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Zwölftes Kapitel

Auf die Uhr blickend, sah Bassow, daß ihm keine Zeit blieb, um noch zu Mittag zu essen, wenn er den Zug nach Berlin erreichen wollte. Doch das war ihm gleichgültig; er hatte, wenn es eilige Arbeit gab, schon öfter freiwillig verzichtet. So ging er gar nicht erst auf sein Zimmer zurück, ließ nur den Diener die noch unausgepackte Reisetasche herunterholen und gab Befehl zum sofortigen Anspannen. Auch blieb er selbst beim Wagen stehen und feuerte die Stallknechte zum Eifer an.

In wenigen Minuten war alles zur Abfahrt bereit, und auf Bassows Befehl trieb der alte Kutscher Sürjahn die Pferde mit Peitsche und Zuruf an zu raschestem Lauf. Trotzdem fuhr der Zug bereits in die Station ein, als der Wagen vor dem Bahnhofsgebäude hielt, und Bassow hatte nur noch eben Zeit, ein Billett zu lösen und in ein für ihn bereits geöffnetes Coupé zu springen, als die Maschine bereits anzog.

Jetzt erst kam ein wenig Ruhe über ihn, und er konnte, während er den gleichen Weg fuhr, wie am Tage zuvor, seinen Plan und sein Gespräch mit der Baronin still noch einmal durchdenken. Gedanken und Gefühle waren heute sonderbar bei ihm gemischt, und er betraf sich mehrfach darauf, daß Unwichtiges mit Wichtigem in seinem Geiste stritt. Mitten in angestrengtes Nachdenken über den einzuschlagenden Weg hinein klang plötzlich irgendein Wort aus der Baronin Mund. Er sah sie neben sich gehen, sah eine gleichgültige Bewegung ihrer Hand, sah sie niederblicken auf den Platz, wo der zerstörte Pavillon gestanden hatte. »Er wird niemals mehr aufgebaut,« klang es aufs neue in sein Ohr, und er überlegte sich den unausführbaren Plan, wie er das zerstörte Lieblingsgebäude heimlich, über Nacht wieder für sie aufrichten lassen könnte, um sie morgens dorthin zu führen und sich an ihrer Ueberraschung zu freuen. Dann schalt er sich, daß er nun doch anfange, sentimental zu werden, und nicht mehr das Lob verdiene, das ihn von ihren Lippen so stolz gemacht hatte. Doch solange der Zug noch in Bewegung blieb, solange die Räder unter ihm ihre gleichmäßige Musik machten, wollte die verliebte Träumerei nicht von ihm weichen. Erst als er einfuhr in das laute, nüchterne Berlin, fiel sie von selbst von ihm ab. Ganz Energie, Spannung und Willen, sprang er aus dem Wagen.

Rasch war er im Hotel Kaiserhof und beauftragte sogleich den Kellner, der ihm sein Zimmer angewiesen hatte, den Direktor oder den Besitzer um sein Kommen zu bitten. Wenige Minuten darauf ertönte denn auch ein Klopfen an der Tür, und ein Herr im Taillenrock, mit kurzem, braunem Vollbart und auffallend bleichem Gesicht erschien auf das »Herein«! in der Tür. Den Meldezettel, auf den Bassow seinen Namen geschrieben hatte, hielt er in der Hand, aber diese Hand zitterte ein wenig.

»Herr Baron haben gewünscht,« begann er mit geschmeidiger Höflichkeit, »und ich bin sofort gekommen. Aber im Augenblick bin ich wirklich ein wenig erschrocken, als ich den Namen vom Herrn Baron hier auf dem Zettel gelesen habe. Ein Herr des Namens hat nämlich sehr häufig bei uns gewohnt, er fühlte sich immer ganz besonders behaglich hier, – das hat er mir wiederholt ausgesprochen. Und dieser Herr ist vor gar nicht langer Zeit unter so traurigen Umständen aus dem Leben geschieden –«

»Es war mein Vetter; ich bewohne jetzt Schloß Garchim an seiner Stelle. Sie erinnern sich seiner also genau, das freut mich. Seinetwegen wollte ich mit Ihnen sprechen. Sie werden vermutlich noch wissen, wann er zuletzt hier gewohnt hat.«

