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1. Das große Rätsel.

Sir Alfred Willcox, Baronet von Kent, den wir aber nach wie vor einfach Nobody nennen wollen, begrüßte seine Gattin am Kaffeetisch.

Es war heute tatsächlich die erste Begegnung; denn der Landwirt, der schon sein Reitkostüm gewechselt, hatte bereits mehrere Arbeitsstunden hinter sich, während Gabriele zu normaler Zeit aufgestanden war, sie hatte nur noch die Kinder dem Hauslehrer übergeben, und der ausgetauschte Morgengruß hätte bei Neuvermählten nicht herzlicher sein können.

»Heute ist ein großer Tag,« sagte Nobody, als sie sich zum Frühstück niedergesetzt hatten.

»Wieso, Alfred?«

»Heute vor sieben Jahren sprang ich von dem Dampfer ›Persepolis‹ über Bord in den Atlantischen Ozean, um als neuer Mensch, um als Nobody das amerikanische Festland zu betreten.«

Da allerdings war viel Stoff zur Unterhaltung vorhanden! Vor sieben Jahren ein unbekannter, heimatloser Abenteurer, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, Detektiv zu werden, mit gar nichts beginnend – heute Ehrendoktor einer Universität, englischer Baronet, Waffenmeister des höchsten Ritterordens, Champion-Detektiv der englischen Königin, dessen Macht als Kriminalbeamter fast unbeschränkt war, und das alles aus eigener Kraft geworden, und was nun alles dazwischen lag – ja, das gab Stoff zur Unterhaltung!

Die Morgenpost kam. Nur die mit einer besonderen Chiffre versehenen Briefe gelangten direkt in Nobodys Hände und wurden gleich beim Kaffeetrinken gelesen, die anderen wurden im Sekretariat erledigt.

Besonders ein versiegelt gewesener Brief schien Nobodys Aufmerksamkeit zu fesseln.

»Gabriele, ich muß in den nächsten Tagen nach New-York.«

So nebenbei hatte er es gesagt, ohne ein ›leider‹, und Gabriele führte die Tasse so ruhig zum Munde, als hätte sie das Gleichgültigste von der Welt gehört.

Denn sie hatte den Nobody geheiratet, den rastlosen Detektiv, und er war noch ganz genau derselbe, als den wir ihn früher zur Genüge kennen lernten, dem Aeußeren nach, dem Charakter nach, dem Berufe nach. Was er tat, das tat er ganz.

Gewiß, es hatte sich manches geändert. Als Baronet von Kent lagen ihm Verwaltungsgeschäfte ob, die er treu erfüllte; zu gewissen Zeiten hatte er auch am Hofe und beim Ordenskapitel Ehrendienste zu tun; er war ein leidenschaftlicher Landwirt geworden, der manchmal den ganzen Tag nicht von den Feldern kam und sich am liebsten über Rüben und über Schweinezucht unterhielt; mit seiner Gabriele, die als Künstlerin gefeiert wurde, gab er sich gern gesellschaftlichen Vergnügungen hin, aber wenn irgendwo in der Welt, ob nun in den dunklen Gassen des nahen Londons oder in den fernsten Landen jenseits des Meeres, eine unerklärliche Tat geschehen war, vor welcher die Kriminalpolizei ratlos stand, da war Nobody als Detektiv zur Stelle, um seine ganze Kraft und Erfahrung, sein eigentümliches Genie, das ihm ein gütiger Gott verliehen, in den Dienst der Gerechtigkeit und Aufklärung zu stellen.

»Das heißt,« fuhr er fort, »in New-York selbst habe ich gar nichts zu tun. Ich weiß nur, daß sich eine Person, die ich in einem gewissen Verdachte habe, nächstens von London aus nach New-York begibt, und ich habe einen Grund, den Mann gerade während der Ueberfahrt zu beobachten. Da muß ich die Reise nach New-York eben mitmachen. Es handelt sich nur noch darum, festzustellen, wann er abfährt und welchen Dampfer er benutzen wird. Diesem Briefe nach könnte die Depesche eigentlich schon unterwegs ...«

Ein Diener trat ein, er brachte ein Telegramm. Nobody riß es auf, und eine Erregung packte ihn, er erhob sich vom Stuhle.

»Welch wunderbarer Zufall!!« rief er. »Persepolis! Er benutzt die ›Persepolis‹! Und sie geht schon heute in See! – Heute vor sieben Jahren sprang ich in der Nähe von New-York über die Nordwand der ›Persepolis‹, heute, nach sieben Jahren, muß ich mich an Bord der ›Persepolis‹ wieder nach New-York einschiffen! Gabriele, was sagst du zu solch einer Fügung?«

Zunächst sagte Gabriele gar nichts. Sie war plötzlich bleich geworden und hatte ganz große Augen bekommen, so saß sie mit im Schoße gefalteten Händen da.

»Gabriele, was ist dir?« fragte er erschrocken.

»Alfred, geh nicht nach New-York!« brachte sie mühsam mit zitternder Stimme hervor. »Nicht mit der ›Persepolis‹, nicht heute – die Sieben ist eine Unglückszahl!«

»Ach so, die böse Sieben!« lachte er aber belustigt auf. »I, bist du denn auch abergläubisch? Das habe ich noch gar nicht gewußt. Ich aber bin sehr abergläubisch. Sieh, Schatz,« noch immer lachend legte er den Arm um ihre Hüften, »gerade heute ist mein besonderer Glückstag; denn erstens fand ich heute früh ein vierblättriges Kleeblatt – hier ist es, zweitens lief mir vorhin ein weißes Wiesel über den Weg, und drittens war heute früh mein allererstes, daß ich mit dem Kopf gegen einen Scheunenbalken rannte, und zwar ganz tüchtig, und nichts bedeutet mehr Glück, als wenn man sich mit nüchternem Magen an einem Scheunenbalken eine Brausche holt, das weiß ich aus langjähriger Erfahrung. Und da soll heute nicht mein Glückstag sein?«

Gegen solche Argumente war freilich nicht aufzukommen, und schließlich mußte Gabriele über sich selbst lachen. Außerdem sagte Nobody ihr zur Beruhigung auch noch, gegen seine sonstige Gewohnheit, um was es sich handelte – um etwas ganz Harmloses: Der Betreffende stand im Verdacht, aus dem englischen Staatsarchiv Papiere entwendet zu haben, nun kam es darauf an, wer sein Kompagnon sei; die Begegnung würde jedenfalls an Bord des Dampfers erfolgen, nur das wollte Nobody beobachten, weiter nichts, und dabei war absolut keine Gefahr. Und die gefährliche Seereise? Konnte das Schiff nicht untergehen? Du lieber Gott, da wollen wir lieber gar kein Wort verlieren! Konnte in diesem Augenblick nicht ein Stück Gips von der Decke fallen und Nobody erschlagen?

»Doch ich muß mich beeilen. Nun nenne mir noch einen Namen, auf den ich mir einen Paß ausstellen lasse – irgend einen englischen, keinen so auffallenden.«

»Edward Scott.«

»Edward Scott, schön! Dieser von meinem lieben Frauchen gewählte Name, unter dem ich segeln werde, wird mir erst recht Glück bringen!«

 

Wir wollen nicht die Empfindungen schildern, welche Nobody hatte, als er die ›Persepolis‹ betrat, und der Zufall wollte es auch, daß er, ohne sein Zutun, gerade wieder dieselbe Kabine angewiesen bekam, die er damals vor sieben Jahren innegehabt.

Als er seinen Namen ins Kajütenbuch einschrieb, merkte er, daß er an Bord einen Namensvetter hatte.

»Edward Scott, Quebec, Privat,« stand da mit markigen Zügen.

Er las es ohne Ueberraschung. So etwas passierte ihm häufig. Denn Nobody wählte als Pseudonym immer einen recht populären Namen, in Deutschland nannte er sich etwa Wilhelm Schulze oder Friedrich Müller, und da fand er denn gar oft einen Namensvetter. Und so ist in England und Amerika Edward Scott ein sehr häufig wiederkehrender Name.

Mehr interessierte er sich für diese Handschrift.

»Das ist ein Mann, der weiß, was er will, der immer seinen geraden Weg geht und sich durch nichts beirren läßt, ein aufrichtiger Charakter, durchaus zuverlässig. Wohl dem, der den seinen Freund nennen darf!«

Was Nobody an Bord geführt, hatte aus einem besonderen Grunde eben nur an Bord dieses Dampfers erledigt werden können, und doch war dies schon am zweiten Tage der Fahrt geschehen. Es interessiert uns so wenig, daß wir ganz darüber hinweggehen wollen. – –

Es ist nicht so einfach, auf hoher See einen Dampfer zu verlassen und auf einen anderen, ihm begegnenden zu gehen. Die Dampfer müßten stoppen, das würde schmähliches Geld kosten – ein Kapitän, der nicht zugleich Eigentümer des Schiffes ist, würde sich auf so etwas gar nicht einlassen, solch eine Fahrtunterbrechung kann er im Schiffsjournal gar nicht verantworten.

Uebrigens war es Nobody recht lieb, wieder einmal nach New-York zu kommen, er konnte drüben gleich einige finanzielle Geschäfte erledigen, desgleichen eine Unterredung mit dem Verleger von ›Worlds Magazine‹, in welcher Zeitschrift Nobody nach wie vor die Berichte über seine Abenteuer veröffentlichte.

Die Fahrt schien ohne jeden Zwischenfall verlaufen zu wollen. Auch unter den Passagieren fand das beobachtende Auge des unübertrefflichen Menschenkenners nichts Bemerkenswertes, weder in der ersten Kajüte, noch in der zweiten, noch im Zwischendeck.

Erst am vierten Tage der Reise, nur noch zwei von New-York entfernt, fesselte ein Mann seine besondere Aufmerksamkeit. Nobody hatte sich sehr früh an Deck begeben, in der fünften Morgenstunde, da begegnete er jenem, wie er eine Morgenpromenade machte.

Es war ein noch junger Mann, hoch und schlank, mit breiten Schultern und schmalen Hüften, gewachsen wie – wie ...

»Wie eine kanadische Edeltanne,« dachte Nobody. »Sollte es nicht ein Kanadier sein?«

Aber nun dieses Gesicht! Dieses war es, welches dem Detektiv, der die Menschenbeurteilung zu seinem Studium gemacht hatte, ein Rätsel aufgab.

Edle, männliche Züge, charaktervoll, kühn, stolz und trotzig – und dabei die großen, blauen Augen eines kindlichen Träumers, der weltvergessen in die Ferne blickt, der für diese Welt verloren ist, weil er sich an seinem unerreichbaren Ideale verzehrt – und die Verbindung dieser Manneskraft und Kühnheit mit schwärmerischer Träumerei gaben dem Ganzen einen Ausdruck von unsäglicher Schwermut.

»Armer Mann,« dachte Nobody erschüttert, »du hast mit deinen jungen Jahren schon etwas erlebt – dir hat das Schicksal eine Wunde geschlagen, die nimmer wieder heilt!«

Wer war es? Jener promenierte noch auf und ab, als Nobody dem Zahlmeister begegnete, dessen Freundschaft der Detektiv gleich am ersten Tage durch einige Flaschen Champagner gewonnen und sich erhalten hatte. Dieser Zahlmeister, der die Schiffsliste führt, besaß das Talent, bei jeder Reise jeden Kajütenpassagier mit Namen zu kennen.

»Mr. Edward Scott, Quebec, Privat, eigene Bedienung, dritte Salonkabine im zweiten Promenadendeck auf Backbordseite,« deklamierte der Befragte herunter.

Also Nobodys Doppelgänger, wenigstens dem Namen nach! Wie kam es, daß Nobody ihn noch nicht gesehen? Auch das hatte er bald von einem Steward erfahren.

Mr. Scott speiste in seiner Kabine. Servieren tat ihm sein eigener Diener, der aber gar nicht wie ein regelrechter Diener aussah. Jeden Tag kam er nur zweimal an Deck, überhaupt aus seiner Kabine, um eine Promenade zu machen: früh von 4 bis 5 und abends von 9 bis 10, und dieselbe minutiöse Pünktlichkeit hielt er auch bei seinem Spaziergang ein, immer vom Heck bis nach dem Mittelmast und wieder zurück, die Arme über der Brust verschränkt und den Kopf etwas geneigt, am Heck genau sechs Sekunden stehen geblieben und mit erhobenem Kopfe nach hinten in die Ferne gespäht, dann mit demselben Fuße wieder den Rückmarsch angetreten – und wenn der noch einige Reisen mitmachte, dann konnte man seine Fußspuren in den Deckplanken sehen.

Nobody hatte die Handschrift ganz richtig beurteilt. Von den träumerischen, schwermütigen Augen freilich war nichts darin ausgedrückt gewesen, so weit geht die Wissenschaft des Graphologen nicht.

Was machte er denn den ganzen Tag in seiner Kabine? Der Steward hatte keinen Zutritt. Einmal aber war er doch hineingekommen. Da hatte Mr. Scott, von aufgeschlagenen Büchern umgeben, geschrieben.

Nobody bekam den Diener zu Gesicht. Auch wieder ein menschliches Rätsel, an dem ein Psychologe knacken konnte. Ein kleiner, untersetzter, schon ältlicher Mann, das Gesicht, so weit der graumelierte Bart es frei ließ, mit zahllosen Furchen und Runzeln durchzogen, die schmalen Lippen immer fest zusammengepreßt. Von der Sonne gebräunt wie sein Herr, trug er auch einen ebensolchen dunkelblauen Anzug, allerdings nicht nach Seemannsschnitt, nur aus gröberem Tuche, ohne goldene Knöpfe und derartige Dienerabzeichen. Nobody sah seine Hände, sie waren groß und muskulös, hatten innen sogar Schwielen. Er schlief auch in der Salonkabine seines Herrn, war unter dem deutschen Namen Bruno Wünsche ohne weitere Angaben eingetragen.

Wieso mit diesem Manne ein Rätsel verknüpft sein sollte, das freilich wäre für einen anderen Menschen schwer zu sagen gewesen. Dazu gehörten eben die Augen eines Nobody. Wenn er die Schüsseln brachte, die Schiebetür öffnete, die Kabine betrat – da war doch gar nichts Besonderes dabei. Aber Nobody beobachtete mit anderen Augen. Der öffnete die Schiebetür nur so weit, um eben durchzukommen, und sofort hatte er sie mit der Hand auf dem Rücken wieder geschlossen, daß nur ja kein fremder Blick ins Innere der Kabine dringe. Und das war nur eine geringe Kleinigkeit.

»zzziyyy Dieser Mann hat das Lebensgeheimnis seines Herrn zu bewahren,zzz/iyyy« sagte sich Nobody, »zzziyyy und nirgends ist es treuer aufgehoben als bei ihm.zzz/iyyy«

 

Das Meer ist groß! Nur noch einen Tag von New-York entfernt, und so weit das Auge, das beste Fernrohr reicht – keine Rauchwolke, kein Segel zu sehen!

Die See war immer noch so, wie sie während der ganzen Fahrt gewesen. Nicht gerade ruhig – ein ›spiegelglatt‹ gibt es auf dem Atlantischen Ozean gar nicht – die Wellen zeigten weiße Kämme, aber den Riesendampfer konnten sie nicht wiegen. Nur seine Planken zitterten unter der Gewalt der beiden Schrauben, und außerdem waren sämtliche Segel gesetzt worden, die solch ein Passagierdampfer an seinen kurzen Masten führen kann, denn dieser prächtige Ostwind mußte ausgenützt werden.

Immer vergnügter rieb sich Kapitän Jonas die Hände. Hei, das war einmal eine Fahrt! Die brachte ihm etwas ein! Denn für jede Stunde, für jede Minute, die der Kapitän an der durchschnittlichen Fahrzeit erspart, bekommt er eine ganz beträchtliche Prämie! Das geht nach der Kontrolluhr! Und dann die Ehre, die Ehre!! Jede schnelle Fahrt ist für den Kapitän eine gewonnene Schlacht, die ihn höher befördern kann.

»Boot ahooiiiii!« sang langgedehnt der Matrose auf dem am Vordermaste angebrachten Ausguck, der den ausgestorbenen Mastkorb wieder zu Ehren gebracht hat, er hatte den Krimstecher vor Augen, und dann blickte er auf seinen kleinen Kompaß: »Drei Strich Steuerbord voraus!«

Wer nicht wußte, wohin er zu blicken hatte, der erkannte es schnell aus der Richtung der Fernrohre auf der Kommandobrücke.

Der dunkle Punkt rechts in der Ferne, eigentlich mehr voraus, wurde auch mit bloßen Augen entdeckt. Also ein Boot! Was für ein Boot? Keine Ahnung. Ein Segel schien es nicht zu führen.

Schnell wurde der Punkt größer.

