprang seitwärts in der Schreibtischplatte ein Klappe auf, in der Höhlung zeigte sich ein Bassin, angefüllt mit einer hellen Flüssigkeit. In diese tauchte er das Briefchen, zog es darin hin und her, dann nahm er ein elfenbeinernes Falzbein und schlitzte es auf, ebenfalls unter Wasser, wenn die Flüssigkeit wirklich solches war.

Der erste Kriminalbeamte Englands hatte schon zu viel Erfahrungen mit explodierenden Briefchen und anderen Postsendungen gemacht, er hatte nicht umsonst im Hause ein Laboratorium mit bewährten Chemikern, die erst alles untersuchen mußten, was ihm von fremder Hand zuging. Doch das Oeffnen eines Briefes, der vielleicht mit Knallquecksilber präpariert war, konnte er allein riskieren, eben unter jener Flüssigkeit, die jede bisher bekannte Explosionsmasse augenblicklich zerstörte – allerdings kein Wasser, das schützt oft gar nicht, sonst gäbe es ja auch keine unterseeischen Minen.

Nachdem er sich die Hände an einem neben dem Schreibtisch hängenden Tuche abgetrocknet hatte, zog er die Karte heraus – keine Visitenkarte, also mit keinem Namen bedruckt, sondern es war nur mit Bleistift darauf geschrieben:

»Ich bin der, den Sie sehnlichst erwarten. Mephistopheles.«

»Mephistopheles!« hauchte Nobody, als seine Hand mit der Karte schwer auf den Tisch fiel. »Er kommt, der Teufel, den ich an die Wand gemalt habe!«

Nur einen Augenblick währte seine furchtbare Erregung.

»Ich erwarte den Herrn,« sagte er mit fester, ruhiger Stimme vor sich hin.

Ein Klingelzeichen antwortete, daß er verstanden worden sei.

Ehe Nobody erwartungsvoll nach der Tür blickte, schob er rechterhand auf der Schreibtischplatte einen Schieber zurück, darunter zeigte sich ein in bunte Felder eingeteilter Plan, und wer darauf geachtet, der hätte bemerkt, daß dieser Plan genau das karierte Muster des Teppichs wiedergab.

Schnell ließ Nobody diese Einrichtung wieder unter dem Schieber verschwinden, und da ging auch schon die Tür auf, der Erwartete trat ein.

Mephistopheles! Ein echter Mephisto, wenn er auch statt des charakteristischen Zwickbartes einen schwarzen Vollbart trug.

Vor allen Dingen aber kennzeichnete sich dieser Mann dadurch als den echten Fürsten der Hölle, daß er einen Pferdefuß nachschleifte, und wenn der Teufel nach dem Volksglauben nun einmal verkrüppelt sein muß, so paßte es auch recht gut, daß er die rechte Schulter hängen ließ, während die linke zu hoch und etwas nach hinten ausgewachsen war.

Mehr noch als die Gestalt aber interessierte Nobody das von dem schwarzen Barte eingerahmte, fast schneeweiße Gesicht! Von einer ›Teufelsfratze‹ konnte man jetzt nicht sprechen. Jetzt zeigte es nichts von jenem Haß und Hohn, wohl aber war es solch eines Ausdrucks fähig, überhaupt durchwühlt von allen Leidenschaften, deren nur ein Teufel fähig sein kann, und trotzdem nicht abgelebt zu nennen, und nun vor allen Dingen wahrhaft durchgeistigt, besonders aus den Augen sprach ein alles durchdringender Geist.

»Der schärfste Verstand, der genialste Mensch, der mir je begegnet ist,« urteilte Nobody im ersten Augenblick.

Im allgemeinen war es ein jüdischer Typus. Bekleidet war die kleine, schmächtige, fast zierliche Gestalt mit einem schwarzen Gesellschaftsanzug, tadellos, stutzerhaft, auf den Effekt berechnet, wie man es ja besonders bei Krüppeln so häufig findet, nur daß der schwarze Bart struppig aussah, aber nur deshalb, weil er das ganze Gesicht umwucherte, während das etwas lang gehaltene Haar sorgsam in der Mitte gescheitelt war. Außer einer doppelten Kavalierkette von schwerem Golde bemerkte der musternde Nobody noch am zweiten Finger der linken Hand einen roten Ring, den er für ganz aus Rubinen bestehend hielt, und vom obersten Teile desselben ging ein so wunderbares Feuer aus, wie Nobody es noch an keinem Diamanten wahrgenommen hatte. Wenn ein guter Kapdiamant als die Quelle des brillantesten Farbenspiels gilt, so war ein solcher doch nichts gegen diese Farbenpracht, die von einer gewissen Stelle des roten Ringes ausging, Nobody hatte so etwas eben noch nie gesehen, solch ein wunderbares, überirdisches Gefunkel nicht für möglich gehalten, und nun sah es auch so seltsam aus, wie der rote Ring mehr einem Feuermale glich, das sich um den Finger schlang.

Nobody war die kalte Ruhe selbst, als er die formvollendete Verbeugung erwiderte.

»Mit wem habe ich die Ehre?«

»Ich bin, wie schon meine Karte sagte,« entgegnete eine Stimme, die hart und tönend wie Metall klang, »derjenige, den Sie schon längst gesucht haben, und wenn Sie durchaus einen Namen brauchen, so bitte ich Sie, mich einfach Mephistopheles oder kürzer Mephisto zu nennen.«

»Bitte, nehmen Sie Platz.«

Nobody selbst setzte sich vor den Schreibtisch auf den Drehstuhl, faltete die Hände und schlug die Beine übereinander, ebenso bequem ließ sich der Fremde ihm gegenüber in einem der Fauteuils nieder.

Wohl entstand eine lange Pause, prüfend sahen die beiden einander in die Augen, und eben dies verriet, daß diese beiden Männer keine Einleitung zu einem Gespräch brauchten.

»Der läßt sich nicht hypnotisieren, und eben dasselbe denkt er jetzt von mir,« sagte sich Nobody im stillen, und laut setzte er hinzu:

»Woraus schließen Sie, mein Herr, daß ich Sie schon längst gesucht habe?«

»Nun, unsere Bekanntschaft ist doch nicht erst von heute. Wir haben uns schon einmal gesehen.«

»Wo wäre das gewesen?«

»An Bord der ›Persepolis‹. Oder vielmehr, als Sie den Dampfer in dem Segelboote verließen, da habe ich Ihnen doch aus dem Schiffsfenster nachgeblickt.«

»Stimmt! Ich erkenne Ihr Gesicht sofort wieder. Aber woher ist Ihnen bekannt, daß jener Kajütenpassagier und Sir Willcox ein und dieselbe Person sind? Denn ich bezweifle, daß irgendein Mensch mich erkannt hätte.«

»Allwissend bin ich nicht, doch viel ist mir bewußt,« zitierte der Fremde mit sarkastischem Lächeln die Worte des Mephistopheles aus Goethes Faust.

Sofort erkannte Nobody, besonders aus dem höhnischen Lächeln, wie aus dem ganzen Gebaren, daß der Fremde sich mit Absicht etwas Dämonisches, etwas Uebernatürliches geben, sich also wirklich als Höllenfürst aufspielen wollte, und das konnte unserem Nobody nun gar nicht imponieren.

»Bah,« machte er mit wegwerfender Handbewegung, »das sagt mir gar nichts, und vor allen Dingen nicht, wie Sie auf die Vermutung kommen, daß ich Sie schon längst gesucht hätte.«

»Ist dem nicht so?« fragte der Schwarzrock, jetzt mit einem widerlichen Lächeln des Hohns.

»Beweise!«

»Nun, ich dächte, wenn man jemanden fast bis zum Nordpol verfolgt ...«

Der Fremde brach ab, und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre Nobody vor Ueberraschung zusammengefahren. Doch er hatte sich vollkommen beherrscht, auch seine Gesichtsmuskeln.

»Dann allerdings, dann muß ich Farbe bekennen,« sagte er offen, und erkünstelte Offenheit ist manchmal die schlaueste List. »Ja, ich habe Ihre Spur bis nahe zum Nordpol verfolgt und habe dort Seltsames zu sehen bekommen. Mann, wer sind Sie? Was treiben Sie eigentlich? Woher wissen Sie, daß ich in dem vulkanischen Berge auf dem 83. Breitengrade gewesen bin? Daß gerade ich das war?«

»Ich werde mich Ihnen sogleich offenbaren, und Sie sollen etwas zu hören bekommen, was Sie nimmermehr erwartet hätten. Erst aber muß ich um Erklärung bitten, woher Sie hoffen konnten, die Spuren meiner weiteren Tätigkeit dort oben im hohen Norden zu finden.«

Ah! So wußte er also nichts von den somnambulen Eigenschaften seines Freundes! Vortrefflich, dann sollte er auch nichts davon erfahren!

»Bedauere,« sagte Nobody kalt, »ich fühle mich hier als Herr, der zunächst eine Erklärung zu fordern hat. Also bitte.«

Er brauchte diese scharfen Worte nicht zu bereuen. Der Fremde erhob sich nicht, um zu gehen. Und hätte er es getan, so hätte Nobody sofort ein anderes Register gezogen – und zwar tatsächlich ein Register, nämlich aus seinem Schreibtisch. Diesen geheimnisvollen Mann hatte er nun einmal zwischen den Fingern, den ließ er nun nicht wieder los!

Aber der Höllenfürst dachte noch nicht daran, unter Hinterlassung von Schwefel- und anderem Teufelsgestank wieder zu verschwinden, er kam vielmehr sofort entgegen.