»Aber selbstverständlich, so etwas vergißt man doch nicht. Er ist ja von hier, wenn ich so sagen darf, in seinen Tod gefahren. Am Nachmittag begleitete ich ihn selbst noch an den Wagen und wünschte ihm gute Reise, – und vierundzwanzig Stunden darauf lese ich in der Zeitung, daß er auf so schändliche Weise ums Leben gekommen ist. Ich habe gedacht, mich selber trifft der Schlag. Wahrhaftig, die ganze Nacht habe ich nicht schlafen können. Herr Baron werden schon bemerkt haben, daß ich ein wenig nervös bin, – das paßt eigentlich gar nicht für meinen Beruf, aber was will man machen? Die große Stadt, ein so großes Unternehmen, die große Verantwortung, all' meinen Kollegen geht es nicht besser mit ihren Nerven als mir. Ich habe einen Freund –«

»Nun, jedenfalls werden Sie mir Auskunft über die Vorgänge jenes Tages geben können, als mein Vetter hier zum letzten Male gewohnt hat. Ist irgend etwas Auffallendes passiert, hat er Besuch gehabt, hat er Briefe bekommen –«

»Ach, das alles ist ja schon ganz genau untersucht worden.«

»Von wem?«

»Von der Polizei natürlich. Die wird sich doch solch eine Sache nicht entgehen lassen. Ich habe Schererei genug davon gehabt. Aber es ist nichts von irgendwelcher Bedeutung dabei herausgekommen, und auch von Amts wegen hat man, soviel ich weiß, in dieser Richtung nicht weiter recherchiert.«

»Und was hat man ermittelt? Ich bin im übrigen über den Gang der Untersuchung als nächster Anverwandter des Verstorbenen genau unterrichtet –«

»Aber selbstverständlich, Herr Baron,« warf der Direktor mit einer seiner geschmeidigen Verbeugungen ein, doch Bassow fuhr fort, ohne darauf zu achten: »nur von den Forschungen hier habe ich bisher nichts gehört. Also: was wurde festgestellt?«

»Nichts von irgendwelcher Bedeutung, wie schon gesagt. Besuche hat der verstorbene Herr Baron hier nicht empfangen. Vormittags ist er selbst für längere Zeit fort gewesen, dann hat er an unserer Table d'hote gespeist, und bald nach Tisch ist er durch einen der Kellner ans Telephon gerufen worden.«

»Ans Telephon? Und man weiß nicht, von wem?«

»Nein, Herr Baron, leider nicht. Der Kellner hat, mehrfach befragt, immer wieder angegeben, daß er sich den Namen dessen, der ihn beauftragte, den Herrn Baron zu rufen, nicht gemerkt habe. Mit aller Anstrengung hat er sich nicht darauf besinnen können. Das ist ja nun freilich kein Wunder bei uns, wo täglich ein paar hundert Mal telephoniert wird. Aber das ist wohl auch der Grund gewesen, warum die Polizei hier nicht weiter hat vorgehen können.«

»Ob denn ein Herr oder eine Dame meinen Vetter hat sprechen wollen?«

»Ein Herr höchstwahrscheinlich. Der Kellner behauptet mit Sicherheit, die Stimme sei männlich gewesen.«

»Und das ist alles?«

»Nein, Herr Baron, doch nicht so ganz. Eine Kleinigkeit war auffallend – mein Gott – bei solchen Vorkommnissen sucht man ja leicht etwas im Geringsten. Aber der verstorbene Herr Baron hatte sich morgens, bevor er fortging, ein Billett zum Abend für das Opernhaus beim Portier bestellt. Und bald nach dem Telephongespräch hat er dann gesagt, er könne das Billett nicht benutzen, er müsse schon am Nachmittag abreisen. Selbstverständlich hat er dem Portier eine anständige Abstandssumme gezahlt. Der stand noch neben mir am Wagen, als der Herr Baron fortfuhr. Ach, es ist mir noch wie gestern –«

»Die plötzliche Abreise könnte also wohl mit jenem Telephongespräch in Verbindung stehen,« sagte Bassow mit sinnendem Ton.