»Das riecht hier recht nach Benzin,« meinte ein Herr mit einer Sturmkappe auf dem Kopfe.

Es war ganz undenkbar, daß man einen von dem Boote ausgehenden Benzingeruch hätte wahrnehmen können, ganz abgesehen davon, daß ja der Wind dorthinging. Aber bei dem Töfftöffmanne war das schon zum Instinkte geworden. Der roch selbst immer nach Benzin, und wenn er auch frischgewaschen aus dem Bade stieg.

Jetzt konnte man die Umrisse des Bootes deutlich unterscheiden, und der Instinkt sollte den Benzinmann nicht betrogen haben.

»Wahrhaftig, ein Motorboot!« wurde gerufen, wenn auch nur erst von denen, die etwas davon verstanden. Für die anderen war es vorläufig noch ein einfaches, scheinbar winziges Boot.

Doch bald war zu erkennen, daß sich nicht nur der Dampfer näherte, sondern daß das Boot selbst fuhr, direkt nach Süden, ohne Segel, ohne Ruder, von einem Schornstein war nichts zu sehen. Also mußte es wohl ein Motorfahrzeug sein.

»Da sind ja gar keine Menschen drin!« – »Die liegen am Boden, um dem Winde keinen Widerstand zu bieten.« – »Aber sich in solch einem Dingelchen so weit auf das Meer hinauszuwagen!«

So und anders klang es durcheinander.

Den kundigen Seemannsaugen wurde die Sache bedenklich. Das sah gerade so aus, als müsse, wenn sich hier nichts änderte, ein Zusammenstoß erfolgen, und mochte das Ding auch noch so klein sein, es war von Eisen und lief mindestens zehn Knoten – es konnte dem Riesen einige Rippen brechen, freilich um selbst in Atome zu zersplittern.

»Boot ahooiiiii!« donnerte das Sprachrohr.

Kein Mensch zeigte sich, und auch keine unsichtbare Hand änderte die Richtung des Bootes.

»Es kreuzt uns, es kommt nicht vorüber, wir müssen nach Steuerbord beidrehen,« sagte der wachehabende Offizier.

»Kein Viertelstrich wird von der Richtung abgewichen!« entgegnete der Kapitän zornig.

War der Kapitän gewillt, das Boot in den Grund zu rammen, es mitten durchzuschneiden? Das ist wohl schwerlich anzunehmen. Er hatte erkannt, daß es doch noch rechtzeitig an dem Dampfer vorüberfuhr.

Und so geschah es. Gute dreißig Meter vor dem Steven des Dampfers schoß es vorbei. Freilich war es von dem Kapitän ein gewagtes Spiel gewesen, oder er hatte seiner Berechnung sehr, sehr sicher sein müssen. Denn was sind dreißig Meter bei einem Schnellzug!

Da nun der große Dampfer fast noch einmal so schnell fuhr als das Motorboot, so kam es, daß sich dieses in der nächsten Minute, fast im nächsten Augenblick, ganz nahe links neben dem Dampfer befand.

Das hatten die Passagiere kommen sehen; alles, was sich an Deck befand, war nach der Backbordseite gestürzt.

Da konnte man nun für einige Augenblicke direkt in das unverdeckte Fahrzeug hineinsehen und ...

»Da ist ja gar kein Mensch drin! – Das Steuer ist nur festgebunden! – Der Führer muß über Bord gefallen sein! – Ein Sarg, da steht ein Sarg drin!«

Es war nur ein langer, schwarzer Kasten, der hinter den zischenden Zylindern am Boden des Fahrzeuges stand. Für diese Leutchen mußte es selbstverständlich ein Sarg sein.

Die Hauptsache und Tatsache aber war: In dem sich in voller Fahrt befindlichen Motorboote befand sich kein Mensch! Daß man die Ruderpinne festlegen konnte, hatte nichts zu sagen. Es gab dort unten gar keinen Platz, wo sich ein Mensch hätte verstecken können.

Hier zwanzig Knoten voraus und dort zwölf Kilometer seitwärts – wer nicht gerade günstig an der Bordwand gestanden hatte, konnte keinen Blick mehr ins Innere hinabwerfen – im nächsten Moment befand sich das führerlose Boot schon weit ab und hinter dem Dampfer, in dem aufgeregten Kielwasser heftig schlingernd.

Auch Nobody hatte einen vollen Blick bekommen, und ein plötzlicher Entschluß war ihm durch den Kopf geschossen – wohl nur einer Laune entspringend, aber auch ein unerschütterlicher Entschluß, für alles verantwortlich.

Er sprang nach der Kommandobrücke.

»Kapitän, geben Sie mir eine Jolle, lassen Sie den Dampfer für eine Minute stoppen, nur mit halber Kraft fahren, ich folge dem Motorboote!« schrie er hinauf.

Der Kapitän machte ein Gesicht, als traue er seinen Ohren nicht.

»Was wollen Sie?«

»Ein Boot aussetzen; ich will dem führerlosen Motorboote folgen, das kann doch nicht lange aushalten, lassen Sie den Dampfer stoppen!«

»Sie sind wohl nicht recht ...«

»Ich bezahle alles! Was kostet die Minute, wenn Sie mit rückwärtsdrehender Schraube abstoppen? Schnell, schnell!«

Der Kapitän brach in ein höhnisches Lachen aus.

»Nicht für hunderttausend Dollar! Und wenn auch der Himmel selbst ...«

Bum! Ein dumpfer Knall, augenblicklich hörte das Zittern der Planken auf, die Schraube stand.

Mit einem fürchterlichen Fluche sprang der Kapitän an das Telephon, das ihn mit sämtlichen Räumen des Schiffes verband; sofort bekam er Meldung. Im nächsten Augenblick verteilten sich Offiziere und Unterbeamte geschickt überall unter den Passagieren, wo sich solche nur aufhielten, um mit beruhigenden Worten eine Panik zu unterdrücken.

Gar nichts von Bedeutung. Nur einer der acht Dampfzylinder war gesprungen. Hatte absolut nichts auf sich. Weil zwei Schrauben vorhanden, mußte die Kuppelung umgeschaltet werden.

»Denn wenn nur die eine Schraube arbeitet, dann drehen wir uns doch immer im Kreise, und das geht doch nicht, nicht wahr, meine Damen und Herren?«

So beruhigten die wohlgeschulten Beamten mit scherzhaften Worten, nur um den ersten Eindruck zu verwischen. Denn ist die Panik einmal ausgebrochen, dann läßt sie sich nur noch mit roher Gewalt wieder eindämmen.

Dem Kapitän war es gar nicht scherzhaft zumute. In ohnmächtiger Wut knirschte er mit den Zähnen. Die Reparatur nehme mindestens zwei Stunden in Anspruch, so hatte das Telephon aus dem Maschinenraume gemeldet. Vorbei, vorbei! Der Feldherr hatte zu früh von einer gewonnenen Schlacht geträumt!

Daß man von einem in voller Fahrt befindlichen Dampfer kein Boot aussetzen kann, das bedarf wohl keiner besonderen Begründung. Man wolle nur immer an einen Schnellzug denken. Da bekäme einem das Herausspringen wohl übel.

Der Himmel, gegen den der Kapitän trotzen wollte, war Nobody zu Hilfe gekommen.

»Herr Kapitän, geben Sie mir ein Boot mit voller Ausrüstung, ich bezahle alles.«

»Lassen Sie mich ungeschoren!!« fuhr der Kapitän den Untenstehenden wütend an.

»Herr Kapitän, ich bitte Sie, das Motorboot ist offenbar ...«

Zufällig hatte Nobody einen Fuß auf die unterste Stufe der nach der Kommandobrücke hinaufführenden Treppe gesetzt; der Kapitän sah es.

»Mensch, den Fuß von der Treppe, oder ich lasse Euch in Eisen schließen!!« donnerte er und fuhr mit der Hand in die Tasche, als sei er zu noch mehr fähig.

»Bitte, Sir,« sagte da neben Nobody eine tiefe, wohllautende Stimme, »ich habe mein Segelboot mit, es liegt gleich hier an Deck. Darf ich es Ihnen zur Verfügung stellen?«

Ueberrascht sah Nobody auf und blickte in die energischen Züge und in die traurigen Augen seines Namensdoppelgängers.

Zunächst trat er schnell unter die Kommandobrücke, um aus den Augen des Kapitäns zu kommen; der Kanadier folgte ihm.

»O, sehr liebenswürdig von Ihnen! Tatsache? Ein seetüchtiges Boot?«

»Ein Sportboot, das jeden Seegang besteht. Es ist der ›Clever‹ – Sie haben vielleicht davon gehört ...«

»Doch nicht das Boot, in welchem voriges Jahr der amerikanische Kapitän Archy Brown mit nur einem Begleiter von New-York nach Liverpool gesegelt ist?« rief Nobody überrascht.

»Dasselbe. Ich habe es gekauft und vollständig neu herrichten und auftakeln lassen. Dort liegt es. Es kann sofort ins Wasser gelassen werden.«

Er deutete auf eine festgeschnürte Plane, die einen großen, langgestreckten Gegenstand verbarg, der mitten an Deck lag.

»Einen Augenblick!«

Der zweite Offizier ging vorüber, Nobody hielt ihn an.

»Verzeihung, Mister Governor. Gerade als das Motorboot vorüberfuhr, und als der Knall erscholl, sah ich Sie die Sonne aufnehmen, Sie machten eine geographische Ortsbestimmung. Darf ich das Resultat der Berechnung erfahren?«

Bereitwillig zog der Gefragte sein Rechenbuch.

»41 Grad 58 Minuten 53 Sekunden nördliche Breite, 73 Grad 11 Minuten 36 Sekunden westliche Länge.«

»Danke sehr.«

Nobody brauchte sich diese Zahlen nicht zu notieren, und nun hatte er Zeit. Das Motorboot steuerte mit seiner festgelegten Ruderpinne den Kurs weiter, den Nobody wohl beachtet hatte, mit dem Kompaß in der Hand, bis das Benzin erschöpft war, und was sich der Riesendampfer unterdessen allein durch die Kraft der Segel entfernte, das kam gar nicht in Betracht.

»Es muß aber wohl erst mit Proviant und Trinkwasser versehen werden?« wandte sich Nobody wieder an den Kanadier.

»Es ist mit Proviant und frischem, in Liverpool eingenommenem Trinkwasser für drei Mann versehen, um noch einmal eine Reise über den Ozean machen zu können – Sextant und Logarithmentafeln, der beste Chronometer und Kompaß und alles ist vorhanden, es kann augenblicklich ins Wasser gelassen werden.«

»Vortrefflich! Aber können die Segel auch nur von einem Manne vom Steuer aus bedient werden?«

»Es ginge wohl. Doch wir begleiten Sie, ich und mein Diener.«

Betroffen blickte Nobody den Sprecher an, und immer wieder sah er die energischen, kühnen Züge und die traurigen, träumenden Augen.

»Herr, ich mache Sie darauf aufmerksam ...«

»Ich weiß, was ich tue,« wurde er von der ruhigen Stimme unterbrochen, »und wir sind auf den kanadischen Gewässern zu Hause, welche dem Atlantic an nichts nachgeben.«

»Trotzdem – wir sind mindestens noch 300 Seemeilen vom Lande entfernt, die Verfolgung des Motorbootes, das vielleicht noch stundenlang aushält, ist eine Fahrt ins Planlose ...«

»Das eben ist nach meinem Geschmack.«

»zzziyyy Wellzzz/iyyy, dann ans Werk! Wir haben zwei Bootskrane zur Verfügung, und der Kapitän soll uns nicht hindern, den Dampfer zu verlassen.«

Schnell war bekannt geworden, daß ein Passagier beabsichtige, dem führerlosen Motorfahrzeuge in einem Segelboote zu folgen, es einzuholen – der Kapitän hatte ihm ein Boot verweigert, aber ein anderer Passagier hatte sein eigenes mit, dort lag es, es gehörte jenem jungen Manne, der schon die Plane löste, seine Schlüssel aus der Tasche holte – und das war nun so etwas für die Matrosen, mancher hätte gern selbst mitgemacht, und sie sprangen ohne Aufforderung herbei und waren behilflich.

Unterdessen holte Nobody sein Köfferchen, und als er wieder an Deck kam, war die Plane schon entfernt.

Es war ein Seeboot, bei dessen Anblick das Auge eines jeden Sportsmannes aufleuchten mußte. Mr. Scott befand sich bereits darin und zog mit kundiger Hand die Taue durch die Rollen, ohne sich in dem netzartigen Durcheinander von zahllosen Tauen und Seilen und Schnüren zu irren, obgleich er deshalb noch kein Seemann zu sein brauchte.

Auch Bruno erschien mit zwei kleinen Koffern, die in das Boot gelegt wurden, und was die beiden sonst noch an Gepäck mithatten, das ging ja nicht verloren.

Zur schnellen Erledigung war ein Zufall zu Hilfe gekommen, daß man den Kapitän gar nicht erst brauchte.

Beim Verlassen des Hafens hatte der Dampfer eine kleine Kollision gehabt, ein in den Davits hängendes Boot war dabei eingedrückt worden. Man hatte die Trümmer beseitigt, sonst waren die Bootskrane mit allen Tauen noch in Ordnung.

Dorthin wurde das Boot auf Rollen gebracht, die drei Männer befanden sich schon darin – eingehakt, aufgehievt, ausgeschwungen, herabgelassen – und als der Kapitän merkte, was hinter seinem Rücken geschehen war, konnte er sein Donnerwetter nur noch über den Köpfen der Offiziere entladen, die dabeigewesen und solch ein eigenmächtiges Vorgehen von Passagieren geduldet hatten.

Das Boot schwamm bereits selbständig, hatte Hauptsegel und beide Klüver gesetzt, Nobody saß am Steuer.

Noch einmal blickte er zurück, um die Entfernung zu messen, die ihn von dem Koloß trennte, und da hatte er eine Vision, obgleich es doch handgreifliche Wirklichkeit war.

Aus einem Bollauge, wie die kleinen, runden Schiffsfensterchen heißen, schaute ein Gesicht, umwuchert von einem schwarzen Barte, das Gesicht selbst weiß wie eine Kalkwand, es machte aber auch einen leichenähnlichen Eindruck, und dieses Leichengesicht war verzerrt von Haß und Hohn, und Haß und Hohn funkelten aus den schwarzen Augen, welche dem absegelnden Boote nachblickten, und Haß und Hohn ...

Es läßt sich gar nicht beschreiben.

Dazu kam noch die runde Umrahmung, in welche diese Teufelsfratze genau hineinpaßte.

Wir sagten, Nobody hätte nur eine Vision gehabt. Das kam daher, weil er ja nur einen einzigen Blick nach rückwärts geworfen hatte. Er hatte keine Zeit, sich dieses Gesicht näher zu betrachten. Aber wie unauslöschlich fest sich diese weiße zzziyyy Teufelsfratzezzz/iyyy, nur bestehend aus Haß und Hohn, seinem Gedächtnis eingeprägt hatte, nur bei dem einzigen Blick nach rückwärts, das werden wir dann gleich sehen.

Die Segel schwellten, das Boot legte sich nach Steuerbord über, als wolle es kentern, richtete sich wieder auf, und dann schoß es wie ein weißer Schwan davon, nur wenig nach Lee überliegend, und mit welcher Macht sich auch das Wasser brach, der scharfe Bug des edlen Renners durchschnitt es wie – wie ein Rasiermesser die Butter – kein Tropfen benetzte die Insassen.

War das Risiko ein gewagtes? Wie man es nimmt. Nobody fürchtete nur eins: Daß das Motorboot, noch fahrend oder schon stilliegend, von einem anderen Schiffe gesehen und aufgefischt werden könnte. Es war ein wertvolles Objekt, und wenn es von Menschen verlassen worden, freiwillig oder unfreiwillig, so gehörte es nach Seerecht als treibendes Gut dem Finder.

Und würde dieses Segelboot, das doch nur vom Winde abhängig war, das Fahrzeug, wenn es sein Benzinleben ausgehaucht hatte, auch finden?

Mr. Scott warf einen an einer Leine hängenden Apparat aus, welcher die Schnelligkeit bestimmte, aber keine gewöhnliche Logleine, und beobachtete die am anderen Ende der sich drehenden Schnur befestigte Uhr.

»Acht bis neun Knoten, und die Segel können noch voller stehen.«

»Ich bin der Ueberzeugung,« sagte Nobody, »daß das Motorboot auch nicht schneller fuhr. Die Ansicht der Sportsleute, die ich hörte, es mache mindestens zwölf Knoten, beruhte auf Täuschung, weil sie selbst auf dem schnellen Dampfer standen, und mögen sie auch auf dem Lande so etwas taxieren können, auf der See ist das doch etwas ganz anderes.«

»Ich hörte sogar einen Steuermann sagen, daß es höchstens zehn Knoten liefe,« bestätigte der Kanadier.