»Schön! So werde ich den Anfang machen. Hören Sie denn: Schon seit vielen Jahren, seit damals, da Sie sich als Detektiv einen Namen zu machen begannen, habe ich alle Ihre Unternehmungen mit dem regsten Interesse verfolgt, Sie von meinen unsichtbaren Geistern ständig beobachten lassen ...«

»Von Ihren unsichtbaren Geistern?«

»Von meinen unsichtbaren Geistern,« wiederholte der Schwarzrock gleichmütig, selbstgefällig an seiner schweren Uhrkette spielend. »Die Erklärung hierzu folgt sofort. Wer ich bin? Ich will so bescheiden wie möglich sein, darum sage ich: ich bin der Erbe eines Mannes, eines Gelehrten, der schon vor Jahrzehnten so tief in alle Wissenschaften eingedrungen war, wie davon noch heute die ganze Gelehrtenwelt gar keine Ahnung hat. Nun muß ich trotz aller Bescheidenheit freilich gestehen, daß ich die mir hinterlassenen Kenntnisse immer mehr erweitert habe, und – kurz und gut, ich stehe geistig so hoch über allen anderen Menschen, daß selbst die erfolgreichsten Gelehrten, Praktiker wie Theoretiker, für mich unmündige Kinder, einfach Nullen sind.«

Herr Mephistopheles hatte dabei verächtlich mit den Fingern geschnalzt, was nun allerdings wie die ganze Erklärung sehr wenig seiner angesagten Bescheidenheit entsprach. Er schien auf eine Antwort zu warten, und als eine solche nicht kam, fuhr er von allein fort:

»Das mag über meine Person vorläufig genügen. Ich beobachtete Sie also, und im Laufe der Zeit erkannte ich, daß Sie der einzige Mann sind, welcher außerhalb der gesamten Menschenherde steht.«

Wieder schwieg er, und Nobody machte eine leichte Verbeugung.

»Und?«

»Sir Alfred Willcox, ich habe vor Ihnen Hochachtung bekommen.«

»Und?«

»Ich möchte Sie noch gänzlich von dieser unselbständigen Menschenherde absondern.«

»Auf welche Weise?«

»Indem ich Sie in mein Reich einführe.«

»Was für ein Reich ist das?«

»Ein Reich, welches nicht von dieser Erde ist.«

»Das klingt so mysteriös, daß ich es gar nicht verstehe.«

»Ich möchte Sie zu meinem Kompagnon, zu meinem Mitarbeiter machen.«

»Und was für eine Branche ist das, in der Sie arbeiten?«

Der Schwarzrock hatte den Spott herausgehört, ein furchtbar drohender Blick traf den Sprecher. Doch er beherrschte sich, und die Bewegung in seinem Gesicht suchte er zu verbergen, indem er schnell einen goldenen Klemmer aufsetzte.

»Wie ich schon sagte: ich bin Gelehrter.«

»In welcher Wissenschaft?«

»Ich habe mich in Wissenschaften vertieft, von deren Existenz unsere heutigen Gelehrten noch nicht einmal eine Ahnung haben.«

»Dann muß ich bedauern. Ich bin alles andere als ein Gelehrter, da würden Sie an mir keinen Mitarbeiter finden.«

»Doch! Mir sind auch noch andere Geschäfte aufgebürdet, die ich keinem anderen übertragen kann, weil ich keinen für fähig dazu halte. Sie sind der einzige.«

»Was für Geschäfte sind das?«

»Verwaltungsgeschäfte, und ich habe ein gar großes Reich zu verwalten.«

»Jenes Reich, welches gar nicht von dieser Welt sein soll?«

»Sie bedienen sich eines biblischen Ausdrucks. Von dieser ›Erde‹ sagte ich. Genug, darüber möchte ich jetzt nicht mehr sprechen, Sie würden dieses unsichtbare Reich schon noch kennen lernen. Kurz und gut, Sie sollen darin alle praktischen Angelegenheiten übernehmen, damit ich mich ausschließlich meinen Studien widmen könnte.«

»Hm!« brummte Nobody. »Und wie stände ich mich dabei?«

»Ihr Einkommen wird auf 80.000 Pfund Sterling geschätzt.«

»Sie sind ganz richtig orientiert.«

Geringschätzend hob der Schwarzrock die verwachsenen Schultern.

»Was ist das für einen Mann wie Sie! Ich offeriere Ihnen als erstes das dreifache Gehalt, sagen wir gleich rund dreimalhunderttausend Pfund Sterling im Jahre.«

»Hm, das ließe sich hören!« brummte Nobody wiederum, der natürlich schon seine eigenen Pläne ausspann. »Sechs Millionen im Jahre – Donnerwetter, das genügt!«

»Ja, so etwas kann eben nur ich bezahlen!« lautete die selbstbewußte Antwort.

»Donnerwetter, über was für Reichtümer müssen Sie da gebieten!«

»Nun, der Fürst der Hölle ist ja bekanntlich auch der Herr über alle Schätze der Erde.«

Es war ganz offenbar, daß Nobody den Herrn Mephisto etwas verspottete, und dazu hatte er um so mehr ein Recht, weil es eben offenbar war, daß dessen Eitelkeit keine Grenzen kannte; infolgedessen merkte er jetzt diesen Spott nicht einmal.

Im Grunde genommen aber war es Nobody gar nicht so spöttisch zumute. Vor allen Dingen mußte er, um sich nicht irritieren zu lassen, immer mit aller Gewalt seine Aufmerksamkeit von jenem Ringe abwenden. Was für ein wundervolles und wunderbares Etwas war das nur? Jetzt in der Nähe hatte Nobody schon erkannt, daß der Ring nicht etwa aus einzelnen Rubinen zusammengesetzt war, sondern er mußte aus einem einzigen Rubin von wenigstens einem Zoll Durchmesser herausgeschnitten worden sein, an sich schon ein Kleinod von unschätzbarem Werte.

Nun aber der leuchtende Punkt auf diesem Ringe erst, das war etwas, wofür Nobody, der doch auch so etwas kannte, gar keine Erklärung finden konnte.

Es war nämlich nicht etwa ein besonderer Stein zu sehen, also kein Diamant, von dem das wunderbare Feuer ausging, sondern es war an diesem Ringe nur wie ein leuchtender Punkt, aber nun wie leuchtend! Den besten Diamanten vom reinsten Wasser hundertfach an Brillantfarben überstrahlend! Einfach gar nicht zu beschreiben! Außerdem leuchtet der Diamant doch besonders oder eigentlich fast nur, wenn er ins Licht kommt, er wirft das Licht zurück – dieser Punkt hier aber schien um so mehr zu leuchten, je tiefer er in den Schatten kam!

Doch, wie gesagt, Nobody wollte sich nicht von dem Ringe beeinflussen lassen, er blickte lieber gar nicht mehr hin. Deshalb war das noch lange kein ›übernatürlicher Mensch‹, und dieses Rätsel wollte er schon noch lösen, ohne sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen.

»Da soll ich mich also sozusagen dem Teufel verschreiben?«

»Jawohl, mir, und nicht nur mit Haut und Haaren, sondern auch mit Leib und Seele,« ging der Schwarzrock auf den Scherz ein – oder es konnte auch sein Ernst sein, und so sah er dabei auch aus.

»Hm! Solch ein Pakt muß doch wohl überlegt sein. Da hätte ich erst einige Fragen zu stellen.«

»Fragen Sie! Ich werde antworten, soweit ich es für angemessen finde. Die meisten Erklärungen würden Sie ja überhaupt gar nicht verstehen.«

Immer derselbe hochtrabende Ton, einer maßlosen Eitelkeit entspringend. Doch Nobody achtete vorläufig nicht darauf, er hob sich schon etwas bis zuletzt auf.

»Sind Sie es gewesen, der die Leiche des jungen Mädchens aus jenem Hause auf Long Island entführt hat?«

»Das bin ich gewesen!«

Warte, dachte Nobody, jetzt habe ich dich ja schon – mindestens Einbruchsdiebstahl!

»In welcher Beziehung standen Sie zu der Leiche?«

»Das war ein wissenschaftliches Präparat.«

Wer das junge Mädchen sei, wollte Nobody jetzt lieber nicht fragen, jener hätte seine Absicht durchschauen können.

»War es ein Zufall, daß das Motorboot der ›Persepolis‹ begegnete?«

»Nicht so sehr Zufall, wie Sie vielleicht meinen,« war die ausweichende Antwort.

»Auch die nahe am Nordpol in Eis eingefrorenen Leichen sind wissenschaftliche Präparate, wie Sie sie nennen?«

»Selbstverständlich. Aber es sind gar keine Leichen.«

»Diese Menschen wären noch lebendig?!«

»Ich hoffe bestimmt, sie nach einer gewissen Zeit wieder ins Leben zurückrufen zu können, obgleich einige von ihnen schon zehn Jahre und länger in Eis eingeschlossen sind.«

Nobody hatte kein Wort, nicht einmal einen Gedanken des Zweifels – im Augenblicke hatte er nur eins herausgehört, und er mußte seine Aufregung mit Gewalt niederringen.

»Soll das heißen, daß Sie die betreffenden Menschen lebendig einfrieren lassen?«

»Gewiß doch, lebend müssen sie noch sein. Einmal wirklich tot, kann auch ich sie nicht wieder ins Leben zurückrufen. Es handelt sich nur um das Experiment, wie lange ein Mensch bei Luftabschluß in Eisverpackung am Leben bleibt, wobei ich ihn freilich zuvor ... doch es ist ein Experiment, dessen Hypothese Sie überhaupt gar nicht verstehen.«

Noch einmal mußte Nobody mit sich ringen und Herr seiner selbst bleiben.

