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5. Auf neuer Fährte.

Edward Scott hatte sich nicht getäuscht, die ›Wetterhexe‹ lag wirklich im Hafen von Smyrna, um Ladung einzunehmen – eine ganz seltsame Fracht.

Schon seit vielen Wochen waren Zwischenhändler und Agenten auf den Beinen gewesen, um alte Knochen aufzukaufen und aufzuhäufen, nicht weniger als 2000 Tonnen oder 40.000 Zentner, welche die ›Wetterhexe‹ demnächst als Fracht abholen wollte, und eine Smyrnaer Bank hatte für den Besteller gutgesagt.

Die Agenten hatten denn auch die 40.000 Zentner alter Knochen zusammengebracht – wobei bemerkt werden muß, daß Smyrna für Kleinasien der Hauptstapelplatz von Knochen, Hadern und Lumpen ist, hier werden alle Abfälle zusammengefahren – hochgetürmt lagen die vollgepfropften Säcke am Kai, zum Abholen bereit, schon um 10.000 Pfund Sterling oder 200.000 Mark bar bezahlt, und das riesige Torpedoschiff war angekommen, hatte angelegt, und auf der Kommandobrücke stand Kapitän Flederwisch und überblickte wie ein Feldherr seine Knochenarmee.

Einige der Säcke waren geplatzt. Hier steckte ein Kamel seine langen, gelben Zähne heraus, dort ein Pferd sein Vorderbein, dort ein Hund sein Schwänzchen, und aus dem einen Sackloche grinste ganz fidel ein menschlicher Totenschädel.

Was Kapitän Flederwisch mit den 40.000 Zentnern Knochen anfangen wollte?

Nun, alte Knochen sind gar kein schlechter Handelsartikel, damit ist schon mancher reich geworden. Und hätte Flederwisch nicht einen so hohen Preis dafür geboten, für den Zentner 5 Mark, er würde nicht so viele in solch kurzer Zeit zusammengebracht haben. Denn überall in der Welt, wo Leimsiedereien und Knochenmühlen existieren, da gehen die alten Gebeine ab wie die warmen Semmeln, und ob nun Kamelskinnbacken oder Pferdebeine oder Hundeschwänzchen oder Totenschädel, und ob dieser nun einem gottbegnadeten Dichter oder einem gehenkten Raubmörder angehörte – ganz egal, alles kommt rin in den Wurstkessel.

Aber Kapitän Flederwisch trieb doch keinen Handel! Noch weniger übernahm er eine Fracht auf Bestellung! Das war bei dem Kapitän der ›Wetterhexe‹ und Herrn der Schwefelinseln doch ganz ausgeschlossen!

Was er sonst mit den 40.000 Zentnern alter Knochen wollte? Ja, das wußte nur der liebe Gott und Kapitän Flederwisch selbst! Na, er hatte eben wieder einmal irgendeine geniale Idee!

Die Mannschaft freilich machte heimlich faule Witze, sie sprach etwas von ›Bouillonknochen‹ und dergleichen, und Kapitän Flederwisch selbst, wie er so dastand und seine fleischlosen Truppen musterte, die er noch heute als Passagiere an Bord seines Schiffes nehmen wollte, machte ein recht verdrießliches Gesicht, besonders als er jetzt witternd die Nase erhob.

»Hätte ich geahnt, daß das Luderzeug so stinken täte, hätte ich wenigstens nicht mein sauberes Schiff zur Fracht genommen,« murrte er.

Ja, stinken tat's, und zwar ganz tüchtig. Die Hafenbehörde hatte ihm nur drei Tage zur Uebernahme dieser Ladung gewährt, dann mußte das Zeug vom Kai verschwunden sein.

»Und überhaupt,« knurrte er weiter, »wenn ich keinen zu großen Schaden dabei hätte, würde ich das ganze Luderzeug gleich weiterverkaufen.«

Die türkischen und arabischen Lastträger kamen, die Uebernahme begann. Prasselnd entleerte sich der Inhalt des ersten Sackes durch die große Luke in den Kielraum des Schiffes.

Bei solch einer Uebernahme der Fracht, läßt sich ein Schiff niemals absperren. Da kommen und gehen ständig zu viele Schiffsmakler, Agenten, Schreiber, und nun gar erst Beamte in Uniform und Zivil die schwere Masse.

»Habe ich die Ehre, Herrn Kapitän Flederwisch zu sprechen?«

Der Angeredete drehte sich um, und zwei Männer standen sich gegenüber, beide gleich hoch und edel gewachsen wie die Zedern – aber auf der einen Seite die geniale Liederlichkeit, auf der anderen der schwermütige Ernst.

»Scott ist mein Name, Edward Scott.«

Kapitän Flederwisch war sonst ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle, und einen erstklassigen Gentleman sah er doch vor sich stehen. Aber er befand sich eben gerade in einer überaus verdrießlichen Laune.

»Was wollen Sie?« fragte er kurz, fast schroff.

»Ein Herr, den Sie sehr gut kennen, gab mir dieses für Sie,« entgegnete Scott mit unberührter Höflichkeit, einen kleinen Zettel vorzeigend.

Flederwisch nahm ihn, und gleich als er die Zahlenreihen sah, ging es wie eitel Sonnenschein über sein erst so mürrisches Gesicht.

»No ...!« stieß er hervor, bei der ersten Silbe abbrechend, und es hatte doch wie ein Jauchzen geklungen.

Sich etwas abwendend, las er die Geheimschrift, er brauchte zur Uebersetzung keine Tabelle, und als er sich dem Fremden wieder zukehrte, war sein Gesicht erst recht zur lachenden Sonne geworden.

»Kommen Sie hier etwas abseits!«

Er zog Scott mit unter die Kommandobrücke, wo sie beide allein waren. Was Flederwisch dann weitersprach, sprudelte er nur immer so heraus.

»Nobody braucht mich?«

»Ich glaube so.«

»Sie sind der Mr. Edward Scott, dessen Anleitungen ich befolgen soll?«

»Ich bin es.«

»Es gibt ein Abenteuer?«

»Es wird wohl eins geben.«

»Na, endlich einmal!!!« jauchzte Flederwisch förmlich auf. »Endlich braucht mich Nobody wieder, und da gibt es immer etwas ganz Besonderes. Na also, was soll ich tun? Wohin soll die ›Wetterhexe‹ gehen?«

»Nach dem Suezkanal.«

»Jetzt sofort?«

»Ich habe gehört und sehe, daß Sie eine Fracht einneh ...«

»Sprechen Sie,« fiel ihm Flederwisch ins Wort, und merkwürdig war es, mit welch ängstlicher Spannung seine Augen am Munde des anderen hingen. »Drängt die Geschichte? Soll die ›Wetterhexe‹ sofort abdampfen? Nicht wahr, es drängt? Nobody braucht mich sofort?«

»Wenn es irgend möglich wäre, daß Sie noch heute ...«

In diesem Augenblick prasselte der dritte Sack Knochen in den Laderaum hinab, und da stürzte Flederwisch auf die Luke zu.

»Halt! Haaalt!!! Das Ganze haaaalt!!!« brüllte er. »Raus wieder mit den stinkigen Knochen, rraus, sage ich, raus, raus, rrrraus!!!«

Im nächsten Moment wandte er sich an einen Mann mit internationalem Gepräge – an einen Mann, der in Smyrna genau so aussieht wie in Berlin oder in New-York oder sonstwo in der Welt, wo es nur irgend etwas zu handeln gibt, und auch seine Sprache ist immer die gleiche.

»Hier, Sie haben mir doch schon einmal ein Angebot gemacht, Sie müssen etwas auf dem Rohre haben – na, was geben Sie mir für die 2000 Tonnen Knochen?«

Der Mann mit dem internationalen Gepräge machte seine krummen Beine noch krümmer, steckte die Daumen in die Westenärmel und reckte sein Bäuchlein möglichst weit heraus.

»Wie haißt, Gott der Gerechte,« begann er seine längere Rede.

Nach fünf Minuten schon hatte Flederwisch seine 40.000 Zentner Knochen wieder verklatscht, zur Hälfte des von ihm gezahlten Preises, oder, genau berechnet, das Pfund zu zweiundeinhalb Feng.

Ja, ein Handelsmann war Kapitän Flederwisch nicht. Dazu sah er ja auch viel zu genial aus. Beim Schmuggeln, da konnte er Geld verdienen, da konnte ihn niemand übers Ohr hauen! Aber in geschäftlichen Beziehungen war er naiv wie ein Kind.

Was hier sonst vorlag, liegt wohl ziemlich klar auf der Hand. Er hatte mit den 2000 Tonnen alter Knochen eben wieder einmal irgendeine geniale Idee vorgehabt. Vielleicht hatte er seine öden Schwefelinseln damit düngen wollen. Wie er aber nun die Knochen sah, da waren sie ihm in die Nase gestiegen.

Doch er genierte sich, das Geschäft, den ganzen Plan gleich wieder so ohne weiteres aufzugeben, genierte sich vor der Mannschaft, genierte sich vor sich selbst. Es ist doch auch unmännlich, etwas Großes zu beginnen und gleich im ersten Stadium wieder hinzuwerfen.

Da war ihm nun Nobodys Abgesandter wie gerufen gekommen. Also sofort? Sofort! Gut, weg damit! Jetzt konnte er diese Handlungsweise vor sich selber verantworten. Nobody brauchte ihn und sein Schiff, und damit basta! Und der Besitzer einer Perlenbank konnte sich ja auch solch ein Späßchen leisten.

Und wieder fünf Minuten später begann die Riesenzigarre, die bisher in beängstigender Höhe auf dem Wasser geschwommen hatte, zu sinken. Die Ventile waren geöffnet worden, als Ballast strömte Salzwasser ein.

»Soll sonst etwas mitgenommen werden?« wandte sich Flederwisch an Scott, der ja kaum erst das Deck betreten hatte.

»Nein. Haben Sie genug Kohlen an Bord?«

»Die Kohle gehört zu meinem täglichen Brot wie die Pulle Kognak,« versicherte Flederwisch mit tiefem Ernst.

Er wollte damit sagen, daß sein Schiff immer vollständig mit Kohlen ausgerüstet sei.

»Proviant, Wasser – alles im Ueberfluß vorhanden. Sie machen doch die Reise mit?«

»Gewiß. Auch mein Diener, der dort steht, er hat schon mein Gepäck bei sich.«

»Haben Sie sollst noch etwas an Land zu besorgen?«

»Gar nichts.«

»Dann bitte ich um Entschuldigung, ich muß auf die Kommandobrücke. Puttfarken, weise dem Gentleman die beste Kabine neben der Kajüte an und sorge für seinen Diener.«

Die Ordonnanz, das Faktotum des Kapitäns, Jochen Puttfarken, der unterdessen nicht gewachsen war, noch immer solch krumme Beine hatte und noch immer solch eine ungeheure Nase im Gesicht, auch noch immer mit seinen Elefantenohren wackeln konnte, nahm die beiden ins Schlepptau.

»Das war ein Empfang, so etwas wirkt wahrhaft herzerquickend!« sagte Scott zu seinem Diener, als sich die beiden allein in der luxuriös ausgestatteten Kabine befanden. »Hast du gesehen, Bruno, was für einen Eindruck es auf den Kapitän machte, als er las, daß Nobody etwas von ihm wünschte?«

»Ich sah es, und seine Handlungsweise spricht noch deutlicher.«

»Das erinnert mich an jene englischen Ritterzeiten, welche so – herrlich mein großer Namensvetter zu schildern wußte, Walter Scott, da der Lehnsmann auf einen Wink seines Königs sein Roß anspornte, um mit eingelegter Lanze in den Tod zu gehen, ohne erst nach einem Warum zu fragen.«

»Na, in unserem Nibelungenliede ist das noch viel schöner geschildert, da gibt es noch ganz andere Kerls drin,« meinte der Diener mit dem deutschen Namen. »Aber,« fuhr er dann fort, »haben Sie nicht schon ein Ziel angegeben?«

»Den Suezkanal.«

»Den Suezkanal?« wiederholte Bruno mit besorgter Miene. »Haben Sie denn das unterdessen schon bestimmt erfahren?«

»Nein, noch immer nicht. Es kommt nur immer noch von Süden. Wegen des Zieles muß ich erst noch einmal den Kapitän sprechen.«

»Dann aber bald, wir dampfen schon!«

So war es. Die Schiffsplanken begannen bereits zu zittern, die Schraube drehte sich schon, schneller und immer schneller.

Es klopfte, Zwergnase trat ein, auch der Nasenkönig genannt, also Jochen Puttfarken.

»Der Herr Kapitän läßt entschuldigen, er muß auf der Kommandobrücke bleiben, weil er das Schiff aus dem Hafen bugsiert – Mr. Scott möchten doch allein speisen,« meldete er.

Scott dankte, das merkwürdige Kerlchen betrachtend, welches nicht gleich wieder ging, sondern noch stehen blieb, vergnügt mit den verschwindenden Schweinsäuglein blinzelnd, mit den Elefantenohren wackelnd und sich mit der Hand, mit der er bekanntlich fast den Boden berühren konnte, am Fußgelenk kratzend.

»Wünschen Sie noch etwas?«

»Ja, nichts für ungut, aber ich dachte ...«

Puttfarken brachte aus seiner Hosentasche einen Porzellannapf zum Vorschein, und als er den Deckel hob, sah Scott eine rote Schmiere darin.

»Das ist die Seife, die immer der Master benutzt – der Kapitän hat's mir zwar nicht geheißen, sie Ihnen zu bringen, aber ich dachte, weil ...«

Er setzte den Napf mit der roten Schmierseife auf den Waschtisch.

»Wer ist das, der Master?« fragte Scott.

»Na, der Mr. Nobody!«

»Ah so. Ich danke Ihnen.«

Wenn Scott noch nicht durch diese Schmierseife gemerkt hatte, was für eine Rolle Nobody hier an Bord spielte, so sollte er es auf Schritt und Tritt und bei jeder Gelegenheit merken, und die Verehrung, die man dem ›Master‹ entgegenbrachte, wurde jetzt seitens der Mannschaft seinem Stellvertreter zuteil. Es lag wirklich etwas Rührendes darin, wie das die einfachen Matrosen auszudrücken wußten.

»Das Essen ist fertig, es ist in der Kajüte serviert,« meldete gleich darauf der Steward. »Wo soll Ihr Diener essen?«

»Wenn irgend möglich, ißt Bruno stets an meinem Tisch, und es wird dabei kein Unterschied gemacht.«

»Gerade wie der Master,« sagte der Steward in lobendem Tone.

Auf dem Kajütentische stand feines, chinesisches Porzellan.

»Es ist das Geschirr des Masters – nur für des Masters eigenen Gebrauch,« erklärte der Steward stolz.

Neben dem Teller lag ein silbernes Besteck, während die zum andern Teller gehörende Gabel ganz einfach und auffallend klein, das Messer dagegen sehr groß war und ebenfalls nur einen Holzgriff hatte, allerdings zierlich geschnitzt, eine Jagdszene darstellend.

»Nein, Sir, Sie sitzen hier, es ist das eigene Besteck des Masters, ich muß es ihm selbst aufheben und putzen, und ich putze es jeden Tag,« lautete wiederum die Erklärung. »Leider,« wurde traurig hinzugesetzt, »leider ganz umsonst, der Master kommt ja gar nicht mehr.«

Und so war es bei allem und jedem. Immer und immer der Master, also Nobody, und der Fremde war eben sein Stellvertreter.

Nach dem Essen zog sich Scott mit seinem Diener in die Kabine zurück, und es verging eine halbe Stunde, ehe ersterer wieder zum Vorschein kam. Er begab sich an Deck. Der Dampfer befand sich in voller Fahrt nach Süden, die Matrosen scheuerten das Deck.

Wiederum erfolgte solch ein Beweis ungewöhnlicher Hochachtung.

Als Scott auf die Kommandobrücke zuging, auf welcher der Kapitän stand, mußte er eine sehr nasse Stelle passieren.

Sofort sprang ein Matrose hin und trocknete schnell vor seinen Füßen auf.

»Ist der Herr Kapitän zu sprechen?«

»Der Kapitän ist für Sie überhaupt immer zu sprechen,« lautete die Antwort.

Scott ging bis zu der nach der Brücke hinaufführenden Treppe.

»Darf ich die Kommandobrücke einmal betreten?« rief er hinauf.

»Selbstverständlich. Ich bin überhaupt nur noch der nautische Lenker dieses Schiffes, der sonst aber Ihre Befehle auszuführen hat,« entgegnete Flederwisch so laut, daß es alle all Deck Befindlichen hören konnten.

Es mußte doch etwas ganz Besonderes auf dem Zettelchen gestanden haben.

Leichtfüßig sprang der junge Kanadier hinauf, während sein Gesicht im Gegensatz zu diesem leichten, elastischen Fuße höchst sorgenvoll aussah.

»Ich bitte um Entschuldigung, Herr Kapitän.«

»Inwiefern? Sie haben überhaupt nicht zu bitten, sondern über mich und über dieses Schiff zu befehlen,« lächelte Flederwisch, jenem die Hand entgegenstreckend, hatte er ihn doch auch noch gar nicht förmlich begrüßt.

»Doch, ich muß um Entschuldigung bitten. Sie steuern nach Süden. Das ist auch meine Schuld. Ich möchte Genua anlaufen.«

Ein erstaunter Blick traf den Sprecher, Flederwisch zog auch gleich seine Hand wieder zurück.

»Sie sagten doch, das Ziel wäre der Suezkanal!«

»Allerdings sagte ich das. Ich bitte eben deswegen um Entschuldigung.«

»Herr, wissen Sie denn nicht, daß Genua gerade in der entgegengesetzten Richtung liegt?!«

»Wohl weiß ich das, aber mein Plan hat sich unterdessen geändert.«

»Ihr Plan? Unterdessen hat er sich geändert? Was für ein Plan?«

»Ich handle im Auftrage eines ...«

Scott brach ab, um von neuem anzufangen.