»zzziyyy Wellzzz/iyyy, dann soll es uns auch nicht entgehen, und wenn das gebrauchsfähige Benzin auch noch zehn Stunden aushielte.«

»Dort ist es ja noch!« ließ sich Bruno zum ersten Male vernehmen.

Er hatte mit dem Fernrohr voraus den Horizont abgespäht und einen dunklen Punkt entdeckt. Es bestätigte sich, es war das Motorboot, allerdings noch in voller Fahrt, denn der Punkt wurde nicht größer.

Nobody bat den Bootseigentümer, das Steuer zu übernehmen, setzte sich an den Mast, zog sein Taschenbuch und begann zu zeichnen. Wenn das Boot auch schlingerte und stampfte, am Schreiben und Zeichnen hindert dies Nobody nicht.

Es war das eingerahmte Gesicht, welches er mit gewandtem Bleistift wiedergab, und obgleich es sein Blick doch nur ganz flüchtig gestreift hatte, war er sich bewußt, die Physiognomie der zzziyyy Teufelsfratzezzz/iyyy mit der Wahrheit einer Photographie getroffen zu haben.

»Mister ... ich kenne noch nicht einmal Ihren werten Namen.«

»Edward Scott,« stellte sich der Kanadier vor.

»Ah, welch seltsamer Zufall!« tat Nobody überrascht. »Da führen wir ja ein und denselben Namen, auch der Vorname stimmt überein!«

Der Kanadier antwortete nicht, er hatte die großen, blauen Augen ruhig auf den Sprecher geheftet, und Nobody fand in diesem Moment, daß diese Augen einem klaren, tiefen Alpensee glichen.

»Doch führe ich lieber den Namen des Mannes,« fuhr Nobody fort, »welcher mich als Kind adoptierte, und dem ich alles verdanke – sein Name war Mulford.«

»Sehr wohl, Mister Mulford,« entgegnete der Kanadier, und fast wäre es passiert, daß Nobody den Blick dieser großen, blauen Kinderaugen nicht ausgehalten hätte, etwas wie Beschämung beschlich ihn, daß er diesen ehrlichen Charakter so anflunkern mußte – doch schließlich war es ja ganz harmlos, zzziyyy und es ist oftmals nicht angenehm, wenn zwei Personen genau den gleichen Namen führenzzz/iyyy – ja, es kam Nobody fast vor, als ob diese klaren Augen ihm bis ins Herz sähen und dort die Wahrheit läsen.

Schnell hatte Nobody die kleine Schwäche überwunden.

»Haben Sie, als wir vom Schiffe abstießen, das Gesicht gesehen, welches uns aus einem Bollauge nachblickte? Der Mann, dem das Gesicht gehörte, befand sich in einer Kabine des unteren Promenadendecks.«

Ruhig schüttelte der Kanadier den Kopf.

»Ich habe nichts bemerkt, habe nicht darauf geachtet.«

»Mich wundert nämlich, daß ich dieses auffallende Gesicht während der fünf Tage gar nicht an Bord gesehen habe. Ein Passagier war es, er muß sich geradezu beständig in seiner Kabine aufgehalten haben. Ich habe das auffallende Gesicht hier nach dem Gedächtnis gezeichnet, nun stellen Sie es sich noch ganz unheimlich bleich vor, schon mehr weiß.«

Nobody hielt jenem die Zeichnung hin, zzziyyy und ... was war das?

Nur einen Blick auf das eingerahmte Gesicht, und der junge Mann war tödlich erschrocken zusammengezuckt. Aber er hatte sich außerordentlich in der Gewalt.

Ein anderer Mensch hätte dieses Zusammenzucken und den Schreck wohl schwerlich bemerkt, doch dem scharfen Auge des Detektivs war es nicht entgangen.

Bei dem Zusammenzucken blieb es nicht, hastig wendete sich Mr. Scott um, und Nobody wußte es ganz bestimmt, wenn er auch die Augen nicht sehen konnte, daß jener jetzt einen furchtsamen Blick nach dem Dampfer zurückwarf, der dieses Gesicht beherbergte, ohne daß der einsame Mann, der sich immer in seiner Kabine aufgehalten, es gewußt hatte.

Als er sich wieder umwandte, war freilich nichts mehr davon zu bemerken, und so ruhig wie vorhin schüttelte er den Kopf, während er nochmals auf die Zeichnung blickte, scheinbar ohne jedes Interesse.

»Nein, dieser Herr ist mir gänzlich unbekannt.«

Er sprach die Unwahrheit.

Es lag schon in seiner Ausdrucksweise. Er hätte höchstens sagen können: Nein, ich habe dieses Gesicht an Bord nicht gesehen.

Außerdem war seine Interesselosigkeit zu sehr erkünstelt, auch ihn hätte, wie jeden anderen Menschen, die Physiognomie dieser Teufelsfratze, die Nobody in ihrer ganzen Häßlichkeit wiedergegeben, überraschen müssen.

Da gab es für Nobody etwas zu grübeln. Was für ein Geheimnis lag hier vor? Hatte der in dem Gesichte ausgeprägte Haß und Hohn diesem jungen Kanadier gegolten?

»Das Motorboot liegt still!« rief in diesem Augenblick Bruno, der das Fernrohr nur aus der Hand gelegt hatte, wenn er sich mit den Segeln beschäftigte.

Schnell kamen sie näher. Nobody griff nicht erst zum Fernrohr.

»Schon vom Dampfer aus bemerkte ich,« sagte er, »daß an dem schwarzgemalten Heck kein Name stand, kein Buchstabe.«

»Nicht wahr, es ist nötig, daß jedes Fahrzeug, auch auf dem Meere, ob nun der größte Dampfer oder nur das kleinste Boot, seinen Namen und Heimatshafen in deutlich erkennbarer Schrift trägt? Ich bin kein Seemann, ich habe nur davon gehört.«

»Allerdings, das schreiben die internationalen Seegesetze aufs schärfste vor, und jedes Kriegsschiff ist verpflichtet, ein Fahrzeug, welches keinen Namen und keine Flagge führt, sofort ins Schlepptau zu nehmen und zur Bestrafung der nächsten Seebehörde auszuliefern. Name und Heimatshafen müssen unbedingt deutlich angegeben sein, da gilt keine Ausnahme.«

»Dieses Motorboot scheint aber doch eine zu machen.«

»Ja, das ist eben sehr rätselhaft. Nun, wir werden ja gleich sehen.«

Das auf den Wogen schaukelnde Fahrzeug war erreicht, das Segelboot legte bei. Nobody sprang sofort hinüber, während Scott es nicht so eilig hatte. Vorläufig blieb er noch am Steuer sitzen, obgleich das gar nicht nötig gewesen wäre, und beobachtete von hier aus Nobodys Untersuchungen, während sich der Diener nur mit dem Herablassen und Festmachen der Segel beschäftigte.

Das Fahrzeug war durchweg aus Stahl gebaut, der Form nach speziell für die See bestimmt, obgleich nur die beiden Zylinder und die empfindliche Maschinerie überdeckt waren.

Es war reichlich mit Trinkwasser und Proviant versehen, hauptsächlich Konserven, und zwar recht ausgesuchte; in luftdicht verschlossenen Glasbüchsen sah man außer grünen Erbsen und Bohnen auch den besten Spargel, Artischoken, Morcheln und andere Delikatessen, fix und fertig gebratene Fleischstücke aller Art brauchten auf einem kleinen Spiritusapparat nur noch gewärmt werden. Auch das Hartbrot schien von vorzüglicher Beschaffenheit zu sein.

Ebenso wie dieser Proviant deuteten auch die vollzählig vorhandenen nautischen Apparate an, daß das Boot nicht etwa zufällig von der Küste verschlagen worden war, sondern daß eine längere Reise auf hoher See beabsichtigt gewesen.

Das war das Ergebnis der ersten, oberflächlichen Untersuchung.

Jetzt wandte Nobody seine Aufmerksamkeit der langen Kiste zu, welche mitten am Boden des Fahrzeuges stand. Sie war schwarz angestrichen wie das ganze Boot, etwa zwei Meter lang und einen halben Meter breit, ebenso hoch – also eine einfache, vierkantige Kiste aus Brettern, die sonst mit einem Sarge gar keine Aehnlichkeit hatte.

Ihr Gewicht konnte Nobody nicht taxieren; er hätte, um sie zu heben, erst die Querhölzer entfernen müssen, welche zwischen die Kiste und die Bordwand geklemmt waren, um sie eben in dieser Lage festzuhalten, und das Boot schlingerte doch sehr stark, und war sie sehr schwer, so konnte leicht, wenn sie gegen eine Bordwand rutschte, eine Katastrophe eintreten.

Vorsichtig mußte man auf alle Fälle sein.

Der Deckel war mit Nägeln befestigt. Nobody fand im Werkzeugkasten Hammer, Meißel und Zange; er begann, den Deckel abzuheben, dabei ganz kaltblütig sich die Frage stellend: Wenn das nun eine Höllenuhr ist, die beim Oeffnen des Deckels explodiert?

Wie gesagt, er dachte es ganz kaltblütig, während er lustig mit Hammer und Brecheisen arbeitete. Er hätte es nicht ändern können.

Der Deckel drohte in der Mitte zu zerspalten, Nobody wollte es verhüten.

»Bitte, Mr. Scott, kann Ihr Diener mir behilflich sein, den Deckel abzunehmen?«

Der junge Kanadier stieg selbst hinüber, langsam, phlegmatisch, ließ sich von Nobody anstellen; gleichzeitig gingen alle Seiten des Deckels hoch, die Kiste war offen, und ...

Das sensationslüsterne Publikum auf dem Dampfer hatte richtig gewittert.

Die schwarze Kiste war wirklich ein Sarg! Eine Leiche lag darin, die Leiche eines jungen Weibes, eines blondhaarigen Mädchens, nur mit einem Hemd bekleidet.

Es muß doch ein eigentümliches Gefühl sein, wenn man eine zufällig gefundene Kiste öffnet und man sieht darin einen toten Menschen liegen. So ganz teilnahmlos, als wenn man darin etwa alte Zeitungen fände, bleibt man dabei wohl nicht. Auch Nobody blieb es nicht. Seine Bestürzung war groß. Im ersten Augenblick war er wie gelähmt.

Seltsam! In diesem Augenblicke, in welchem man bei solch einer Gelegenheit, wenn man sich selbst zu beobachten versteht, nämlich gar nichts denkt – das Gehirn hört plötzlich zu funktionieren auf – da schoß durch Nobodys Kopf der fragende Gedanke: Was wohl der junge Kanadier mit den energischen Zügen und den träumenden Augen denkt, zzziyyy wenn er diese Leiche sieht?zzz/iyyy Was für ein Gesicht wird er machen? Was für Augen? Wie wird er sich benehmen?

Und Nobody betrachtete nicht die Leiche, sondern er blickte seinen Begleiter an.

Und siehe da – Mr. Scott schaute völlig teilnahmlos in die Kiste, seinetwegen hätte sie ebensogut mit altem Zeitungspapier gefüllt sein können.

»Eine Leiche! Ein totes Weib! Das ist ja merkwürdig!«

Diese Ueberraschung war erkünstelt!!

Und Bruno, der Diener? Der hantierte nach wie vor mit seinen Segeln, der Kiste hatte er noch gar keinen Blick geschenkt, und auch jetzt tat er es nicht, da sein Herr mit lauter Stimme gesagt hatte, daß eine Leiche darin sei; ruhig fuhr er fort, ein Tau aufzurollen, und da plötzlich schoß es durch Nobodys Kopf:

Diese beiden wußten schon, daß in dieser Kiste diese tote Frau ist!!!

Im nächsten Augenblick freilich hatte Nobody diesen Gedanken auch schon wieder verworfen.

Nein, das waren eben zwei Sonderlinge. Der junge Mann mit den träumenden Augen war für alles abgestorben, der war selbst schon eine Leiche, die von irgend einem großen Seelenschmerze noch lebendig gehalten wurde, und der Diener war wie sein Herr geworden.

Nobody richtete seine Augen wieder auf die Kiste und ihren Inhalt, und jetzt stellte er ganz nüchterne Betrachtungen an. Höchstens zwanzig Jahre alt, sicher noch ein Mädchen, das unschuldige Gesicht von sehr zarten Zügen, die Hände klein und sorgsam gepflegt, desgleichen die Füße – also jedenfalls einem besseren Stande angehörend.

War sie denn auch wirklich tot? Oder schlief sie nicht nur?

Nobody wagte nicht, ihr seine Hand auf das Herz zu legen. Eine heilige Scheu hielt ihn ab, in Gegenwart des fremden Mannes den jungfräulichen Busen zu berühren, der sich leicht unter der dünnen Leinwand wölbte – eine Scheu, die der Detektiv Nobody sonst gar nicht kannte.

Zunächst begnügte er sich, ihre Hand zu heben. Keine Spur von Todesstarre. Hierbei konstatierte Nobody auch, daß diese Hand nie schwere Arbeit verrichtet, in letzter Zeit auch nicht mit der Nadel.

Dann nahm er prüfend das goldblonde Haar zwischen die Finger, welches langaufgelöst zum Teil über der Brust lag, und immer wieder ließ er es durch die Finger gleiten, und dann waren seine Züge etwas verstört, als er den anderen anblickte.

»Mr. Scott,« flüsterte er stockend, »ich weiß nicht – diese Frau ist – entweder – soeben erst verschieden – oder – sie ist – überhaupt gar nicht tot.«

»Gar nicht tot?« erklang es in fragendem Tone zurück, und wiederum so überaus gleichmütig. »Prüfen Sie doch einmal den Puls und das Herz!«

»Das habe ich nicht nötig – ich habe für so etwas meine eigene Methode – das Haar – und – dieses Haar ist noch lebendig.«

»Wie meinen Sie das?«

»Es ist noch nicht brüchig – nicht hart – nicht im geringsten – es ist noch vollständig weich.«

»Vielleicht scheintot?«

Wie teilnahmlos diese Frage nur herauskam?!

»Mr. Scott – verzeihen Sie – eine Frage ... sind Sie – verheiratet?«

Da sah Nobody in dem sonst so unerschütterlichen Gesichte etwas vor sich gehen, ein eigentümliches Zucken, nur für das beobachtende Auge dieses Detektivs bemerkbar, gleich war es wieder vorüber – doch es hatte genügt, um Nobody eine ganze Geschichte zu erzählen – jene alte Geschichte, die ewig neu bleibt – die alte Geschichte von der unglücklichen Liebe – und wem sie just passieret, dem bricht das Herz entzwei.

Dem war es dabei gebrochen!

Er antwortete nicht, aber er hatte verstanden, was mit der Frage, ob er verheiratet sei, gemeint war, und schweigend begab er sich zurück in das Boot und traf Vorbereitungen, um mit dem Sextanten nach der hochstehenden Sonne die geographische Lage zu bestimmen, was er also ebenfalls verstand, ohne ein Seemann zu sein, und der Diener war ihm dabei behilflich.

Jetzt hatte Nobody jene Scheu überwunden, etwa fünf Minuten lang beschäftigte er sich mit dem Körper des jungen Weibes.

Als er sich nach dem Segelbote umwandte, war er etwas bleich.

»Das Rätsel bleibt bestehen.«

»Einen Augenblick, Sir,« sagte Scott, der auf einem Blatt Papier rechnete und manchmal in dem Logarithmenbuche nachschlug, welches ihm Bruno halten mußte.

»Welches Rätsel?« fragte er dann ruhig, als er das Resultat gefunden hatte.

»Sie ist tot, ich kann es nicht anders annehmen; aber alle bekannten Anzeichen, daß der Tod eingetreten ist, fehlen.«

»Keine blauen Flecke?«

»Das wäre doch das Allerauffallendste. Nein – nichts, gar nichts! Und, wie gesagt, für mich ist die Beschaffenheit des Haares das Ausschlaggebende, und es ist das Haar eines lebenden Menschen.«

»Also scheintot.«

»Ich muß es annehmen.«

»Zeigt sie eine Verletzung?«

»Nichts, keine Beule, kein Fleckchen, absolut nichts.«

»Verstehen Sie, eine Ader zu öffnen?«

»Ich verstehe es, aber ich tue es nicht, es hat in diesem Falle gar keinen Zweck. Ob das Blut nun fließt oder nicht – bei Scheintoten hat der Aderlaß schon zu viel Fehlschlüsse ergeben.«

Mit seinem gewöhnlichen Gleichmut hob der Kanadier die Schultern.