»Finden Sie denn immer solche menschliche Versuchskaninchen, die sich freiwillig einfrieren lassen?«

»Freiwillig?« lachte der Mephistopheles höhnisch, und jetzt verwandelte sich das Gesicht in solch eine Teufelsfratze. »Da würde ich wohl wenige Experimente anstellen können. Nein, ich suche mir die am geeignetsten erscheinenden Objekte aus, und ob sie nun wollen oder nicht – sie haben der Wissenschaft das Opfer zu bringen!«

Nobody atmete schwer.

»Dann nur noch eine Frage: Was bezwecken Sie mit alledem eigentlich?«

»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Es handelt sich – darum, zu konstatieren, wie lange ein lebendig bei vollem Bewußtsein eingefrorener Mensch ...«

»Schon gut! Glauben Sie, hiermit der Menschheit einen großen Dienst zu erweisen?«

»Der Menschheit?!« hohnlachte die Teufelsfratze. »Für mich ist die ganze Menschheit ein hirnloses Herdenvieh, nur dazu da, um abgeschlachtet zu werden. Ich aber bin ein Diener der Wissenschaft, und die Wissenschaft ist für mich eine hehre Göttin, die ich anbete.«

»Das heißt also mit anderen Worten, daß Sie niemals eine Entdeckung Ihrer Wissenschaft preisgeben werden, und wenn sie auch noch so zum Nutzen der ganzen Menschheit wäre?«

»Niemals! Die Erfolge meiner Studien bringen mich immer weiter in meiner Erkenntnis, und das genügt mir, das ist mein Stolz, mein Glück, das ist mein Schatz, den ich mir durch eigene Kraft rechtmäßig erworben habe, und den ich daher auch mit niemandem teile.«

Mit Pathos hatte es der Schwarzrock gerufen, und die Antwort ließ nicht lange auf sich warten:

»Mensch, du bist ja ein Scheusal allerersten Ranges!«

Ganz ruhig hatte es Nobody gesagt, dabei sitzen bleibend, und seltsamerweise blieb auch der andere ganz ruhig bei diesen Worten.

»Eher will ich,« fuhr Nobody fort, »einen Räuber und Einbrecher, welcher den Reichtum plündert, dann aber die Beute verschwenderisch unter die Armen verteilt, und selbst, wenn er dabei zum Mörder geworden ist, als Gastfreund empfangen, als daß ich einem Geizhalse, der seine Schätze durch Wucher vermehrt, die Hand gebe. Und Sie sind in meinen Augen solch verruchter Wucherer, der seine Schätze auf Kosten anderer vermehrt, ohne ihrer Tränen zu achten. Außerdem sind Sie ein gemeingefährliches Subjekt, direkt ein Verbrecher! Und wissen Sie denn gar nicht, mit wem Sie sprechen? – Im Namen der Königin: Sie sind verhaftet!«

Immer noch ganz ruhig hatte Nobody gesprochen.

Jetzt aber erhob sich der Schwarzrock mit einer verächtlichen Handbewegung.

»Herr, machen Sie sich doch nicht lächerlich! Sie wären der rechte, mich zu verhaften!«

»Sie sind bereits verhaftet – ich habe die Verhaftungsformel ausgesprochen.«

»Verhaften können Sie mich wohl, aber mich nicht festhalten.«

»Das werden wir sehen.«

Dabei aber machte Nobody noch immer keine Miene, auch nur aufzustehen, hatte noch immer die Beine übereinandergeschlagen und die Hände gefaltet, den anderen nur mit interessierten Augen betrachtend. Er mußte seiner Sache sehr, sehr sicher sein.

Mit seinem höhnischsten Gesicht reckte der Schwarzrock seine kleine, mißwachsene Gestalt so hoch wie möglich empor.

»Himmelhoch stehe ich über der ganzen Menschheit, also auch über Ihnen!«

»Aber durch die Decke dieses Zimmers werden Sie nicht wachsen. Sie sind und bleiben mein Gefangener.«

»Und ich wiederhole: Herr, machen Sie sich doch nicht lächerlich!«

»Die Lächerlichkeit ist ganz auf Ihrer Seite.«

»Wissen Sie, wer ich bin?«

»Ein vom Größenwahn aufgeblasener Narr!«

»So! Wollen Sie Beweise haben, daß ich mit überirdischen Kräften ausgestattet bin?«

Da kam es ja schon! Nobody hatte doch nicht umsonst diesen Ton angeschlagen, reizte den Mann doch nicht umsonst so.

»Jawohl, geben Sie mir Beweise!«

»Sie sollen sie haben. Sie sind doch in meiner nahe dem Nordpol gelegenen Werkstatt und Studierstube gewesen, haben sie aber nur nach einer mühseligen Fahrt durch Eis und Schnee erreicht: daß Sie den Rückweg wiederfanden, war nur ein Zufall. Der ›Polarstern‹ steckt jetzt noch im ewigen Eis und wird darin mit der Mannschaft seinen Untergang finden. Interessiert Sie denn nun gar nicht, wie ich jederzeit imstande bin, dort oben nach dem höchsten Norden, auch bis zum Nordpol, der für mich schon längst ein gelöstes Geheimnis ist, hinzukommen und jederzeit auch wieder zurück?«

Jawohl, das interessierte unseren Nobody sehr. Aber in Güte, durch einfaches Fragen hätte er es doch nie zu erfahren bekommen, so hatte er eben zum Hohn, welcher reizt, gegriffen. Nobody hatte doch den Charakter dieses Mannes sofort erkannt.

»Nun, Sie begeben sich einfach ab und zu mit einem Schiff dorthin, so wie ich es auch getan habe.«

»Bah, Schiff!« klang es verächtlich zurück. »Sie müssen doch überhaupt selbst bemerkt haben, welche Schwierigkeiten das hat.«

»Na, haben Sie denn etwa einen Zaubermantel, daß Sie nach Belieben überallhin fliegen können?«

»Sie sagen es.«

Die Bestürzung, mit welcher Nobody den Sprecher ansah, war ungekünstelt. Nämlich, daß ein Mensch es wagen konnte, solch eine ungeheuerliche Behauptung aufzustellen, darüber war er bestürzt.

»Sie haben einen Zaubermantel, der Sie durch die Luft trägt?«

»Ich habe einen – meine eigene Erfindung, die Frucht meiner Studien!« war die selbstbewußte Antwort.

Jetzt brach Nobody in ein herzliches Lachen aus.

»Nein, mein lieber Mann, an solche Zauberei glaube ich nicht! Na, da fliegen Sie doch einmal durch die Luft!«

»Daß ich das kann, werde ich Ihnen dann gleich beweisen, nämlich wenn ich Sie verlasse, trotzdem Sie mich schon als Ihren Gefangenen betrachten. Erst aber werde ich Ihnen etwas anderes vormachen. Ich sagte Ihnen schon, daß mein Reich, in dem ich herrsche, nicht von dieser Erde sei.«

»Das haben Sie mir sogar schon ein paarmal gesagt.«

»Es ist ein Reich von unsichtbaren Geistern, die mir dienstbar sind.«

»Ach nee!«

»An diesen Ring hier sind diese Geister gebunden.«

»Ach nee! Ein hübscher Ring, in der Tat. Was für ein Stein ist denn das, der so wunderbar glänzt?«

»Sie werden es erfahren, sobald Sie der Meine geworden sind, werden auch solch einen Ring bekommen!«

»Dann kann ich mich wohl auch selbst unsichtbar machen?«

»Gewiß!«

»Ei, das wäre ja vortrefflich! Besonders für einen Detektiv! Können Sie mir das nicht erst einmal an Ihrer eigenen Person vormachen?«

»Gewiß.«

»Sie wollen sich unsichtbar machen?«

»Ich werde es tun.«

»Hier in diesem Zimmer?«

»Hier in diesem Zimmer!«

»Na, da mal los! Aber heraus kommen Sie nämlich nicht!«

Der Schwarzrock trat einige Schritte zurück und breitete beide Arme wagerecht aus, von Nobody, der nach wie vor auf seinem Stuhle saß, mit ungläubigem Lächeln beobachtet.

»Passen Sie auf!« sagte die metallische Stimme. »Eins – zwei – drei!«

Eine eigentümliche Bewegung der Arme und ... die ganze Gestalt des Schwarzrockes war spurlos verschwunden, war wie in Luft zerflossen!

Wie vom Donner gerührt saß Nobody da, seinen Augen nicht trauend, an seinem Verstande zweifelnd, und doch war es Wirklichkeit – und dann plötzlich bemächtigte sich seiner eine furchtbare Wut.

»Himmel und Hölle – du oder ich!!!«

Mit diesen Worten stürzte er auf die Stelle zu, wo der Schwarzrock soeben noch gestanden hatte, und wirklich, er packte mit seinen Händen auch eine menschliche Gestalt, die nur nicht sichtbar war – aber in demselben Augenblick erhielt er einen furchtbaren Schlag, der ihm zuckend durch alle Glieder ging, sicherlich eine elektrische Entladung – Nobody ward gleich bis gegen die Wand und zu Boden geschleudert.