»Ich bitte Sie, den Kurs nach Genua zu nehmen. Es ist unser nächstes Ziel!«

Noch ein erstaunter, wenn nicht mißtrauischer Blick, dann zuckte Flederwisch die Achseln und drehte den Signalapparat.

»Schön, also nach Genua. Hoffentlich ändert sich Ihr Plan nicht wieder.«

Der Dampfer wendete, nahm direkt entgegengesetzten Kurs.

Scott promenierte an Deck auf und ab, beobachtete durch das Oberlicht die gewaltigen Maschinen, wie sie arbeiteten, besichtigte in der Kajüte die auserlesene Bibliothek und beschäftigte sich in anderer Weise.

Unbedingt mußte er merken, daß im ganzen Schiffe ein Umschwung gegen ihn eingetreten war. Keine Aufmerksamkeit mehr, nur noch prompte Bedienung. Kurz meldete ihm die Ordonnanz, daß der Kaffee serviert sei, ohne wie zuvor den Kapitän zu entschuldigen, stumm bediente der Steward.

Bald erfuhr Scott, falls er es noch nicht wußte, den Grund zu diesem veränderten Benehmen. Ungesehen hörte er nämlich das Gespräch zweier Matrosen mit an.

»Na so was, läßt uns der erst zwei Stunden nach Süden dampfen. Ist er denn noch einmal an Land gewesen, nachdem er gesagt hatte, es ginge nach dem Suezkanal?«

»I wo, er hat es im ersten Augenblick gesagt, ich habe es selbst gehört, und zehn Minuten später lichteten wir ja die Anker.«

»Da hat er also hier an Bord das Reiseziel geändert? Na so was!«

»Der weiß wohl selber nicht, was er will.«

»Ja, da scheint Nobody einmal den Unrechten zu seinem Stellvertreter gewählt zu haben. Läßt der uns erst zwei Stunden nach Süden dampfen!«

»Na, noch einmal darf das bei unserm Kapitän nicht passieren! So läßt er sich nicht an der Nase herumspielen!«

Was Scott zu diesem erlauschten Gespräche dachte, wissen wir nicht.

Erst am Abend sah er den Kapitän wieder, der mit ihm zusammen in der Kajüte das Abendessen einnahm. Bei diesem merkte er nichts mehr davon, daß etwas geschehen war, Flederwisch war von vollendeter Höflichkeit und Liebenswürdigkeit, und wenn er später kühl und reserviert wurde, so war dies wiederum Scotts Schuld, denn dieser kam ihm so entgegen, wobei allerdings zu bedenken ist, daß der junge Kanadier überhaupt einsilbig war, und dann hatte er auch noch besonderen Grund, so zurückhaltend zu sein.

»Wo haben Sie eigentlich meinen Freund kennen gelernt?« begann Flederwisch das Gespräch.

»In New-York!« war die einsilbige Antwort.

»Sind Sie schon lange mit ihm bekannt?«

»Nein.«

»Wo befindet sich Nobody denn jetzt?«

»In Aegypten.«

Bei solchen Antworten ist es begreiflich, daß Flederwisch sehr schnell das Fragen aufgab. Schweigend vertiefte er sich in seine Teller.

Nach dem Abendessen begab sich Scott sofort in seine Kabine.

Es war etwas nach Mitternacht, als er an Deck erschien.

»Ich höre unten, daß sich der Kapitän an Deck befindet,« wandte er sich an einen wachehabenden Matrosen.

»Der Kapitän ist immer in der Nacht auf der Brücke, er schläft auf dem Sofa im Kartenhaus.«

Ohne weiteres begab sich Scott hinauf. Oben stand ein Matrose am Ruder – d. h. am Steuerrad – Scott warf einen Blick auf den Kompaß, er zeigte nach Nordwesten.

In dem erleuchteten Kartenhaus, in dem die Seekarten und die nautischen Instrumente aufbewahrt werden, lag auf dem Sofa Flederwisch, vollständig angekleidet, an den Füßen die hohen Seestiefel, und schlummerte friedlich.

»Herr Kapitän!«

Eine Berührung war gar nicht nötig; im Nu saß Flederwisch aufrecht.

»Was gibt es? Ah, Sie sind es! Sie wünschen?«

»Ich muß Sie bitten, immer noch einmal den Kurs zu ändern.«

Zunächst begnügte sich Flederwisch nur damit, die Augen weit aufzureißen.

»Immer noch einmal? Wohin denn nun wieder?«

»Doch wieder südlich, doch nach dem Suezkanal.«

Jetzt stand Flederwisch langsam auf, musterte jenen von oben bis unten.

»Nach Suez?«

»Ich kann vorläufig nur sagen: nach dem Suezkanal.«

»Herr, Sie sind wohl ... was wollen Sie denn im Suezkanal?«

»Ich weiß es noch nicht.«

»Wollen Sie sich in die Kajüte begeben, ich komme gleich nach.«

»Ich kann Ihnen auch gleich hier eine Erklärung ...«

»Verlassen Sie die Kommandobrücke!« sagte Flederwisch in schärfstem Tone. »Begeben Sie sich in die Kajüte, warten Sie dort auf mich!«

Ganz gelassen wandte sich der junge Kanadier um, verließ die Kommandobrücke und begab sich in die Kajüte, und auch hier zeigte er nicht die geringste Spur von Aufregung über die ihm zuteil gewordene Behandlung; er griff sofort nach einem Buche und begann zu lesen.

Er brauchte nicht lange zu warten, da kam der Kapitän, jenen mit Zahlen bedeckten Zettel in der Hand, darunter der Abdruck eines Daumens.

»Ich weiß noch gar nicht, wer Sie eigentlich sind,« eröffnete Flederwisch die Auseinandersetzung.

Gleichmütig stellte Scott das Buch in die Bibliothek zurück.

»Edward Scott aus Quebek.«

»Das sagt mir noch gar nichts!«

»Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen. Doch ich will Ihnen eine Erklärung ...«

»Keine Erklärung will ich haben, sondern anderes!« fiel ihm Flederwisch ins Wort. »Hat Ihnen der betreffende, der Ihnen dieses Geheimschreiben gab, nicht gesagt, daß Sie neben diesen Daumenabdruck hier den Ihrigen setzen sollen?«

»Dieses ist auch der meinige, und Mister Nobody sagte mir, daß Sie mir einen zweiten Daumenabdruck als Legitimation abfordern würden.«

Flederwisch stutzte etwas. Der Mann hatte recht. Das hätte er gleich fordern sollen. Doch deshalb war er ja eben hergekommen, um das nachzuholen.

Auch er zog aus seiner Tasche ein Stempelkissen.

»Bitte, wollen Sie Ihren rechten Daumen mit Farbe einreiben und hier daneben abdrücken?«

»Und wenn ich es nicht tue?« fragte Scott ganz gleichmütig.

Ein drohender Blick traf ihn.

»Dann muß ich annehmen, daß Sie ein ... Betrüger sind – jawohl, ein Betrüger, dem durch irgendeinen Zufall diese geheime Vollmacht in die Hände geraten ist, der sie zu enträtseln versteht, und der sie mißbrauchen will.«

»Wieso mißbrauchen?«

»Was weiß ich? Mir auch ganz egal, ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig. Wollen Sie also oder wollen Sie nicht ... freiwillig?«

»Und wenn nun mein Daumenabdruck mit dem übereinstimmt?«

»Dann sind Sie als der echte Besitzer dieser Vollmacht legitimiert.«

»Das gibt Ihnen aber doch noch keine Erklärung für mein Verhalten.«

»Mir ganz egal!« wiederholte Flederwisch. »Dann sind Sie legitimiert, dann hat Nobody Sie eben als seinen Stellvertreter zu mir geschickt, Sie haben zu befehlen, und ich gehorche Ihnen einfach.«

»Ja, aber ...«

»Kein aber. Hier drücken Sie Ihren Daumen ab!«

»So geben Sie her!«

Scott färbte seinen rechten Daumen ein und drückte ihn neben dem anderen ab. Flederwisch nahm den Zettel an sich, verglich die beiden Abdrücke prüfend und machte ein etwas verlegenes Gesicht, als er den Kanadier anblickte.

»Verzeihung – an Bord ist jemand, der so etwas noch besser unterscheiden kann als ich, ich komme sofort zurück.«

Er kam denn auch gleich wieder. Sein Verhalten war nicht gerade ein viel anderes, nur seine Worte waren merkwürdig.

»Ja, diese Vollmacht ist für Sie ausgestellt. Unter Millionen Fingerabdrücken gleicht keiner einen zweiten, so behauptete Nobody, und was Nobody sagt, ist endgültig richtig. Nun also, mein Herr, haben Sie einfach zu befehlen. Soll ich nochmals die Richtung wechseln? Wieder nach Süden? Dann eine Stunde später wieder nach Norden? Nach Westen, nach Osten? Befehlen Sie; ich soll mich ein Jahr lang hier im Kreise herumdrehen, ich gehorche, ohne eine Frage zu stellen. Nobody hat noch immer gewußt, was er tut, und wir haben ihn anfangs oft genug für einen Narren gehalten, der nicht weiß, was er will, und schließlich hat er doch immer recht behalten, und wir konnten nur das Maul aufsperren. Und Sie sind von Nobody als sein Stellvertreter geschickt worden, und Nobody weiß auch immer ganz genau, wen er zu so etwas wählt, der irrt sich in keinem Menschen, und wenn Sie jetzt befehlen, ich soll das Schiff anbohren und versenken – wird ausgeführt!«

Scott konnte nur staunen. Es war ein ehrfürchtiges Staunen. Was für eine Anbetung genoß jener Mann hier von diesen Leuten! Gab es denn solch ein Verhältnis sonst noch wo in der Welt? Nein. Dieses Schiff hier war ja auch eine kleine Welt für sich.

»So lassen Sie mich Ihnen jetzt eine Erklärung ...«

»Keine Erklärung!« unterbrach Flederwisch ihn abermals mit abwehrender Handbewegung. »Sie sind Nobodys Stellvertreter, Sie sprechen mit seinem Munde, Sie befehlen, wir gehorchen, und damit basta!«

»Ich möchte Ihnen freiwillig eine Erklärung geben, ich bitte Sie darum, sie anzuhören. Es liegt mir daran, die Freundschaft des Freundes meines Freundes zu gewinnen.«

»Das ist etwas anderes. Aber nötig haben Sie eine Erklärung jetzt nicht mehr. Uebrigens haben Sie da sehr schön gesprochen. Ich kann mir gar nicht drei Freunde vorstellen, von denen aber der eine den dritten gar nicht kennt.«

Flederwisch setzte sich; Scott ging erst noch einmal nach dem Ausgang und schloß die Schiebetür.

»Es kann uns hier doch niemand hören?«

»Niemand.«

»Ich offenbare es nur Ihnen, sonst weiß außer meinem Diener nur noch Nobody darum.«

»Dann will ich also, wenn Sie es verlangen, der Dritte im Bunde sein.«

»Nun denn: ich bin somnambul veranlagt.«

»Som-nam-bul?« wiederholte Flederwisch, und sein sonst so geistreiches Gesicht wurde dabei recht dämlich.

Dann lachte er herzlich.

»Ach so! Ich dachte im Augenblick, Sie wollten damit sagen. Sie wären so ein Medium, das in die Ferne und in die Zukunft schauen kann. Ich habe nämlich einmal solch ein Medium gesehen, ein hysterisches Frauenzimmer, das mit sämtlichen Gliedmaßen am Tatterich litt, besonders auf dem spindeldürren Halse wackelte der ausgemergelte Kopf in beängstigender Weise hin und her, und die ganze Geschichte war auch nichts weiter als handgreiflicher Schwindel. Ja, aber was meinen nun Sie mit Ihrem ›somnambul‹? Habe noch gar nicht gewußt, daß dieses Wort noch eine ganz andere Bedeutung hat.«

»Das wird wohl auch nicht der Fall sein. Und ich meine ganz dasselbe damit. Auch ich bin solch ein Medium, welches zeitweilig in die Ferne und sogar in die Zukunft schauen kann.«

Wieder machte Flederwisch ein unbeschreibliches Gesicht, und vielleicht noch unbeschreiblicher war der Blick, mit dem er von der Seite den jungen, hünenhaften Kanadier betrachtete.

»Ach – ach – ach nöööö!!« brachte er nur hervor.

Der lebenslustige Kapitän hatte sich noch niemals um solche übersinnliche Sachen gekümmert. Flederwisch gehörte zu jenen glücklichen Menschen die an nichts glauben, was sie nicht mit Händen fassen können – denn wirklich, solche Menschen sind glücklich zu nennen in ihrer Beschränkung – eben nur einmal hatte er solch ein schwindelhaftes Frauenzimmer kennen gelernt, wie er es beschrieben, ein hysterisches Frauenzimmer – – und nun hier dieser hünenhafte, von Gesundheit strotzende junge Mann – sein Unglaube war berechtigt.

»Mister Nobody hat genug Beweise bekommen, daß ich wirklich somnambule Eigenschaften besitze,« sagte Scott.

Da mit einem Male änderte sich die ganze Sache, Flederwisch beugte sich vor.

»Nobody glaubt daran, daß Sie in die Ferne und in die Zukunft blicken können?« erklang es überrascht.

»Gewiß. Wie gesagt, auch er ist davon überzeugt worden.«

»Jaaaa, dann ist es etwas anderes!« meinte Flederwisch langgedehnt. »Das hätten Sie gleich sagen sollen. Wenn Nobody daran glaubt, davon überzeugt ist, dann ist überhaupt gar nichts mehr dagegen zu machen, dann glaube ich auch daran. Uebrigens hätte ich gleich Ihren Worten Glauben schenken sollen; denn Nobody schreibt nur ja, ich solle Ihnen unbedingt vertrauen. Also Sie sind sozusagen ein Prophet? Famos!«

Scott mochte innerlich lächeln. Dieser Seemann hier zerbrach sich über nichts weiter den Kopf, stellte gar keine weiteren Fragen. Nobody glaubte, dann brachte auch er bedingungslosen Glauben entgegen, und damit basta! Nobody war hier eben unfehlbar.

Nun hatte aber Scott auch ein sehr leichtes Spiel, brauchte sich nicht erst bei einer langen Vorrede und bei weiteren Erklärungen aufzuhalten.

»Nobody – oder ich kann auch von mir sprechen – wir sind einem Verbrechen auf der Spur, einem Geheimnis, einem Rätsel. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich mich nicht näher darüber auslasse. Nobody hat mir keine Ermächtigung dazu gegeben, ich weiß nicht, ob ich es darf ...«

»Sicher nicht, ich will es gar nicht wissen,« wehrte Flederwisch ab.

»Die Spur führte nach Aegypten, dort befindet sich Nobody gegenwärtig. Ich selbst wurde beeinflußt – anders kann ich mich jetzt nicht ausdrücken – mich nach Smyrna zu begeben, wo ich Sie mit der ›Wetterhexe‹ liegen wußte.«

»Woher wußten Sie das?«

»Das ist eben meine ...«

»Ach so, ich verstehe schon. Ja, ja, wenn man hellsehend ist?« meinte Flederwisch, die Daumen der gefalteten Hände um sich drehen lassend. Aus dem Saulus war mit einem Male der gläubigste Paulus geworden.

»Nun befindet sich in der Welt ein Mann, eine Person,« fuhr Scott fort, »welche uns auf der einmal vorhandenen Spur noch viel weiter führen kann, und welche gerade jetzt und auch schon seit längerer Zeit lebhaft, mit aller Kraft der Sinne, an Nobody denkt, ihn wegen irgendeiner Sache aufsuchen und sprechen will.«

»Was für ein Mann ist das?«

»Ja, Herr Kapitän, das ist es eben! Ich bin nicht so viel Hellseher und Prophet, wie Sie wohl glauben. Ich empfinde nur fremde Einflüsse. Es sind Ahnungen. Ich kann noch nicht einmal sagen, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Es ist irgendein menschliches Wesen, das sich seit einiger Zeit in allen seinen Gedanken mit Nobody beschäftigt, ihn aufsuchen will, um ihm etwas Wichtiges mitzuteilen. Und dieses menschliche Wesen befindet sich zur Zeit südlich von mir. Vom Süden her kommt der mir selbst unbegreifliche Einfluß.«

»O ja, Herr, auch ich glaube an solche beeinflussende Ahnungen,« stimmte Flederwisch bei, der jetzt also mit einem Male ganz anders dachte. »Sehen Sie, erst heute morgen habe ich so einen Beweis bekommen, daß es doch so etwas in der Welt gibt, von dem sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt. Sehen Sie, als ich heute früh aufwachte, hatte ich gleich das unbestimmte Gefühl: dir muß heute noch etwas schief gehen, und zwar bald, noch vor dem Kaffeetrinken. Und was meinen Sie, was nur passiert ist? Ich stehe auf, will gleich einmal aus der Kabine, bin noch barfuß, und ... wie ich aus der Tür komme, ist es mein erstes, daß ich mit dem nackten Fuße gerade in das Andenken trete, was mir da mein Cäsar, das Hundevieh, gerade vor meine Tür gesetzt hat. Na, was sagen Sie nun dazu? Sehen Sie, ich hatte schon so etwas geahnt. Das heißt,« setzte Flederwisch, der Prophet, bescheiden hinzu, »ich will damit nicht etwa sagen, daß ich somnambul veranlagt bin oder sonstwie in dieser Beziehung mich mit Ihnen vergleichen kann.«

»Wie gesagt,« fuhr Scott nach dieser Einschaltung fort, »die sich südlich von mir befindende Person will sich zu Nobody begeben. Nobody dürfte aber längere Zeit von London abwesend sein. So gab ich zuerst die Richtung nach dem Suezkanal an. Denn diesen passiert er auf seiner Reise, das weiß ich ganz bestimmt. Ebenso bestimmt weiß ich, daß ich mit der Person zusammentreffen werde. Wo und auf welche Weise, das ist mir freilich selbst noch unbekannt. Aber entgehen kann sie mir nicht. Irgendein Ziel mußte ich doch angeben, so nannte ich also den Suezkanal. Nun aber habe ich manchmal besonders hellsehende Augenblicke, und in einem solchen erfuhr ich, daß sich die Person auf einem Dampfer befindet, welcher bereits unterwegs nach Genua ist. Also hin nach Genua. Verstehen Sie, Herr Kapitän, wie unschlüssig ich sein muß, obgleich ich doch sonst meiner Sache todsicher bin?«

»Ich verstehe, verstehe vollkommen,« versicherte Flederwisch, obgleich er im Grunde genommen gar nichts verstand.