»Da müssen wir eben warten, ob sie wieder erwacht oder nicht. Welche Richtung wollen wir nun einschlagen?«

Zum ersten Male sprachen sie über den Besitzer des Motorbotes, über den Chauffeur wie wir ihn fernerhin nennen wollen, der doch jedenfalls über Bord gestürzt war – daß in dem Boote nur ein einziger Mensch gewesen war, konnte Nobody besonders aus den Eßgerätschaften konstatieren – und keiner sprach sein Bedauern aus, Nobody selbst machte sich auch nicht im stillen Vorwürfe, daß man gleich dem durchgegangenen Motorboote gefolgt war, anstatt erst nach dem Verunglückten zu suchen.

Alle drei waren eben Männer, welche die See kannten.

In dem Segelboote nach dem irgendwo im Wasser schwimmenden Kopfe zu suchen, auf hoher See, das wäre einfach eine Verrücktheit gewesen, sie kamen gar nicht auf solch eine Idee. Sie hätten ihn doch nicht gefunden – und das entflohene Motorboot dann ebenfalls nicht!

Jetzt aber konnte man tun, was in diesem Falle noch zu tun war. Mr. Scott hatte selbst ein Motorboot besessen, er verstand etwas davon, er schätzte die zweizylindrige Maschine auf dreißig Pferdekräfte, und der Behälter, aus welchem das Benzin direkt vergast wird, hielt vier Stunden aus, auf keinen Fall länger.

Das befestigte Steuer war natürlich ›recht‹ gelegt worden, das heißt, das Motorboot war immer geradeaus gefahren. Nun hatte Scott schon die geographische Lage des Ortes auf dem Wasser, wo man sich zur Zeit befand, bestimmt; Nobody machte die Berechnung nochmals und bestätigte ihre Richtigkeit. Hierzu kam die geographische Bestimmung des Steuermannes auf der ›Persepolis‹. Zwischen diesen beiden idealen Punkten mußte man sich eine Linie denken, dieser Kurs wurde gesteuert, und zwar vier Stunden lang, oder, da das Segelboot nachgeschleppt wurde, fünf Stunden lang, dabei immer die Wasseroberfläche abspähend – und sie hatten ihre Pflicht getan, kein irdischer Richter und kein Gott konnte sie einer Unterlassungssünde beschuldigen. Mancher Seemann, selbst einer mit einem feinen Gewissen, hätte es gar nicht getan. Soll man einmal einen Schwimmer in einem Umkreise von sechzig Kilometern auf hoher See suchen und finden! Und war er ertrunken, und hatte er nicht zufällig eine Korkweste angehabt, dann sank er sofort und tauchte erst wieder empor, wenn sich sein Körper mit Gasen anfüllte.

Ein großes, eisernes Reservoir war noch zur Hälfte mit Benzin gefüllt. Scott berechnete sofort die Quantität genauer und konstatierte, daß man mit diesem Kraftstoff bequem die 320 Seemeilen entfernte Küste Amerikas erreichen konnte, auch wenn man erst noch fünf Stunden nördlich steuerte.

Es ging also sofort rückwärts. Scott übernahm die Bedienung des Motors, was vom Ruderplatz aus geschah, so daß er zugleich steuerte. Bruno blieb in dem ins Schlepptau genommenen Segelboot, welches ebenfalls gesteuert werden mußte, und durch Setzen von Segeln konnte der Widerstand sehr verringert werden. Das Motorboot lief noch immer acht Knoten, sonst wären es wohl neun geworden. Dabei konnten die beiden die Wasserfläche mit Auge und Fernrohr abspähen, woran sich Nobody ebenfalls beteiligte, wenn er auch noch mit etwas anderem beschäftigt war.

Zunächst befestigte er mit zwei Nägeln den Deckel wieder auf der Kiste, doch so, daß dort, wo sich der Kopf befand, eine Oeffnung blieb, daß man auch immer das Gesicht sehen konnte. Hierauf konstatierte Nobody durch gründliche Untersuchung eine Tatsache, die er schon seit längerer Zeit vermutet hatte: An und in diesem Motorboote war auch nicht ein einziger Buchstabe vorhanden!

Das würde eigentlich schon genug sagen. Doch es möchte zum Verständnis noch etwas näher erläutert werden.

Vergebens hatte Nobody in dem mit Spitzen besetzten, feinen Leinwandhemd der Toten, kein eigentliches Leichenhemd, nach einem Monogramm gesucht.

»Weshalb sind denn hier aus der Umschaltvorrichtung die Bezeichnungen entfernt?« hatte vorhin Scott gesagt, als er den Motor erst einmal zur Prüfung anstellen wollte.

Mit einem Hebel konnte man dem Motor natürlich verschiedene Schnelligkeiten geben, ihn vorwärts und rückwärts gehen lassen, und es gibt wohl keinen Motor, wo die betreffenden Ruhen nicht mit Worten oder doch mit Anfangsbuchstaben bezeichnet sind.

Statt dessen waren hier nur flache Vertiefungen, und Nobody war fest überzeugt, daß hier Worte oder Buchstaben aus dem gehärteten Stahl entfernt worden waren, jedenfalls mittels einer Säure.

Da erwachte in Nobody die erste Vermutung, und sie sollte sich bestätigen.

An der ganzen Maschinerie, an jedem einzelnen Teile, wo die Fabrikfirma eingeprägt gewesen oder auch nur eine Zahl, eine Nummer für die Montage, war diese verschwunden, jedenfalls herausgebeizt! Das hatte geschehen können, denn solche Stempel sind doch nur dort angebracht, wo es nichts schadet, an passiven Teilen.

Und so war es überall und überall! Aus jedem Werkzeug, aus jedem Schraubenschlüssel war jeder Buchstabe entfernt.

Nur eine einzige Einschränkung müssen wir machen, die aber wohl ganz selbstverständlich ist: der Chronometer hatte auf dem Zifferblatt natürlich noch die Stundenzahlen, sowie der Kompaß und der Spiegelsextant am Kreissektor seine Einteilung. Aber was den Ursprung hätte verraten können, das war auch aus diesen Instrumenten entfernt oder auf irgend eine Weise unkenntlich gemacht. So war auf dem elfenbeinernen Zifferblatt ein großer, schwarzer Klecks, der offenbar die Fabrikmarke verdeckte, während sie aus dem Kompaß mit einem Messer herausgekratzt worden war.

Das wäre das, was das Motorboot selbst und seine nautische Ausrüstung anbetraf. So war es aber überall! Für die anderes Fälle, welche von der außerordentlichen Vorsicht zeugten, mit welcher jeder Buchstabe entfernt worden war, nur noch ein einziges Beispiel: Außer den Einmachegläsern waren auch einige Blechbüchsen da, ebenfalls ohne Etikette, aber Nobody konnte noch erkennen, daß sie ursprünglich eine gehabt hatten, und daß diese durch Aufweichen entfernt worden waren. Als Nobody eine der Blechbüchsen mit dem Messer anbohrte, zeigte sich, daß sie kondensierte Milch enthielt.

Nobody teilte seine Wahrnehmungen dem Kanadier mit.

»Das ist allerdings höchst merkwürdig,« meinte dieser in seiner phlegmatischen Weise.

»Ja, aber wozu diese übergroße, fast lächerlich übertriebene Vorsicht?«

»Der Betreffende wollte durchaus verheimlichen, woher er das Motorboot und alles andere bezogen hat!«

Nun hätte Nobody immer wieder mit einem ›Wozu‹ fragen können. Es hatte keinen Zweck. Hier lag ein Verbrechen vor, das war ja ganz offenbar – so offenbar, daß die beiden dies gar nicht erst erwähnten.

Einmal versuchten sie, aus dem Benzinverbrauch und anderen Wahrzeichen bestimmen zu wollen, woher das Boot gekommen sein könnte, oder doch wenigstens, wie lange es wohl unterwegs sein möge. Doch bald gab Nobody diese Kalkulation wieder auf, indem er erkannte, daß man hier nur Fehlschlüsse ziehen könne, welche die Lösung erschwerten, ganz in Frage stellten. Es war nicht einmal unbedingt nötig, daß das Boot vom nördlichen Amerika gekommen war. Wenn der Betreffende nun seine eigene Jacht gehabt und diese mit dem Motorboot erst vor wenigen Stunden verlassen hatte? Und wo war er zuvor mit dieser Jacht gewesen? Dies hatte sogar etwas für sich, weil gar keine Kleidungsstücke vorhanden waren, die der Chauffeur doch sicher mitgenommen hätte, wenn er tagelang auf der See weilen wollte. Doch auch hierdurch durfte man sich nicht irremachen lassen, man hatte es offenbar mit einem ganz raffinierten Menschen zu tun.

Ja, mußte denn das Motorboot unbedingt einen Führer gehabt haben? Konnte es nicht mit festgelegtem Steuer von einem Schiffe oder auch von der Küste, die oberhalb New-York einen großen Bogen nach Osten macht, nordwärts in das offene Meer abgelassen worden sein? Das hatte sogar außerordentlich viel für sich!

Wir wollen hierzu nur eins bemerken: Durch Erwägung all dieser zahllosen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten wäre in dem Kopfe auch des nüchternsten Detektivs, der sonst seine Gedanken logisch zu ordnen versteht, nur eine heillose Verwirrung entstanden, während Nobodys Urteilskraft, indem er sich auf solche Vermutungen jetzt gar nicht einließ, weil es absolut keinen Zweck hatte, ungetrübt blieb.

Die fünf Stunden waren verstrichen, man hatte nichts auf dem Meere erblickt, kein treibendes Stück Holz, nicht einmal ein Schiff. Es war etwas nach vier Uhr, als Nobody die Sonne aufnahm.

Er berechnete die Lage, danach befanden sie sich 314 Seemeilen ziemlich direkt östlich von New-York entfernt.

»Wenn Seegang und Wind so bleiben,« meinte Scott, »können wir es bei 8 Knoten Fahrt in 40 Stunden erreichen, das wäre übermorgen vormittag, Benzin ist dazu überreichlich vorhanden.«

»Nach New-York wollen wir uns wenden?« fragte Nobody mit Spannung.

»Ja, wohin denn sonst? Natürlich können wir auch schon im ersten Hafen von Long Island anlegen, da ersparen wir noch mehrere Stunden.«

»Und dann?«

»Dann übergeben wir die Leiche und die ganze Sache natürlich der Polizei.«

Nobodys Entschluß war schon längst gefaßt gewesen.

»Geehrter Mr. Scott, ich möchte Ihnen eine Eröffnung machen, ganz kurz: Ich bin selbst Detektiv.«

»Das habe ich mir gedacht,« sagte der Kanadier ohne Ueberraschung.

»Wieso?«

»Nun, ich habe Sie doch lange genug beobachtet, und solche gründliche Untersuchungen kann wohl nur ein professioneller Detektiv anstellen, der hat Gedanken, auf die unsereiner gar nicht kommt. Sie stehen in amerikanischen Diensten, Mr. Mulford?«

»Nein. Ich bin Privatdetektiv – und auch nicht. Doch ich habe keine Zurückhaltung nötig. Haben Sie schon von Nobody gehört?«

»Sie sind ... Nobody?!«

Jetzt war es allerdings Ueberraschung, aber ... Nobody hatte den Eindruck, als sei sie erkünstelt. Doch er achtete nicht darauf, fand diese Erkünstelung sogar ganz angebracht. Dieser junge Mann war eben gegen alles ganz abgestorben, und er erachtete es gewissermaßen als eine Pflicht der Höflichkeit, jetzt überrascht sein zu müssen.

»Ich bin es.«

»Dann sind Sie doch ... Sir Alfred Willcox, der Champion der englischen Königin?!«

»Ich bin es, und ...«

Der junge Mann mit den energischen Zügen und den traurigen Augen lüftete mit einer leichten Verbeugung seine Sportmütze, was man bei einem Engländer äußerst selten sieht, er tut es fast nur seinem Landesherrn und dem Helden gegenüber, der gerade an der Tagesordnung ist.

»O, bitte, gar keine Ursache ...«

»Verzeihung – ich bin zwar geborener Kanadier und als solcher geborener Engländer, doch schon seit langem bin ich freier Bürger der freien Republik von Nordamerika, und als solcher zog ich meinen Hut nicht vor Sir Alfred Willcox, dem Baronet von Kent, auch nicht vor dem Champion der englischen Königin, sondern meine Ehrenbezeugung galt dem Detektiv Nobody und dann noch dem Ehrendoktor der Universität Oxford.«

Das war fein gesagt, und Nobody hatte keine andere Antwort, als daß er jenem die Hand hinhielt, die mit einer sichtbaren Aufwallung von Herzlichkeit ergriffen und gedrückt wurde.

»Jetzt werden Sie auch meinen Wunsch verstehen,« nahm Nobody dann wieder das Wort, »wenn ich die Sache nicht der Kriminalpolizei übergeben, sondern die Aufklärung selbst übernehmen möchte, ganz abgesehen davon, daß ich glaube – bei aller Bescheidenheit – das Rätsel schneller zu lösen, als es der Kriminalpolizei möglich sein dürfte.«

»Selbstverständlich, als Nobody haben Sie überhaupt nur zu befehlen ...«

»O nein. Sie überschätzen meine Stellung!«

»Ueber mich, meine ich, und ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich Ihnen behilflich sein dürfte.«

Nobody wollte diese Höflichkeitsbezeugungen abkürzen.

»Ich bin Ihnen schon außerordentlichen Dank schuldig; ohne Sie hätte ich das Motorboot ja gar nicht verfolgen können, und ich nehme auch fernerhin Ihre Unterstützung dankbar an. Also jetzt erst einmal Kurs nach Westen genommen! Wohin dann speziell, das können wir noch unterwegs überlegen, wir haben ja Zeit genug.«

Das Motorfahrzeug ward gewendet, im nachgeschleppten Boote die Segel anders gesetzt, und mit acht Knoten Fahrt ging es dem Westen zu.

»Dort tauchen die Masten eines Schiffes auf,« fuhr Nobody fort, »es scheint ein Dampfer zu sein, und wäre es ein Kriegsschiff, welches das namenlose Fahrzeug zur Rechenschaft ziehen will, so würde mein ganzer Plan durchkreuzt. Das nächste muß also sein, daß ich dem Motorboot einen deutlich lesbaren Namen gebe. Das hat freilich seine Schwierigkeiten. Ich habe Kreide bei mir, ich muß sie pulvern und ...«

»Bitte, in meinem Boote, das ich habe weiß anstreichen lassen, ist eine Büchse weiße Oelfarbe mit Pinsel.«

»Ah, vortrefflich! Dann werde ich mich einmal als Kunstmaler auf dem schaukelnden Drahtseile produzieren. Denn ich muß doch von dem hüpfenden Boote aus auf dem schaukelnden Heck malen ...«

»Könnten Sie denn nicht die Buchstaben erst auf ein Stück schwarzes Tuch malen und dieses dann am Heck befestigen?«

»Ja, wenn wir solch ein Stück Tuch hätten, das die Farbe annimmt!«

»Ist alles vorhanden! Bruno, gib mir hinten aus dem Kasten die geteerte Segelleinwand!«

»Mr. Scott, Sie sind ja ein Kapitalmensch!« lachte Nobody. »Verzeihung, es war eine ehrlich gemeinte Anerkennung – und wirklich, Sie scheinen eine Zaubertasche zu besitzen, aus der Sie alles holen, was man gerade braucht.«

Nobody schnitt aus der herübergereichten, auf der einen Seite geteerten Leinwand ein viereckiges Stück heraus und begann nach kurzer Ueberlegung, ohne erst seinen Begleiter um Rat zu fragen, mit Pinsel und weißer Oelfarbe große Buchstaben zu malen – zzziyyy Ariadne, New-Yorkzzz/iyyy – ließ die Farbe etwas trocknen, und dann war es ihm ein leichtes, das Stück Tuch an dem rundlichen Heck zu befestigen.

»Nun handelt es sich darum, unser Ziel genauer zu bestimmen, und wohin wir die Leiche zur weiteren Beobachtung und Untersuchung bringen. Am liebsten möchte ich natürlich keinen anderen Menschen ins Vertrauen ziehen.«

»Auch da könnte ich Ihnen einen Vorschlag machen,« sagte der Kanadier.

»Bitte!«

»Ich besitze an der Ostspitze von Long Island ein Haus, liegt ganz einsam, hat einen eigenen Hafen. Das ist zu alledem wie geschaffen.«

»Hm! Und Ihre Dienerschaft?«

»Habe keine. Das Haus ist zwar vollständig eingerichtet, aber schon seit langer Zeit unbewohnt. Ich muß darauf gefaßt sein, daß unterdessen einmal eingebrochen und alles ausgeräumt worden ist,« sagte der junge Mann lächelnd, doch dieses Lächeln sah recht gezwungen aus, dieses Gesicht konnte überhaupt gar nicht mehr lächeln. »Das hätte für uns ja nichts zu sagen, so viel an Möbeln werden wir wohl noch vorfinden, um einige Betten herrichten zu können.«

Nobody ließ sich die Lage dieses Landsitzes genauer beschreiben, und er wunderte sich im stillen, wie man solch ein Haus mit vollkommener Einrichtung sich so ganz allein überlassen konnte.