Bewußtlos war er nicht geworden, blieb nicht liegen, sprang gleich wieder auf, und als er sich das Haar aus dem verstörten Antlitz strich, stand auch schon wieder der Schwarzrock mit höhnischem Gesicht da.

»Nun? Zweifeln Sie immer noch, daß ich etwas mehr kann als Sie und andere Menschen? Zweifeln Sie noch immer an meinen überirdischen Kräften?«

Mit einem Male war über Nobody eine eiserne Ruhe gekommen. Gleichmütig lehnte er am Schreibtisch, sich mit der linken Hand darauf stützend.

»Das kann ich auch.«

Zum ersten Male fiel der Schwarzrock aus seiner Mephistorolle voll überlegenen Hohnes.

»Was?!« stieß er bestürzt hervor.

»Sie spurlos verschwinden zu lassen. Passen Sie auf ...« – Nobody streckte den rechten Arm gegen ihn aus – » ... eins – zwei – drei – weg!!«

Es schnappte etwas, es klappte etwas – nämlich das Karree des Teppichs, auf dem der Schwarzrock stand, klappte herunter, jener war in einer Versenkung verschwunden, das Stück Teppich schnellte wieder empor, alles war wieder in tadelloser Ordnung, keine Fuge und nichts zu sehen.

Ein Klingelton schrillte durch das ganze Haus, von Nobodys Fingerdruck auf einem geheimen Knopf erzeugt.

»Mister Scott möchte sofort zu mir kommen – sofort!« rief er in den Schreibtisch, der wohl ein unsichtbares Telephon barg, hinein.

Der Gewünschte mußte sich in allernächster Nähe befunden haben, drei Sekunden später betrat er das Zimmer.

»Um Gott, Alfred, was ist denn geschehen?« rief er beim Anblick Nobodys bestürzt.

Denn mit Nobodys Ruhe war es nun vorbei, und wenn auch nur seine Brust heftig arbeitete, so war das doch schon bei diesem sonst so eisernen Manne auffällig genug.

»Etwas, was auf dieser Erde wohl noch keines Menschen Auge erblickt hat,« stieß er hervor. »Sind die Türen wieder geschlossen? Ja. Nur Sie sollen Zeuge von allem werden. Sehen Sie hier!«

Er schlug das betreffende Teppichkarree zurück, noch ein Stück Parkett, im Boden zeigte sich eine tastenähnliche Oeffnung, und in dieser sah Scott einen schwarzgekleideten Menschen kauern, das Gesicht nach oben gekehrt, und kaum hatte er dieses totenbleiche, vom Hohn des letzten Ausdrucks verzerrte Gesicht erblickt, umrahmt von dem schwarzen Vollbart, als er zurückprallte.

»Das Gesicht meiner Träume!« hauchte er.

Mit kurzen Worten teilte ihm Nobody mit, was geschehen war, hauptsächlich nur über den Antrag berichtend, den ihm der Mann gestellt hatte, die vorhergehende Tänzerin und Kleinigkeiten gar nicht erwähnend.

»Er weiß, daß wir seine Werkstatt am Nordpol besucht haben, er weiß mich auf seiner Fährte, und er will mich auf seine Seite hinüberziehen. Ein ganz gefährlicher Halunke und dennoch ein ganz außergewöhnlicher Mensch, der im Besitze von Kenntnissen und Erfindungen ist, von denen wir noch nicht einmal etwas ahnen. Sogar unsichtbar machen kann er sich.«

»Was sagen Sie da?« staunte Scott. »Unsichtbar machen?!«

»Ich erkläre Ihnen noch alles. Jetzt muß ich den Mann erst beobachten, ich habe ihn betäubt, lasse ein Gas in den Kasten einströmen.«

Schon immer hatte Nobody die Taschenuhr in der Hand gehabt. Durch die Entfernung des Teppichs und des Parketts war die Versenkung noch nicht offen, sie war oben noch durch eine Glasscheibe verdeckt, und außerdem waren eiserne Stäbe zu sehen, zu eng zusammenstehend, als daß der Mann hätte hindurchfallen können.

Nobody ging nach dem Schreibtisch und kam mit zwei grünumsponnenen Drähten zurück, die sich hinter ihm aufrollten. Er hatte seine Ruhe wiedergewonnen.

»Seit ich einmal in diesem Zimmer eine Balgerei mit einem obstinaten Gesellen hatte, den ich mir aus der Untersuchungshaft hier vorführen ließ, habe ich eine besondere Vorkehrung getroffen, um solche aufsässige Geister in aller Gemütlichkeit kaltzustellen,« erklärte er. »Jedes dieser Karrees bezeichnet eine Versenkung, und wo der Mann im Zimmer auch stehen mag – ein Druck von mir auf die entsprechende Stelle des Schreibtisches, und der Teppich hat ihn verschlungen. Da sehen Sie solch einen Geist sitzen – und zwar einen wirklichen Geist! Er ist bereits betäubt. Um nämlich den Geist noch zahmer zu machen, lasse ich in den hermetisch schließenden Behälter ein Gas einströmen. Das geschieht mechanisch, gleichzeitig mit dem Fall. Dieses Gas ist eine Erfindung meines besonderen Chemikers, der hier im Hause für meine eigenen Fälle angestellt ist. Es betäubt im Augenblick, kann aber niemals töten, denn es enthält auch noch atembaren Sauerstoff genug. Nun muß aber, ehe ich den Kerl herausnehme, das Gas wieder vertrieben werden, sonst bekommen wir es selbst in die Lunge. Sehen Sie dort unten die kleine Röhre einmünden? Da lasse ich jetzt komprimierte Luft eintreten, das Gas ist leichter, es wird oben zu der anderen Röhre wieder hinausgetrieben.«

Ein leises Zischen erscholl. Interessiert blickte Scott hinab in die Oeffnung, in welcher der Schwarzrock regungslos kauerte.

»Woher wissen Sie, ob das Gas auch vollständig vertrieben ist?«

»Sehen Sie dort, ganz oben, den blauen Streifen? Sobald dieser seine Farbe ändert, purpurrot wird, ist die letzte Spur des Gases entwichen. So – jetzt ist es so weit. Na, wird der Kerl Augen machen, wenn er bemerkt, wohin er geraten ist! Treten Sie etwas zurück.«

Der Bewußtlose brauchte nicht durch Menschenhände herausbefördert zu werden, auch das ging alles mechanisch vor sich. Auch die Glasscheibe hob sich noch, Eisenstäbe kamen zum Vorschein, und in der Mitte des Zimmers stand ein zwei Meter hoher Käfig, auf dessen Boden der Schwarzrock regungslos kauerte, so, wie er hineingestürzt war.

»Ich habe ein Mittel, ihn sofort zum Bewußtsein zu bringen, aber in diesem Falle ist es besser so. Wir wollen erst einmal seine Taschen untersuchen, wozu er freilich aus dem Käfig heraus muß. Doch ist noch immer Vorsicht geboten, ehe wir ihn anfassen, er scheint eine elektrische Batterie bei sich zu haben, ich habe schon einen heftigen Schlag bekommen.«

Bald hatte sich Nobody durch das Gitter hindurch überzeugt, daß die elektrische Batterie nicht mehr zu befürchten war, entweder hatte der Schwarzrock dieselbe vorher abgestellt, oder sie funktionierte aus irgendeinem Grunde nicht mehr.

Jetzt öffnete Nobody eine Gittertür, deren Schloß kein anderer Mensch gefunden hätte, Scott war behilflich, den Bewußtlosen herauszuholen, er wurde auf das Ledersofa gelegt, die Visitation begann.

Als erstes kam aus jeder Fracktasche des Gehrocks ein Gegenstand hervor, der etwa einem Uhrgewicht ähnelte – die beiden Elemente der elektrischen Batterie. Natürlich waren sie miteinander verbunden, und zwar lief der verbindende Draht unter dem Rock um den Rücken herum, oben teilte er sich, je ein isolierter Draht lief durch den Aermel, wo er in einem eigenartig konstruierten Manschettenknopf festgeschraubt war.

Auf diese Weise war die ganze Person selbst zu einer Batterie geworden, welche mit den Händen elektrische Schläge austeilen konnte, und jeder, der den Mann irgendwo anfaßte, mußte einen elektrischen Schlag erhalten, vorausgesetzt, daß der Batterieträger selbst isoliert war. Dies war denn auch der Fall – es konnte ja auch gar nicht anders sein – denn als Nobody ihm den Stiefel von dem normalen Fuß abzog, zeigte sich, daß er einen dicken Gummistrumpf trug, ebenso, wie sich später erwies, über dem mißgestalteten Klumpfuß.

»Hm,« meinte Nobody, »das ist ja eine vortreffliche Angriffs- und Verteidigungswaffe, überhaupt ein genialer Kerl, meine Hochachtung steigt immer mehr. Aber was für eine eigentümliche Batterie ist denn das?«

Nobody war Elektrotechniker genug, um zu wissen, daß von den beiden kleinen Trockenelementen – nach Abschrauben des Deckels sah er Asbest darin – nicht solch eine elektrische Entladung herkommen konnte, wie er sie als Schlag empfangen hatte, wenigstens der heutigen Wissenschaft ist solch eine Elektrizitätsquelle in so kleiner Form nicht bekannt.

Doch er legte das Ganze vorläufig auf den Schreibtisch, die weitere Untersuchung war Sache des Fachmannes.