Aber Nobody, der Unfehlbare, glaubte ja an solch eine Hellseherei, und damit war auch für Flederwisch kein Zweifel mehr vorhanden.

»Am stärksten,« fuhr Scott fort, »kommt es über mich in der Nacht zwischen zwölf und eins – in der sogenannten Geisterstunde. Zufall oder nicht, es ist so. Da werde ich auch oft ohne Absicht hellsehend. So auch wieder vorhin. Und da sagte mir jenes geheimnisvolle Etwas, das für mich selbst ein Rätsel Detektiv ist, daß jener Dampfer, auf dem sich die Person befindet, Genua nicht erreichen würde, oder aber, ich würde der Person dort nicht begegnen. Südlich vom Suezkanal, im Roten Meere habe das Schicksal unsere Zusammenkunft bestimmt. Und so bin ich denn abermals zu Ihnen gegangen, um Sie zu bitten, nochmals den Kurs zu ändern. Jetzt weiß ich aber auch bestimmt, daß ich jene mir noch unbekannte Person im Roten Meere treffen werde, ganz unfehlbar.«

Flederwisch hatte sich erhoben.

»Sie haben überhaupt nicht zu bitten, sondern nur zu befehlen,« sagte er fast dieselben Worte, die vor kurzer Zeit Nobody zu seinem Freunde gesprochen hatte. »Also zurück nach Süden, und wenn Sie wollen, wird immer noch einmal gewendet, und immer wieder!«

 

Aber der Kurs sollte nicht wieder geändert werden, wenigstens nicht in den nächsten drei Tagen. Die ›Wetterhexe‹ passierte den Suezkanal und steuerte in das Rote Meer hinein. Wohin? Scott gab kein bestimmtes Ziel an, er wußte es wohl selbst noch nicht.

Doch ließ er sich hierüber dem Kapitän gegenüber gar nicht aus, wie er auch sonst der melancholische, schweigsame Mensch blieb, der sich am liebsten immer in seiner Kabine aufhielt und nur an Deck promenierte, wenn dieses am leersten war. Flederwisch hatte gewiß nichts verraten, und doch wurde der fremde und so geheimnisvoll auftretende Passagier von der Mannschaft bereits nur noch ›der Geisterseher‹ genannt.

Diese seine somnambule Eigenschaft war auch das einzige, worüber Scott den Kapitän eingeweiht hatte. Er erzählte nichts von jenem rätselhaften Fremden, noch weniger von dem, was man bereits alles entdeckt hatte, die präparierten Leichen usw., am allerwenigsten über die Tarnkleider.

Wollen wir hierbei gleich erledigen, was Nobody diesbezüglich schon getan und angeordnet hatte – etwas, was er nur seinem Tagebuch anvertraut hat.

Eine Untersuchung jener kleinen Batterie hatte nichts ergeben. Nobody durfte sich gar nicht an Koryphäen der Wissenschaft wenden, wollte er sich nicht lächerlich machen, das hatte ihm direkt sein eigener Elektrotechniker geraten. Denn das war einfach mit Wasser angefeuchteter Asbest, und niemand würde ihm glauben, daß dies ein Elektrizitätserzeuger sein könne.

Den selbstleuchtenden Ring hatte Nobody zur näheren Untersuchung dem Professor Cookes übergeben, in dessen Händen er sich zur Zeit noch befand. Der Engländer Cookes war damals der anerkannt erste Physiker der Welt, und er hatte Nobody sofort gesagt, daß es sich hier offenbar um ein bisher noch unbekanntes Element mit eigener Leuchtkraft handele, dessen Ergründung er jetzt seine ganze Zeit widmen wolle.

Professor Cookes sollte nicht mehr viel Zeit hierzu haben. Der alte Herr starb bald darauf, wohl ohne etwas Schriftliches über seine Untersuchungen hinterlassen zu haben. Nobody erhielt den Ring zurück, dieser mußte ihm zu anderen Zwecken als zu wissenschaftlichen Untersuchungen dienen, was in unseren Erzählungen ein nicht unwesentliches Kapitel bilden wird, bis ihm zuletzt der Ring auf eine geheimnisvolle Weise abhanden kam.

Wäre dies alles nicht geschehen, so wäre die Menschheit durch die Entdeckung einer selbstleuchtenden Substanz, die nun also Radium genannt worden ist, schon viel eher in Erstaunen gesetzt worden.

Was nun das unsichtbar machende Gewebe anbetrifft, so hatte Nobody seinem Freunde und dessen ebenfalls eingeweihtem Diener einfach das Ehrenwort abgenommen, hierüber zu keinem Menschen ein Wort zu sprechen. Also durfte er es doch selbst nicht tun, also übergab er das Gewebe auch keinem Gelehrten zur näheren Untersuchung.

Man bedenke doch nur: es sollte gelingen, den Ursprung dieser Substanz zu ergründen, sie herzustellen, fabrikationsweise – Himmel, was sollte denn daraus werden, wenn sich jeder Mensch unsichtbar machen könnte?! Da bräche ja für jeden Spitzbuben eine goldene Aera an, da wäre der hinterlistigsten Spionage ja Tor und Tür geöffnet, und nun denke man an einen Krieg, wenn sich unsichtbare Regimenter Schlachten liefern ... da käme ja die ganze Welt außer Rand und Band!!

Nein! Nobody hielt es nicht nur für das Beste, sondern geradezu für seine heilige Pflicht, diese von einem anderen gemachte Erfindung geheimzuhalten, sie vor einer Untersuchung zu schützen, die Lösung des Rätsels zu verhüten, auf daß diese Erfindung nicht zum Allgemeingut der Menschheit würde.

Uebrigens hatten Nobody und Scott eine ganz vernünftige Erklärung für dieses Phänomen gefunden, wie man solch eine unsichtbare Substanz herstellen könne – – freilich nur eine Hypothese, nur eine Annahme.

Gerade damals nämlich begannen sich alle Physiker damit zu beschäftigen, die einzelnen Gase daraufhin zu untersuchen, inwieweit sie sich verdichten lassen. Man kam da zu ganz merkwürdigen Resultaten. Bisher war ein Gas eben ein Gas gewesen. Es gab für jedes Gas nur einen sogenannten Aggregatzustand: eben den gasförmigen. Und nun mit einem Male zeigte sich, daß man fast jedes Gas durch Druck und Kälte auch in einen zweiten Aggregatzustand überführen kann, in den flüssigen. Ja, die Kohlensäure konnte man sogar zu Eis erstarren lassen, das dann selbst eine ungeheure Kälte ausstrahlt!

Nun nehme man folgende Hypothese an: Wir kennen vom Wasser seit alters her drei Aggregatzustande: den gasförmigen (Dampf), den flüssigen (Wasser) und den festen (Eis). Könnte es nun nicht noch einen vierten Aggregatzustand geben? Sollte sich das Wasser unter einem kolossalen Drucke und bei einer furchtbaren Kälte nicht vielleicht in noch etwas anderes überführen lassen als nur in jenes Eis, wie wir es bisher gekannt haben, und wie es überall in der Natur vorkommt?

Nun hat jeder Aggregatzustand ein anderes Brechungsvermögen des Lichtes. Wasserdampf bricht den Lichtstrahl ganz anders als gewöhnliches Wasser, dieses wieder ganz anders als durchsichtiges Eis. Und könnte man nun nicht von jenem vierten Aggregatzustande des Wassers solch ein Brechungsvermögen erwarten, daß, wenn das ›Tarneis‹, wie wir es einmal nennen wollen, einen Gegenstand umhüllt, dieser für das menschliche Auge scheinbar verschwindet?

Wird also ein Seidengewebe mit solchem Tarneis imprägniert, läßt man das Gewebe unter kolossalem Drucke und furchtbarer Kälte in Wasser einfrieren, so wird es unsichtbar, und alles, was mit diesem Gewebe eingehüllt wird, wird wiederum unsichtbar. Nun ist das aber eben kein gewöhnliches Eis, ist überhaupt etwas vollständig anderes als Eis, ist gar nicht mehr kalt, schmilzt auch nie wieder, ist wohl schmiegsam, aber nicht eigentlich fest, nicht starr, läßt sich aber auch nicht zerreißen, nur mit der Schere schneiden ...

Dies alles ist zwar nur eine Hypothese, schon mehr Phantasie, aber entbehrt sie etwa der Logik? Sicher nicht! Solch eine Substanz, die alles, was sie einhüllt, unsichtbar macht, kann – ja, wird schon noch einmal erfunden werden!!

Und dann? Ist dann nicht jener gefährliche Zeitpunkt eingetreten, da sich jeder Spitzbube unsichtbar machen, da jeder Bösewicht ungesehen seinen Verbrechen nachgehen kann?

O nein! Der liebe Gott sorgt stets dafür, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Sobald so etwas erfunden würde, so daß es sich jedermann verschaffen könnte, dann würde es nicht lange dauern und auch eine andere Kappe oder eine Brille wäre entdeckt, durch die man den unsichtbaren Geist sehen kann, ebenso wie, als jenes Präparat entdeckt wurde, durch welches man jede Stahlplatte durchschmelzen kann, ein wahrhafter Schmelzofen in der Westentasche, alsbald auch ein anderes Präparat da war, mit dem man die Geldschränke füttert, auf daß es die Einbrecher nicht etwa so leicht haben, jeden Panzerschrank auf diese Weise zu öffnen.

Was für einen Zweck also hat dieser ›Schmelzofen in der Westentasche‹? Absolut keinen, wenigstens nicht für die gesamte Menschheit. Und ebensowenig würde die allgemeine Einführung von unsichtbar machenden Tarnkappen von Nutzen sein. Wer freilich allein um das Geheimnis weiß, in dessen Hand mußte solch eine Tarnkappe ein furchtbares Werkzeug werden, und hier handelte es sich doch offenbar um die Erfindung eines Menschengeistes, der seiner Mitwelt um Jahrhunderte voraus war, und in Anbetracht alles dessen also hielt es Nobody geradezu für seine Pflicht, diesen seinen Besitz als strengstes Geheimnis zu bewahren.

Hiermit sei diese Angelegenheit erledigt.

 

Es war am Morgen des vierten Tages, und die mit 16 Knoten fahrende ›Wetterhexe‹ hatte Suez schon gar weit hinter sich.

Das Rote Meer ist ein gar gefährliches Gewässer, weniger wegen der darauf vorkommenden Stürme, die schließlich überall zu erwarten sind, als vielmehr wegen seiner zahllosen Untiefen und Sandbänke. Deswegen nimmt während der Fahrt durch das Rote Meer jedes Schiff einen arabischen Lotsen an Bord, der hier zu Hause ist. Die ›Wetterhexe‹ hatte keinen besonderen zu nehmen brauchen, Flederwisch hatte unter seiner Mannschaft einen arabischen Matrosen, der hier an der Küste geboren war.

Um nun den gefährlichsten Stellen auszuweichen, ging es immer von der ägyptischen Küste hinüber nach der arabischen und so weiter im Zickzack, aber das war kein auf der Seekarte vorgezeichneter Weg, den auch alle anderen Schiffe einhalten, sondern da hat eben jeder Lotse seine eigenen Kurse, die er steuert.

Schon seit einigen Stunden fuhr die ›Wetterhexe‹ ziemlich dicht an der arabischen Küste entlang, als ihr ein großer Dampfer entgegenkam, der im Gegensatz zu anderen Fahrzeugen, welche man im Westen sah, ebenfalls dieses Fahrwasser für das beste hielt.

Während der Fahrt auf offenem Meere hat niemals ein Schiff irgendeine Flagge gehißt. Aber sobald sich zwei Schiffe in Sicht bekommen oder auf belebterem Wasser sich näher begegnen, begrüßen sie sich durch Hissen und mehrmaliges Senken der am Heck geführten Nationalflagge und nennen außerdem durch Flaggensignale ihren Namen, Heimatshafen und ihr Ziel. Es ist dies nicht gerade vorgeschrieben, aber das gehört nun einmal zur ›Routine‹, wie man an Bord die Höflichkeit nennt, und dann weiß ja kein Kapitän, ob dies nicht das letztemal gewesen ist, da sein Schiff über der Meeresoberfläche gesehen worden ist.

So ließ auch Kapitän Flederwisch seine Flaggen hissen und beobachtete die anderen, die ihm jener Dampfer zeigte, das gesamte Signal dann in dem Buche nachschlagend, welches jedes Schiff in der Welt namentlich unter diesem Signal aufführt.

Hinten am Heck standen Scott und Bruno. Auch sie beobachteten, wie drüben auf dem anderen Dampfer die bunten Läppchen hochgingen. Daß es ein englischer Dampfer war, erkannten sie natürlich aus der Heckflagge. Aber das Signal konnten sie nicht so ohne weiteres enträtseln, und der Dampfer war so weit entfernt, daß der am Heck stehende Name nicht einmal durch ein Fernrohr zu lesen war.

Schon seit einiger Zeit zeigte sich der junge Kanadier sehr unruhig, was allerdings nur für den Diener bemerkbar war, der seinen Herrn doch zur Genüge kannte.

»Das ist er, das ist der Dampfer, den ich aufsuchen wollte, dessentwegen ich mich ins Rote Meer begab!« stieß Scott plötzlich hervor.

»Nun, und der betreffende Mann?« fragte Bruno.

»Der ist nicht mehr darauf. Heute früh, vielleicht gegen vier Uhr war es, als ich ganz deutlich fühlte, wie wieder irgendein Wendepunkt eintrat. Kein Zweifel, der betreffende Mann hat diesen Dampfer heute früh um vier Uhr aus irgendeinem Grunde verlassen.«

Bruno fragte nichts weiter. Der kannte ja seinen Herrn besser als alle anderen. Bei ihm war schon im voraus alles Tatsache, auch das Wunderbarste.

Scott ging nach vorn, nach der Kommandobrücke.

»Bitte, Herr Kapitän, was für ein Dampfer ist das?«

»Die ›Helvetia‹ von Liverpool,« entgegnete Flederwisch.

»Und was meldet er sonst?«

»Kommt von Bombay, hat zuletzt Aden angelaufen, nach Durchquerung des Suezkanals ist sein nächstes Ziel Genua.«

Scott begab sich zu seinem Diener zurück und teilte ihm das Erfahrene mit.

»Kein Zweifel, das ist der Dampfer, auf dem sich jene Person befunden hat, aber sie hat ihn schon wieder verlassen.«

»Und wo befindet er sich jetzt? Können Sie es nicht sehen?«

»Noch weiß ich es nicht, es mag noch nicht die rechte Zeit dazu sein,« murmelte Scott, während er mit gerunzelter Stirn in das Meer hinabblickte.

Dann warf er den Kopf zurück.

»Ich werde einmal in die Kabine gehen und alle meine Kraft auf diese Frage konzentrieren, ich fühle mich gerade jetzt recht aufgelegt dazu.«

Er ging unter Deck. Nach kaum fünf Minuten kam er wieder zum Vorschein und begab sich abermals nach der Kommandobrücke, bestieg sie.

»Herr Kapitän, wo befinden wir uns jetzt genau?«

»Ich werde sofort eine Sonnenaufnahme machen lassen.«

Bald war dies geschehen.

»26 Grad 43 Minuten 9 Sekunden nördliche Breite, 37 Grad 2 Minuten 11 Sekunden westliche Länge,« meldete der Steuermann.

»Vortrefflich!« rief Scott. »Dann brauchen wir wenigstens nicht wieder direkt umzukehren. Herr Kapitän, jetzt weiß ich unser bestimmtes Ziel: 26 Grad 38 Minuten 14 Sekunden, es liegt also noch auf demselben Breitengrade, nur ein wenig südlicher, aber auf dem 35. Längengrade, und ganz genau noch: 25 Minuten und 32 Sekunden.«

Scott hatte diese geographische Ortsbestimmung auch schon auf ein Stück Papier geschrieben, er gab es dem Kapitän.

»Das wäre drüben auf der Seite von Aegypten,« sagte dieser, nur einen flüchtigen Blick auf die Seekarte werfend.

»Bitte, steuern Sie hinüber!«

»Sofort,« entgegnete Flederwisch und ließ augenblicklich das Steuerrad drehen; schäumend beschrieb der Torpedodampfer einen engen Halbkreis, fuhr jetzt direkt nach Westen.

Es war dies das erstemal, daß Scott, wenn er auch mit einem ›Bitte‹ begonnen, direkt, befohlen hatte, ebenso einfach, ohne jede Frage, hatte Flederwisch gehorcht, und wir selbst wollen von jetzt ab, wenn Scott seinen somnambulen Eingaben folgt, keine Einleitungen mehr vorausschicken, etwa wie er sich vorher mit seinem Diener beriet, wie er vor sich hingrübelte, sich erst in die Einsamkeit zurückzog und dergleichen, sondern wir lassen ihn fernerhin stets als Befehlshaber auftreten, der schon im voraus weiß, wie die Zukunft die Würfel fallen lassen wird. Und so war es auch in der Tat – von jetzt an gab sich der junge Kanadier niemals mehr erst einem grübelnden Zögern hin, ob man ihm auch Glauben schenken würde oder nicht.