»Ganz gewiß. Das wäre sehr möglich. Das hat auch der Herr Kriminalschutzmann gemeint. Aber wo man doch nun einmal nicht wußte, wer telephoniert hatte –«

»Ganz recht, es war aussichtslos. Und weiter ist nichts ermittelt worden?«

»Nein, Herr Baron. Zu meinem Bedauern kann ich weiter nichts angeben. Dürfen wir den Herrn Baron zur Table d'hote erwarten?«

»Nein, ich möchte jetzt gleich etwas essen. Bei Ihrer Frage fällt mir ein, daß ich tüchtigen Hunger habe. In fünf Minuten komme ich hinunter.«

»In fünf Minuten wird alles bereit sein. Ich empfehle mich dem Herrn Baron.«

Rückwärts gehend, mit mehrfachen Verbeugungen, verließ der Direktor das Zimmer. Bassow brachte schnell seine Toilette in Ordnung, und erst, als er im Speisesaal an einem kleinen Tisch allein saß, nahm er sich Zeit, über das Gehörte genauer nachzudenken. Die Ausbeute seiner Nachforschung war bisher nur gering. Hundert Leute konnten an seinen Vetter telephoniert haben, und niemand vermochte mit Bestimmtheit zu sagen, ob die plötzliche Abreise wirklich als Folge dieser Telephonunterhaltung anzusehen war. Und doch – je mehr er über das Gehörte nachdachte, um so mehr schien es ihm an Bedeutung zu gewinnen.

Mitten im Essen sprang er auf, ging an das Telephon, das damals auch seinem Vetter die unbekannte Botschaft übermittelt hatte, und ließ die Verbindung mit Garchim herstellen. Mit jäher Freude vernahm er kurz darauf die Stimme der Baronin, die selbst herangekommen war. Er fragte sie, ob an jenem Tage von dort aus irgendeine Botschaft an den Verstorbenen ergangen sei, die seine beschleunigte Abreise veranlaßt haben könnte. Doch war eine bestimmte Verneinung die Antwort. Weder die Baronin, noch einer der Beamten hatte damals nach Berlin telephoniert. Mit Worten des Dankes, die viel wärmer klangen, als es der Anlaß erforderte, beendete Bassow die Unterredung und nahm die unterbrochene Mahlzeit wieder auf.

Die soeben vorgenommene Feststellung war nötig gewesen, bevor seine Gedanken weiterspinnen konnten an einem begonnenen Faden. Einem Faden, der sich vielleicht verschlingen konnte zu einem Netze für den Schuldigen. Wenn Breitenbach wirklich dieser Schuldige war! Denn auf ihn zielten alle Kombinationen des Grübelnden hin. Breitenbach war an jenem Tage in Rostock gewesen, er hatte nach eigener Aussage am Abend mit Bassows Vetter über den Verkauf einer Landparzelle verhandelt, er konnte sehr wohl mittags telephoniert und so die vorzeitige Abreise veranlaßt haben. Das alles war freilich an sich noch in keiner Weise belastend für ihn, aber daß er diesen harmlosen Vorgang verschwiegen, daß er die Begegnung mit dem so kurz darauf Ermordeten als eine zufällige hingestellt hatte, das konnte den einmal wachgewordenen Verdacht verstärken. Und Bassow sagte sich, daß jener geschäftliche Handel zwischen den beiden Männern damals vielleicht gar nicht erörtert worden sei, daß ganz andere Dinge die aufeinander Eifersüchtigen zusammengeführt haben konnten, die um desselben Weibes Liebe geworben hatten.