Weiter enthielten die Taschen des Bewußtlosen einen Dolch, ein Taschenmesser, einen kleinen Revolver, ein kunstreich geschnitztes Büchschen aus Buchsbaum, das nichts enthielt, eine Briefmappe mit Notizbuch, worüber später gesprochen werden soll – alles wanderte auf den Schreibtisch, auch der Rubinring mit dem wunderbaren Farbenspiel, den Nobody vom Finger abstreifte, so wie er dem Manne auch Uhr und Kette und Klemmer, überhaupt alles abnahm.

Nun wollen wir einmal mit Scotts Augen beobachten, welcher auch nur zusah; denn Nobody nahm die Visitation allein vor.

Schon alle Taschen hatte er entleert, und dieser Detektiv hatte gewiß alle zu finden gewußt, die man nur irgendwo anbringen kann, und noch immer tastete er an dem Anzug herum.

»Was suchen Sie noch?« fragte Scott.

»Mir war doch gewesen, als ob er ...«

Er hatte noch einmal in die hintere Rocktasche gegriffen, der er zuerst eins der Elemente entnommen, zog die Hand wieder heraus, blickte darauf. Scott bemerkte, daß er plötzlich ein grenzenlos erstauntes Gesicht machte.

»Haben Sie noch etwas gefunden?« fragte Scott, der aber in Nobodys Hand nichts sehen konnte.

Nobody schien wie vom Donner gerührt zu sein. Scott wiederholte seine Frage, und dann mußte sich jener wie mit Gewalt aufraffen.

»Ja – nein – das ungeheuerste Rätsel,« stieß er hervor, schien etwas in der Hand zusammenzuballen und ging nach dem Schreibtisch.

Scott achtete nicht weiter darauf, er dachte, es sei ein kleines Tuch gewesen, die Erklärung würde ihm Nobody später schon noch geben, und außerdem beschäftigte ihn jetzt das Benehmen des Betäubten.

»Er bewegt sich – er kommt wieder zu sich!«

»Dann will ich ihn erst noch einmal in einen anderen Zustand versetzen,« sagte Nobody schnell, und als er vom Schreibtisch zurückkam, brachte er ein Fläschchen und einen Teelöffel mit.

»Ich will ihn in der Hypnose ausfragen. Mit Blicken ist dieser Mann nicht zu hypnotisieren, doch diesem Elixier widersteht kein Mensch, so wenig wie dem Einfluß des Alkohols.«

Er tröpfelte etwas von der roten Flüssigkeit auf den Teelöffel und zwang den Ohnmächtigen durch Zuhalten der Nase zum Schlucken.

Sofort dehnten sich die Glieder, sie wurden gar starr, der Kopf wurde wie von unsichtbarer Gewalt hintenübergepreßt, die Augen öffneten sich, aber die Pupillen waren ganz nach oben verdreht.

»Er ist hypnotisiert. – Sie werden mir gehorchen!« sagte Nobody in befehlerischem Tone.

Keine Antwort.

»Sie werden mir gehorchen!!!«

Keine Antwort. Und Scott sah, wie Nobodys Gesicht um eine Schattierung blässer wurde.

»Mann, hören Sie mich?!«

»Ja,« erklang es mit röchelnder Stimme.

»Sie werden mir gehorchen!«

»Nein – ich – werde – Ihnen – nicht – gehorchen,« röchelte der Hypnotisierte.

Mit einem Satze sprang Nobody nach dem Schreibtisch und kehrte mit einer kleinen Laterne zurück, an der zwei grüne Drähte befestigt waren.

Ein intensives Blendlicht flammte auf; als der Strahl zufällig Scotts Augen traf, fühlte er in denselben einen wahrhaften Schmerz. Nobody ließ ihn direkt in die Augen des kleinen Mannes fallen, und ... es zeigte sich nicht die geringste Wirkung, die Augen blieben wie zuvor nach oben verdreht, sonst auch nicht das geringste Zucken.

»Allmächtiger! Hier ist meine Kunst zu Ende!«

Mit diesen Worten ließ sich Nobody auf einen Stuhl fallen, und es hatte wie ein Aechzen geklungen.

Im Hause ertönte ein Klingeln. Nobody erhob sich wieder. Im ersten Augenblick hatte Scott ein ganz verstörtes Gesicht gesehen, schnell war es wieder eisern geworden.

»Das war meine Frau. Sie wartet mit dem Tee auf uns. Bitte, Edward, gehen Sie zu ihr, erzählen Sie ihr alles. Ich möchte mit diesem Manne, der sich meiner Macht entzieht, einmal allein sein.«

Scott entfernte sich, erst nach einer halben Stunde kam er wieder, und da befand sich der Käfig und auch der Schwarzrock nicht mehr im Zimmer, in dem Nobody auf und ab wanderte.

»Setzen Sie sich, Edward. Ich will Ihnen jetzt alles erzählen, was ich erlebt, was ich während Ihrer Abwesenheit getan und was für Schlüsse ich gezogen habe, ich schicke gleich voraus, daß böse Sorgen auf uns lasten.«

Er setzte sich wieder vor den Schreibtisch, auf dem noch die meisten der den Taschen entnommenen Gegenstände geordnet lagen. Scott ließ sich seitwärts neben dem Schreibtisch nieder.

»Sorgen?«

»Schwere, sehr schwere Sorgen. – Mein lieber Freund. Wären Sie nicht gewesen, so hätte ich keine Möglichkeit gehabt, dem führerlosen Motorboote zu folgen, ich hätte die Leiche des jungen Mädchens nicht gefunden, nicht jene geheimnisvolle Wohnung am Nordpol, ich wäre jedenfalls auch nicht mit diesem Manne zusammengetroffen. Daß nun alles so gekommen ist, dafür bin ich Ihnen unendlichen Dank schuldig, und ich werde alle diese mir jetzt noch ganz unfaßlich scheinenden, ans Unnatürliche grenzenden Rätsel lösen, oder ihre Lösung soll doch fernerhin die Hauptaufgabe meines Lebens bilden, und mit freudiger Tatkraft gehe ich an diese Arbeit, aber – aber ... doch lassen Sie mich erzählen.«

Und Nobody begann zu erzählen, mit dem Besuche der spanischen Tänzerin beginnend, wie dann der ›Mephistopheles‹ kam, er gab sogar die Wechselreden möglichst wortgetreu wieder, bis er mit den Worten schloß:

»So beweisen Sie mir doch, daß Sie sich unsichtbar machen können,« sagte ich zu ihm. – Da stellte sich der Mann, den ich für einen maßlos dünkelhaften Großprahler hielt, dorthin, eine Bewegung mit den Armen, und – verschwunden war er!«

Der sowieso sehr wortkarge Kanadier hatte den Erzähler mit keiner Silbe unterbrochen.

»Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß er sich unsichtbar gemacht hätte?« fragte er jetzt.

»Er war fort – verschwunden – unsichtbar.«

Scott konnte nur ungläubig den Kopf schütteln.

»Nach Untersuchung der hier vor mir liegenden Gegenstände,« fuhr Nobody fort, einen der beiden kleinen, durch Drähte verbundenen Zylinder in die Hand nehmend, »hat sich meine Ansicht über diesen Mann total geändert. Wie gesagt, ich hielt ihn für einen Narren, dessen Prahlerei schon an Wahnsinn grenzt. Mit nichten! Dieser Mann ist im Besitze von Kenntnissen und von technischen Erfindungen, von denen sich unsere Schulweisheit noch nichts träumen läßt. Das hatte er mir selbst gesagt – ich verspottete ihn – hier ist der erste Beweis.«

»Diese kleine Trockenbatterie?«

»Ja. Als er sich unsichtbar gemacht hatte, stürzte ich nach der Stelle, wo er soeben noch gestanden hatte, und wenn ich ihn auch nicht sehen konnte, so stand er doch noch da, ich packte ihn, hatte ihn zwischen den Händen – und in demselben Augenblick erhielt ich einen elektrischen Schlag, der mich gleich bis dorthin in die Ecke schleuderte.«

»Einen elektrischen Schlag?«

»Einen elektrischen.«

»Ich denke doch, Alfred, daß Sie so etwas zu unterscheiden wissen.«

»Gewiß, Edward, und Ihre Frage schon, ob es auch wirklich eine elektrische Entladung gewesen sei, welche den mich fortschleudernden Schlag oder Stoß verursachte, zeigt mir, daß Sie schon wissen, was mich so furchtbar irritiert.«

»Allerdings; denn ich glaube, es gehört doch schon etwas dazu, um Sie gleich gegen die Wand zu schleudern, und diese beiden kleinen Elemente hier sollten wirklich solch eine Kraftquelle von Elektrizität enthalten? Auch als Akkumulatoren könnten sie ja nur ein Minimum aufspeichern.«

Der junge Kanadier schien recht gut in diesem Fache beschlagen zu sein. Gerade heutzutage setzen ja alle Elektrotechniker ihre ganze Erfindungskraft daran, einen Elektromotor zu konstruieren oder einen Akkumulator, überhaupt eine Elektrizitätsquelle, die besonders für das Automobil wirklich brauchbar ist. Bis heute ist das noch nicht gelungen, der Elektromotor ist noch viel zu schwer. In Zahlen ausgedrückt: ein Elektromotor ist etwa zehnmal so schwer wie ein Benzinmotor, der die gleiche Kraft entwickelt.

Der bekannte Edison wollte jüngst einen Akkumulator konstruiert haben, der an Leichtigkeit alles bisher Dagewesene übertreffe, doch scheint sich seine Erfindung nicht zu bewähren.

Daß nun zwei solch winzige Elemente, wie sie hier vorlagen, solch eine Kraft entwickeln könnten, das war nach dem Stande der jetzigen Elektrotechnik ganz ausgeschlossen – und doch war es ja hier zur Tatsache geworden.