Fragen sind allerdings erlaubt. Doch war es Scott selbst, welcher das Fragen begann, während er auf der Kommandobrücke blieb.

»Wie weit sind wir von dem angegebenen Punkte entfernt?«

»Vierundsechzig Seemeilen.«

»Wie schnell fährt die ›Wetterhexe‹?«

»Gegenwärtig sechzehn Knoten in der Stunde.«

»Kann die Schnelligkeit noch beschleunigt werden?«

»Bis zu zweiundzwanzig Knoten.«

»Dann Dampf auf, Dampf auf, damit wir in drei Stunden dort sind!« rief Scott, daß es fast befehlerisch klang.

Es geschah, die Kurbeln und Exzenter der gewaltigen Maschinen begannen wie toll zu jagen, und unaufhörlich goß sich das Wasser über Deck – ein Seegang, der nur durch diese rasende Schnelligkeit erzeugt wurde.

Scheu blickten die Matrosen zur Kommandobrücke empor, auf welcher der ihnen noch immer gänzlich fremde Passagier stand, das Fernrohr vor dem Auge.

Was sollte dies alles nur bedeuten? Erst nach dem Suezkanal, dann nach Genua, wieder nach dem Suezkanal – das Ziel also innerhalb eines Tages, eines halben Tages dreimal geändert – und nun plötzlich wie ein Hase einen Haken geschlagen und dem Westen zu geschossen, als ob man das in allen Planken zitternde Schiff direkt in das ägyptische Festland hineinjagen wollte.

Ja, auch Flederwisch hätte sehr gern etwas Näheres erfahren mögen. Nun, gewisse Fragen waren doch erlaubt.

»Dort auf dem bezeichneten Punkte werden Sie den Mann finden, der sich seit einiger Zeit so mit Nobody beschäftigt?«

»Ich weiß nicht, ob es ein Mann ist – es ist eine Person, ein Mensch – ja, dort werde ich ihn finden, jetzt weiß ich es bestimmt.«

Scott behielt immer das nach Westen gerichtete Fernrohr vorm Auge, während Flederwisch die Seekarte studierte.

»Dieser Punkt liegt noch im Meere.«

»Das mag wohl sein.«

»Aber ganz dicht an der Küste, kaum eine halbe Seemeile davon entfernt, und das ist eine gar gefährliche Gegend, mit lauter Kreuzen warnt die Karte vor dieser Gegend, dahin kommt also kein Schiff.«

»Dann liegt oder schwimmt die betreffende Person dort auf diesem Punkte eben im Wasser,« entgegnete Scott gleichmütig.

Was sollte Flederwisch zu solch einer Sicherheit in Behauptungen sagen? Er konnte nur wünschen, daß die drei Stunden schon vergangen seien, wonach sich ja zeigen würde, was Wahres daran sei.

Scott wurde bald von seiner Gleichmütigkeit verlassen, heftig schob er das Fernrohr zusammen und wandte sich gegen Flederwisch.

»Wieviel Knoten machen wir?«

»Einundzwanzig!« las Flederwisch von einem Apparate ab, der ständig die Schnelligkeit des Schiffes anzeigte.

»Ich denke, es können zweiundzwanzig Knoten gemacht werden.«

»Hierfür sind die Maschinen indiziert und garantiert, die Schnelligkeit läßt sich aber auch noch steigern, ich bin schon oft genug mit vierundzwanzig Knoten gefahren, ich dachte nur ...«

»Dampf auf, Dampf auf!!« rief Scott nochmals mit Heftigkeit. »Jene Person befindet sich in einer großen Gefahr!«

»In einer Gefahr? In welcher?«

»Das weiß ich selbst nicht, ich ahne nur, ich fühle, daß ihm eine furchtbare Gefahr droht, und sind wir nicht rechtzeitig zur Stelle, so ist er verloren und damit auch für uns!«

Flederwisch fragte nicht weiter, er erteilte durch den Signalapparat Befehle, alles wurde getan, um die Schnelligkeit noch mehr zu beschleunigen, die Ventile wurden beschwert, so weit dies bis zum äußersten Grade zulässig war, und mit der Geschwindigkeit eines Schnellzuges schoß die lange Riesenzigarre dem Westen zu, mit Leichtigkeit selbst einen Schnelldampfer überholend.

Zwei Stunden währte diese rasende Fahrt, während welcher Scott unausgesetzt durch das Fernrohr nach Westen spähte, ohne daß sich die Küste noch sonst etwas Auffallendes zeigen wollte.

Dann trat ein Hindernis ein, welches diese schnelle Fahrt unmöglich machte, oder dieses Schiff selbst geriet in die größte Gefahr.

Schon seit einiger Zeit zeigte der blaue Wasserspiegel eine fleckige Beschaffenheit. Dunkelblaue Stellen wechselten mit hellblauen ab, die letzteren zeigten Untiefen an, und immer heller wurden diese Stellen und immer mehr nahmen sie zu, schon mußte sich der Dampfer hindurchwinden.

»Dort ist die Küste!« rief der Kanadier, auf ein wie aus einem Nebel aufsteigendes Gebirge deutend.

»Und wir müssen die rasende Jagd einstellen,« ergänzte Flederwisch, »oder wir laufen Gefahr, einmal festzurennen, mein arabischer Lotse hat schon immer gewarnt.«

Er erklärte die drohende Gefahr, es wurde auf halbe Kraft gestellt.

»Wo befinden wir uns?«

Die Berechnung ergab, daß sie sich nur noch vier Seemeilen oder eine geographische von der von Scott bezeichneten Stelle befanden.

So weit das Auge reichte, war kein Dampfer, kein Segel zu bemerken. Hierher wagte sich eben kein größeres Schiff, dieses Wasser gerade hier in der Nähe der Küste war auf jeder Karte genugsam als ›gefährlich‹ markiert. Die flachgehenden arabischen Sambuks allerdings konnten noch über diese Untiefen hinweggleiten, aber wenn sie tieferes Fahrwasser haben, so ziehen sie dieses natürlich vor, und hier an der menschenverlassenen Küste der Libyschen Wüste hat doch kein Fahrzeug etwas zu suchen, und so war also auch kein Sambuk zu sehen.

»Dort vor uns,« meinte Flederwisch besorgt, obgleich Aengstlichkeit doch auch nicht gerade seine schwächste Seite war, »scheint das Wasser verdammt knapp zu werden, mir kommt es sogar vor, als ob dort manchmal der Sand zum Vorschein ...«

»Still!« rief Scott. »Das war ein Schuß!«

Niemand wollte so etwas gehört haben

Der Dampfer stoppte, mußte es tun, denn er befand sich offenbar vor einer Sandbank, wenn diese auch noch unter Wasser war. Die hellblaue Farbe verriet sie.

»Bei Gott, das sind Schüsse!!«

Jetzt konnten sie alle das schwache Geknatter vernehmen, und nun entdeckte auch das Fernrohr in westlicher Ferne auf dem Wasser dunkle Punkte.

»Das sind Fahrzeuge, Boote,« sagte Scott. »Gibt es hier Seeräuber?«

Rhaikal, der arabische Matrose, erklärte, daß er noch nie von Seeräubern gehört habe, die in dieser Gegend hausten. Auf wen sollten denn die auch lauern und Jagd machen? Hierher verirrte sich doch niemals ein Schiff.

Da aber hatte Flederwisch, der ehemalige Schmugglerkapitän, eine ganz andere Ansicht, er traf gleich das Richtige.

»Welches ist hier der nächste Hafen auf ägyptischer Seite?«

»Kosseir.«

»Aha, richtig, und ein ganz bedeutender Hafen. Ist da nicht eine Zollabfertigung? Natürlich ist eine da, und in Aegypten ist genug zollpflichtig, und Schmuggler riskieren alles. Da könnte es schon Piraten geben, welche wiederum auf Schmuggler Jagd machen.«

Diese Erklärung leuchtete allen ein.

»Vorwärts, wir müssen unbedingt mit hin!« rief Scott ungeduldig. »Gerade dort ist die Stelle, wohin wir gerufen werden!«

Dies freilich war für die Zuhörer nun ganz unverständlich, mit Ausnahme von Flederwisch. Er tat sein möglichstes, die Sandbank wurde umfahren, mit halber Kraft ging es weiter der Küste zu, bis eine Sandbarriere dem tief gehenden Dampfer ein für allemal Halt gebot.

Jetzt aber konnte man auch deutlich unterscheiden, was dort vor sich gegangen war und noch vor sich ging.

Es war ein arabischer Sambuk, ein großes, aber offenes Segelfahrzeug, welches tatsächlich von Piraten angegriffen wurde. Sie hatten die Beute von ihrem Schlupfwinkel an der Küste erspäht und sich ihm in Ruderbooten genähert. Man zählte deren vier, doch es konnten noch mehr gewesen sein, denn das angegriffene verteidigte sich ganz energisch, es konnte ja schon eines oder mehrere der feindlichen zum Sinken gebracht haben. Geschütze schien der Sambuk allerdings nicht zu führen, was solch einem arabischen Schoner auch ganz unähnlich gesehen hätte, man hörte nur Gewehrfeuer. Noch kann man ja auch mit kleinen Kugeln ein Boot zum Sinken bringen.

Offenbar schickten sich die Boote, in denen man blanke Waffen blitzen sah, soeben zum Angriff an, um den Sambuk zu entern, als die Piraten den Dampfer erblickten, dessen Näherkommen sie im Eifer des Gefechts nicht bemerkt hatten. Der Anblick des kriegsschiffähnlichen Fahrzeuges mußte auf die Piraten wie das Erscheinen des jüngsten Gerichtes wirken, zumal hier in diesem Gewässer, in welches sich wahrscheinlich seit Menschengedenken kein größeres Schiff gewagt hatte.

Die Mannschaft des ersten Bootes hatte schon die hohe Bordwand des Sambuks erklettert, man konnte sogar sehen, wie die braunen, halbnackten Gesellen den krummen Dolch zwischen den Zähnen hatten – plötzlich stürzten sie unter einem wütenden Geheul Hals über Kopf zurück in ihr Boot, welches sich den anderen drei anschloß, die bereits in wahnsinniger Flucht wieder der Küste zustrebten.

Scott brauchte nicht zu bitten, nicht zu befehlen. Schon donnerten aus Flederwischs Munde die Kommandos, und als die Anker herabrasselten, um die ›Wetterhexe‹ hier einstweilen festzulegen, wurde auch schon ein großes Boot ausgeschwenkt, durch einen mit Petroleum geheizten Motor getrieben, und wie es hinabgelassen wurde, fiel auch schon die Hülle von einer Revolverkanone, die am Bug montiert war, daneben der Munitionskasten mit Hartkugeln und kleinen Granaten.

Scott mußte sich beeilen, noch in das Boot hineinzukommen, denn auf dieser Torpedojacht ging alles militärisch zu, hier brauchten nicht erst Leute abgeteilt zu werden, jeder saß schon auf seinem Platze, die Riemen wurden durchgeholt, nur wenige Schläge, dann begann der Motor zu arbeiten, und wie ein Pfeil schoß das Fahrzeug durchs Wasser.

»Die muß ich haben, die muß ich haben!!« jauchzte Flederwisch, der plötzlich einen ganz roten Kopf bekommen hatte.

»Sie wollen die Piraten verfolgen?« fragte Scott.

»Na sicher!«

»Ich möchte erst an Bord des Sambuks gesetzt werden.«

»Sollen Sie auch. Auch ich muß dort erst einige Erkundigungen einziehen, die Boote können uns deshalb doch nicht entgehen. Ich muß wissen, wo sie ihr Versteck haben, wie sie sich dort eingerichtet haben, und was sie sonst treiben. Hei, Seeräuber – na, endlich einmal!«

»Sie werden sie überwältigen und den Gerichten zur Bestrafung ausliefern?«

Ein erstaunter Blick traf den Frager, als hätte Flederwisch ihn gar nicht verstanden.

»Ich? Nee! Seepiraten den Gerichten ausliefern, daß sie gehangen werden? Nee, so was gibt's nicht bei mir. Wie gesagt, ich will nur sehen, in was für einem Schlupfwinkel die sich häuslich eingerichtet haben, und wie sie sonst ihr Geschäft betreiben. Na, und wenn's dabei zu einer kleinen Katzbalgerei kommen sollte, desto angenehmer wäre mir das nur. Und dann suche ich mir die tüchtigsten Kerle 'raus und nehme sie mit nach meinen Schwefelinseln, dressiere sie mir dort weiter.«

Natürlich, es war ja Kapitän Flederwisch, der so sprach, derselbe Flederwisch, welcher, als er als Kind den Entschluß gefaßt hatte, zur See zu gehen, nicht ein gewöhnlicher Seemann, sondern Seeräuber hatte werden wollen. Nun, bis zum berühmtesten Schmugglerkapitän seiner Zeit hatte er es ja auch gebracht – bis Nobodys Dazwischenkunft eben seinem ganzen Leben eine andere Richtung gegeben hatte. Aber ein bißchen Piratenblut steckte doch noch in ihm und kam bei jeder Gelegenheit zum Durchbruch. Jedenfalls war ihm ein Seeräuber immer noch sympathischer als ein Zollbeamter.

Das große Segelboot, welches auf dem bewegten Wasser schaukelte, war erreicht. Ueber die sehr hohe Bordwand blickte der weißhaarige Kopf eines Europäers, um die Stirn einen blutigen Verband.

»Hip hip hurra, das war Hilfe zur rechten Zeit!« erklang es freudig auf englisch. »Wenn ich nicht gewesen wäre, diese braunen Schufte hier hätten sich den Halunken ohne einen Flintenschuß ergeben, obgleich sie Waffen genug an Bord haben, hätten sich einfach wie die Hammel abschlachten lassen, und schließlich hätte ich das Boot doch nicht halten können, die Ueberzahl hätte uns überwältigt. Ein englisches Schiff, wie?«

Flederwisch hatte stoppen lassen und sich aufgerichtet. Ihm war es erst um eine andere Erklärung zu tun. Im Wasser sah er kein zerschossenes Boot, keinen schwimmenden Menschen treiben.

»Habt Ihr ein Boot zum Sinken gebracht?« fragte er hastig.

»Nein.«

»Einen Gefangenen gemacht? Keinen aus dem Boot herausgeschossen?«

»Auch nicht. Getroffen mögen genug worden sein, ich allein nehme mindestens ein halbes Dutzend auf meine Rechnung; aber die Toten und Verwundeten sind alle in den Booten geblieben, und an Deck ist keiner gekommen. Sie sahen das englische Kriegsschiff und stürzten wieder hinab.«

Flederwisch hatte genug gehört. Hier konnte er also keine Auskunft erhalten, wo sich das Versteck der Piraten befand. Und dort trennten sich die vier fliehenden Boote, wenn nicht auf Verabredung, so doch instinktiv wissend, daß das schnelle Kriegsboot nur ein einziges verfolgen konnte, und nun kam es darauf an, wer die einzige Niete ziehen würde.

Von dem Sambuk ward ein Tau herabgeworfen. Scott ergriff es, und während das Motorboot die Verfolgung fortsetzte, schwang er sich an Deck.

Er stand vor einem alten Manne, der ein weißes, orientalisches Kostüm trug. Aber das Gesicht war und blieb ein europäisches, und zwar gehörte es unverkennbar einem Germanen an, mochte es auch noch so von Furchen durchzogen sein. Es waren energische Züge und kluge Augen.

Und da ereignete sich auf dieser arabischen Barke im Roten Meere eine gar merkwürdige, eine denkwürdige Szene, und sie soll wiedergegeben werden, wie sie in Nobodys Tagebuch nach Scotts mündlichem Berichte erzählt ist.

»Edward Scott ist mein Name,« stellte sich der junge Kanadier vor, der auch in den schwierigsten Verhältnissen nie die formelle Höflichkeit außer acht ließ.

Der alte Mann neigte würdevoll das verbundene Haupt.

»Es freut mich, den Namen meines Retters zu hören. Ich bin der Ras Saglu Kasai von ...«

Er brach ab, etwas wie Verlegenheit verbreitere sich über das tiefgebräunte Greisengesicht.

»Nein, nein, ich befinde mich ja einem Europäer gegenüber, doch jedenfalls einem Engländer. Mein Name ist Em ... Em ... Emma ... Ema ...«

Was war denn das? Wußte der seinen Namen nicht? Und warum nahmen seine Züge plötzlich solch einen verstörten Ausdruck an?

»Em ...« begann er nochmals in hilflosem Stammeln, »mein Name ist Em ... Em ... Emma ...«

Vergebens, er fand das Wort nicht, und da breitete der Alte beide Arme aus, und aus dem linken Aermel sickerte Blut hervor; so blickte er zum Himmel empor, und während Tränen seinen Augen entstürzten, erklang es in jammervollstem Tone, in tiefstem Seelenschmerze.

»Ach, ich habe meinen Namen vergessen! Meinen Namen habe ich vergessen!! Ach, wenn Sie einmal Deutsch mit mir sprechen könnten, dann würde er mir gleich wieder einfallen.«

»Gewiß, ich kann Deutsch,« sagte Scott in dieser Sprache. »Sollten Sie vielleicht Emanuel meinen?«

Da versiegten die Tränen, wie Sonnenschein flog es über das runzlige Gesicht, und jetzt erklang es jauchzend, während der Alte eine Bewegung machte, als wollte er jenem um den Hals fallen.

»Emanuel Kreuzbacher, Emanuel Kreuzbacher aus Zürich, Emanuel, Emanuel, Emanuel ...«

Er konnte den Namen nicht genug wiederholen, er sang ihn, jauchzte ihn, jubelte ihn hinaus über das blaue Meer.

Nun vergegenwärtige man sich diese Szene – fürwahr, Edward Scott brauchte nicht solch ein empfindsames Herz zu besitzen, um tief erschüttert zu sein.