»Ich nehme Ihr Anerbieten wiederum dankbar an, und dadurch würden wir ja auch ganz beträchtlich Zeit ersparen.«

»Gewiß. Mantauk Top, wie das Kap heißt, auf dem die Villa liegt, ist von New-York in der Luftlinie noch etwas über hundert Seemeilen entfernt, wir kommen also zwölf Stunden früher an.«

»Also in der Nacht! Vortrefflich! Können Sie hinein in das Haus?«

»Jederzeit. Ich habe den Schlüssel zur Haustür in der Tasche.«

 

Wir überspringen anderthalb Tag oder genau zweiunddreißig Stunden.

Die finsterste Nacht herrschte, doch war das Meer hier in der Nähe der Küste und im Fahrwasser nach New-York von zahlreichen Lichtern belebt, auch erleuchtete Fenster von Häusern konnte man schon sehen; eine Turmuhr war es, welche man die Mitternachtsstunde schlagen hörte, etwas zu früh, die Schiffsglocken glasten fünf Minuten später.

Die Fahrt in dem offenen Boot war bei dem schönen Wetter ohne jede Strapaze gewesen, so hatten sich die drei Männer auch zum Schlafen regelmäßig ablösen können.

Man war besonders heute oftmals dicht an Schiffen vorbeigekommen, wohl hatte das Motorfahrzeug mit dem nachgeschleppten Segelboot Aufmerksamkeit erregt, doch kein sargähnlicher Kasten. Der war wohlweislich unter Segeln verpackt worden. Eben kühne Sportleute, die sich in den Nußschalen so weit in die offene See gewagt hatten, und wurden sie einmal angerufen, so gab Nobody humoristische Antworten.

Er brauchte nur einen Zipfel des Segeltuchs zurückzuschlagen, so konnte er direkt in das Gesicht der Leiche blicken. Der Leiche? Nicht die geringste Veränderung des Körpers trat ein, was sich doch auch in den Zügen bemerkbar gemacht hätte. Und schob Nobody die Lider zurück, so blickte er in zwei blaue, sanfte Augen, die nichts von Todesstarre wußten, noch viel weniger eingesunken waren.

Die drei Männer hatten nicht mehr über dieses Rätsel gesprochen. Es war für den menschlichen Verstand gar zu ungeheuerlich. Aber auch sonst hatten sie wenig gesprochen, fast nur über nautische Sachen, die mit der Führung des Bootes zusammenhingen, So wußte Nobody über seinen Begleiter noch ebensowenig wie zuvor.

Am Nachmittage hatte man die Fahrt mit Absicht verzögert, ganz unterbrochen, um erst in später Nacht das Ziel zu erreichen.

»Was für viele Häuser sind das dort?« fragte Nobody.

»Mantauks Town, eine Villenkolonie von reichen New-Yorkern, die am Meere ihre Sommersitze haben, und jetzt ist Saison.«

»Und dort das so hellerleuchtete Gebäude?«

»Das Badehotel.«

Wie mächtig wurde Nobody jetzt wieder an den Zeitpunkt vor sieben Jahren erinnert, als der Schwimmer die Küste von Amerika betrat! Da hatte ihm auch ein Badehotel so hell entgegengestrahlt.

»Zwischen diesem Hotel und dem Gebäude, von dem Sie nur die erste Etage erleuchtet sehen, steht mein Haus.«

»Da liegt es doch nicht gar so einsam?«

»Nein, ganz einsam gerade nicht. Es liegt nur ... selbständig, für sich abgeschlossen.«

»Werden wir unbemerkt an Land kommen? Müssen wir erst über eine Straße?«

»Das eben nicht. Die hintere Haustür, zu der ich den Schlüssel habe, führt mit einer Treppe direkt ins Wasser.«

Der junge Mann mußte hier schon oft nächtlicherweile sein Boot eingesteuert haben, die erleuchten Fenster genügten ihm zur Orientierung, denn Nobody sah in der schwarzen Finsternis noch nichts von einer Treppe, nichts von einem Hause, als es einen kleinen Ruck gab und die eisernen Planken an Stein knirschten.

»Wir sind am Ziel. Hier ist auch noch der Ring vorhanden – wahrhaftig, sogar der Strick hängt noch daran! Bruno, bringe unser Boot herum. Darf ich Ihnen beim Aussteigen behilflich sein, Mr. Mulford?«

Es war nicht nötig. Jetzt, da Nobody wußte, wohin er seine Augen zu richten hatte, begannen sie nach und nach zu unterscheiden, und sie erkannten die Umrisse eines stattlichen Gebäudes, das nicht mit so einem Landhäuschen an der See verglichen werden konnte, in dem man ein paar Sommermonate verbringen will. Nobody glaubte einen venezianischen Stil zu erkennen – wahrhaftig, die Wassertreppe wurde auch von zwei steinernen Löwen bewacht! – und er dachte lebhaft an den Dogenpalast zu Venedig, hier freilich in stark verkleinertem Maßstabe.

Der junge Mann mußte Geld haben, daß er solch ein großes Haus so zinsenlos daliegen lassen konnte!

Scott war die Treppe hinaufgegangen, ein Schlüssel rasselte, eine Tür knarrte, und er kam wieder zurück.

»Alles in Ordnung, die Tür ist offen. Wollen wir nicht erst die Kiste in Sicherheit bringen? Dann schlage ich vor, daß Sie das Tragen uns beiden überlassen, mir und meinem Diener, wir kennen hier jeden Fußbreit, während Sie sich selbst mit Ihrer Taschenlaterne vor die Füße leuchten.«

Nobody sah die Richtigkeit dieses Vorschlags ein. Die Kiste mit ihrem Inhalte war die Hauptsache, die mußte vor allen Dingen im Hause verschwinden.

Das Herausbefördern aus dem schwankenden Boote ging ohne Schwierigkeiten vonstatten, ebenso das Hinauftragen. Viel mehr als ein Zentner konnte es nicht sein, und der eine der Träger war ein Arbeiter, und der Kanadier konnte trotz seiner feinen Hände sicher noch ganz andere Lasten heben.

Erst in dem Hausflur, als Nobody die Türe wieder geschlossen hatte, ließ er seine kleine Benzinlampe mit elektrischer Zündung aufflammen, und das erste, worauf der Blendstrahl fiel, war eine dicke Schicht Staub, welche den Boden bedeckte – und derselbe Staub überall, wohin er auch leuchtete!

Wie lange mußte dieses Haus nicht betreten, von keiner Hand gesäubert worden sein, daß sich solch eine hohe Schicht Staub ansammeln konnte? Und der Eigentümer hatte immer den Schlüssel dazu in der Tasche? Und es war sogar ein sehr, sehr großer Schlüssel, den man eigentlich sonst nicht so mit sich herumschleppt!

Jedenfalls war etwas dabei, was Nobody gar nicht recht in den Kopf wollte.

Die beiden schienen sich schon verabredet zu haben, wohin die Kiste kommen sollte. Sie trugen sie eine Treppe hinauf, mit einem kostbaren Teppichläufer bedeckt, aber ebenfalls voll Staub, wie alles in diesem Hause.

»Oeffnen Sie dort die zweite Tür, bitte!« sagte der vorn tragende Scott.

Nobody tat es, stieß die Flügeltür auf, trat selbst zuerst ein, mit der Laterne vorausleuchtend. Dem Auge des Detektivs entging nichts, und er brauchte nur einen Blick, um hier ein Geheimnis zu erkennen.

Es war ein höchst luxuriös eingerichtetes Wohngemach, die kostbaren Möbel noch ganz neu, wenn auch mit einer Staubschicht bedeckt, und es war auch wirklich bewohnt worden, aber der Bewohner hatte sich seinerzeit plötzlich entfernt, um dieses Zimmer, dieses Haus nie wieder zu betreten, alles stehen und liegen lassend, wie es sich gerade zurzeit befunden hatte, und unterdessen war auch keine andere ordnende Hand hier gewesen.

Auf dem großen Mitteltisch, mit golddurchwirkter Decke belegt, stand ein dreiarmiger Leuchter, dessen Kerzen schon gebrannt hatten. Das eine Ende der Decke war etwas über den Tisch geschlagen – ein deutlicher Beweis, daß nach dem Verlassen des Hauses hier keine ordnende Hand gewesen war! Dort auf dem Armstuhl, an den Kamin gerückt, in dem noch Asche lag, ein aufgeschlagenes Buch – zu einer kalten Jahreszeit war das Haus plötzlich verlassen worden, das Feuer hatte noch im Kamin gebrannt! Und dort auf dem Tischchen neben dem Sofa ein Teller, auf dem sogar noch etwas lag, was unter der Staubschicht wie ein halbes Brötchen aussah.

Dies hatte also des Detektivs erster Blick gesehen. Doch ihm war jetzt die Hauptsache, daß die hohen Fenster mit Portieren dicht verhangen waren.

»Wohin sollen wir die Kiste setzen?« fragte Scott.

»Einstweilen an den Boden, bitte. Dann möchte ich aber die Leiche auf den Tisch – oder besser auf das Sofa haben. Nur wäre eine bessere Unterlage ...«

»Bruno holt sofort die Decken aus dem Boote, und was wir sonst brauchen, besorgt er aus dem Hotel.«

Der Sarg war an den Boden gesetzt worden; der Diener, den man einen Stummen nennen konnte, hatte sich entfernt, sein Herr war zurückgeblieben.

Nobody hob mit einem Ruck den nur durch zwei Nägel befestigten Deckel. An der Leiche war noch nicht die geringste Veränderung wahrzunehmen, und man befand sich in der heißen Jahreszeit, die Zersetzung hätte schon beginnen müssen.

Jetzt wäre eine Gelegenheit gewesen, einmal über das Phänomen zu sprechen. Aber die Abwesenheit des Dieners wurde zu einer anderen Aussprache benutzt.

»Sir Willcox – Mister Nobody!« erklang es leise.

Scott hatte die drei Wachskerzen angebrannt, neben diesen stand er jetzt, den über den Sarg Gebeugten beobachtend, in der ungezwungenen Stellung eines Weltmannes, der nie in Verlegenheit ist, wohin er seine Hände zu tun hat, auch wenn ein scharfer Blick auf ihm ruht.

»Sie wünschen, Mister Scott?« fragte Nobody, sich aufrichtend.

»Ich habe eine Bitte an Sie.«

»Bitte sehr.«

Wie unsäglich traurig gerade jetzt diese schönen, großen Augen ihn anblickten!

»Sie befinden sich in meinem Hause, und ich werde mich bemühen, Sie als meinen Gast zu bewirten. Wir werden dabei die Hilfe des Hotels in Anspruch nehmen müssen; denn ... nicht wahr, Sie finden recht viel auffällig in diesem Hause?«

»O, nicht doch – nicht, daß ich wüßte – Sie sagten mir doch schon, daß Sie es seit langer Zeit nicht bewohnt ...«

»Doch, doch, es muß Ihnen sehr, sehr viel auffallen. Das ist nicht der Zustand eines Hauses, welches man auf gewöhnliche Weise verlassen hat. Und so wollte ich Sie bitten, mich niemals zu fragen, weshalb ich es so schnell verlassen und nie wieder betreten habe, obgleich ich den Schlüssel dazu immer bei mir trage.«

»O, mein Herr, wie dürfte ich es wagen, in Ihre Geheimnisse dringen zu wollen ...«

»Ich danke Ihnen, ich habe Ihr Wort,« unterbrach ihn der Kanadier mit einiger Hast, »das Wort eines Mannes, dem man unbedingt vertrauen darf.«

Eine leichte Verbeugung, und Mr. Scott entfernte sich schnell aus dem Zimmer, und Nobody fühlte förmlich, wie jener ihn mit gebundenen Händen zurückließ. Also Geheimnisse waren vorhanden, auch in diesem Hause, und er hatte sein Wort gegeben, er durfte ihnen nicht nachspüren, selbst wenn sie ihm von direktem Interesse gewesen wären.

Bruno kam wieder, außer den im Segelboot befindlichen Decken auch Nobodys Koffer mitbringend. Die eine Decke ward über das verstaubte Sofa gebreitet, der Diener war behilflich, die Leiche darauf zu betten.

»Falls sie sich morgen doch verändert hat, werde ich gleich jetzt einige photographische Aufnahmen bei Blitzlicht machen,« sagte Nobody, und der schweigsame Diener schien den Wunsch aus diesen Worten herausgehört zu haben, er entfernte sich sofort wieder.

Nobody war allein mit der Toten, und zum ersten Male bei ihrem Anblicke packte es ihn. Wir wissen ja, was für ein weiches Herz im Grunde genommen dieser Mann besaß, der, wenn es sein mußte, auch hartherzig bis zur Grausamkeit sein konnte.

Wie schön sie war, wie hold, wie unschuldig, wie keusch! War sie denn nur wirklich tot? Noch einmal stellte er alle Untersuchungen an, die er aus seiner langjährigen Praxis kannte, um den Tod eines Menschen zu konstatieren – nur den Aderlaß wandte er nicht an, er brachte es nicht über sich, diesen weißen Körper auch nur an der Fußsohle zu verletzen, und es war doch auch gar nicht nötig, er kannte untrüglichere Mittel.

Ja, sie war wirklich tot! Hier konnte auch von keinem Scheintod mehr die Rede sein. Daß der Körper im Tode so vollständig unverändert blieb, war für Nobody bereits kein Rätsel mehr. Die Leiche war präpariert! Hier lag also wohl noch ein zu lösendes Geheimnis vor, aber kein Rätsel mehr. Hierbei ist ein großer Unterschied. Und dieses geheimnisvolle Mittel schützte auch die Haare davor nach dem Tode steif und brüchig zu werden.

Wer war sie?

Diese Frage ließ im wehmütig gestimmten Menschen wieder den Detektiv erwachen.

Er entnahm dem Koffer einen vorzüglichen Photographenapparat und machte im jeweilig verfinsterten Zimmer wohl ein Dutzend Blitzlichtaufnahmen – Brustbilder und auch nur Kopfbilder, von vorn und von der Seite, mit offenen und geschlossenen Augen. Mehrfach drapierte er das goldblonde, leichtgewellte Haar anders, er strich es aus der Stirn zurück und ließ es darüberfallen, da hierdurch der Gesichtsausdruck ein anderer wird, und schließlich machte er auch zwei Aufnahmen vom unbekleideten Körper, und es mußten Photographien werden, welche einem Maler, der kein Modell für eine Diana findet, als Aktstudien dienen konnten.

»Wenn Sie fertig sind, Sir,« sagte die Stimme des jungen Kanadiers durch die Spalte der Nebentür, »hier ist ein Schlafzimmer für Sie vorgerichtet worden.«

Soeben hatte Nobody seine letzte Aufnahme beendet; über die Leiche hatte er eine Decke gebreitet, und er begab sich hinüber.

Es war ein als Schlafzimmer eingerichtetes Gemach, wiederum alles höchst luxuriös; aber man hatte unterdessen alles, was an Möbeln leicht transportabel, daraus entfernt und die schwereren Stücke mit Decken belegt, um den Staub nicht aufwirbeln zu lassen. Denn hätte man diesen hier im Zimmer entfernen wollen, das wäre ja eine heillose Schmutzarbeit geworden. Nur die Bettpfosten waren abgewischt worden, und die Bettwäsche stammte dem Monogramm nach, wie noch manches andere, offenbar aus dem nahen Hotel. Der Diener, welcher eben das kostbare Porzellangeschirr des Waschtisches mit Wasser versorgte, hatte dies alles inzwischen von dort geholt.

»Wir müssen uns behelfen, so gut es geht,« sagte der junge Hausherr. »Angenehmer wäre es wohl, wenn Sie im Hotel schliefen, aber ich vermute, daß Sie die Leiche nicht hier zurücklassen wollen.«

»Allerdings, und ich möchte Ihren Diener bitten, daß er mir behilflich ist, das Sofa, auf dem sie liegt, mit hierherüberzutragen.«

»Hier in dieses Zimmer, wo Sie schlafen? Herr, Sie haben starke Nerven! Nun ja, warum nicht, Sie werden in Ihrem Berufe noch etwas ganz anderes gewöhnt worden sein.«

Das Sofa mit der Leiche wurde herübergetragen und auf Nobodys Anordnung in einiger Entfernung neben das Bett gesetzt, dann holte er noch den brennenden Armleuchter herüber, stellte ihn auf den Tisch, auf dem schon ein genau solcher silberner Leuchter stand, ebenfalls mit drei brennenden Wachskerzen.