Die nächste Aufgabe war jedenfalls, wenn möglich, festzustellen, ob in der Tat Breitenbach diese Botschaft von Rostock aus aufgegeben hatte. Der Polizei war die Lösung dieser Aufgabe naturgemäß unerreichbar gewesen; denn der Gedanke an einen Verdacht gegen Breitenbach lag ihr ja heute noch meilenfern, und nur auf den schon vorhandenen Verdacht konnte Bassows Vermutung sich gründen. Er befahl dem Kellner, das Kursbuch zu bringen, und bestimmte den ersten Morgenzug des nächsten Tages zur Abreise nach Rostock. Er hatte die glückliche Gabe, sobald er handeln konnte, sich durch keine Zweifel und Bedenken – und sie lagen bei dieser Sache nahe genug – stören zu lassen. Geradeaus ging er mit ruhiger Sicherheit hin auf das nächste Ziel, ohne zur Seite zu blicken.

So war er denn auch am anderen Tage nach gutem und ruhigem Schlaf mit frischem Sinne bei seiner Aufgabe. Unterwegs – er mußte darüber lächeln, wie oft er in diesen Tagen die gleiche Strecke zurücklegte, – vertrieb er sich die Zeit abwechselnd mit Erwägungen, wie der Urheber des damaligen Gesprächs ermittelt werden könne, und mit Gedanken an die Baronin.

Ein kurzer Aufenthalt an dem Knotenpunkte, wo die Bahn abging, die nach Garchim führte, während geradeaus der Schienenweg auf Rostock zustrebte, machte Bassows Erinnerung an das mutmaßlich hier erfolgte Zusammentreffen seines Vetters mit Breitenbach wieder doppelt lebendig. Das Kursbuch hatte bereits am vergangenen Abend klargelegt, daß in der Tat eine Begegnung der beiden zur fraglichen Zeit hier möglich gewesen war. Jetzt blieb nur noch festzustellen, ob sich's um ein absichtliches oder zufälliges Zusammentreffen gehandelt hatte.

Bassow wußte nicht, in welchem der Hotels in Rostock Breitenbach damals gewohnt hatte. Die Zahl der für einen Kavalier in Betracht kommenden Häuser war aber nur gering, und schon im zweiten, bei dem er vorfuhr, sagte man ihm, daß der Gesuchte in der Tat am zweiten Juli hier gewohnt habe. Das Fremdenbuch erteilte diese Auskunft mit Bestimmtheit. Weiter aber war nichts mehr zu erfahren. Die Kellner hatten gewechselt, und es war im Hotel auf keine Weise festzustellen, ob damals Breitenbach telephoniert hatte oder nicht.

Für Bassow blieb nun kein anderer Weg als der Versuch, auf dem Telephonamte nachzufragen und nachzuforschen. Dort war ihm der Umstand günstig, daß jenes Gespräch in der geschäftsstillen Mittagszeit stattgefunden hatte, in der eine einzige Telephonistin den Dienst versah. Sein vornehmer Name machte den höheren Beamten, den er zunächst um Auskunft bat, geschmeidig und höflich, und nach kurzer Zeit hielt Bassow einen Zettel in der Hand, auf dem Mahnung und Name der Telephonistin verzeichnet war, die am zweiten Juli mittags Dienst gehabt hatte. Sie hieß Konradine Börner, und als Charakteristik fügte der Beamte hinzu: »Sie ist eine sehr kränkliche Person, oder sie bildet sich's wenigstens ein. Wir haben unsere liebe Not mit ihr, wie meistens mit solchen Damen aus besseren Ständen. Ihr verstorbener Vater war nämlich Offizier, ein verdienter, tapferer Offizier – Majestät selbst schickten einen Kranz bei seinem Tode. Darum haben wir auch dem Fräulein trotz der vielen Kränkelei nicht gekündigt, was unter anderen Umständen wohl schon geschehen wäre. Aber die Tochter solch eines Offiziers – das ging doch nicht an – nicht wahr, Herr Baron?«

Bassow hörte nur mit halbem Ohr auf die Worte des patriotischen Mannes. Haus und Name dieser kränklichen Konradine Börner interessierten ihn weit mehr, und als er noch erfragt hatte, daß die Gesuchte ganz in der Nähe des Amtes wohne – »Was ja der Pünktlichkeit wegen sehr erwünscht ist, nicht wahr?« – nahm er dankend Abschied und begab sich auf die Suche.