An Deck schnatterten gegen zwanzig Araber herum, die einander ihre Heldentaten erzählten, alte Luntenflinten und Schwerter und Dolche schwenkend. Jetzt wäre es natürlich gar nicht mehr nötig gewesen, daß das Kriegsschiff gekommen wäre, sie wären ganz allein mit den Piraten fertig geworden, und der Schiffseigentümer und Kapitän, ein Dreckfink mit einer Galgenphysiognomie, drängte sich auch schon dem fremden Sihdi auf, und er schien kein reines Gewissen zu haben, weil er gleich versicherte, daß er ein Ehrenmann durch und durch sei.

Eine rühmliche Ausnahme von diesen Maulhelden machte ein herkulischer Neger, der einem anderen Araber mit kühnen Zügen den Arm verband, obgleich ihm selbst zwei Finger an der Hand weggeschossen waren.

»Wie kommen Sie auf diesen Sambuk, Mr. Kreuzbacher, wenn ich fragen darf?«

»Kommen Sie mit in die Kajüte, dort werde ich Ihnen alles erzählen.«

Zunächst bestimmte Scott den arabischen Kapitän in dessen Muttersprache, die der Weitgereiste geläufig beherrschte, daß er den Anker auswerfen ließ, was alsbald geschah. Der Motorkutter hatte unterdessen das erste Boot eingeholt und festgenommen, die Piraten schienen sich ohne Widerstand zu ergeben, dem Anscheine nach fand ein Verhör statt, dann wurde das Boot ins Schlepptau genommen, Flederwisch verschwand mit seinen Gefangenen hinter einem Vorgebirge, das jedenfalls eine Bucht umschloß, während die anderen drei Boote ihre Flucht nach der weiteren Küste fortsetzten, sich auch schon zum Teil hinter Klippen versteckt hatten.

Nachdem Scott dies noch beobachtet hatte, folgte er dem alten Mann in den Raum hinab, dessen ursprünglich schmutziges Aussehen durch neue, sehr kostbare Teppiche verändert worden war.

Kreuzbacher erzählte, allerdings ohne zunächst Aufschluß über seine orientalisch gekleidete Person zu geben, und wie er seinen Namen vergessen konnte.

Vorgestern hatte er sich mit seinen drei Dienern in Aden an Nord des englischen Dampfers ›Helvetia‹ begeben, um nach Genua zu gehen. In der vergangenen Nacht war einer seiner Diener bedenklich erkrankt. Jedenfalls war es Dysenterie, es konnte aber auch Cholera sein oder noch daraus werden.

Es ist schrecklich, wenn an Bord eines Schiffes nur ein einziger Fall von Cholera oder einer anderen epidemischen Krankheit vorkommt. Dann darf kein Passagier mehr irgendwo an Land, vor jedem Hafen muß das Schiff mindestens vierzehn Tage erst in Quarantäne liegen, auch der Suezkanal darf nicht passiert werden, es braucht nur irgendein kleiner Verdacht vorzuliegen – der Schaden, den die Reederei hat, ist unberechenbar.

Kurz und gut, der Kapitän bat den Herrn des kranken Dieners fast fußfällig, er möchte doch um Gottes willen sein Schiff verlassen. Auf einen anderen Dampfer konnte er natürlich nicht, aber es gab ja hier arabische Barken genug, man rief eine an, und, der Mann war ja überhaupt gar nicht cholerakrank, er hatte nur eine schlechte Verdauung, aber wenn ...

Gut, Kreuzbacher war sofort damit einverstanden. Es war ja nur sein eigener Vorteil. Sonst mußte er dann selbst in Quarantäne liegen bleiben.

So wurde noch in derselben Nacht ein Sambuk angerufen, den der Dampfer überholte.

Wohin? – Nach Suez. – Nehmt ihr vier Passagiere mit? – Gewiß, wenn sie genügend bezahlen.

Vortrefflich! Bei diesem günstigen Winde brauchte die Barke auch nur noch zwei Tage nach Suez, und dann wär allen geholfen.

Noch vor Tagesanbruch, gegen vier Uhr, gingen sie von Bord zu Bord, und niemand hatte auch nur erfahren, daß einer der Passagiere so erkrankt gewesen sei.

»Mein treuer Sukkha befindet sich bereits auf dem Wege zur Besserung. Am Kampfe hat er freilich nicht teilnehmen können, er liegt noch dort drüben in einem kleinen Raume für sich. Aber kein Gedanke an Cholera.«

Hierauf erzählte der alte Herr weiter, wie ihm das Gebaren der arabischen Mannschaft dieser Barke von allem Anfange an Mißtrauen eingeflößt habe, er verstände auch gar nicht, was sie hier in diesem gefährlichen Gewässer zu suchen hätten – vielleicht Schmuggler? – Und dann schilderte er ausführlich, wie die vier Piratenboote dort um die Ecke des Vorgebirges gebogen waren, und wie die arabischen Seeleute bei ihrem Anblick gleich die Segel gestrichen hätten, um sich zu ergeben, was es ihn für Mühe gekostet hatte, sie zu bewegen, den Kampf aufzunehmen.

»Ich ging mit gutem Beispiele voran, meine beiden Diener standen mir bei, und als der erste Angriff abgeschlagen worden war, griffen die Feiglinge doch endlich zu ihren alten Luntenflinten. Aber wären Sie nicht gekommen, so wäre unser Schicksal dennoch besiegelt gewesen.«

Nur mit halbem Ohre hatte Scott dieser Schilderung zugehört. Es läßt sich denken, was für Gedanken ihm durch den Kopf gingen.

Auf der ›Helvetia‹ nach Genua, den Dampfer heute früh um vier verlassen – – er war es, und die Barke befand sich doch auch gerade an der Stelle, die von Scott angegeben worden war!

Das Wunder hatte sich erfüllt! Für den Geisterseher freilich war es kein Wunder, sondern etwas ganz Selbstverständliches.

Ja, aber inwiefern stand dieser alte Mann mit Nobody in irgendeiner Beziehung? Sollte Scott direkt fragen? Das wäre sehr auffallend gewesen.

Da zeigte sich, daß der junge Mann mit den träumenden Augen auch ein recht gewandter Diplomat sein konnte.

»Bitte, Sie nannten vorhin zwei Namen, die mir nicht so unbekannt sind. Ras Saglu – ist dies nicht der Titel in Abessinien, den der erste Minister führt?«

Etwas wie Verlegenheit huschte über das kluge Gesicht des Alten. Doch schnell hatte er sich wieder gefaßt.

»Sie sagen es,« entgegnete er würdevoll, doch keineswegs stolz, »ich bin der erste Minister des Negus Menelik. Als solcher führe ich den Namen Kasai.«

»Ach, wie seltsam!« rief Scott. »Da könnten Sie mir vielleicht einen großen Gegendienst erweisen. Ich beabsichtige nämlich mit meinem Freunde Nobody einen Abstecher nach Abessinien zu machen und ... was haben Sie denn?«

Der Name Nobody hatte wie ein Stichwort gewirkt. Der nach orientalischer Sitte mit untergeschlagenen Beinen niedergekauerte Alte warf plötzlich den Oberkörper weit vor und betrachtete den Sprecher mir großen Augen.

»No ... body?!« stieß er in größter Ueberraschung hervor.

»Jawohl, mit Nobody. Kennen Sie diesen Detektiv? Na ja, natürlich kennen Sie ihn, wer kennt heutzutage den berühmten Nobody nicht ...«

»Nein, nein,« fiel ihm der andere ins Wort, »es ist doch nicht so einfach, daß ich, der ich seit achtunddreißig Jahren nicht aus Abessinien herausgekommen bin, diesen Detektiv kenne. Vor allen Dingen staune ich darüber, daß Sie diesen Nobody Ihren Freund nennen.«

»Gewiß, er ist mein bester Freund. Allerdings bin ich hierauf sehr stolz – aber ich verstehe nicht recht, weshalb Sie darüber staunen.«

»Weil ich ... weil ich ... mein Gott, wenn Sie sein Freund sind, kann ich's Ihnen ja ganz ruhig sagen, es ist überhaupt nichts weiter dabei ... weil ich gerade auf dem Wege bin, mich nach England zu Mr. Nobody zu begeben!«

Da war es wiederum! Doch das schöne Gesicht des jungen Kanadiers zuckte mit keiner Muskel.

»Was Sie nicht sagen! Doch nicht etwa gar ein Auftrag des Negus für ihn?«

»Jawohl! Jawohl! Wo befindet sich Mr. Nobody denn jetzt?«

»Gegenwärtig hält er sich in Aegypten auf. Dürfte ich nicht etwas Näheres über den Auftrag erfahren? Es ist nicht etwa bloße Neugier ...«

»Warum nicht? Sie sind ja sein Freund, und ist es doch eine Fügung des Himmels, daß gerade Nobodys Freund als mein Retter kommt! Kennen Sie die Verhältnisse von Abessinien genauer?«

»Nicht so ganz genau. Aus den sehr spärlichen Reiseberichten. Dort gewesen bin ich noch nicht.«

»Sie wissen doch, was ein Hawal ist, ein ... ein ...«

»Ein Albino, im Volksmund auch Kakerlak genannt,« kam Scott dem Stockenden zu Hilfe, dadurch verratend, daß er sogar im Aethiopischen, welches in Abessinien zumeist gesprochen wird, recht gut bewandert war, wenn er es nicht vollkommen beherrschte. »Das ist ein Mensch, welcher aus noch nicht ergründeten Ursachen von Kindheit an weiße Haare hat, während seine Augen rot sind, der überhaupt in gewissen Beziehungen von einem normalen Menschen abweicht. Im Tierreich kommen Albinos viel häufiger vor – weiße Mäuse, weiße Raben, weiße Elefanten, auch die Isabellenpferde sind Albinos oder Kakerlaken. Bei den Menschen kommt diese Spielart viel seltener vor.«

»Richtig! Diese Menschen heißen bei uns Hawalis. Hawal der Mann, Hawalan die Frau. Das ist Aethiopisch oder, wie wir sagen, Muronisch. Wissen Sie, daß alle Albinos dem Kaiser von Abessinien gehören?«

»Daß bei den Negern Albinos am häufigsten vorkommen, wenn auch immer noch spärlich genug, das weiß ich wohl, aber was Sie mir da sagen, ist mir neu.«

»So ist es. Jedes Kind, das in Abessinien als Albino geboren wird, Knabe oder Mädchen, kommt alsbald an den Hof des Negus, wird dort großgebracht, als Diener oder Dienerin, sagen wir gleich als Sklave ... doch nein, das ist nicht der richtige Ausdruck – diese stets schwächlichen Geschöpfe sind ja zu keiner anstrengenden Arbeit zu gebrauchen, sie sind mehr menschliche Prunkstücke, der Negus verschenkt sie auch als Gunstzeichen. Das mag Ihnen sehr merkwürdig vorkommen, aber ...«

»O, nicht doch,« kam Scott dem Alten zu Hilfe, der nämlich wiederum etwas verlegen wurde. »So etwas ist auch in Europa nicht ohne Seitenstück. Es ist noch gar nicht so lange her, da alle in Spanien vorkommenden Isabellenpferde dem Könige gehörten, sie wurden dem Besitzer einfach weggenommen, wurden nur als Gunstbezeugung verliehen. Hier handelt es sich aber nun freilich um Menschen, die es aber jedenfalls nicht schlecht haben, und dann ist es eben das afrikanische Abessinien. Außerdem wurden noch nach jener spanischen Zeit in Deutschland, speziell in Preußen, besondere Menschen als königliches Eigentum behandelt, nämlich recht große, schöngewachsene Männer, die sich zu Grenadieren eigneten. Sie mußten als militärisches Prunkstück dienen.«

»Sie haben recht,« sagte der Alte bewegt. »Wir wollen die schwarzen Leutchen deshalb nicht verurteilen, und ich bin Ihnen dankbar für Ihre Worte, die Sie da sprachen; denn Sie entschuldigen mich noch mehr, daß es mir nicht gelungen ist, diese Unsitte am Hofe des Negus Menelik aufzuheben. Ja, der Besitz von Albinos ist der Stolz in Abessinien, mehr als der von zahlreichen Herden und Gold und Kleinodien jeder Art. Die Eltern, welche ein Albino erzeugen, genießen hohes Ansehen und große Vorrechte; aus den Nachbarländern werden tadellose Albinos mit tausend und mehr Rindern gekauft, die einem Werte von 2000 Pfund Sterling entsprechen. Aber wenn diese Spielart auch gerade unter den Negern häufiger vorkommt als unter anderen Völkerrassen, und wenn sie auch in Abessinien angesammelt werden, so sind sie doch nicht allzuhäufig. In ganz Abessinien gibt es 143 Albinos, 108 davon befinden sich am Hofe des Negus. Hieran ist einmal die große Sterblichkeit dieser schwächlichen Geschöpfe schuld, und zweitens ... ist Ihnen bekannt, daß Albinos unfruchtbar sind?«

»Wenigstens die menschlichen. Weiße Mäuse, Elefanten und Isabellenpferde vermehren sich, bei menschlichen Albinos ist noch kein Fall konstatiert worden, woraus man den Schluß gezogen hat, daß deren Albinismus doch noch eine ganz andere Ursache hat.«

»Und bei uns ist dieser Fall dennoch vorgekommen.«

»Daß eine Albino Mutter geworden ist? Oder ein Albino Vater?«

»Beides. Zum Heiraten sind die Albinos ja befähigt. Dem steht nichts im Wege. Und nicht etwa, daß die weiblichen Albinos unserem Herrscher zum Spielzeug seiner Lüste dienen. Ganz im Gegenteil. Die Albinos heiraten untereinander und müssen es tun, ganz ehrbar. Dabei kommt nämlich eine uralte Sage in Betracht, deren Entstehung sich nicht mehr verfolgen läßt. Wenn eine Hawalan ein Kind gebiert, dann soll über das schwergeprüfte Abessinien eine glückliche Zeit hereinbrechen. Dieser Fall ist vor sechs Wochen eingetreten. Zanaide, eine junge, echte Albino, genas eines kerngesunden Mädchens mit weißen Haaren und roten Augen, dessen Vater ebenfalls ein ausgeprägter Albino ist.«

»Das ist in der Tat ein ganz außerordentlicher Fall!!«

»Ja. Dieses Ereignis ward denn auch mit ungeheurem Jubel begrüßt. Aber die Freude wähne nicht lange. Vor vier Wochen ist Zanaide mit ihrem Kinde verschwunden, ist entführt worden.«

Kreuzbacher schilderte das Verschwinden von Mutter und Kind ganz ausführlich. Doch wir wollen diese Erzählung erst wiedergeben, wenn Nobody dabei ins Spiel kommt, wenn er selbst es erfährt und seine Fragen stellt.

»Was für Anstrengungen gemacht wurden, der beiden wieder habhaft zu werden, kann ich Ihnen gar nicht schildern,« fuhr der Alte fort. »Alles, alles war vergebens. Wie vom Erdboden verschwunden. Hier lief die Spur der Mutter, hier mußte sie vor wenigen Minuten noch gestanden haben – weg war sie plötzlich, samt ihrem Kinde. Der Negus trauerte, mit ihm das ganze Land. Da kam ihm ein Gedanke. Doch ich will mich kurz fassen. Die letzte italienische Gesandtschaft, die in der Residenz Gondar gewesen war, hatte illustrierte Zeitungen zurückgelassen, die natürlich dem Negus gehörten. Darunter auch ein Blatt, welches sich ›Worlds Magazine‹ nannte. In diesem wurde von einem Detektiven Nobody erzählt, der infolge seiner Taten zum Ehrendoktor und zum englischen Baronet ernannt worden war und noch andere Auszeichnungen erhalten hatte, alle seine Taten und Erfolge wurden noch einmal summarisch angeführt. Der Negus liest und spricht perfekt Englisch. Er ließ mich zu sich kommen. Noch ein Hoffnungsgedanke war in ihm erwacht ...«

Wir brauchen nicht so ausführlich zu werden.

Der geneigte Leser kann sich wohl denken, wie alles weiter gekommen war.

Der junge Kanadier aber dachte: Donnerwetter, hat der Name dieses Nobodys aber einen weiten Verbreitungskreis!!

Und ferner dachte er: Wie nun hängt dieser Alte oder Negus Menelik mit jenem rätselhaften Fremden zusammen, der sich Sinclaire nannte? Sollte vielleicht die verschwundene Albino das Verbindungsglied sein?

»Es hätte keinen Zweck gehabt,« fuhr der Alte fort, »die schwarze Majestät von ihrem Vorhaben abzubringen, ihr begreiflich zu machen, daß jener Mann wohl schwerlich schon in Abessinien gewesen sein und trotz aller seiner sonstigen Fertigkeiten hier etwas erreichen könne. Es war des Negus' letzter Rettungsanker. Nun treiben bei uns die Priester ja auch noch viel Zauberei, so sehr ich auch dagegen gekämpft habe, und das befragte Orakel hatte den Entschluß doppelt gutgeheißen. Schön! Abessinien ist ja kein unbekanntes Barbarenland mehr, und nicht lange, so wird es wohl auch in der internationalen Politik eine Rolle mitspielen, und sollte es vorläufig auch nur zum Zankapfel der europäischen Mächte werden. Eine Gesandtschaft sollte nach England geschickt werden. Da dachte ich an etwas ... mich packte das Heimweh. Wie ich, ein geborener Schweizer, vor 38 Jahren nach Abessinien gekommen bin, wie ich der erste Minister des Negus wurde, das werde ich Ihnen dann erzählen. Ich bat, diese Mission mir zu überlassen. Es wurde mir gewährt und ich ...«

Ein harter Stoß erschütterte das Schiff. Scott sprang an Deck. Neben der Barke lag das zurückgekehrte Motorboot, aber nur noch mit zwei Matrosen bemannt, welche den Motor bedienten, während Jochen Puttfarken am Steuer saß.