»Ich denke,« sagte Mister Scott in einer Stellung, welche andeutete, daß er gehen wollte, »wir sprechen jetzt nicht mehr über das Rätsel, morgen ist auch noch ein Tag, und uns allen werden einige Stunden Ruhe guttun.«

»Ganz meine Ansicht.«

»Hier ist eine Klingel, ihr Läuten ruft sofort den Diener herbei. Die Türen gehen zu verriegeln. Sir Willcox, ich wünsche Ihnen eine gesegnete Nachtruhe.«

Zum Abschied nur eine formelle Verbeugung, die von Nobody schweigend erwidert wurde.

Und nun passierte etwas, weshalb vorhin so umständlich die beiden Armleuchter erwähnt wurden – eigentlich gar nichts von Belang, und doch etwas recht Merkwürdiges, was nicht alle Tage vorkommt.

Die beiden, also gleichen Leuchter standen dicht nebeneinander auf der Ecke des Mitteltisches. Nobody hatte den seinen vorhin mehr nach dem Rande zu gesetzt, er stand gegenwärtig dem Hausherrn und dessen Diener am nächsten. Nobody wußte, daß es der seine war, und als er die Verbeugung gemacht, griff er nach diesem, die Hand so geöffnet, wie eine Hand eben greift, wenn sie einen schweren Leuchter erfassen will.

Gleichzeitig griff auch Mr. Scott nach dem ihm zunächst stehenden Leuchter, also nach demselben, den er für den seinen halten mochte, um ihn wieder mitzunehmen – aber der Diener hatte denselben Gedanken schon eher gefaßt gehabt als die beiden anderen, seine Hand kam zuvor, sie nahm den Leuchter schon weg, und auf diese Weise geschah es, daß sich Nobody und Scott plötzlich wider ihren Willen die Hand gegeben hatten!

Es lag etwas Komisches in diesem Zufall, das klappte auch alles so, wie die beiden halbgeöffneten Hände gerade ineinander fuhren, und Nobody konnte sich denn auch nicht enthalten, ein heiteres Lachen hören zu lassen.

»Na, da gute Nacht, Mr. Scott,« lachte er, die nun einmal erwischte Hand kräftig schüttelnd, »es stand eben im Buche des Schicksals schon verzeichnet, daß wir uns erst noch einmal die Hand zum Abschied geben sollten!«

So lachte Nobody. Und Mr. Scott? Der lachte nicht. Das gesunde, gebräunte Gesicht des jungen Kanadiers war plötzlich aschgrau geworden, möglichst schnell zog er seine Hand zurück und folgte dem Diener hinaus, der den brennenden Leuchter trug.

»Ein seltsamer Mensch!« brummte Nobody, als er sich entkleidete. »Zur einen Hälfte ein Athlet mit unbeugsamer Willenskraft, macht er zur anderen Hälfte den Eindruck eines träumenden Geistersehers. Nun, ich hoffe, noch Gelegenheit zu haben, diesen Charakter näher studieren zu können.«

Das Licht war verlöscht, und in der Finsternis grübelte Nobodys Hirn.

Doch nicht die neben ihm liegende Leiche war es mit der sich jetzt sein rastloser Kopf beschäftigte. Wir wollen seinen Gedanken folgen.

Der geneigte Leser der früheren Erzählungen wird gefunden haben, daß Nobody als Detektiv niemals von Glück oder besonderem Zufall begünstigt wurde. Nobody war niemals ›zufällig‹ dazugekommen, wenn irgendwo gerade ein Mord oder sonst ein Verbrechen passiert war, er hatte bisher niemals ›zufällig‹ auf der Straße oder sonstwo eine Leiche gefunden, kein abgeschnittenes Glied, nicht einmal ein blutiges Messer und dergleichen, er war niemals ›zufällig‹ mit der Nase gegen einen blutigen Fingerabdruck an der Wand gerannt. Er war auch niemals ›zufällig‹ dazugekommen, daß gerade ihm ein Sterbender ein fürchterliches Geheimnis beichten konnte. Nobody war auch niemals das glückliche Opfer einer Verwechslung gewesen. Kein Briefchen war ihm versehentlich zugesteckt worden, dessen unheimlicher Inhalt ihn nun auf eine Fährte brachte, die ihn als Detektiven zu einem Triumphe führte, er war auf keinem Maskenballe mit einer anderen Person verwechselt worden, so daß er ›zufällig‹ etwas zu erfahren bekam, was er als Detektiv gerade recht gut brauchen konnte.

Hierbei sei eine Bemerkung gemacht: Es gibt genug solche Detektiverzählungen, wo der Held ›zufällig‹ immer gerade dabei ist, wenn es für ihn etwas zu tun gibt, wobei er seine Weisheit leuchten lassen kann, und so läuft ihm ›zufällig‹ alles immer direkt in die Hand, wie einem im Schlaraffenland die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Das ist ja alles recht schön und gut, das mag sich auch ganz interessant lesen, aber auf die Dauer wird das doch langweilig, man sieht zu deutlich, woher das alles stammt, das nennt man ›bei den Haaren herbeiziehen‹, und wer etwas Phantasie besitzt, der sieht während des Lesens immer den Schreiber hinter dem Ofen sitzen, wie er einen Federhalter nach dem anderen zerkaut und sich die verschiedenen ›Zufälle‹ aus den Fingern saugt.

Nein, unser Nobody hatte sich als Detektiv ehrlich abgemüht! Was hatte er nicht auf der Eisenbahn und auf dem Wasser gelegen, um dorthin nach den fernsten Landen zu eilen, wo sich ein geheimnisvoller Fall ereignet hatte, dem die Kriminalpolizei ohnmächtig gegenüberstand! Oder es waren ihm ehrenvolle Aufträge zuteil geworden.

Dies hier war eigentlich das erstemal in seinem Leben, daß sich der Zufall so mit ihm verbunden hatte. Als er dem führerlosen Motorboote hatte folgen wollen, das war nur so eine plötzliche Laune seines abenteuerlustigen Charakters gewesen. Auf den schwarzen Kasten hatte er gar nichts gegeben, mit keinem Gedanken daran gedacht, derselbe könne irgend ein Geheimnis bergen. Und nun war das alles so gekommen! Und gerade jetzt, nach sieben Jahren, gerade wieder von der ›Persepolis‹ aus!

»Mir ist, als sollte das geradezu ein Zeichen des Himmels sein, daß für mich jetzt eine neue Aera beginnt,« dachte er.

Und nun diese Begegnung mit dem Kanadier! Wie gesagt, es war ihm ja schon oft passiert, einen Namensdoppelgänger zu finden, aber ... wie kam seine Frau dazu, irgendeinen Namen auszusprechen, und der eigentliche Träger dieses Namens entpuppte sich dann gerade als ein so merkwürdiger Mensch, und gerade dieser Namensdoppelgänger hatte ein Boot bei sich, ohne welches Nobody dem Motorboote gar nicht hätte folgen können, und gerade er mußte ihn begleiten, gerade mit diesem merkwürdigen, sonderlichen Namensdoppelgänger mußte er dieses Abenteuer erleben, in seinem Hause mußte er die rätselhafte Leiche unterbringen, und mit diesem Hause war es auch wiederum nicht recht geheuer!

Und dann vorhin der von formeller Höflichkeit diktierte Abschied, eine Verbeugung, nichts weiter – nein, es sollte eben nicht sein, sie hatten sich die Hände geben müssen, müssen!!!

Jetzt, da er so grübelnd in der Finsternis dalag, lachte Nobody nicht mehr darüber. Er wiederholte seine vorigen Worte, nur in anderer Fassung:

»Mir ist, als sei dieser Mann dazu bestimmt, meinem ganzen Leben eine andere Wendung zu geben.«

Und seine grübelnden Gedanken beschäftigten sich weiter mit dem ihm gänzlich unbekannten Menschen. Sie waren gezwungen dazu! Aber was war es, was ihn mit so unwiderstehlicher Gewalt zu diesem jungen Manne mit den ernsten, charaktervollen Zügen und den träumenden Augen hinzog?

Wir wollen alles, was Nobody dachte, in einige Worte kleiden, die er am anderen Morgen in sein Tagebuch einschrieb:

»Ich wollte, er wäre bettelarm und hilflos. Das ist der Mann, den ich schon immer gesucht und niemals gefunden habe. Das ist der Mann, dessentwegen ich wünschte, ich selbst verlöre alles, alles, um ihm beweisen zu können, daß es eine Freundschaft gibt, welche freudig das letzte Stückchen Brot teilt.«

Mit diesem Gedanken schlief Nobody ein, und da war es nicht wunderbar, daß er sich auch noch im Traume mit dem jungen Kanadier beschäftigte.

Eine besondere Handlung besaß der Traum nicht. Wie von einer zzziyyy Laterna magicazzz/iyyy an die Wand geworfen, tauchte das schöne männliche Gesicht mit den schwermütigen Zügen vor ihm auf, es war wohl eine Schiffswand, und das Gesicht war, wie bei einer Photographie, eingerahmt, mit einem kreisrunden Rahmen – doch nein, das war ja ein Bollauge, aus dem Scott blickte – und da plötzlich ging mit dem Gesicht des jungen Mannes eine langsame Verwandlung vor sich, das hellblonde Bärtchen wurde schwarz und immer größer, schwarze Haare sproßten aus Backen und Kinn hervor, ein wilder, schwarzer Vollbart entstand – und immer mehr veränderten sich auch die Züge – bis aus dem runden Fensterchen die von Haß und Hohn verzerrte Teufelsfratze grinste!

Man kann auch im Traume staunen. Nobody tat es. Wie konnte sich das ehrliche Gesicht nur in diese Teufelsfratze verwandeln?! Doch nicht lange, so ging die Verwandlung wieder rückwärts, der schwarze Bart verschwand nach und nach, bis nur noch das blonde Bärtchen blieb und aus dem verzerrten Mephistokopfe wieder der sympathische des jungen Kanadiers geworden war. Dann verschwamm alles in einem Nebel, Nobodys Schlaf wurde traumlos. –

Eine Maus nagte leise. Der Schläfer hörte sie nicht. Polternd fuhr ein Lastwagen vorbei, daß die Fensterscheiben erklirrten und das ganze Gebäude in seinen Grundfesten erzitterte. Nobody erwachte nicht. Was sollte ihn das auch im Schlafe stören? Ob er nicht vielleicht sogar das Nagen der Maus hörte, das freilich war eine andere Sache.

Da plötzlich zuckte ein dünner Lichtstrahl durch das Gemach, er blieb stehen, und das war etwas, was jetzt nicht hierherein gehörte, und die Sehnerven dieses Detektivs mußten so fein sein, daß er den schwachen Lichtstrahl unter den Lidern wahrnahm, denn sofort schlug er die Augen auf.

Der Lichtstrahl kam oben aus der Wand, welche keine Tür besaß. Nobody hatte sofort beim Eintritt bemerkt, daß es nur eine Bretterwand war, mit einer Tapete beklebt, und dort oben befand sich ein Astloch, dort war auch die Tapete defekt.

Wenn sich Nobody auf das Bett stellte, mußte er hindurchblicken können. Und er tat es. Deshalb brach er nicht sein Wort, nicht in die Geheimnisse dieses Hauses und seines Besitzers dringen zu wollen. Es konnte ja ein Einbrecher sein.

Er blickte in ein sehr großes Zimmer – nicht eigentlich hinein, sondern mehr hinab. Denn dieses kleinere Gemach hier hatte ursprünglich zu jenem gehört, breite Stufen führten herauf, es bildete eine Art von Podium, wie man es oft in englischen Häusern findet, und war erst nachträglich durch eine Bretterwand zu einem besonderen Zimmer gemacht worden.

Es war ein Schlafgemach, mit äußerstem Luxus eingerichtet, besonders überall orientalische Teppiche, und die Hauptsache waren wohl die beiden nebeneinanderstehenden Betten, die ihre weiche Pracht unter einer Staubschicht verbargen. Ehe der Bewohner dieses Haus für so lange und so plötzlich verlassen hatte, waren sie gemacht worden. Oder waren sie vielleicht überhaupt niemals benutzt worden? »Aha! Das ist der zzziyyy casus bellizzz/iyyy, daher das Herzeleid! Zwei Betten und nur ein Mann!«

Das Licht kam von einem dreiarmigen Leuchter, welcher auf einem Seitentische stand. An diesem saß Mr. Edward Scott und schrieb. Oder er war wohl eben fertig damit, er überlas noch einmal das Geschriebene.

Das Papier sah nicht wie ein Briefbogen aus, eher wie ein Zettel, der irgendwo heraus- oder abgerissen worden war. Näheres konnte Nobody nicht unterscheiden. Sonst konstatierte er nur noch, daß auf dem Tische außer dem Leuchter noch eine Tintenflasche stand, wie man sie bei jedem Krämer für zwei Cent bekommt, und dann eine Weinflasche. Aber kein Glas.

Der Schreiber war zufrieden mit seiner Arbeit, das sagte sein Nicken, und dann warf er einen langen Blick nach der Holzwand, gerade dorthin, wo Nobody stand.

Wohl jeder andere Mensch hätte bei diesem Blick schnell den Kopf zurückgezogen oder sich unter das Astloch geduckt. Das macht das böse Gewissen des Schlüssellochguckers. Aber Nobody war gegen so etwas schon viel zu sehr abgebrüht, er wußte, daß sein Auge von dort aus unmöglich gesehen werden konnte.

»Das sieht bald aus, als stände das, was er da geschrieben, mit mir in irgendeiner Verbindung,« dachte er nur, eine Erklärung für den Blick nach der Wand suchend.

Jetzt rollte Scott den Fetzen Papier zusammen, drehte die längliche Rolle einige Zeit zwischen seinen Händen, dann nahm er die Weinflasche und steckte die Papierrolle durch den Hals hinein. Er hielt die Flasche noch einmal gegen das Licht, stand auf, verkorkte das Tintenfläschchen, steckte es in die Rocktasche, nahm zu der Weinflasche noch den Leuchter in die Hand, und so ging er auf dem Teppich lautlosen Schrittes der Tür zu, öffnete sie – und finster war es!

Wir wollen uns nicht dabei aufhalten, was Nobody zu alledem dachte. Vielleicht auch dachte er gar nichts dabei. Denn eine Erklärung fand er doch nicht, er hätte sich nur in Vermutungen ergehen können, und damit ließ sich ein Nobody nicht ein.

Er legte sich wieder hin, ließ einmal seine Benzinlaterne wie ein Glühwürmchen aufleuchten, um nach der Uhr zu sehen, es war erst kurz nach zwei, also hatte er vorhin erst eine halbe Stunde geschlafen, und er setzte den unterbrochenen Schlaf fort, ohne noch einmal gestört zu werden.

 

Der Morgen brach an. Die Leiche des jungen Mädchens zeigte keine Veränderung.

Nobody machte durch möglichstes Geräusch bemerkbar, daß er auf sei: denn er selbst sah und hörte Bruno auf dem Hofe schon Teppiche und Möbel ausklopfen, und alsbald meldete sich Mr. Scott.

Nach den üblichen Fragen, ob gut geschlafen, sagte er, das Frühstück würde sogleich von einem Kellner aus dem Hotel serviert werden, hier nebenan, in demselben Zimmer, welches sie diese Nacht zuerst betreten hatten, und welches unterdessen von dem fleißigen Bruno schon von allem Staube befreit worden war. Nobody wunderte sich nur, daß der Mann mit den träumenden Augen dieses einsame Haus, das ihm doch jedenfalls als Begräbnis seines Glückes heilig war, durch den Eintritt eines Kellners entweihen ließ, oder er freute sich vielmehr darüber, denn das zeigte, daß der ihm so überaus sympathische Mann frei von allen Schrullen war.

»Ich habe das Motorboot in den Wasserkanal bringen lassen,« sagte Scott, »welcher zur Aufbewahrung von Booten in dieses Haus eingebaut ist, durch ein Gittertor verschließbar.«

Nobody fand dies vortrefflich, und während des Frühstücks setzte er seinem Wirte auseinander, was er in dieser Angelegenheit nun zunächst zu tun beabsichtige – er hielt diese Einweihung für seine Pflicht – Scott zollte ihm Beifall, und gleich nach dem Frühstück ging Nobody ans Werk, während jener und sein Diener im Hause blieben.

Es war erst sechs Uhr, als Nobody in die quer durch Long Island fahrende Eisenbahn stieg und dann einen nach der Stadt New-York übersetzenden Dampfer benutzte.

Sein erstes Ziel war das Riesengebäude, in welchem der ›New-York Herald‹ herausgegeben wird. Noch keine der vielen Redaktionsstuben war für das Publikum geöffnet; aber Beamte sind doch immer da, dankbar für jede Neuigkeit, und Nobody brauchte sich nur als jener Edward Scott vorzustellen, der mit dem anderen Edward Scott die ›Persepolis‹ verlassen hatte, um das führerlose Motorboot zu verfolgen, so geriet der Zeitungsmensch gleich ganz aus dem Häuschen.