»Das ist aber noch nicht alles,« fuhr Nobody fort. »Beide Zylinder sind von Kupfer, beide sind mit Asbest gefüllt, der eine enthält eine silberne Stange, der andere eine von Kohle, an diese beiden Stangen sind die Drähte befestigt. Daß wir hier die Batterie vor uns haben, welche die Elektrizität lieferte, um mir den Schlag zu versetzen, daran ist doch gar kein Zweifel. Nun kann ich aber machen, was ich will – und ich verstehe auch etwas davon – ich bekomme keine Elektrizität heraus, nicht den kleinsten Funken. Mr. Kummer, mein Elektrotechniker, versteht mehr davon als ich. Er hat die beiden Elemente bereits in der Hand gehabt, hat sie untersucht. Nach seiner Ueberzeugung ist gar nicht daran zu denken, daß die Dinger Elektrizität erzeugen könnten, das sei wohl die Erfindung eines Narren, den der Wahnsinn plagt, die ganze Anordnung sei allen unseren Kenntnissen über die Entstehung der Elektrizität gerade zuwiderlaufend.«

»Haben Sie Ihrem Elektrotechniker gesagt, daß Sie Zeuge davon geworden sind, welche Kraft die beiden kleinen Elemente liefern können?«

»Nein. Ich will alles geheimhalten. Nur Sie müssen darum wissen. Also dieser geheimnisvolle Mann besitzt nicht nur eine uns ganz unbekannte Elektrizitätsquelle von ungeheurer Kraft, sondern er kann sie auch willkürlich fließen lassen und wieder abstellen. – Das wäre das eine Rätsel. Nun aber dieser Ring hier.«

Scott nahm den ihm gereichten Ring.

»Der ist aus einem einzigen Rubin geschnitten,« sagte auch er sofort. »Was für ein wunderbarer Diamant aber ist das? Nein, es ist überhaupt gar nichts von einem Stein zu sehen, das prachtvolle Feuer scheint nur von einem Punkte auszugehen!«

»Ich werde einmal das Zimmer verdunkeln.«

Nobody drückte auf einen Knopf, das elektrische Licht verlöschte, in dem Zimmer herrschte vollkommene Finsternis, und gleichzeitig kam aus Scotts Munde ein Ruf der Ueberraschung.

Von seiner Hand, die den Ring hielt, ging noch immer ein brillantes Farbenspiel aus, wie von einem Punkte und sich strahlenartig verbreitend, hell leuchtend, so hell, daß man z. B. den darübergehaltenen Finger sehen konnte, nur daß jetzt eine grünliche Farbe vorherrschte.

»Es gibt gar keinen Diamanten, der auch im Dunkeln wirklich leuchtet!« rief Scott.

»Dann ist es eben eine andere Substanz – eine Substanz mit eigener, selbständiger Leuchtkraft.«

»Solch eine Substanz gibt es nicht! Nichts in der Welt besitzt eine selbständige Leuchtkraft, und auch die Sonne wird dereinst verlöschen!«

Schon aus diesen Worten ist zu schließen, daß es sich nicht etwa um jene Masse handelte, um phosphorsaures Barium, welches in der Finsternis leuchtet. Das ist nur ein von der Sonne erborgtes, aufgesaugtes Licht, welches langsam wieder ausgestrahlt wird. Nein, hier lag etwas ganz anderes vor, mit jenem schwachen Leuchten ließ sich dieses auch gar nicht vergleichen, das war ein intensives Feuer, welches von dem Ringe ausging!

Das Licht wurde wieder angedreht.

»Der Ring besitzt noch andere Eigenschaften,« sagte Nobody. »Sie sehen hier eine silberne Dose, sie ist leer, ich lege den Ring hinein, schließe den Deckel – bemerken Sie etwas?«

Nein, Scott konnte nichts Auffälliges bemerken.

»Jetzt drehe ich das Licht wieder aus – und nun?«

Von der silbernen Dose ging ein grünes Licht aus, zwar schwach, aber in der Finsternis doch deutlich erkennbar. Sie war wie von einem leuchtenden Flor umgeben.

»Das von dieser Substanz ausgehende Licht ist ein anderes als das Sonnenlicht,« erklärte Nobody, »es durchdringt alle Metallwände, wenn sie nicht gar zu dick sind, noch leichter Holz. Ich habe schon verschiedene Versuche darüber angestellt.«

Der Leser wird bereits erkannt haben, um was es sich hier handelte: um Radium. Damals aber war dieses selbstleuchtende Element noch nicht bekannt, und wenn noch heute die Gelehrten, welche dieses geheimnisvolle Licht entdeckt haben und sich ständig mit ihm beschäftigen, vor einem unlösbaren Rätsel stehen, so kann man sich denken, wie jenen beiden Männern zumute war.

Doch schließlich faßte Nobody es sehr gleichmütig auf; er nahm es eben als Tatsache hin, daß jener Mann solch eine durch eigene Kraft leuchtende Substanz besaß – fertig!

»Nun zum dritten,« sagte er, als er das Zimmer wieder erleuchtet hatte, und legte den Ring beiseite. »Wollen Sie einmal dort nach dem Fenster sehen?«

Scott blickte nach der bezeichneten Richtung, während Nobody aufstand und hinter seinen Rücken trat.

»Edward Scott, blicken Sie sich um!« erklang es dann.

Der Gerufene drehte sich um – er sah niemanden! Und schon drückte sein Gesicht aus, was er empfand, denn das hatte doch dicht hinter oder jetzt vor ihm geklungen.

»Alfred, wo sind Sie denn?«

»Hier, dicht vor Ihnen!«

Der junge Kanadier prallte im Sitzen zurück, daß er bald mit dem Stuhle umgefallen wäre.

Es war absolut nichts zu sehen, und nicht etwa, daß im Zimmer irgend ein anderer Gegenstand durch etwas verdeckt worden wäre.

»Strecken Sie Ihre Hand aus, Sie brauchen nicht zu erschrecken!«

Gehorsam streckte Scott seine Hand aus, sie zitterte, und es war gut, daß Nobody ihn vorbereitet hatte; denn furchtbar schreckhaft mußte es doch sein, als seine Hand plötzlich von einer anderen ergriffen wurde, ohne daß diese zu sehen war. Es war wie feste Luft.

Sie wurde wieder losgelassen. »Nicht wahr, ich bin nicht nur unsichtbar, sondern auch vollkommen durchsichtig?« erklang es weiter in einiger Entfernung. »Passen Sie auf, Sie sollen wenigstens meinen sprechenden Kopf zu sehen bekommen!«

Und Nobodys Kopf erschien, frei in der Luft schwebend. Er zeigte seine wie abgehackten Hände, seine Füße, darüber den Kopf, aber in der Mitte war nichts, dann stand er wieder ganz da, die Arme ausgebreitet – eine Bewegung mit diesen, und er war wieder spurlos verschwunden.

»Hier ist das Rätsel, freilich nicht die Lösung,« sagte er dann, und Scott bekam in seine Hände einen Stoff, ein Zeug, wie Seide anzufühlen, nur daß es vollkommen unsichtbar war, oder richtiger durchsichtig, und alles, was es einhüllte, unsichtbar machte.

Wir wollen hier nun eine leichtfaßliche Erklärung für dieses physikalische Wunder einschalten.

Man denke sich eine Glastafel. Hält man hinter diese einen Gegenstand, etwa ein Buch, so ist dieses natürlich zu sehen ( ›natürlich‹ für uns; für einen unkultivierten Wilden, der noch gar nicht weiß, was Glas ist, ist diese harte und doch durchsichtige Tafel an sich schon ›Hexerei‹.)

Nun nimmt man eine zweite Glastafel, stellt diese hinter das Buch, so daß es sich zwischen den beiden Glastafeln befindet, und da mit einem Male ist von dem Buche nichts mehr zu sehen. Blickt man von oben oder von der Seite zwischen die beiden Glasscheiben, ist das Buch noch da – blickt man aber durch eine der beiden Glastafeln, so scheint das Buch verschwunden zu sein, und so verschwindet auch die Hand und alles andere, was man dazwischen hält.

Wie kommt das? Nun, das ist eben kein gewöhnliches Glas, sondern das ist eine andere, durchsichtige Substanz, welche das Tageslicht zwar hindurchläßt, aber es beim Durchlassen in besonderer Weise ›bricht‹, die Strahlen verändern sich, sie geraten in andere Schwingungen, diese neuen Strahlen durchdringen jeden festen Gegenstand, machen ihn farblos, für das menschliche Auge unsichtbar.

Das heißt, dies ist nur eine Hypothese, eine Annahme. Nobody und Scott aber hatten die Richtigkeit dieser Hypothese in der Hand, nur daß es sich hier nicht um einen glasähnlichen, harten Stoff handelte, sondern um einen schmiegsamen.

Es gehörte kein besonderer Scharfsinn dazu, daß diese beiden Männer sofort solch eine Erklärung für das Phänomen fanden. Denn gerade damals wurde die ganze Welt in Aufregung versetzt durch die Entdeckung von Professor Röntgen, durch seine sogenannten X-Strahlen.

Bisher war für uns Licht einfach Licht, alle physikalischen Eigenschaften des Lichtstrahls mit seinen chemischen Wirkungen waren uns bekannt – bis Professor Röntgen den Beweis lieferte, daß es noch andere Lichtstrahlen gibt, mit völlig anderen Eigenschaften, und seitdem hatten und haben sich viele Physiker mit Macht daraufgeworfen, immer noch andere Lichtstrahlen zu entdecken, auch mit Erfolg.