»Ob Sie mit wollen, soll ich im Vorbeifahren fragen.«

»Wohin?«

»Erst einmal nach der ›Wetterhexe‹.«

»Wo ist denn der Kapitän, wo sind die anderen?«

»Die sind in der Höhle, wo die Piraten ihre Frauen und Kinder und den ganzen Kram haben, und ich soll vom Schiffe einen Taucheranzug holen.«

»Wozu einen Taucheranzug?«

»Weil der Kapitän seinen gold'gen Bleistift hat ins Wasser fallen lassen, und der gold'ge Bleistift ist von seiner Olschen ... von von der gnäd'gen Prinzeß, wollt ick sagen, was seine Frau ist, von der hat er den gold'gen Bleistift geschenkt gekriegt, und wenn er den nicht mehr hat, dann ist der Deiwel los, und da muß eben jemand hinunter ins Wasser, und 's ist ja auch keine zehn Meter tief.«

Sinnend ließ Scott seine träumenden Augen zur nahen gebirgigen Küste hinüberschweifen.

»In einer Höhle halten sich die Piraten verborgen?«

»Jawohl, in einer vom Meere ausgewaschenen Höhle, 's ist ganz gemütlich drin, wenn's nur nicht so stinken täte. Und nicht weit davon – man kann's aber von hier aus nicht sehen – ist ein ganzer Trümmerhaufen von einer zusammengestürzten Stadt.«

»Ruinen?«

»Allemal. Der Kapitän sagt, 's wäre das alte Berenice.«

Berenice!! Scott hatte sich noch gar nicht darüber orientiert, wo sie sich eigentlich befanden. Und nun mit einem Male sah er vor seinen geistigen Augen die Landkarte, Edfu bis Berenice, das war die Tour, welche Nobody einschlagen wollte oder sollte, auch er hatte ein Taucherkostüm bei sich, hier wurde ein Taucherkostüm geholt ...

»Na, wollen Sie mit an Bord?«

»Ich komme mit,« rief Scott, ins Boot springend, »aber nicht nur an Bord, sondern auch nach jener Höhle!«

 

Flederwischs Freude war verfrüht gewesen. Es war eben auch gar nichts mehr in der Welt, es gab gar keine echten Piraten mehr.

Als das letzte Boot sah, daß jene es gerade auf dieses abgesehen hatten und man dem pfeilschnellen Fahrzeug doch nicht entgehen konnte, zogen die braunen Burschen die Ruder ein und erwarteten die Verfolger in kniender Stellung und mit erhobenen Händen.

»Kitagazi, Kitagazi! – Gnade, Gnade!« erklang es zwölfstimmig in wimmerndem Tone, und dazwischen wurden Allah und der Prophet angerufen.

»Ihr Lumpenhunde,« zürnte Flederwisch, der den ganzen erhofften Spaß verdorben sah. »Könnt ihr denn nicht wenigstens eine Flinte nach uns abschießen?«

»Ja, seht, Kapitän,« meinte Zwergnase, »ich hab's mir gleich denkt, wir hätten die Revolverkanone verdeckt lassen sollen.«

»Kitagazi, Kitagazi!« jammerte es weiter im Chor.

Was nun anfangen mit den halbnackten Burschen, die trotz ihrer muskulösen Glieder und ihres verwogenen Aussehens Feiglinge ersten Ranges waren? Freilich darf man den Anblick des großen Kriegsschiffes nicht vergessen, und selbst das armierte Motorboot war ein kleines. Das lahmte so, daß nicht einmal jemand daran dachte, seine Rettung im Schwimmen zu versuchen.

»Sollen wir nicht noch die anderen Boote haschen?«

»Ach, laßt das Lumpenpack laufen! Nach ihrem Schlupfwinkel fliehen sie ja doch nicht! – Wo ist euer Hafen, eure Station? Wohin bringt ihr die geraubten Güter?« wandte er sich an den ihm nächsten in reinstem Arabisch.

»Kitagazi, Kitagazi! Wir sind ehrliche Fischer und ...«

Flederwisch verabreichte dem Sprecher das, was man eine Backpfeife nennt.

»Na? Wo haltet ihr euch für gewöhnlich verborgen?«

Es war nicht nötig, dem Manne erst die Pistole vor die Stirn zu setzen oder zu sonstigen Hilfsmitteln zu greifen.

»Dort, dort! Kitagazi, Kitagazi!«

»Dort hinter dem Gebirge, das wohl eine Bai einschließt?«

»Ja, Sihdi, in einer Höhle. Gnade, Gnade, Erbarmen!«

»Marsch ins Boot. Die anderen werden ins Schlepptau genommen. O, du Hund, daß du auch noch das Versteck deiner Kameraden verrätst! Nee, Junge, mit dir kann man keine Pferde stehlen, du kommst mir nicht auf meine Schwefelinseln.«

Im Schlepptau das Boot, die Piraten nur durch einen einzigen Revolver in Schach gehalten, steuerte das Motorfahrzeug weiter der Küste zu. Das Fahrwasser ward immer flacher und gefährlicher, selbst für solch ein kleines Boot, aber der herübergenommene Araber war ein williger Lotse, der auch keine Hinterlist wagte.

Als sie um das Vorgebirge bogen, zeigten sich im Hintergrunde der nicht allzugroßen Bai die Ruinen einer einst umfangreichen Stadt. Flederwisch hatte bereits gewußt, daß hier das einstige Berenice läge, er hatte ja immer sorgfältig die Seekarte studiert, hatte aber davon Scott keine Mitteilung gemacht, so wenig ihm dieser etwas davon gesagt, in welcher besonderen Gegend Aegyptens Nobody mutmaßlich sich zur Zeit befand.

Es ging quer über die Bucht hinüber, auch noch ein mit Sandbänken erfülltes Wasser, und dann wunderten sich die erfahrenen Seeleute, daß dicht neben der Küste ein wohl kilometerbreiter Streifen sehr tiefen Wassers hinlief, an der dunkelblauen Färbung erkennbar.

Die Küste war erreicht, dort, wo der erzwungene Lotse angab, nun noch um die Ecke, und vor ihnen eröffnete sich eine hohe und tiefe Höhle, welche im Laufe der Jahrhunderte die Brandung ausgewaschen hatte.

Solche Wasserhöhlen zeigen stets Galerien, von Ebbe und Flut herrührend. Da aber Ebbe und Flut nicht immer dieselben gewesen sind, da Erdrevolutionen in den Gezeiten immer scharfe Abschnitte gemacht haben, so sind fast stets mehrere solcher Galerien übereinander vorhanden.

So auch hier, und außer Kisten und Kasten, die auf den Galerien aufgespeichert waren, führten Frauen und Kinder darauf ein idyllisches Familienleben.

Erst hatten die Zurückgelassenen Lust, die Ankommenden mit kreischendem Jubel zu begrüßen. Denn wer konnte es anders sein als die Männer und Brüder und Väter, die den Sambuk erspäht und ausgenommen hatten und nun mit der Beute zurückkehrten? Denn daß die Sache auch einmal schief gehen konnte, daran dachten die guten Leutchen gar nicht, so etwas war eben noch nie passiert. Als aber nun das Motorboot mit den ›Blaßgesichtern‹ auftauchte, da blieb freilich den Frauen und Kindern die Freude im Halse stecken.

Flederwisch machte kurzen Prozeß. Hierhergestellt und stillgestanden! Wer sich auch nur rührt, wird niedergeschossen! Er hielt es nicht einmal für nötig, den Männern die Waffen abzunehmen!

Dann machte er sich daran, die aufgestapelten Waren zu besichtigen. Kaffee, Tee, Zucker, etwas Tabak und anderen Krimskrams.

»Nicht einmal einen Elefantenzahn, mit dem man renommieren kann, daß man ihn arabischen Seeräubern abgenommen hat,« schimpfte Flederwisch, der diese Beute jetzt ganz selbstverständlich als sein Eigentum betrachtete.

Für alle Fälle wollte er doch ein Verzeichnis anlegen. Als er hiermit beschäftigt war, entfiel ihm der goldene Bleistift und verschwand im Wasser.

»Gott ver ..., Turandots Bleistift, nu och dat noch!!«

Das Wasser in der Höhle maß elf Meter, wie ausgepeilt wurde. In solch eine Tiefe tauchte kein Mensch ohne Apparat, und wenn man's liest, soll man's nicht glauben. Das Fischen mit einem rechenartigen Instrument hatte keinen Erfolg.

Verlegen kratzte sich der lange Flederwisch hinter den Ohren. Er hatte den goldenen Bleistift von seiner Frau geschenkt bekommen, und er war so baumlang – nicht der Bleistift, sondern Flederwisch – und seine Frau war nur so klein, aber, aber ... der baumlange Flederwisch hatte vor der kleinen Frau einen höllischen Dampf, und wenn die den Bleistift vermißte, dann ..., ›nicht wahr, den hast du wieder so einem Mädel geschenkt?!‹

»Ihr habt doch alle gesehen, daß mein goldener Bleistift hier ins Wasser gefallen ist?« wandte er sich an seine Leute.

»Jawohl, Herr Kapitän – nu allemal, Kapitän!« antworteten sämtliche Matrosen prompt, auch diejenigen, welche es nicht gesehen hatten.

Aber Flederwisch fuhr fort, sich verlegen hinter dem Ohre zu kratzen. Nee, nee, seine Matrosen durfte er der kleinen Turandot nicht als Zeugen der Wahrheit vorführen. Von diesen legte auch der frömmste zugunsten seines geliebten Kapitäns einen Meineid ab, das wußte Turandot nur zu gut.

»Es hilft nichts, der Malefizbleistift muß wieder heraus. Jochen, fahre zurück, hole einen Skaphander. Sprich auch bei dem Sambuk vor, ob Mr. Scott an Bord gebracht sein will.«

Der Nasenkönig ging mit zwei Matrosen ab. Auch Flederwisch war von Nobody mit einigen jener Tauchapparate ausgestattet worden, denen er den Namen Skaphander gegeben hatte, zu Ehren eines prophetischen Dichters.

Unterdessen fuhr Flederwisch fort, die aufgestapelten Waren zu untersuchen. Kaffee und Zucker waren noch das Beste gewesen, was er zuerst gefunden, die übrigen Säcke enthielten Salz und nichts als Salz.

Offenbar hatte man es hier mit Piraten zu tun, die es nur auf Schmugglerschiffe absahen, und mit Salz läßt sich in Aegypten in dieser Beziehung ein gutes Geschäft machen, das Pfund Salz kostet dort 25 Pfennig, so hoch ist der Zoll darauf. Aber Flederwisch stellte keine Fragen, wie und wohin das Salz gepascht würde, obgleich er sich doch sonst so für diese Profession interessierte, er ärgerte sich, daß es überhaupt Salz war, und bangte für seinen ›gold'gen Malefizbleistift‹.

Das Motorboot kam zurück, den Kanadier mitbringend.

»Nun, wen haben Sie an Bord des Sambuks gefunden?«

Während ein Matrose, der im Tauchen mit dem Skaphander besonders ausgebildet worden war, das Kostüm anlegte, teilte Scott, etwas seitwärts von den anderen, dem Kapitän seine Unterhaltung mit dem schweizerischen Minister des abessinischen Kaisers mit.

»Wunderbar, wunderbar!« murmelte Flederwisch nur immer, schüttelte dabei immer den Kopf, und wie er den Erzähler von der Seite anschielte, hatten seine sonst so verwogenen Züge einen wahrhaft ängstlichen Ausdruck angenommen. Ja, solch eine Hellseherei, das war ihm aber auch zu neu, das ging über seine Hutschnur, und dann dachte er erschrocken: »Herrgott, wenn Turandot einmal hellsehend würde! Dann wäre es vorbei mit dem lustigen Leben!«

Der Taucher verschwand mit brennender Lampe in dem dunklen Wasser. Die Minuten vergingen. Er blieb sehr lange unten, schien den Bleistift nicht gleich finden zu können, obgleich das Senkblei harten Boden berührt hatte.

»Wenn er ihn nicht finden sollte,« dachte Flederwisch, der in manchen Fällen so ängstlich sein konnte, »dann muß ich meiner Frau vorlügen, daß ...«

Er brach in seinen Gedanken ab. Sein Blick war auf den Kanadier gefallen, der mit auf der Brust verschränkten Armen dicht am Rande der Galerie stand und in das Wasser hinabblickte.

Um Gottes willen, wie blaß der junge Mann plötzlich aussah! Nein, nicht blaß, sondern wie eine Leiche!

»Mr. Scott, ist Ihnen unwohl?!«

Der Angerufene zuckte zusammen, machte eine seitliche Bewegung, und im nächsten Moment hatte er wieder Farbe bekommen.

»Doch, mir ist ganz wohl,« lächelte er, auffallend genug, da ihn sonst wohl selten ein Mensch lächeln sah.

Flederwisch achtete nicht weiter darauf. Er glaubte, nur die Beleuchtung sei daran schuld gewesen.

Fünf Minuten waren nun schon vergangen, und das ist für den, der auf eine Stelle blickt und darauf wartet, daß dort etwas erscheint, eine kleine Ewigkeit, und der Taucherhelm war noch immer nicht da.

»Wo bleibt denn der Kerl nur? Der botanisiert wohl da unten oder hat mit einer Seejungfer ein Stelldichein? Aber das – sage ich euch,« wandte sich Flederwisch grimmig an die Araber, die von dem Anblick des Tauchers ganz gelähmt worden waren, »wenn meinem Anok etwas zugestoßen ist, dann nehme ich euch doch noch mit nach den Schwefelinseln, und dann sollt ihr ...«

Flederwisch brauchte seine Drohung nicht zu vollenden, denn da tauchte bereits aus dem dunklen Wasser eine menschliche Hand auf, triumphierend den gold'gen Malefizbleistift schwenkend, und dann erst erschien der Helm, und ebenso nahm Flederwisch ihm erst dieses Kleinod ab und dann packte er den Taucher beim Kripse und hob ihn wie eine Puppe aufs Trockene.

»Was hast du denn da unten so lange gemacht, Anok?« fragte er, als der Helm abgeschraubt war. »Der leuchtende Bleistift konnte doch gar nicht so schwer zu finden sein.«

»Ja ja, nee nee, Kapitän, die Sache war gar nicht so einfach. Der Stift lag gar nicht hier dicht am Rande, dort unten ist eine starke Strömung, der Stift war ganz nach dort vorn gekollert und kollerte noch immer weiter, ich mußte ihn haschen.«

Flederwisch blickte noch einmal hinab auf das spiegelglatte Wasser.

»Eine starke Strömung? I, Anok, erzähle mir doch keine Märchen. Woher soll denn dort unten eine Strömung kommen? Du hast ganz einfach dort unten ein Nickerchen gemacht.«

»Ja ja, nee nee, Kapitän, dort unten ist ein großes Loch, da quillt's Wasser raus. Ich war selber neugierig, bin ein gutes Stück hineingekrochen. Ja ja, nee nee.«

»Zum Teufel, wo soll denn aber hier eine Strömung ...«

Er wurde dadurch unterbrochen, weil er hörte, wie sich Scott an einen der Piraten mit einer Frage wendete, und diese Frage machte ihn stutzig.

»Woher bekommt ihr denn das Trinkwasser?«

Eigentlich seltsam, daß an diese Frage noch niemand gedacht hatte. Denn daß die Piraten hier existieren konnten, war ein Rätsel.

Der Araber deutete auf den dunklen Wasserspiegel.

»Süß,« sagte er lakonisch.

»Nicht möglich!« staunte Flederwisch.

Scott sah einen Holzeimer liegen, an den ein Seil gebunden war, nahm ihn, schöpfte, kostete – das Wasser war vollkommen trinkbar, hatte auch nicht den leisesten Salzgeschmack.

»Hier unten bricht ein unterirdischer Fluß hervor,« erklärte Scott, »das Süßwasser ist bedeutend leichter als das salzige Meerwasser, es treibt nach oben, bleibt auch obenauf schwimmen, wenigstens in dieser Höhle.«

Diese Erklärung freilich hätte nun auch jeder Matrose gefunden, dem es keine unbekannte Erscheinung ist, daß mitten im Meere süße Quellen hervorbrechen, so vielfach an der Küste von Mexiko, man kann mitten im salzigen Meere trinkbares Wasser schöpfen.

Aber für einen Geologen wäre der unterirdische Fluß, der aus der Libyschen Wüste herauskam, von höchstem Interesse gewesen. Und noch ein anderer zeigte dasselbe Interesse.

Scott besichtigte das Taucherkostüm, welches Anok abgelegt hatte.

»Ob das Kostüm für mich passen wird?«

»Nein, der Anzug ist zu klein für Sie,« entgegnete Flederwisch. »Aber an Bord befindet sich noch ein anderer, für mich gefertigt, der paßt auch Ihnen. Soll ich ihn holen lassen?«

»Ich bitte darum. Ich möchte diesen unterseeischen Fluß selbst einmal untersuchen. – – Halt!!«

Zwergnase und die beiden Matrosen waren schon wieder ins Boot gesprungen, als der letzte Ruf sie zurückhielt, und da gewahrten sie alle jene Veränderung, die mit dem jungen Manne vor sich ging, wie schon Flederwisch vorhin beobachtet hatte.

Der sonst so gesund aussehende junge Mann wurde plötzlich ganz bleich, leichenfarben, sein Auge begann zu stieren, er legte die Hand davor, das währte eine Minute, während welcher er regungslos dastand, und es war eine Situation, daß niemand auch nur ein Wort zu sprechen, kaum jemand zu atmen wagte. Weshalb nicht, das läßt sich nicht beschreiben. Jeder fühlte eben, daß mit dem jungen Manne irgend etwas Unnatürliches, Geheimnisvolles vor sich ging.