Das bezeichnete Haus war bald gefunden, eins der alten, gotischen Backsteinhäuser mit abgetrepptem Giebel, wie Rostock sie noch besitzt, und in dem die Wohnungen in den oberen Stockwerken immer kleiner und enger, die Fenster immer schmaler werden. Auf anfangs heller und breiter, dann dunkler und steiler emporleitender Treppe stieg Bassow hoch hinan in dem alten Kasten und machte zuletzt vor einer Korridortür Halt, auf der eine Visitenkarte die Wohnung von Konradine Börner, oder vielmehr von ihrer Mutter, der verwitweten Frau Major Börner ankündigte. Ein altmodischer Glockenzug mit baumelndem Holzgriff hing rechts neben der Tür, und Bassow weckte mit seiner Hilfe den Laut einer hell und blechern klingenden Glocke, die, einmal in Bewegung gesetzt, sich nie wieder schien beruhigen zu wollen. Aber sie verstummte doch endlich, und niemand kam. Erst als Bassow mit noch nachdrücklicherem Ziehen ein noch dauerhafteres Geläute vollführt hatte, ließ ein müder, schleppender Schritt sich drinnen vernehmen, und eine ebenso müde und schleppende Stimme fragte durch das Holz der Tür hindurch: »Wer ist denn da draußen? Ich kann jetzt nicht aufmachen.«

»Ich möchte Fräulein Konradine Börner sprechen. Sind Sie Fräulein Börner?«

»Ja, das bin ich. Aber ich kann wirklich nicht aufmachen. Sie müssen ein andermal wiederkommen.«

»Liebes Fräulein, das ist mir nicht gut möglich, weil ich von auswärts komme. Ich bin der Freiherr von Bassow aus Garchim.«

War es auch hier der Freiherrntitel, der ihm nützlich war, – nach einem kleinen Schweigen vernahm er das unsichere Tasten einer Hand innen am Türschloß, und der Eingang tat sich auf. Allerdings vorläufig nur zu einem breiten Spalt, in dem die Figur eines noch nicht alten, aber frühzeitig verblühten Mädchens erschien. Das Gesicht war gelblich-blaß, und von der Nase nach den Mundwinkeln zogen sich ein paar scharfe, frühzeitig eingegrabene Falten hinunter. Den Kopf hatte Konradine Börner mit einem grauseidenen Tuch umbunden, das ein kleines weißes Kissen auf ihrer linken Backe festhalten mußte. Ein intensiver Kamillengeruch ging von ihr aus. Ihr Gesicht erschien in der ovalen, dunklen Umrahmung noch blasser und kränklicher als wohl sonst, ihre großen, braunen Augen schauten halb neugierig, halb mißtrauisch daraus hervor.

Ehe sie die Tür freigab, fragte sie: »Habe ich recht verstanden – Freiherr von Bassow haben Sie gesagt?« Und als er nickte, fügte sie hinzu: »Der Freiherr von Bassow auf Garchim ist ja doch – er ist ja doch gestorben. Das hat in allen Zeitungen gestanden.«

Bassow mußte lächeln, obwohl ihm ernsthaft und aufgeregt zumute war. »Sie haben ganz recht, mein armer Vetter ist ermordet worden. Er hat Garchim vor mir besessen.«

»Ich weiß es – das heißt, daß man ihn ermordet hat. Am zweiten Juli ist es geschehen.«

»Sie wissen sogar noch den Tag?«

»Ja, den werde ich sobald nicht vergessen. An ihm – aber wollen Sie nicht hereinkommen?«

Sie trat bei diesen Worten von der Tür zurück und ließ ihn eintreten. Dann tauchte sie hinein in die tiefe Dämmerung eines langen Korridors und sagte: »Sie erlauben, daß ich vorangehe, Sie finden die Tür sonst nicht; es ist so dunkel.«

Dabei beschleunigte sie die Schritte und öffnete ganz hinten am Korridor eine Tür, aus der nun heller Tagesschein hervordrang. Drinnen lag Sonnenlicht auf einer abgebrauchten, an sich aber altmodisch geschmackvollen Zimmereinrichtung; alles war sauber und blank, weiße Gardinen hingen an dem einzigen Fenster, ein Paar hellrote Efeugeranien blühten dort, und in einem darüber aufgehangenen Bauer sang ein Kanarienvogel sein Lied.