So z. B. ist die Entdeckung des wunderbaren Radiums – welches aber zur Zeit unserer Erzählung also noch nicht bekannt war – nur dem Umstande zu verdanken, daß sich ein französischer Gelehrter mit den Röntgenstrahlen beschäftigt hatte. Bei Durchleuchtung der verschiedenen Mineralien entdeckte er durch Zufall das selbständig leuchtende Radium.

Und hier verstand ein Mann eine Substanz herzustellen, welche durch doppelte Brechung und Reflexion des Lichtes Strahlen erzeugte, die jeden Gegenstand für das menschliche Auge unsichtbar machten.

»Ich hatte eine Ahnung, daß so etwas vorliegen müsse,« sagte Nobody, »es kam mir nämlich gerade so vor, als ob der Schwarzrock in dem Moment, da er verschwand, etwas wie einen Mantel um sich warf. Er hatte solche Armbewegungen gemacht. Deshalb untersuchte ich auch immer wieder seine Taschen – und richtig, da liegt der Tarnmantel!«

Unterdessen hatte sich Scott mit dem unsichtbaren Gewebe beschäftigt. Es war immer dasselbe. Steckte er seine Hand darunter, so war diese zu sehen. Wickelte er aber das Tuch darum, so daß die Hand also eingehüllt war, so war sie verschwunden, zugleich durchsichtig, denn wurde sie auf einen Gegenstand gelegt oder auf die Tischplatte, so war diese ganz deutlich zu sehen.

Wußten die beiden gebildeten Männer das Phänomen auch auf eine natürliche Weise zu erklären, so war ihre Erregung über diese Erkenntnis doch eine ungeheure. Besonders bei Scott war dies der Fall.

Der sonst so phlegmatische Kanadier konnte nicht mehr sitzen, er mußte aufspringen und im Zimmer herumrennen.

»Tarnmantel, Tarnmantel!!« rief er ein übers andere Mal. »Das ist das richtige Wort! Die unsichtbar machende Tarnkappe gehört ins Reich des Märchens – und hier – und hier – nein, es ist ja gar nicht möglich!!«

»Mein lieber Freund. Wenn Professor Röntgen seine X-Strahlen vor 300 Jahren entdeckt hätte, so wäre er als Hexenmeister, der mit dem Teufel im Bunde steht, auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, und hätten Sie noch voriges Jahr die Behauptung aufgestellt, man könnte dereinst die Knochen im menschlichen Leibe photographieren, so wären Sie jedenfalls ins Irrenhaus gesperrt worden. Oder glauben Sie nicht?«

»Ich verstehe, was Sie meinen, und Sie haben recht,« murmelte Scott. »Und doch – die unsichtbar machende Tarnkappe erfunden – gleich ein Tarnmantel – es ist schier unfaßlich!«

»Jawohl, Sie können auch von einer Tarnkappe sprechen, gleich von einem ganzen Tarnanzug. Der Mephisto – ich will ihn Monsieur Sinclaire nennen, wie er sich damals ins Kajütenbuch eingetragen hatte – hat nämlich nicht nur dieses unsichtbarmachende Tuch bei sich gehabt. Hier ist auch noch ein ganzer Anzug von demselben Stoffe. Glücklicherweise griff ich einmal in das Büchschen hier, da merkte ich, daß etwas drin war, aber es dauerte verdammt lange, ehe ich mich darin zurechtgefitzt hatte.«

Er nahm jene erwähnte Büchse aus Buchsbaumholz, öffnete sie, schien etwas herauszunehmen, sortierte etwas Unsichtbares.

»Ja, da muß man verdammt vorsichtig sein – und nur ja nicht blasen, das Zeug ist leicht wie Spinneweben – halt, hier habe ich die Kappe.«

Nobody stülpte etwas vorsichtig über den Kopf, und dieser war bis zu den Schultern verschwunden!

»Und hier ist eine Jacke, weit und bequem,« fuhr der unsichtbare Kopf zu sprechen fort, »sie wird, soweit ich fühlen kann, einfach übergezogen, denn Knöpfe und dergleichen gibt es nicht daran – und hier ist die Hose – hei, das muß ein Vergnügen sein, an einem heißen Sommertage nackt und in der Tarnkappe auf der Straße herumzulaufen ...«

Er zog die betreffenden Kleidungsstücke nicht an, nur die Kappe behielt er auf, und nun der kopflose Mensch, wie er die unsichtbare Kleidung sortierte und dabei immer in trocken-humoristischem Tone erklärte – der so ernste Kanadier konnte sich nicht helfen, er mußte lachen.

»Geht denn das nur alles in das kleine Büchschen hinein?« fragte er dann.

»O, was das betrifft – Sie kennen doch die Seidengewebe der indischen Hausindustrie – da kann man doch auch ein Tuch von zehn Quadratmetern mit Leichtigkeit durch einen Fingerring ziehen. Und so fein fühlt sich auch dieses Zeug hier an, und dennoch scheint es von bedeutender Festigkeit zu sein, eben indische Seide, nur präpariert mit Mephistopheles-Strahlen. Aha, die Hosenbeine sind ja unten zu, habe also gleich Strümpfe. Das ist famos, das kann man gleich unter dem gewöhnlichen Anzug tragen, und zieht man diesen aus, so ist man eben unsichtbar.«

Nobody nahm die Kappe wieder ab, und im Gegensatz zu der humoristischen Weise, in der er gesprochen hatte, waren es sehr ernste Augen, welche Scott anblickten.

»Was sagen Sie nun zu alledem, mein Freund?«

»Ja, jetzt verstehe ich Ihre schweren Sorgen, von denen Sie vorhin sprachen – die furchtbare Gefahr, die Ihnen und Ihrem ganzen Hause droht.«

»Sie wissen, was ich meine?«

»Ich glaube, dieser rätselhafte Mann weiß, daß ein Fremder in sein Geheimnis am Nordpol gedrungen ist. Auf eine mir noch unerklärliche Weise hat er erfahren, daß gerade Sie es gewesen sind, der Baronet von Kent, Champion der Königin. Er sucht Sie auf, nicht, um Sie zu verderben, dazu sind Sie ihm zu schade; denn er hat sich schon längst mit Ihnen beschäftigt, und auch er schätzt Ihre Kenntnisse und Fähigkeiten. Er will Sie auf seine Seite ziehen. Deshalb sucht er Sie hier in Ihrer Wohnung auf. Jedenfalls ist er doch nicht allein, er hat Helfershelfer, er nannte sie ja wohl schon die Untertanen seines unsichtbaren Reiches. Sollte denen nicht bekannt sein, daß sich ihr Gebieter hierher zu Ihnen begeben hat? Sollten diese unsichtbaren Geister, wie man sie wohl nennen darf, nicht Mittel und Wege finden, ihren Gebieter zu befreien und ... Rache zu nehmen?«

Scott hatte aus Nobodys tiefster Seele gesprochen, und es mußte ein furchtbar niederschlagender Gedanke sein, daß der sonst so energische Mann plötzlich den Kopf so tief auf die Brust sinken ließ.

»Gegen Menschen und Elemente will ich kämpfen,« flüsterte er, »und nahe sich mir der Teufel in eigener Gestalt, wenn ich ihn nur sehen kann, ich will ihn packen und mit ihm ringen – aber unsichtbare Menschenhände – entsetzlicher Gedanke – der lähmt meine ganze Energie!«

»Vielleicht ist nur er im Besitze dieser beiden Gewänder,« suchte Scott zu trösten.

»Vielleicht, vielleicht! Wer gibt mir hierfür eine Garantie? Er selbst wird es mir natürlich nicht sagen.«

»Sie haben nichts in der Hypnose aus ihm herausgebracht?«

»Das ist es ja eben! Dieser geheimnisvolle Mann wird zwar durch mein Mittel in Hypnose versetzt, aber er verweigert dem Hypnotiseur den Gehorsam! Wiederum ein mir unfaßbares Rätsel. Der Kerl kann eben mehr als ich.«

»Steht etwas in dem Notizbuche?«

»Jawohl, genug. Hieroglyphen. Und ich bezweifle, daß dieser Mann sich einer Geheimschrift bedient, die irgend ein anderer Mensch entziffern kann. Und was es sonst für ein Charakter ist, das erfahren Sie hier aus diesem Aquarellbildchen, jedenfalls von seiner Hand gemalt und gewissermaßen sein Wappen darstellend.«

Es war ein seltsames Bild, farbig ausgeführt, welches die erste Seite des in Saffianleder gebundenen Notizbuches schmückte.

Ein großes Spinnennetz, in der Mitte die Spinne, aber auf dem geschwollenen Leibe ein Menschenkopf, dessen mit einem schwarzen Barte eingerahmtes Gesicht ganz deutlich die Teufelsfratze jenes Mannes wiedergab.

Um diese Menschenspinne herum nun eine ganze Menge von Weibern, die sich in dem Netze gefangen hatten, Repräsentantinnen aller Völkerrassen: eine modern gekleidete Dame, eine Türkin, eine ganz nackte Wilde, dann die Tracht einer Schwedin, einer Rumänin u.s.f.

Das Bildchen war ausgezeichnet gemalt. Nicht nur konnte man deutlich erkennen, daß die eine Figur eine elegante Dame aus der großen Welt, die andere etwa ein Fabrikmädchen darstellen sollte, sondern auch die angstvollen Gesichtszüge waren immer treulich wiedergegeben.