Als er die Hand wieder von dem Gesicht entfernte, sah dieses wie gewöhnlich aus. Sofort, und ohne ein Wort zu sagen, ergriff Scott eine am Boden liegende Brechstange, ging in den Hintergrund der Höhle, das heißt, schien hinter gehen zu wollen, tat wenige Schritte, blieb stehen, drehte sich um, sein träumendes Auge überflog die Piraten und Matrosen, er warf die Brechstange wieder weg und kehrte zurück.

»Herr Kapitän!«

Er führte Flederwisch seitwärts von den anderen. »Ihren Leuten ist doch selbstverständlich zu trauen?«

»Unbedingt.«

»Sie können auch alle schweigen?«

»Wie das Grab, wie ich selbst, wenn meine Frau nicht wissen soll, daß ich ... zzziyyy nevermindzzz/iyyy. Die plaudern nichts aus.«

»Dann können sie bleiben. Ich werde sie auch sehr nötig brauchen. Aber die arabischen Piraten mit Frauen und Kindern möchte ich von hier entfernt haben.«

»Weshalb?«

»Ich habe eine Entdeckung gemacht – – ich sah etwas ... im Geiste. Sie werden gleich Augenzeuge davon werden. Haben Sie mit den Piraten etwas vor?«

»Gar nichts. Die armseligen Schlingel sind zu nichts nutze.«

»Sie lassen sie einfach laufen?«

»Jawohl.«

»Dann sofort, und sie sollen Frauen und Kinder mitnehmen. Boote haben sie ja noch. Nur einen Mann möchte ich zurückbehalten.«

Scott ging hin zu den Piraten und musterte sie. Am längsten ruhte sein Auge auf einem Manne mittleren Alters mit recht intelligenten Gesichtszügen.

»Wie heißt du?«

»Selek ben Eski, Sihdi.«

»Bist du der Scheich, das Oberhaupt dieser Räuber?«

»Nein Sihdi, Barbarek, unser Scheich, ist nicht hier, er ist geflüchtet, aber ich bin sein Bruder und ein Unterscheich.«

Also das träumende Auge des Kanadiers hatte sich doch nicht getäuscht.

»Bist du verheiratet?«

»Sehenna, die Freude meiner späten Tage, starb voriges Jahr.«

»Dann eignest du dich am besten. Du bleibst hier. Ihr anderen seid frei.«

Es dauerte einige Zeit, ehe die Piraten begriffen, daß sie wirklich die Boote besteigen, die im Hintergründe der Höhle lagen, und fahren durften, wohin sie wollten, auch Frauen und Kinder mitnehmen durften. Nur Selek solle hierbleiben. Dann aber war der Jubel groß, sofort brachen sie auf, in Fässern Trinkwasser und Durramehl, sowie Hartbrot mitnehmend, was ihnen gestattet wurde. Nur die Waffen mußten sie abliefern.

»Und ich, Sihdi? Was willst du mit mir machen?« fragte Selek.

»Dir wird kein Haar gekrümmt, auch du wirst noch freigelassen werden und wirst dein Volk wiederzufinden wissen. Unternimm keinen Fluchtversuch, dann hast du nichts zu bereuen.«

Die Boote entfernten sich unter taktmäßigem Ruderschlag und verschwanden um die Ecke. Die Besatzung des Motorfahrzeuges und der Scheich befanden sich allein in der Höhle. Das tiefste Schweigen herrschte, auch der empfindungsloseste Matrose fühlte, daß jetzt irgend etwas Besonderes, Mysteriöses kommen müsse, aller Augen waren erwartungsvoll auf den jungen Kanadier gerichtet.

Dieser trat wieder vor Selek hin.

»Antworte mir der Wahrheit gemäß, verhehle wir nichts.«

»Ich habe nichts zu verhehlen, Sihdi.«

»Was weißt du davon, woher hier das Wasser in dieser Höhle, welche doch mit dem offenen Meere in Verbindung steht, trinkbar sein kann?«

»Allah ist groß, und er liebt die Wunder – er läßt auf dem Grunde dieser Höhle einen süßen Quell hervorbrechen, so stark, daß er das bittere Wasser ganz aus der Höhle verdrängt.«

»Könnte es nicht auch ein Fluß sein, der hier unten herauskommt?«

Mit ungläubigem Lächeln schüttelte der Araber den Kopf.

»Hier aus dieser Wüste, welche nach Sonnenuntergang liegt? Nein, Sihdi, da gibt es kein Wasser, da sind alle Brunnen vertrocknet.«

Es war nämlich vorhin Englisch gesprochen worden, der Araber hatte also nicht die verschiedenen Erklärungen gehört.

Scott sah den Mann scharf an und erkannte, daß er die Wahrheit sprach. Von einem unterirdischen Flusse war dem nichts bekannt, er glaubte an eine Quelle auf dem Meeresgrunde. Uebrigens mußte Anoks Aussage erst auf ihre Richtigkeit geprüft werden, auch er konnte sich geirrt haben, dann wäre der Scheich mit seiner Quelle im Recht gewesen.

So wenigstens sagten sich Flederwisch und die anderen Zuhörer, welche hierfür Interesse hatten und selbständig denken konnten.

»Wie lange haust ihr schon in dieser Höhle?« fragte Scott weiter.

Seit fünf Jahren. Die Bande hatte sich schon früher zusammengefunden, um die nach Kosseir gehenden Schmugglerschiffe zu plündern – hier hackte einmal eine Krähe der anderen das Auge aus, oder vielmehr: der größere Räuber nahm dem kleineren die Beute ab, und das kommt im Leben schließlich überall vor. Zuerst hatten die Piraten ihr Versteck viel weiter südlich gehabt, wo aus einer Felsenspalte Wasser tropfte, kaum genug, um den Durst zu löschen, da sah man es auch hauptsächlich auf die Wasserfässer der gekaperten Schiffe ab.

Dann hatte der Zufall – oder vielmehr Allah – einen Piraten entdecken lassen, daß hier in dieser Höhle süßes Wasser vorhanden war, die ganze Bande war hierher übergesiedelt.

War denn das nun immer so gewesen? Der Araber konnte hierüber natürlich keine Auskunft geben. Jedenfalls nicht. Bestimmt nicht, als hier noch die Stadt Berenice blühte. Die Einwohner hätten ihr Trinkwasser sonst von hier geholt, das war gar nicht so weit, und einmal hätte die Entdeckung dieses Phänomens, daß im Meer trinkbares Wasser war, wohl erfolgen müssen.

Der Leser wird es schon wissen: Die Verödung von Berenice, das Versagen aller Brunnen in der Libyschen Wüste östlich vom Nil, hing ganz offenbar mit dieser Küstenhöhle zusammen, hier hatte die unterirdische Wasserader, die bisher alle Brunnen gespeist, einen Durchbruch gefunden.

Doch mit solchen Kalkulationen hielt man sich jetzt nicht auf.

»Es ist gut. Nun, Leute, bewaffnet euch mit den Brechstangen, die dort liegen. Folgt mir. Auch Selek kommt mit.«

Ohne eine Ahnung zu haben, was er beabsichtigte, folgten die Matrosen seinem Geheiß. Die Höhle, gegen zwanzig Meter breit, drang ebenso tief in den Felsen hinein, gleichmäßig von den Galerien begleitet, die an den Wänden entlangliefen.

An der hinteren Wand blieb Scott stehen, und obgleich das Tageslicht noch bis hierherdrang, zündete er eine Kerze an und beleuchtete eine Stelle, die nicht mit Kisten und Säcken bedeckt war, kratzte mit dem Nagel daran.

»Was für ein Gestein ist das?« wandte er sich an Flederwisch.

»Das wird ... die dunkelgraue Farbe? Hm! Das mag Basalt sein.«

»Basalt? Alle die anderen Wände bestehen doch aus geflecktem Granit.«

»Hm. Das stimmt allerdings. Hier hinten geht eben eine andere Gesteinsader, wie man es oft im Gebirge findet.«

»Das ist Zement! Künstlicher Zement!«

»Wer soll denn den aufgetragen haben? Aha, jetzt verstehe ich Sie! Die Piraten haben hier etwas vermauert. Aber woher wissen Sie denn ...?«

Flederwisch dachte daran, daß er mit diesem Kanadier schon viel wunderbarere Dinge erlebt hatte, hier waren solche Fragen überflüssig. Merkwürdig war es ja schon, daß Scott überhaupt noch gar nicht hier hinten gewesen war, und nun rückte er gleich mit Brechstangen los.

»Selek,« wandte sich Scott an diesen, »was weißt du davon, was hier hinten gemauert worden ist?«

Die Bedeutung des Wortes ›mauern‹ – im Arabischen filere – verstand der Araber recht wohl. In Aegypten ist seit uralter Zeit schon genug gemauert worden. Aber auf diese Frage hin schaute der Pirat jenen verständnislos an, und das war auch eine Antwort. Er wußte von nichts.

»Räumt die Kisten und Ballen fort,« befahl Scott.

Schnell war dies geschehen. Die Brechstange des kanadischen Hünen war die erste, welche mit Wucht gegen die Wand sauste. Der Zement brach nicht in Stücken los, er mußte abgemeißelt werden, aber es ging, und die Schicht war auch nur dünn, dann zeigte sich Granit, und dann ... kamen Fugen zum Vorschein! Hier waren kleine Quader eingemauert worden, und so überall, wo die sechs Matrosen die Brechstangen auch arbeiten ließen.

Aber Granit ist ein gar harter Stein, und wer wußte, wie tief die Quader hineingingen?

»Ich habe an Bord eine Bohrmaschine mit elektrischem Antrieb,« meinte Flederwisch, »oder wir können es auch mit Sprengung versuchen.«

In diesem Augenblick hatte Scott zu einem mächtigen Stoße ausgeholt, die Brechstange fuhr gleich durch und durch, drei der Quader auf einmal nach innen stoßend, und man hörte sie noch ins Wasser platschen.

Aber das ging nicht immer so, und die Brechstangen waren zu kurz, als daß zwei Männer ihre Kraft daran vereinen konnten, und einen größeren Baum, den man als Widder hätte verwenden können, gab es hier nicht.

Das Motorboot ging zurück, um einen solchen zu holen, der einfach im Wasser nachgeschleift wurde, auch andere Hilfsmittel, und Flederwisch selbst ging mit, ohne zu sagen, was er noch Besonderes beabsichtigte.

Unterdessen vergrößerte Scott die von ihm schon geschaffene Oeffnung, bis er den ganzen Oberkörper hindurchstecken konnte. Er blickte in eine Finsternis, und die Taucherlaterne mit ihrem Blendstrahl beleuchtete dann nur Granitwände und unten einen träge fließenden Wasserspiegel.

Das Motorboot kam zurück, außer dem Hebebaum auch das große Taucherkostüm und Sprengstoffe mitbringend. Flederwisch war an Bord geblieben. Er wolle versuchen, die ›Wetterhexe‹ in den dicht an der Küste entlanggehenden, tiefen Kanal zu bringen, dann könne sie bis dicht vor die Höhle fahren. Auch der alte Herr habe sich mit seinen drei Dienern an Bord der ›Wetterhexe‹ begeben, der ›Sambuk‹ sei schon weitergesegelt.

Scott sagte zu alledem nichts. Er ließ sich den Skaphander erklären, wie alles funktionierte, legte ihn an und stieg so gelassen in das dunkle Wasser mit seinen Rätseln hinab, wie in eine Badewanne, und nicht, als ob in der nächsten Minute eine Wasserlast von zehn Metern auf ihm ruhen würde.

Der Strom unten war doch nicht so stark, um den goldenen Bleistift allein fortzutreiben. Aber der Grund senkte sich nach dem Meere zu, so war er leicht fortgerollt worden.

Zunächst kam es Scott darauf an, zu konstatieren, wie weit die hintere Wand ins Wasser hinabreichte. Nur knappe vier Meter, und das genügte, um die Oeffnung auch bei tiefster Ebbe nicht zum Vorschein kommen zu lassen. Sie war durchweg mit quadratischen Granitsteinen gemauert worden, eine Arbeit, die nur Taucher hatten bewerkstelligen können, und zwar war das keine so einfache Arbeit gewesen; denn wenn die untere Kante auch gewölbt war, so hatte sie beim Aufführen doch gestützt werden müssen. Also eine regelrechte Maurerarbeit, nur unter Wasser beginnend.

Unterhalb dieser Mauer war also immer noch eine Oeffnung von sieben Meter Höhe, der unterirdische Fluß füllte sie vollkommen aus, er preßte sich auch hier, daher die stärkere Strömung, welche sofort aufhörte, als Scott weiter eindrang.

In diesem unterirdischen Torwege noch fesselte etwas an der Wand seine Aufmerksamkeit. Es war nichts weiter als ein tiefer Riß oder eine Riefe an der sonst glattgewaschenen Granitwand, etwa zwei Meter über dem Boden. Diese Riefe konnte nur von irgendeinem harten Gegenstand gezogen worden sein, wozu aber eine außerordentliche Kraft gehört hatte.

Scott bückte sich und zog unter seiner Bleisohle etwas hervor. Es war ein Stück flaches Eisen, die Bruchstelle noch deutlich erkennbar. Und das konnte nicht etwa von oben aus der Höhle hier herabgefallen sein, diese Stelle hier befand sich schon weiter drin im Felsen, und die Strömung trieb ja gerade entgegengesetzt, nach dem Meere zu.

Scott verfolgte den Flußlauf weiter ins Innere. Er kam in einen Steinregen. Das waren die Trümmer, welche oben mit dem Widder losgerammt wurden. Aber so groß die Blöcke auch sein mochten, und wenn sie den Taucher auch direkt auf den Helm trafen, schaden konnten sie ihm nichts, im Wasser wird das Gewicht zu sehr vermindert – natürlich immer bis zu einer gewissen Grenze, ein Block von vielen Zentnern könnte einen auch unter Wasser totdrücken.

Da fiel der Strahl seiner Laterne auf einen zylindrischen Gegenstand, der auf dem felsigen Boden lag. Es war ein Eimer. Aus was für einem Metall, das sich unter Wasser so blank erhielt? Prüfend betastete ihn die unbekleidete Hand des Tauchers, der Nagel ritzte.

Es konnte nur Aluminium sein. Aluminium wurde allerdings damals schon verarbeitet, stand aber noch immer sehr hoch im Preise, wenn auch nicht so hoch wie zur Zeit seiner Entdeckung, wo es das Gold bei weitem übertraf. Man fertigte schon Luxusgegenstände daraus – Eimer freilich noch lange nicht. Solch ein Eimer hätte noch immer seine hundert Mark gekostet.

Wie kam dieser Aluminiumeimer hierher? Nun, Scott hatte bereits seine eigenen Gedanken. Besonders jene gewaltsam erzeugte Riefe dort an der Granitwand erzählte ihm eine lange Geschichte.

Als Scott nach einer Viertelstunde wieder emporstieg, lag die ›Wetterhexe‹ bereits vor dem Eingange zur Höhle. Wir wollen es kurz machen. Es wurde unterseeisch gesprengt, und als die Dämmerung anbrach, war die ganze hintere Wand verschwunden, frei floß der Strom ins Meer hinein, und auch die Höhe dieses unterirdischen Bettes war hoch genug, um gleich die ganze ›Wetterhexe‹ hineinfahren zu lassen, allerdings mit umgelegten Masten.

»Herr Kapitän, Sie stellen mir doch Ihr Motorboot und einige Leute zur Verfügung? Ich möchte noch heute nacht in dieses geheimnisvolle Dunkel dringen, in dem ja auch am Tage Finsternis herrscht.«

Ach, was waren heute im Laufe des Tages unter den Matrosen, Unteroffizieren und Steuerleuten nicht schon für Theorien aufgestellt worden, was dies eigentlich hier alles zu bedeuten hatte!

Wenn man sich über ein Rätsel wirklich den Kopf zerbrechen könnte – keiner hätte mehr einen ganzen Schädel gehabt, auch Flederwisch nicht mehr.

Nur der junge Kanadier wollte gar nichts mehr sagen. Er hatte die Lippen zusammengepreßt und arbeitete rastlos, und es war etwas an diesem seinem Benehmen, etwas Undefinierbares, was selbst Flederwisch mit einer geheimen Scheu abhielt, auch nur eine Frage an ihn zu richten.

Uebrigens war Flederwisch, wenn er sich auch in diesem Falle gern einen Schädelbruch geholt hätte, nur um gleich dieses Rätsel zu ergründen, sonst nicht der Mann, der sich mit vielem Grübeln aufhielt, dazu war er viel zu leichtlebig oder auch viel zu energisch. Der hielt sich nicht lange mit Knüpfen auf, er hieb den gordischen Knoten lieber mit dem Schwerte durch.

»Ich komme selbstverständlich mit!!« rief er jetzt. »Nu, das lasse ich mir doch nicht nehmen, unterhalb der Libyschen Wüste eine Gondelpartie zu machen?! Ach, wenn doch jetzt Nobody hier wäre! Das ist nämlich so ein Felsenmaulwurf, wie er sich selbst immer nennt, und überall, wohin er nur kommt, da findet er auch so ein unterirdisches Labyrinth oder so etwas Aehnliches, und wenn er so zwischen Steinen und im Drecke herumpaddeln kann, das ist sein höchstes Glück. Nee, wird der ärgerlich sein, daß er nicht hier dabeigewesen ist.«

»Er wird es schon noch zu erfahren bekommen und selbst mit untersuchen.«

»Ja, aber daß wir ihm die Entdeckung dieses unterirdischen Wasserweges vorneweggenommen haben, das wird er uns nicht verzeihen können.«

Die Fahrt sollte sofort angetreten werden. Außer Flederwisch und Scott kamen nur noch zwei Matrosen mit, der Nasenkönig und Anok, ferner der Schiffsarzt der ›Wetterhexe‹, Dr. Wolfram, ein hochgebildeter Mann von fast allumfassenden Kenntnissen, der sich unter das abenteuerliche Regiment von Kapitän Flederwisch nur deshalb gestellt hatte, weil er bei dessen vielen Reisen die beste Gelegenheit hatte, seine Kenntnisse zu bereichern und dorthin zu kommen, wohin sonst vernünftige Menschen nicht so leicht kommen, wie dieser Fall hier denn auch wieder einmal bewies.