»Bitte, wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Baron?« sagte Fräulein Börner, auf einen steifbeinigen Biedermeiersessel deutend. »Meine Mutter kann ich leider nicht rufen. Sie ist krank – ich bin es eigentlich auch, aber ich habe dazu keine Zeit.«

»Um so freundlicher von Ihnen, daß Sie mir die Möglichkeit geben, mit Ihnen zu sprechen. Es handelt sich um eine für mich sehr wichtige Sache.«

»Entschuldigen Sie einen Augenblick, ich muß erst einmal spülen,« sagte sie und ging zu einem kleinen Tisch am Fenster, wo eine große Tasse auf einem Kaffeewärmer mit Miniaturflämmchen darin stand. Und ihr sonderbares Tun erläuternd, fügte sie hinzu: »Mit Kamillen muß ich spülen. Ich leide so furchtbar an Gesichtsschmerzen, und es gibt kein anderes Mittel, das mir hilft. Aber es muß regelmäßig alle zehn Minuten geschehen, wenn es nützen soll. Also einen Augenblick, – ich bin gleich wieder hier.«

Sie verschwand mit ihrer Tasse, kehrte jedoch, nachdem ein gurgelndes Geräusch im Nebenzimmer laut geworden war, wirklich bald wieder zurück, setzte sich Bassow gegenüber und fragte: »Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Baron?«

»Sie haben mir schon gesagt, daß der zweite Juli noch gut in Erinnerung bei Ihnen sei, darum –«

»Gut ist er nicht bei mir in Erinnerung. Schlecht sogar, so schlecht als möglich. An ihm bin ich so krank geworden, daß ich zehn Tage lang meinen Dienst nicht habe machen können. Aus Aerger, aus furchtbarem Aerger. Jede Aufregung wirft sich mir aufs Gesicht, was ja ganz erklärlich ist, weil es Nervenschmerzen sind, wie der Doktor sagt. Und wenn die Nerven irritiert werden –«

»Ich kann das verstehen, mein Fräulein. Aber wenn Sie sich des ganzen Tages noch genau erinnern, dann auch vielleicht einiger Einzelheiten, die an ihm vorgekommen sind. Können Sie mir zum Beispiel sagen, ob damals ein Herr, der hier im Hotel de Russie gewohnt hat, sich mit dem Hotel Kaiserhof in Berlin hat verbinden lassen?«

»Das war es ja!« rief Konradine Börner, vor Aufregung noch bleicher werdend. »Darum hat sich's ja gehandelt, ich bin deshalb so krank geworden. Ich hatte schon furchtbare Schmerzen, als ich meinen Dienst um zwölf Uhr mittags antrat. Es war nicht viel zu tun, aber mir war vor lauter Schmerzen auch so wirr im Kopfe, daß ich angestrengt gar nicht hätte arbeiten können. Und in solch einem Zustande kann einem doch auch einmal ein kleiner Irrtum passieren.«