Zu dieser Angst hatten sie ja auch allen Grund. Einige schienen soeben erst in das Netz geflogen zu sein und waren sich ihrer Lage noch nicht recht bewußt; andere erhoben bittend ihre Hände zu der Menschenspinne, welche sich soeben anschickte, eine wohlgenährte Vierländerin auszusaugen. Andere versuchten sich von dem sie umstrickenden Gewebe zu befreien, wobei manchmal recht lüsterne Stellungen herauskamen, wie überhaupt die Lüsternheit vorherrschte, und andere wieder waren schon wie die ausgesaugten Fliegen vollkommen eingesponnen, verdorrt.

»Seltsam!« murmelte Scott.

»Nein, gar nicht seltsam. Das ist eben das Wappen dieses Mannes, eine menschliche Giftspinne, das offenbart seinen Charakter, und wenn die spanische Tänzerin, deren Stolz er als Bettler mit dämonischer Kraft gebrochen hat, nicht den Leberfleck gehabt hätte, der diesem Kenner an tadelloser Frauenschönheit nicht paßte, so hätte er auch sie eingesponnen und ausgesaugt, dann vielleicht noch in Eis konserviert, als Andenken. O, da weiß man wirklich nicht, ob man dieses Genie anbeten, oder ob man sich vor diesem Scheusal entsetzen soll.«

Im Schreibtisch ertönte ein Klingelzeichen.

»Was gibt es?«

»Der Gefangene ist zu sich gekommen,« meldete eine Stimme, »er hat Bleistift und Papier gefordert, ich habe es ihm gegeben.«

»Recht so. Ich komme sofort.«

Mit einer trotzigen Bewegung warf der Detektiv den Kopf zurück, als er aufstand.

Verschwunden war mit einem Male alle Niedergeschlagenheit, Nobody war wieder derselbe, der er immer war.

»Ich bin es gewesen, der im Kampfe Sieger geblieben ist, trotz aller seiner Künste! Und ich werde ihn auch noch zum Sprechen bringen, er muß mir alles offenbaren, er muß! Oder ich ...«

Er vollendete den Satz nicht, auch ging er nicht sogleich.

Zuerst verpackte er alle die Sachen und brachte sie in Schubfächern des Schreibtisches unter, was einige Zeit in Anspruch nahm.

»Verzeihen Sie, Edward, ich möchte ihn doch zuerst allein sehen und sprechen. Ich teile Ihnen dann alles mit.«

»Wo befindet er sich denn jetzt?«

»Hier nebenan im Empfangszimmer. Aber noch immer in seinem Käfig. Na, der wird schöne Augen gemacht haben, als er erwachte! Als Sie draußen waren, habe ich ihn entkleidet – ein zierlicher, fast schwächlicher Körper – und ihm andere Sachen angezogen. Mein Sekretär blickt manchmal nach ihm. Papier und Bleistift hat er gefordert? Was will er denn schreiben? Nun, ich werde es ja gleich sehen.«

Nobody war fertig mit dem Wegräumen, er ging nach der Tür des Nebenzimmers, öffnete sie und ...

Erst prallte er einen Schritt zurück, dann stürzte er mit einem Schrei vorwärts.

Der Käfig stand noch in dem Zimmer, der Gefangene befand sich auch noch darin, aber er saß nicht, stand auch nicht, sondern er – hing!

Er hatte sich mit seinem Hosenträger oben an einem Gitterstab aufgeknüpft, hatte seine schönste Teufelsfratze aufgesetzt, nur daß diese jetzt nicht so bleich, sondern blau angelaufen war, und so hing er und streckte dem Eintretenden die Zunge weit heraus.

Im nächsten Augenblick war Nobody in dem Käfig und hatte den Hosenträger durchschnitten. Zu spät! Der Tod war bereits eingetreten, und gegen den Tod wußte auch Nobody kein Mittel.

Auf dem Stuhle lag ein mit Bleistift beschriebener Bogen Papier.

»Sir Dr. Alfred Willcox, genannt Nobody! Meine respektvollste Hochachtung vor Ihnen! Sie sind mir über. Ich hätte niemals geglaubt, daß mich ein Mensch besiegen könnte – Sie haben es fertig gebracht. Deshalb noch einmal meine Hochachtung!

»Nun ist's aber doch mit mir vorbei. Sie haben mir meine Gottähnlichkeit geraubt, und daß mich, den unsichtbaren Gott, jemand ohnmächtig in einem Affenkäfig sitzen sehen soll, das vertrage ich nicht. Außerdem bin ich schon längst des Lebens überdrüssig, ich bin auch viel zu gut für die Erde, ich gehe wieder zurück in meine schöne Heimat, in die Hölle.

»Ja, ich bin ein Teufel gewesen. Aber auch ein Teufel kann einmal großmütig sein. Ich setze Sie zu meinem Erben ein. Ueberhaupt hatte ich ja vor, Sie zu meiner rechten Hand zu machen, und daß Sie mich gleich so in einen Affenkäfig einsperren, das ist eigentlich gar nicht hübsch von Ihnen.

»Trotzdem, ich verzeihe Ihnen, und während ich zur Hölle fahre, die sich bekanntlich im Innern der Erde befindet, mache ich Sie zum Herrn auf der Erdoberfläche, zum Herrn über alle Menschen und alles, was da kreucht und fleugt.

»Sollte es Ihre eigene Findigkeit noch nicht entdeckt haben, so untersuchen Sie meine linke Rocktasche, Sie werden da etwas Unsichtbares herausziehen, etwas ebenso Unsichtbares ist auch in dem geschnitzten Holzkästchen, und das ist ein vollkommener Anzug, und eine weitere Einleitung braucht Mr. Nobody wohl nicht.

»Wenn ich Ihnen nun noch mitteile, daß diese beiden ›Nebelkostüme‹ die einzigen sind, welche existieren, so brauche ich Ihnen nicht mehr zu sagen, wie Sie sich dadurch zum Herrn der gesamten Erde machen können.

»Ich habe keine Zeit mehr zum Schreiben. Nur das eine will ich Ihnen noch zur Beruhigung mitteilen: wenn ich von Ihrer Wohnung aus per Extrapost zur Hölle fahre, so kümmert sich kein Mensch darum. Ich bin immer als unnahbarer, unsichtbarer Gott auf Erden gewandelt – mit Ausnahme einiger Gelegenheiten; auch heute leistete ich mir eine Extravaganz mit einer spanischen Tänzerin, die ja wohl auch bei Ihnen gewesen ist, (notabene: geben Sie sich nicht so viel mit Frauenzimmern ab, wie ich es getan habe, es hat keinen Zweck, es kommt nichts dabei heraus, man verläuft dabei nur seine kostbare Zeit; für mich häßlichen Krüppel freilich hatten solche Eroberungen einen ganz besonderen Reiz.)

»Wie ich erfahren habe, daß Sie in meinem Laboratorium am Nordpol gewesen sind? Als Sie über die Schwelle gingen, wurden Sie und Ihr Begleiter automatisch photographiert. Ich kam bald nach Ihnen dorthin, sah die Photographie, ging nach New-York zurück, hörte vom ›Polarstern‹, nur drei Mann waren von der Polarexpedition, die östlich von Grönland gemacht worden war, zurückgekehrt, dann Nobodys Bericht in ›Worlds Magazine‹ – und wenn da auch etwas ganz anderes zu lesen war, ich wußte genug, denn ein dummer Teufel bin ich nicht. Das ist die einfache Erklärung.

»Nun aber zur Hauptsache: Von Edfu am Nil führt nach den Ruinen von Berenice durch das Gebirge eine alte, jetzt nicht mehr benutzte Karawanenstraße, genannt das ›Tal der Verwirrung‹.

»Zählen Sie auf dieser Straße rechts den achten Brunnen, bei allen dort hausenden Beduinen bekannt als der Teufelsbrunnen. Das ist der Zugang zu einer meiner Behausungen. Es gibt noch einen anderen, viel bequemeren Zugang, aber dessen Beschreibung wäre zu kompliziert, den finden Sie dann von innen.

»Der Brunnen ist ausgetrocknet. Sie lassen sich an einem Seile hinab. Sechs Meter unterhalb der Erdoberfläche sehen Sie in der Wand einen eisernen Riegel eingelassen. Diesen Riegel drehen Sie nach rechts herum, so weit er geht. Tun Sie das nicht, so werden Sie wieder nach oben expediert, d. h. Sie fliegen in die Luft.

»Was Sie dort unten finden, werden Sie ja sehen. Am meisten wird Sie ein von mir geschriebenes Buch interessieren. Dieses gibt Ihnen über alles Aufklärung: wer und was ich bin, was für Entdeckungen ich gemacht habe, besonders auf dem Gebiete der Elektrizität, was für eine Bewandtnis es mit dem roten Ringe hat, wie ich zu den beiden ›Nebelkostümen‹ gekommen bin, usw. usw.

»Auch von der von mir gegründeten Sekte, die mich nicht nur als ihren Propheten, sondern als ihren Gott anbetet, wird Ihnen das Buch erzählen. Machen Sie mit dieser Bande, was Sie wollen. Da Sie sich wohl nicht als Gott anbeten lassen werden, so ist es vielleicht das beste, Sie setzen die wahnsinnige Gesellschaft auf ein Pulverfaß und blasen sie in die Luft.

»Genug! Ich bin und bleibe

Mephistopheles.«


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