Da das große Motorboot für viel mehr Menschen bestimmt war, außerdem zur Mitnahme von Trinkwasser, so brauchte es wegen der Stabilität Ballast, und als solcher wurden, außer einigen Fässern Petroleum als Heizmaterial, große Quantitäten Nahrungsmittel mitgenommen.

»Als wollten wir unter der Erde quer durch Afrika fahren,« meinte Jochen Puttfarken, welcher Ansicht Anok mit einem ›ja ja, nee nee‹ beistimmte.

Nachdem Flederwisch Instruktionen für die ›Wetterhexe‹ zurückgelassen hatte, ging die Fahrt ab, dem sich verbreiternden Blendstrahle nach, den eine riesige Petroleumlampe mit Reflexspiegel vorausschickte.

Ueber diese Fahrt ist nichts zu erzählen. Links eine Granitwand, rechts eine Granitwand und oben eine Granitdecke. Hierbei schien es bleiben zu wollen. Auch Dr. Wolframs wissenschaftliche Theorien über das Wie, Wo und Warum dieses unterirdischen Wasserlaufes wollen wir hier nicht wiedergeben.

Es galt, den Wasserlauf bis an sein Ende zu verfolgen, dann würde man vielleicht weitere Aufschlüsse erhalten. Das heißt, wenn die Hälfte der Lebensmittel und des Petroleums verbraucht waren, dann freilich mußte man umkehren. Aber da konnte man getrost eine Woche geradeausfahren.

Eine Woche lang diesen Strom unter der Erde verfolgen!! Nein, mit solchen Gedanken durfte man sich nicht befassen, da blieb des Kopfes Räderwerk gleich vor scheuem Grausen stehen.

Die Hauptsache war, daß man immer frische Luft hatte, obgleich die glatten Felswände nichts von Rissen und Löchern zeigten, die etwa eine Ventilation nach der Oberwelt ermöglicht hätten. Für Dr. Wolfram war das gar kein Rätsel, ganz einfach, das Wasser gab diese atmosphärische Luft von sich, die es vorher an der Oberwelt absorbiert hatte.

Man ließ das Boot in der Stunde nur zwei Seemeilen machen, es bewegte sich also nicht schneller als ein langsamer Spaziergänger. Denn das Licht der Blendlaterne war doch ein sehr unsicheres, man konnte ja nicht wissen, welche Hindernisse im Wege waren, jede scharfe Ecke, ein Felsengrat unter Wasser konnte das Boot zum Sinken bringen, und auf diesem unterirdischen Strome wären die Schiffbrüchigen rettungsloser verloren gewesen als mitten im Weltmeer, welches doch wenigstens offen ist.

Ja, wenn es auch keiner dem anderen sagte, jeder rechnete im stillen mit einem künstlichen, verderbenbringenden Hindernis! Denn wer hatte die Höhle vermauert? Wozu hatte er es getan? Jeder hielt die Augen mit doppelter Wachsamkeit offen.

So war man gegen Mitternacht zwölf Meilen tief in das Erdinnere Aegyptens eingedrungen. Allerdings waren da die zahlreichen Krümmungen abzurechnen, was sich aber der Kontrolle entzog. Flederwisch, welcher der tüchtigste Nautiker war, der es an mathematischen Kenntnissen mit jedem Astronomen aufnahm, hatte erst versucht, die einzelnen Winkel, welche man machte, mit Hilfe des Kompasses zu berechnen und so die ganze Fahrlinie zu Papier zu bringen.

Bald mußte er indes diesen Versuch aufgeben. Hier unten gab es solch eine Berechnung nicht mehr. Es geht wohl, aber da gehören ganz andere Hilfsmittel dazu, ein Winkelmesser und vor allen Dingen ein Maßband.

Bisher war der Strom immer gleich breit gewesen, achtzehn bis zwanzig Meter, auch die Höhe des ganzen Tunnels blieb dieselbe.

Da plötzlich teilte sich der Strom. Die Hauptmasse des Wassers beschrieb einen großen Bogen nach links, also nach Süden, während geradeaus die Felswände viel enger zusammentraten, ohne daß das Wasser dazwischen reißender geworden wäre.

So konnte man den Weg geradeaus als einen Nebenfluß betrachten.

Es fand keine Beratung statt, ob man links oder rechts einbiegen solle. Wer konnte hier einen Rat erteilen?

»Wollen Sie geradeaus oder den breiten Weg einschlagen.«

»Wie Sie wollen – wie Sie wollen.«

Flederwisch steuerte links in den breiten Strom hinein, der also nach Süden führte.

Es änderte sich nichts an der eintönigen Szenerie. Granit, nichts als Granit und unten das schwarze, träge fließende Wasser.

Man aß zusammen und legte sich wachenweise zum Schlafen nieder.

Früh um drei Uhr wurde Flederwisch geweckt, obgleich er hätte bis um vier schlafen können. Er blickte in das aufgeregte Gesicht des Arztes.

»Wir kommen in eine Goldregion,« flüsterte dieser atemlos. »Wir haben schon mehrere goldhaltige Quarzadern passiert, sie treten immer häufiger auf, werden immer reicher, ich wollte Sie wecken.«

Flederwisch, als der Besitzer einer Perlenbank und von noch manch anderem, hatte kein Gold nötig, aber das Wort ›Gold‹ hat nun einmal für den Menschen einen ganz besonderen Klang, Flederwisch zürnte nicht, daß man ihn nicht lieber die Stunde noch hatte schlafen lassen.

Soeben passierte man wieder solch eine goldhaltige Quarzader, die sich in Meterbreite von der Decke auf beiden Seiten im Granit herabschlängelte. Es glänzte und gleißte, als wenn es pures Gold wäre, was nun freilich nicht der Fall war, wie überhaupt über das Vorkommen des Goldes sehr falsche Begriffe verbreitet sind.

Gewiß, gediegenes Gold kommt vor; in Kalifornien hat man ja Blöcke von vielen Kilogrammen gefunden, ebenso in Australien, in Alaska kratzt man es ja noch heute aus der aufgetauten Erde, aber das sind alles doch nur Ausnahmen. Wenn der Quarz nur drei Prozent Gold enthält, so ist der Minenbesitzer schon sehr zufrieden, dann lohnt es sich noch, den Quarz im Pochwerk zu zerstampfen und das Gold auszuwaschen oder mit Quecksilber auszuziehen, oder, nach der neusten Methode, mit Cyankali.

Diese Quarzader hier mochte zehn Prozent enthalten. Es war sehr schwer, eine Probe loszuschlagen; denn inzwischen hatte sich der Strom bedeutend verengt, das Wasser floß schneller, man mußte vier Knoten dampfen, um zwei vorwärts zu kommen, und an der glatten Felswand war absolut kein Halt zu bekommen, so wenig wie der Anker auf dem glatten Boden einen fand.

Und immer enger traten die Felswände zusammen, immer reißender ward der Strom, kaum kam das Motorboot noch dagegen an, aber desto mehr nahmen auch die Quarzadern zu, bis die Granitformation nach und nach ganz in Quarz überging, überall mit Gold durchsetzt, allerdings sehr spärlich, wahrscheinlich kaum wert, daß er zerpocht würde. Die Arbeit hätte mehr gekostet, als man Gold gewann. Trotzdem war dieses zu sehen, weniger wenn man das Auge dicht daran brachte, als wenn der Blendstrahl schnell darüberhuschte. Das war dann wie ein leuchtender Kometenschweif.

Schon wollte man den Kampf gegen das reißende Wasser aufgeben, den Rückweg antreten, als Anok den Arm ausstreckte.

»Ja ja, ne ne, dort ist eine Leiter!!«

Es waren deren sogar zwei, links und rechts, an jeder Wand eine eiserne Leiter, welche ins Wasser hinabführte. Dorthin kämpfte man sich noch durch, das Boot brauchte nicht an der Leiter festgebunden werden, dazu war ein eiserner Ring eingelassen, und auf beiden Seiten waren sogar geräumige Nischen eingehauen worden.

»Die Leitern führen hier nicht umsonst hinab,« sagte Flederwisch, »da muß ich hinunter. Oder wollen Sie zuerst, Mr. Scott?«

Der junge Kanadier träumte wieder einmal mit offenen Augen, hatte die Frage gar nicht gehört.

Flederwisch legte das größere Kostüm an, Dr. Wolfram das kleinere, welches Anok getragen hatte, beide ließen sich zur Vorsicht noch ein Seil unter die Arme binden, obgleich sie zum Abstieg die Leitern benutzten.

Die Lust, den Boden unter die Füße zu bekommen, wäre ihnen bald vergangen. Das Manometer zeigte schon eine Tiefe von 18 Metern an, und noch immer wollten die Leitern nicht aufhören. Aber der nach unten geschickte Blendstrahl zeigte eine goldene Linie, welche von der einen Wand nach der anderen lief, das mußten sie doch untersuchen, und nur wenige Meter noch, so hatten sie den Boden erreicht.

Ueber diesen hinweg, zwischen den beiden Wänden, führte eine Barriere, offenbar künstlich gemauert, aus Zement, und vor dieser Erhöhung hatte sich feiner Goldstaub angehäuft, genau so hoch wie die Barriere, etwa einen Viertelmeter hoch, nach unten etwas grobkörnig werdend, aber doch immer noch Staub zu nennen.

Wenn man solch ein fließendes Wasser direkt zum Auswaschen benutzen kann, da freilich ist das Gold sehr billig zu gewinnen!

Doch wer war es, der hier diese natürliche Goldquelle künstlich eingefaßt hatte? Er mußte sie schon seit längerer Zeit nicht mehr angezapft haben, die Goldquelle lief über, wenn man sich so ausdrücken darf, übrigens ganz mit Recht. Denn das Gold, welches das reißende Wasser von den Wänden losspülte, mußte sich hier vor dieser Barriere ansammeln.

Erreichte aber der Goldstaub die Höhe der Barriere, dann wurde er natürlich darüber hinweggeschwemmt, so wie es auch jetzt schon der Fall war.

Mit solchen Untersuchungen waren die beiden noch beschäftigt, als plötzlich gleichzeitig heftig an ihren Leinen gezogen wurde, die sie mit dem Motorboot verbanden. Ganz einheimisch wird man unter dem Wasser doch nie, es ist immer ein unheimliches Gefühl dabei, und so machten die beiden schleunigst, daß sie wieder an den Leitern hinaufkamen. Durch die eigene Luft konnten sie sich nicht heben lassen, sie wären dabei zu weit fortgerissen worden.

Oben sahen sie schon durch den Taucherhelm, daß die Ventile des Motors aus voller Kraft zischten, und kaum waren sie im Boote, als dieses auch schon unter Scotts Hand mit voller Fahrt davonschoß, den Weg zurück.

»Was haben Sie denn, was ist denn los?« fragte Flederwisch erstaunt, sobald er den Helm abgenommen hatte.

»Ich habe ein anderes Ziel im Auge.«

»Welches?«

»Ich kenne es selbst noch nicht genau.«

»Ja, aber ...«

»Gehorcht!!!« erklang es da in schärfstem Tone.

Hallo! Hier unter der Erde konnte der sonst so bescheidene junge Mann mit einem Male ganz anders sprechen!

Doch Flederwisch fügte sich. Er hatte von seinem Gastfreund schon zu viel Merkwürdiges zu erfahren bekommen.

Außerdem fügte Scott mit leiser Stimme gleich noch etwas hinzu.

»Sie wissen ... es treibt mich etwas, in jenen anderen Kanal einzufahren. Was, weiß ich selbst nicht. Wir werden es erfahren, wenn es so weit ist, wenn es das eiserne Schicksal bestimmt hat.«

Diese Bemerkung wäre nicht nötig gewesen, Flederwisch war auch so mit allem einverstanden.

Freilich forderte der junge Mann von seinen Begleitern eine starke Prüfung der Geduld. Jetzt war er es, der als unnahbarer Kapitän auftrat, welcher über nichts Rechenschaft zu geben braucht, welcher nicht einmal das Ziel nennt.

Und als Kapitän trat Scott auch vollkommen auf, er ließ das Steuer nicht mehr aus der einen, den Motorhebel nicht mehr aus der anderen Hand, und immer volle Kraft voraus, zwölf Meilen in der Stunde, jeder Punkt an der Wand, an dem das Auge einen Halt fand, huschte nur so vorüber, und das in einem Wasserkanal unter der Erde, der sich in zahlreichen, scharfen Krümmungen erging, jede Gefahr dem Führer gänzlich unbekannt!

Es war eine haarsträubende Fahrt! Wir wollen über dieselbe nur sagen, daß keiner ans Essen dachte, daß Dr. Wolfram seine Hände nicht mehr von der Bordwand losließ, daß der Nasenkönig seine Elefantenohren hängen ließ, daß seinem Kameraden einmal das ›ne ne‹ in der Kehle stecken blieb, und daß Flederwisch später ganz offen erklärte, er habe damals bei dieser wahnsinnigen Tunnelfahrt bereits das Zeitliche gesegnet gehabt.

Der junge Kanadier selbst aber saß unbeweglich am Steuer, keine Muskel zuckte in dem schönen, bronzefarbenen Antlitz, und verschwunden war mit einem Male der melancholische Ausdruck der Augen, welche fest dem vorausgeschickten Blendstrahl folgten, es lag jetzt vielmehr etwas Kühnes, Trotziges darin.

Als das Boot um die Ecke in jenen zweiten, nach Westen führenden Kanal bog, legte es sich auf die Seite, als ob es kentern wollte. In diesem zweiten Kanal, den wir als Nebenfluß bezeichneten, war aber die Fahrt viel ungefährlicher. Er lief fast schnurgerade aus, verengte sich auch nicht, obgleich er weniger Wasserfülle haben mochte.

Fast neun Stunden hatte diese rasende Fahrt gewährt, als das Petroleumbassin wieder nachgefüllt werden mußte, und da man dies zu spät bemerkt hatte, war eine Fahrtunterbrechung nötig.

»Na, nun sind wir doch etwas weitergekommen als bei dem vorigen Schneckengang!« meinte Scott gemütlich.

»Himmelbombenelement noch einmal!« atmete Flederwisch auf. »Mensch, müssen Sie aber Nerven haben! Sind Sie Seemann?«

»Nein, aber außer Rennmotorbooten habe ich auf den kanadischen Seen auch Segelschlitten gesteuert, und da pfeift es noch ganz anders, und wenn es beim Eissegeln auch keine Hindernisse gibt, an die man stoßen kann, so ist beim windschnellen Eissegeln doch noch eine ganz andere Sicherheit von Auge und Hand nötig.«

»Eissegeln, ja ja, ne ne,« meinte Anok nachdenklich. »Tut man das auch unter der Erde?«

Auch Scott mußte diesmal in das allgemeine Gelächter einstimmen.

Wie weit befanden sie sich wohl schon im Innern? Man rechnete nach – vielleicht 80 Seemeilen, 20 geographische.

»Heiliger Klüverbaum,« ächzte der Nasenkönig und wackelte mit seinen Elefantenohren, »da müssen wir ja bald auf der anderen Seite von Afrika wieder herauskommen?!«

Es wurde ihm erklärt, daß man so weit noch nicht war. Noch einmal so weit, dann kam erst der Nil.

Man sah sich um. Noch immer alles Granit, hier aber zeigte die Decke Spalten und hin und wieder auch ein großes Loch.

»Wie mögen diese Löcher entstanden sein, Herr Doktor?« fragte Scott. »Sind das Kanäle, welche das Regenwasser oder doch der angesammelte Tau der Wüste im Laufe der Jahrtausende durchgewaschen hat?«

»Das will ich Ihnen erklären.«

Mit diesen Worten stand der Gelehrte auf, deutete nach oben, und während das Boot noch immer langsam fuhr, begann er im Schulmeisterton:

»Nein. Mit Wasser hat die Entstehung dieser vertikalen Schächte gar nichts zu tun. Sehen Sie zum Beispiel dieses Loch hier an, unter dem wir soeben hinwegfahren – aus diesem Loche ist noch niemals ein Tropfen Wasser herausgesickert und wird auch niemals ein Tropfen Wasser herauskom ...«

Pardauz, klatsch, kladderadatsch!!!

Der nach oben blickende Gelehrte bekam aus dem Loche nicht nur einen Tropfen ins Gesicht, sondern einen ganzen Wasserfall auf den Kopf, mit einer Wucht, daß er sofort zu Boden geschleudert wurde.

Wenn das Boot sich nicht noch in Fahrt befunden hätte, es wäre sein Untergang gewesen. So traf der anhaltende Wasserstrahl nur das Hinterteil, dann war es darunter hinweg.

Aber es war nicht bei dem einfachen Wassersturz geblieben.

»War da nicht noch etwas anderes herausgeschossen?« flüsterte Scott. »Etwas wie – wie – wie eine menschliche Gestalt? Da, da, da, da, da ...«

Seitwärts von dem Wasserfall, welcher noch immer anhielt, tauchte plötzlich aus dem dunklen Strome etwas Blankes, Rundes auf, gerade wie ein Taucherhelm aussehend.

Während die anderen ihren Augen noch nicht trauten, ließ Scott schon das Boot rückwärts gehen, er griff ins Wasser, hatte etwas gepackt, hob es mit Riesenkraft ins Boot ...

Flederwisch rieb sich die Stirn.

»Ja – träume ich denn?« murmelte er. »Das ist – doch – ein Mensch – ein Mann – im – im Skaphander?!«

Gewiß, es war ein Mann, der ein Skaphanderkostüm trug.

Scott nahm die Laterne und ließ den Strahl in das Helmglas hineinfallen, so daß er das Gesicht des regungslos Daliegenden sehen konnte.

»Allmächtiger Gott! Nobody!!!«


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