Jawohl, ei gewiß!! Das hatte schon gestern in allen Zeitungen gestanden! Und der Herr war einer von den beiden? Sie hatten also das Motorboot wirklich bekommen?

»Was ist denn in dem schwarzen Sarge drin gewesen?«

»Gar nichts, er war ganz leer.«

»Schade, sehr schade!«

Nobody ging noch zu einigen anderen Redaktionen von großen Zeitungen, stellte sich vor als derjenige, welcher, berichtete und gab seine Adresse an.

So, nun konnte die Sache ihren Weg gehen und Nobody wieder nach Hause.

Das, was er berichtet, stand als Ergänzung des gestrigen Artikels schon heute in sämtlichen New-Yorker Zeitungen, morgen in allen amerikanischen, in einigen Tagen in denen der ganzen zivilisierten Welt. Denn das Wort ›Sarg‹, besonders ›schwarzer Sarg‹, hat für das Lesepublikum einen ganz eigentümlichen Klang, so etwas wird sogar übers Meer telegraphiert.

Nun hieß es geduldig abwarten, bis sich der Betreffende, der sich für den Sarg oder doch für das führerlose Motorboot speziell interessierte, melden würde, wohl nicht persönlich, sondern durch ein Briefchen, das etwa zu einem geheimnisvollen Rendezvous bestellte, um diese Angelegenheit zu erledigen.

Der Erfolg war ja sehr zweifelhaft, das mit der präparierten Leiche war doch eine sehr heikle Sache, umsonst waren in dem Motorboote doch auch nicht alle Buchstaben ausgekratzt worden, dann war auch zu bedenken, daß der Mann, welcher allein darum wußte, daß die schwarze Kiste nicht leer, sondern mit einer Leiche belastet gewesen, ertrunken war – aber immerhin war es das Schlaueste gewesen, was Nobody hätte tun können. Seine Adresse, die jenes Hauses, hatte er auf allen Redaktionen hinterlassen, die meisten Zeitungen würden sie wohl auch gleich veröffentlichen.

Nobodys nächster Weg führte nach dem Hafen, nach der ›Persepolis‹, auf welcher er eine Erkundigung einziehen wollte – nicht gerade, daß sie mit dieser Angelegenheit zusammengehangen hätte, sondern es war dabei mehr ein besonderes Interesse des Mannes, der das Menschenstudium zu seinem Privatvergnügen, zu einem Sport gemacht hatte.

Er hatte nicht nötig, den Dampfer zu betreten: er begegnete dem ersten Zahlmeister, den er hatte aufsuchen wollen, am Kai.

»Mister Purser, ich schätze mich glücklich, Ihre mir so werte Bekanntschaft auf dem Lande erneuern zu dürfen. Ihr Rezept, wie man den Sillery mit sechserlei Schnäpsen im Geschmack verbessert, ist mir auf der Zunge unvergeßlich, leider nicht im Kopfe – ich meine, ich habe die Namen der sechs Schnäpse vergessen, seit gestern abend saufe ich nun schon hier in New-York herum und probiere alle Schnapsflaschen ...«

»Hallo, der Motorbootsucher!« unterbrach der Zahlmeister den Redefluß. Aber für den rotnasigen Zahlmeister war das Saufen doch die Hauptsache – jawohl, so eine Champagnerbowle konnte er auch an Land brauen, gleich aus freier Hand, die Ingredienzen waren überall zu haben, und hinein ging es in die nächste Weinstube.

Dem Bericht, wie sein Kumpan das Motorboot gefunden und nach der Küste geschleppt hatte, widmete er sehr wenig Aufmerksamkeit, danach hatte er sich nur aus Höflichkeit erkundigt, jener lebte ja noch und bezahlte, das war die Hauptsache, und so mußte Nobody die Blicke des Mannes auch mit Gewalt auf die Zeichnung lenken, das von dem runden Bollauge eingerahmte, verzerrte Gesicht darstellend.

»Kennen Sie diesen Passagier?«

»Bei der letzten Reise an Bord gewesen?«

Diese Frage war ganz überflüssig. Der Zahlmeister kannte überhaupt nur immer die Passagiere der jeweiligen Reise, dann existierten sie nicht mehr für ihn, das heißt, dann verließ ihn sein erstaunliches Gedächtnis, dann aber auch vollkommen, um eben für neue Gesichter und Namen Platz zu haben.

»Gewiß.«

»Den? Nee! Nee!!! Solch eine Galgenvisage hatte ich zum Glück nicht an Bord, den ließe ich überhaupt gar nicht an Bord, der könnte eine Höllenuhr bei sich haben.«

Wie, sollte des Zahlmeisters wundersame Gabe, von deren Unfehlbarkeit sich Nobody schon wiederholt überzeugt hatte, einmal versagen? Doch bald erkannte er den Grund dieses Mißlingens, er zeichnete mit flüchtigen Bleistiftstrichen einen anderen Kopf, indem er sich vorstellte, wie dieses Gesicht wohl aussähe, wenn es nicht so von Haß und Hohn verzerrt sei, wozu nun freilich Nobodys Genie gehörte, um so etwas fertig zu bringen; es wurde ein vollständig anderes Gesicht daraus, das mit jenem nur noch den gleichen Bart hatte – aber wahrhaftig, das künstlerische Experiment gelang!

»Ja, den kenne ich, der war an Bord. Das ist aber auch ein ganz anderer, als der dort mit seinem verdammten Spitzbubengesicht.«

»Nun wer ist es?«

»Monsieur Viktor Sinclaire, Kaufmann aus Paris, zweite Salonkabine im ersten Promenadendeck, mittschiffs Backbord,« deklamierte der Zahlmeister geläufig herunter.

»Ich habe ihn nie bei Tisch und an Deck gesehen.«

»Glaube ich. Speiste in seiner Kabine, kam nie zum Vorschein. Hier fehlen aber noch ein paar Tropfen Ingwer.«

Nobody machte bald, daß er fortkam, die Bowle dem Zahlmeister und einigen anderen Maaten von der ›Persepolis‹ überlassend, die den geistigen Genuß gerochen hatten.

Von hier aus begab sich Nobody direkt nach seiner einstweiligen Wohnung auf der Ostspitze von Long Island zurück, doch zuvor betrat er einmal das nahe Hotel, nicht nur, um nach der ziemlich langen Fahrt eine Erfrischung zu sich zu nehmen, sondern noch in einer besonderen Absicht, und richtig, in dem Lunchroom waren schon viele Badegäste versammelt, Herren und Damen, und das erwünschte Gespräch war bereits im besten Gange. Nobody bekam zu hören, was er hatte hören wollen.

Unter den Badegästen war bekannt geworden, daß das einsame, stattliche Haus, das so mancher gern sein eigen genannt hätte, und das schon seit so lange leer stehen sollte, diese Nacht wieder von seinem Besitzer bezogen worden war. Der Diener hatte aus dem Hotel schon verschiedenes geholt, ein Kellner heute das Frühstück hingebracht.

Nun hatte bereits der Hotelier etwas von einem seltsamen Menschen gesprochen, welcher der Besitzer, ein noch ganz junger, reicher Mann; etwas von einer unglücklichen Liebe, obgleich der Hotelier selbst Mr. Edward Scott gar nicht weiter kannte; aber die Neugier der sich langweilenden Badegäste war nun einmal erwacht. Das gab eine Abwechslung in dem ewigen Einerlei, und da fand sich auch jemand, der alles ganz, ganz genau kannte.

Ein fetter Herr, der das ihm von seinem früheren Berufe her anhaftende zzziyyy Odeur de Tranzzz/iyyy nicht mehr loswerden konnte, gab soeben den ihn umringenden Damen eine Erklärung ab, heute schon zum so und so vielten Male.

»Sein Vater war der Gründer und dann Direktor der Canadian-Fishing-Company,« erzählte die tranige Stimme des Tranhändlers, »ein schwerreicher Mann, Edward, das einzige Kind, war mit im Geschäft. In demselben Hause wohnte noch eine verheiratete Stieftochter mit Familie, kleine Kinder. Es wurde eine neue Erzieherin angenommen, wie sie hieß, weiß ich nicht mehr, sie hatte so einen verdammten deutschen Namen, nur gesehen habe ich sie, ein kleines, zartes, nixiges Ding – aber wie es nun so geht, der lange Bengel von Edward verliebte sich gleich in das nixige Ding bis über die Ohren. zzziyyy That is the fact.zzz/iyyy«

»Ach, wie interessant!« schmachtete eine Jungfrau zwischen zwanzig und vierzig, und alle anderen Damen schmachteten mit ihr.

»Na, bei Oldman Scott gab's ja da nu nischt,« fuhr der mit Gold behangene Tranonkel fort, »die verdammte Deutsche mußte rrraus aus dem Hause. Aber jung Edward hatte auch seinen eigenen Willen. Das war damals ein toller Bruder. Na, er brauchte gar nicht lange zu warten, da biß sein Alter ins Gras. Nun gleich Hochzeit. Oder doch die Arrangements dazu getroffen. Edward kaufte dort jenes Haus, das erst neu erbaut war, richtete es glänzend ein. Der Tag der Hochzeit kam, alles war fix und fertig – aber wer nicht kam, das war die Braut. Gestorben, ein Herzschlag, meinen Sie? Krank? Nee, durchgebrannt war sie in der letzten Minute, mit dem Hauslehrer jener Familie, den sie von früherher kannte, und mit dem sie schon immer ein Verhältnis gehabt haben mag.

»Das ist's gewesen, und da hat Edward einen Knacks wegbekommen. Da ist aus dem einst so wilden Jungen ein stiller Träumer geworden. Gekümmert hat er sich um das Mädel nie wieder, aber vergessen hat er es auch nicht können. In dem zur Hochzeit hergerichteten Hause mußte alles so bleiben wie es war, dann hat er es verschlossen und ist auf Reisen gegangen. Diese Nacht hat er das verlassene Haus zum ersten Male wieder betreten. Die angerichtete Hochzeitstafel muß noch drin stehen. Das ist nun vier Jahre her, vier und ein halbes Jahr. zzziyyy That is the fact.zzz/iyyy«

»Gott, wie interessant!« flötete die Jungfrau zwischen zwanzig und vierzig, und alle anderen Damen flöteten es mit ihr.

Nobody aber fand dies gar nicht so besonders interessant – so etwas kam ja in der Welt jeden Tag vor! – und als es auch nicht interessanter wurde, verschwand er.

Das hätte ihm der junge Mann auch gleich erzählen können, da hätte er nicht erst von ›Geheimnissen‹ anzufangen brauchen. Doch nein! Man soll das Begrabene ruhen lassen. Gerade Nobody war der Charakter, der so etwas zu würdigen wußte. Auch noch der Treulosen ein treues Andenken zu bewahren, weil man sie geliebt und ihr dann verziehen hat – gibt es denn etwas Edleres? Oder ist es etwa edler, sich nach solch einem Vorkommnis in die Strudel des Lebens zu stürzen, um Vergessenheit zu suchen und wirklich zu finden? Und war der junge Mann dadurch etwa ein seufzender Schwächling geworden? Durchaus nicht! Kraftvoll hatte er den Schmerz überwunden, das sagten seine Züge und alles, er hatte mit sich gerungen und sich besiegt – nur in seinen Augen war die Wehmut zurückgeblieben, und dafür konnte er nichts, über den Ausdruck des Auges hat der Mensch nicht zu befehlen. Aber sonst belästigte er mit seinem Schmerz keinen anderen durch Klagen und Jammern.

Nobodys Sympathie für den jungen Mann wuchs nur durch das Gehörte.

 

Die Tage vergingen in dem einsamen Hause. Auf jene Zeitungsartikel hin stellten sich Neugierige genug ein, fast ausschließlich Reporter, welche Näheres hören, das Motorboot und den schwarzen Sarg beschnüffeln wollten. Sie wurden sämtlich vor der Haustür abgewiesen.

zzziyyy Ein geheimnisvoller Besuch mußte kommen, oder aber ein Brief – und beides kam nicht.

Nobody war vollauf beschäftigt. Er entwickelte die von der Leiche genommenen Photographien, stellte Kopien her, übertrug sie sogar auf Kupferplatten und fertigte sogenannte Klischees, wie sie zum Drucken der Bilder benutzt werden. Durch Galvanoplastik läßt sich ein einziges Klischee ins Endlose vermehren.

Die Leiche blieb absolut unverändert. Einmal hatte sie Nobody schon auf dem Tische liegen und das Seziermesser in der Hand, und er war befähigt dazu, er hatte nicht umsonst einen Kursus in der Anatomie durchgemacht, und wozu sonst ein normaler Mensch als Student sechs Semester bedarf, dazu hatte dieser gereifte Mann mit seinem fabelhaften Gedächtnis und seiner wunderbar leichten Hand nur drei Monate gebraucht.

Bruno säuberte unterdessen eine Stube nach der anderen, auch Mr. Scott verließ das Haus nicht. Was er trieb, wußte Nobody nicht, welcher sich mit seinen zwei Zimmern begnügte, noch in kein anderes gekommen war, außer in den gemeinsamen Speisesaal. Das Essen wurde nach wie vor von einem Hotelkellner gebracht.

Beim Mittagessen am sechsten Tage nach jener Nacht wurde die ganze Angelegenheit zum ersten Male wieder zwischen den beiden berührt. Nobody begann:

»Bis morgen früh warte ich noch. Hat sich bis morgen früh zur ersten Post niemand persönlich oder schriftlich gemeldet, der zu der Leiche oder dem Motorboot in Beziehung steht, so lasse ich die Sache in ein anderes Stadium treten.«

»Was werden Sie tun?«

»Ich lasse in sämtlichen illustrierten Zeitungen der Welt, allerdings nach und nach, das Bild des jungen Mädchens erscheinen, mit einem Aufruf. Irgend jemand muß sie doch gekannt haben. Dann habe ich wenigstens den Anfang einer ersten Spur, die ich weiter verfolgen kann.«

Nobody setzte seinen Plan weiter auseinander, wie er den Aufruf fassen wollte, äußerst geschickt, eines Nobody würdig, wie wir später sehen werden. Selbst der eventuelle Entführer des im Bilde wiedergegebenen Mädchens hätte keine Ahnung gehabt, daß man auf ihn als auf einen Verbrecher fahndete.

Sinnend spielte der junge Kanadier während des Zuhörens mit seinem Messer. Dann hob er wie mit einem plötzlichen Entschlusse den Kopf.

»Sie hatten doch jenes Gesicht gezeichnet, welches uns vom Dampfer aus durch das Bollauge nachblickte.«

Endlich! Endlich begann er von selbst davon! Nobody hatte schon immer nach einer Gelegenheit gesucht, davon wieder anfangen zu können.

»Hier ist es. Und hier habe ich es noch einmal gezeichnet, unter der Vorstellung, wie es aussehen würde, wenn die Züge nicht so von Haß und Hohn – man findet gar keinen anderen Ausdruck – verzerrt wären. Kennen Sie den Mann?«

Ruhig blickte Scott auf die eine wie auf die andere Skizze, aber vergebens beobachtete Nobody ihn auf das schärfste – nur Staunen war es, das sich nach jener letzten Frage auf den edlen Zügen ausprägte.

»Ob ich den Mann kenne?! Wie kommen Sie denn auf solch eine Frage?!«

»Verzeihung – als ich Ihnen zum ersten Male dieses Gesicht zeigte, damals im Boot, kam es mir so vor, als ob Sie den Mann kennten,« sagte Nobody offen.

Ruhig schüttelte Scott den Kopf.

»Ich sagte Ihnen doch schon damals, daß ich ihn nicht kenne – auf mein Wort, er ist mir gänzlich unbekannt. Aber ich entsinne mich, daß ich damals fast erschrak, als mein Auge zum ersten Male auf diese Zeichnung fiel, und ich wandte mich wohl auch hastig um, um diesen Menschen selbst zu sehen, dessen Gesicht solch einen Haß und Hohn ausdrücken kann – jawohl, Haß und Hohn, anders kann man hier gar nicht sagen.«

Nobody glaubte ihm, jener hätte es gar nicht auf sein Wort zu versichern brauchen. Diese edlen Züge logen nicht, oder man durfte überhaupt keinem Menschen mehr auf der Erde glauben.

So hatte sich Nobody also geirrt. Er hatte nämlich geglaubt, besonders nachträglich, als er von dem Zahlmeister erfuhr, auch dieser Passagier habe seine Kabine nicht verlassen, daß es dieser Mann gewesen sei, welcher Edward Scott das Glück geraubt habe. Die beiden Nebenbuhler hatten sich an Bord des Dampfers zufällig getroffen, beide hatten sich sofort in ihre Kabinen zurückgezogen, um einander nicht mehr zu begegnen. Deshalb auch hatte sich Scott so gern der abenteuerlichen Segelpartie hinter dem Motorboote her angeschlossen – nur fort von diesem Dampfer! Und da hatte ihm sein Nebenbuhler mit diesem Gesicht voll Haß und Hohn nachgeblickt.

Man muß zugestehen, daß diese Kalkulation viel für sich hatte. Aber sie war falsch gewesen.

»Nein,« nahm Scott wieder das Wort, »mir fiel diese Nacht etwas ein, leider etwas spät. Könnte dieser Mann mit dem Geheimnis der Leiche nicht in einer Beziehung stehen? Hier liegt doch irgend etwas Teuflisches vor, und teuflisch ist dieses Gesicht. Mit Haß blickt es uns nach, weil wir uns zur Verfolgung des Motorbootes aufmachen, das sein teuflisches Geheimnis birgt, und mit Hohn, weil er weiß oder glaubt, daß wir dieses sein Geheimnis niemals lösen können.«

O, da war unser Nobody nun freilich ein sehr ungläubiger Thomas! Wie? An Bord des Dampfers sollte sich zufällig gerade der Urheber oder doch ein Mitwisser des Geheimnisses befunden haben, und an diesem Dampfer mußte das führerlose Motorboot mit seinem Geheimnis zufällig gerade vorbeifahren? Nein, an solche wunderbare Zufälle glaubte Nobody eben nicht.

Doch gut, er konnte ja seine Hilfsdetektivs, die er in aller Welt unterhielt, und die jetzt sowieso nichts zu tun hatten, mit Zuhilfenahme der beiden Porträts auf die Spur dieses Monsieur Viktor Sinclaire setzen, er konnte das jetzt um so mehr tun, da er nun wußte, daß er dadurch kein persönliches Geheimnis seines liebenswürdigen Gastfreundes berührte. Freilich war es schon etwas spät dazu, die Fährte war schon verwischt, und wurde der Betreffende dennoch aufgestöbert, so hatte es doch keinen Zweck, davon war Nobody von vornherein überzeugt. Er glaubte nun einmal nicht an solche Zufälle.

 

Am Morgen des nächsten Tages, an welchem Nobody also sein tatenloses Warten aufgeben wollte, betrat er wie gewöhnlich pünktlich sieben Uhr das Frühstückszimmer. Der Kellner hatte den Kaffee bereits gebracht, Bruno hatte den Tisch geordnet, war aber nicht im Zimmer, ausnahmsweise auch noch nicht Mr. Scott.

Nobody setzte sich und wartete.

Nicht lange, so kam die Treppe ein Schritt herauf, Mr. Scott, das hörte Nobody trotz des Teppichs sofort heraus, aber der Schritt war viel eiliger als sonst.

Hastig trat er herein, eine Flasche in der Hand.

»Sehen Sie da,« rief er noch im Türrahmen, »was Bruno gefunden hat! Eine Flasche! Mit einem zusammengerollten Zettel darin! Eine angeschwemmte Flaschenpost!«

So rief er, die Weinflasche in der ausgestreckten Hand haltend, und unserem Nobody blieb plötzlich der Verstand stehen, wenn man sich so ausdrücken darf.

Er sah es der Rotweinflasche ja nicht gerade an, daß es dieselbe war, aber ... wozu in aller Welt hatte denn neulich nachts der junge Mann solch eine Flaschenpost präpariert?!

Doch er beherrschte sich vollkommen.

»Haben Sie sie schon geöffnet?«

»Nein, noch nicht. Der Gummipfropfen ist tief eingetrieben, er kann nur mit Gewalt herausgezogen werden, und ich dachte – Sie sind Detektiv – Ihr scharfer Blick sieht manches, was einem anderen Auge verborgen bleibt.«

Nobody nahm die dunkle Flasche, hielt sie gegen das Licht, er erkannte ein zusammengerolltes Papier ... i natürlich, das war dasselbe, was Scott in jener ersten Nacht hineingesteckt hatte! Nobody hätte es ja nicht gerade beweisen können, aber er ließ sich doch gleich ... fressen!

»Wo haben Sie die Flasche gefunden?«

»Bruno fand sie, nicht weit von diesem Hause, über Nacht muß die Flut sie auf den Strand gespült haben. Gestern hat sie bestimmt noch nicht dort gelegen.«

»So! Na, da wollen wir mal sehen, was drin ist.«

Er öffnete den Korkzieher seines Taschenmessers, bohrte den Gummipropfen an und zog ihn heraus. Um das zusammengerollte Papier, das aber nicht mehr durch den Hals ging, herauszubefördern, war es nicht nötig, die Flasche zu zerbrechen, Scott brauchte auch nicht erst, wie er wollte, die Papierschere zu holen, denn schon kam an Nobodys Messer, dem wir bereits einmal eine längere Beschreibung gewidmet haben, und das noch jetzt in Scottland Yard, dem Verbrecher-Museum und der Schule der Detektivs zu London, zu sehen ist, ein langes Instrument zum Vorschein, welches das Papier erfaßte und herauszog.

Nobody rollte es auf, ein gelber, abgerissener Fetzen, und oben links fehlte die große Ecke – natürlich, es war dasselbe Papier!! So viel hatte Nobody damals ganz deutlich erkennen können und im Gedächtnis behalten.

Der Fetzen war mit englischer Schrift bedeckt, mühsam mit zittriger Hand mehr gemalt denn geschrieben, mit Tinte, und Nobody ließ erst einen Laut der Ueberraschung hören, ehe er laut vorlas:

»Dies ist meine letzte Botschaft, die ich schreiben und dem Meere anvertrauen kann. Hier werden meine Gebeine liegen und in einer Blechkapsel mein Tagebuch. 83 Grad 7 Minuten 11 Sekunden nördliche Breite, 24 Grad 37 Minuten 18 Sekunden westliche Länge von Greenwich. William Temple, Kapitän der ›Recovery‹.«

»William Temple, Kapitän der ›Recovery‹!« wiederholte Scott in flüsterndem Tone.

Voriges Jahr im Mai war der bewährte Nordpolfahrer von New-York aufgebrochen, um mit seiner Brigg soweit wie möglich an der Ostküste Grönlands nach Norden vorzudringen. Andere Nordpolfahrer haben und hatten schon einen viel nördlicheren Breitengrad erreicht. Aber nicht an Grönlands Ostküste! Dort starrt alles von Treibeis, dort ist auch im Sommer kein Durchkommen!

Noch hatte man nichts wieder von dieser Expedition gehört, es konnte auch noch gar nicht sein, auf drei Jahre war die Brigg verproviantiert, noch dachte niemand an eine Hilfsexpedition.

Schweigend legte Nobody das Papier auf den Tisch, zog aus der Brusttasche eine auf Leinwand gezogene Karte, breitete sie auf dem Tische aus. Es war eine Erdkarte in Mercators Projektion.

»Hier ist der angegebene Punkt,« sagte er, die Fingerspitze darauflegend. »Noch vollständig unbekanntes Gebiet. Da man aber mit Sicherheit annehmen kann, daß die gerade Ostküste Grönlands auch so weiter verläuft, so müßte es eine Insel sein.«

Scott ward von einer plötzlichen Aufregung ergriffen, mit hastigen Schritten wanderte er hin und her.

»Mister Nobody,« stieß er hervor, »William Temples Tagebuch – noch niemand ist an dieser Küste so weit nach Norden vorgedrungen – was mag das Tagebuch enthalten? – Und wir allein wissen etwas von dieser Flaschenpost – dieser Triumph ...« mit einem Ruck blieb er vor Nobody stehen. »Mein Entschluß ist gefaßt! Ich rüste eine Nordpolexpedition aus! Ich suche Temples letzte Ueberreste und sein Tagebuch auf! Sie begleiten mich!«

Wir wollen nicht die Gedanken zu schildern versuchen, die durch Nobodys Kopf gingen, als er mit scheinbarem Gleichmut wieder nach dem gelben Papierfetzen griff.

»Hm. Mit so etwas muß man vorsichtig sein. Mit solchen Flaschenposten werden manchmal dumme Witze gemacht. Und das sieht mir fast geradeso aus, als wäre das erst vor sechs Tagen geschrieben worden.«

Das war nicht der Fall, das konnte man nicht erkennen. Die Täuschung war äußerst geschickt gemacht, das Papier war vergilbt und schien von Feuchtigkeit gelitten zu haben, die Tinte war jedenfalls eigens zu diesem Zwecke präpariert worden, etwas verloschen, und ebenso sah der Gummistöpsel oben aus, als wäre er vom Seewasser zerfressen worden, was sich allerdings alles künstlich machen läßt.

Nobody hatte mit Absicht gerade ›sechs Tage‹ gesagt, dabei hatte er unter sich auf das Papier gesehen, doch er verstand es, unter den gesenkten Lidern hervor den ihn Anblickenden zu beobachten, ohne daß dieser etwas davon merkte.

Und siehe da, der junge Mann hatte sich zu wenig in der Gewalt, er wechselte die Farbe, seine Augen erweiterten sich.

»Vor – sechs – Tagen?!« wiederholte er stoßweise, und dann lachte er auf.

»Na, wenn diese Flasche nicht schon einige Monate im Wasser gelegen hat, dann weiß ich ...«

Er brach ab. Nobody hatte die fragliche Flasche ergriffen, ohne einen Zweck, nur um sie mit einem harten Stoß wieder auf den Tisch zu setzen, und so etwas deutet doch an, daß man einen Entschluß gefaßt hat.

»Gut, ich bin bereit, Ihnen nach dem Nordpol zu folgen, denn Sie müssen doch irgendeinen Grund haben, mich nach dort zu ... locken!«

Es hatte gewirkt. Mit stieren Augen beugte der Kanadier den Oberkörper vor.

»Ich – ich – Sie – locken?«

»Mister Scott, ich halte Sie immer noch für einen Ehrenmann, und an dieser meiner Meinung kann ich auch nicht irre werden. Sie können ja überhaupt gar nicht lügen. Also seien Sie doch so offen, wie ich es jetzt sein werde: Heute vor sechs Tagen, in der ersten Nacht, da wir dieses Haus betraten, sah ich einen Lichtstrahl in mein finsteres Zimmer fallen, er kam durch ein Astloch in der Tapetenwand; ich stellte mich im Bett aufrecht, konnte durch das Astloch blicken, und da sah ich Sie, wie Sie hier diesen Zettel schrieben und ihn in diese Flasche steckten.«

Die Wirkung dieser Erklärung war geradezu furchtbar. Zoll für Zoll sank der hohe, starke Mann in sich zusammen, tief sank das Haupt auf die Brust, und als er es wieder hob, war er gar nicht mehr zu erkennen.

»zzziyyy Dann – freilich – wenn Sie – es selbst – gesehen haben,zzz/iyyy« brachte er mühsam mit röchelnder Stimme hervor, »zzziyyy dann – dann – muß ich Ihnen – mein unglückliches – Geheimnis preisgeben ... oder,zzz/iyyy« wie hoffnungsfreudig richtete er sich wieder etwas empor, »zzziyyy oder – ich muß ...zzz/iyyy«

Ohne den Satz zu vollenden, wandte er sich schwerfällig um und wankte der Tür zu, erst als er diese öffnete, nahm er wieder etwas mehr Haltung an und einen festeren Schritt.

Also jetzt würde Nobody alles erfahren. Was eigentlich, davon hatte er noch gar keine Ahnung. Er mußte eben warten. Der ging doch jetzt, um etwas zu holen.

Und Nobody wartete. Er wartete fünf Minuten. Jener kam nicht zurück. Er wartete abermals fünf Minuten. Er wartete ...

Da fiel unten die Haustür schwer ins Schloß! Es war die vordere, die ging immer so schwer.

Und da bekam der so geduldig wartende Nobody eine böse Ahnung! Himmel, der Entlarvte würde doch nicht etwa ...

Nobody sprang ans Fenster, riß es auf, lehnte sich weit hinaus. An und vor der Haustür war nichts zu sehen, auf der Straße wohl einige Menschen, doch nicht die hohe Gestalt des Kanadiers. Freilich brauchte er auch nur wenige Schritte zu machen, so wäre er um die nächste Ecke verschwunden gewesen.

Ach, es war ja auch gar nicht möglich, weshalb sollte er denn die Flucht ...

Ja, schien er aber nicht in seinem Entschluß, sein Geheimnis preiszugeben, wankend geworden zu sein? »Oder – oder – ich muß ...« Oder was? Oder die Flucht ergreifen?

»Mr. Scott!!!«

Nobodys machtvolle Stimme hallte durch das einsame Haus. Keine Antwort.

»Bruno!!! Bruno, wo sind Sie?!«

Auch der Diener ließ nichts von sich hören.

Nun war es aber auch mit Nobodys Warten vorbei, diesmal verließ er sich auf seine Ahnung, und so hielt er sich nicht erst damit auf, alle die vielen Zimmer des großen Hauses zu durchsuchen, sondern er setzte den Hut auf und rannte hinaus, zuerst nach der Dampffähre.

Soeben war der Dampfer nach New-York abgefahren. Ob solch ein Mann oder zwei Männer wie Nobody sie beschrieb, an Bord gegangen waren, konnte der Beamte am Billettschalter nicht sagen, und er war der einzige Mensch in der weiteren Umgebung.

Nun nach der Eisenbahnstation, von wo soeben wieder der Zug abgegangen war, und hier dieselbe Frage und Beschreibung wiederholt.

»No, Sir.«

Nun nach der Telegraphenstation und ... doch wir wollen es kurz machen.

Nach zwei Stunden hatte Nobody alles getan, was er nur tun konnte, um die Verschwundenen aus Long Island oder beim Betreten des amerikanischen Festlandes festzuhalten, natürlich nicht als Verbrecher, sondern in aller Güte, und wir wissen aus den früheren Erzählungen, über was für einen gewaltigen Apparat von Hilfskräften Nobody verfügte.

Jetzt mußte er vorläufig geduldig warten. So begab er sich wieder nach dem einsamen Hause zurück, schloß die Vordertür auf, schloß sie wieder hinter sich zu, ging die Treppe hinauf.

Wie er einen Seitengang kreuzte, stockte plötzlich sein Schritt, starr haftete sein Auge am Boden.

Bruno war in den sechs Tagen sehr fleißig gewesen, von früh bis abend hatte er gewischt und gefegt und gescheuert und geklopft, aber das ganze Haus allein in dieser Zeit vom vierjährigen Staub zu säubern, daran war natürlich gar nicht zu denken gewesen. Drei Zimmer hatte er in Ordnung gebracht, mehr nicht. Auch die vielen Seitengänge des winklig gebauten Hauses hatte er noch liegen lassen, nur die Hauptkorridore, die man immer benutzte, vom Staube befreit.

Auch in diesem Seitengange nun, vor dem Nobody jetzt mit starrem Auge stand, lag der Staub noch zollhoch, und ... zzziyyy in dem Staube war der Abdruck eines großen Männerstiefels eines außerordentlich großen!

Er gehörte weder Mr. Scott noch dem Diener an, beide hatten viel kleinere Füße; auf so etwas zu achten, gehörte doch zum Berufe eines Detektivs. Auch nicht dem Kellner. Und überhaupt, Nobody wußte ganz, ganz bestimmt, daß heute früh, als er hier vorübergegangen war, um einen Brief in den Kasten zu stecken, diese Fußspur des großen Stiefels noch nicht gewesen war!

»Während meiner Abwesenheit ist ein fremder Fuß im Hause gewesen!!«

Wie ein Panther duckte sich Nobody zusammen, und so schlich er, den Revolver in der Hand, der Stiefelspur im Staube nach.

Sie bog um eine Ecke, dann hörte sie in einem gesäuberten Korridor auf.

Zugleich sah sich Nobody der Türe seines Schlafzimmers gegenüber, und ... diese war nur angelehnt!

Immer noch wie zum Sprunge geduckt, öffnete Nobody sie vollends, bereit, jeden Kampf aufzunehmen.

Es war nicht nötig.

Kein lebender Mensch war im Zimmer – und auch kein toter.

Dort stand noch das Sofa – aber die Leiche des jungen Mädchens war verschwunden.

Dafür lag auf dem Sofa ein Zettel. Endlich hatte Nobody ihn in der Hand. Nur wenige Zeilen, mit der Schreibmaschine geschrieben.

»Das Mädchen, welches gar nicht tot ist, erlaube ich mir als mein rechtmäßiges Eigentum wieder abzuholen. Statt dessen hinterlasse ich Ihnen eine Nuß, an der Sie, geehrter Mr. Nobody, Champion-Detektiv der Königin und der Welt, Ihre Weisheitszähne probieren können.«


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