»Gewiß, gewiß. Und was war es für ein Irrtum?«

»Das will ich Ihnen sagen. So gegen drei Uhr wurde ich durch eine Herrenstimme vom Hotel de Russie aus angerufen; ich sollte ihn mit Nummer 12+243 in Berlin verbinden. Es riß gerade wieder ganz furchtbar in meinem Gesicht, und ob der Herr nun wirklich undeutlich sprach, oder ob es mir nur so vorkam wegen meiner Schmerzen, – ich mußte zweimal nachfragen, bis ich die Nummer verstand. Ich merkte schon am Ton, in dem er antwortete, daß er sehr ungeduldig war. Das machte mich in meinem Zustand noch mehr verwirrt, und so ist mir's denn passiert. Ich verwechselte die Nummern und verband ihn statt mit 12+243 mit 12+245. Das ist auch ein Hotel, das Zentralhotel in Berlin; er aber wollte mit dem Kaiserhof verbunden werden. Was er dann gesprochen hat, und ob ihm irgend etwas Unangenehmes dadurch passiert ist, weiß ich natürlich nicht. Auf einmal aber werde ich ganz furchtbar angeschrien von einer Stimme, die vor Wut geradezu zittert – vor Wut zittert, anders kann ich es nicht ausdrücken. Und er gebraucht Worte gegen mich – Worte! Wissen Sie, Herr Baron, was er gesagt hat? Eine taube alte Jungfer hat er mich genannt, – bei keinem Telephonamte der Welt sollte man mich dulden. Das hat er gesagt, und ich bin beinahe ohnmächtig an meinem Telephon zusammengebrochen. Wir müssen uns ja vieles gefallen lassen in unserem Beruf, aber so etwas war mir doch noch niemals vorgekommen. Für einen Augenblick habe ich nicht einmal mehr meine Schmerzen gefühlt. Aeußerlich bin ich ganz ruhig geblieben, ganz ruhig und vornehm. Zu mir aber habe ich gesagt: Konradine, das läßt du dir nicht gefallen, der Mensch soll seine Strafe haben, den Menschen verklagst du.«

»Da waren Sie ganz im Recht.«

»Natürlich war ich im Recht. Und ich bin auch gleich, nachdem ich fertig war mit meinem Dienst, in das Hotel de Russie gegangen und habe den Oberkellner gefragt, wer um die und die Zeit am Telephon gewesen wäre. Der Kellner hat es auch gleich gewußt und hat gesagt, ein Herr von Breitenbach hätte telephoniert.«

»Breitenbach!«

»Ja, das Fremdenbuch hat er mir sogar gezeigt. Erich von Breitenbach auf Rittergut Lünzin hat in dem Buche gestanden.«

»Also Breitenbach!« sagte Bassow mehr zu sich selbst als zu dem Fräulein. Da war der Name, den er im stillen erwartet hatte, der ihn aber nun, als er ausgesprochen wurde, doch überraschte.

»Ja, Breitenbach!« wiederholte Konradine Börner mit ganz besonderer Betonung für den verhaßten Namen. »Sie werden fragen, ob ich ihn wirklich verklagt habe. Leider ist es nicht geschehen. Mutter hat mir abgeraten; sie hat gesagt, unsereins könnte doch nichts ausrichten gegen solch einen vornehmen Herrn. Mein Gott, man muß ja froh sein, wenn man eine Stellung hat, um sich notdürftig durchzuschlagen. Und wenn ich bedachte, daß ich Mutter, die schon so viel krank ist, noch neue Sorgen bereiten könnte; da hab ich's denn gelassen. Aber vergessen werde ich diesen zweiten Juli mein Lebtag nicht!«

»Ich danke Ihnen recht herzlich, Fräulein Börner. Sie haben mir einen großen Dienst erwiesen durch Ihre Auskunft.«

»Das freut mich sehr, Herr Baron. Und wenn ich Ihnen sonst noch irgendwie dienen kann, – Sie müssen mich nur wieder einen Augenblick entschuldigen. Ich muß erst noch einmal spülen.«

Bassow stand auf. »Nein, ich möchte Sie nicht länger stören. Was ich wissen wollte, das weiß ich. Nur –« er suchte einen Augenblick nach Worten für das, was er noch sagen wollte – »ich möchte mich Ihnen so gerne dankbar erweisen, – aber Sie dürfen mir's nicht übel nehmen. Und weil Ihre Frau Mutter so viel krank ist – Kranke bedürfen doch manchmal einer Flasche Wein – darf ich Sie bitten, Ihrer Frau Mutter hierfür etwas Derartiges zu kaufen?«

Er hatte ein paar Goldstücke hervorgezogen und legte sie diskret auf einen zur Seite stehenden Tisch, auf dem ein vergilbter Brautkranz unter einer Glasglocke lag.

»Ach, Herr Baron!« Konradine Börner wandte sich ab und brach in Tränen aus.

»Aber ich bitte Sie, warum weinen Sie denn?«

»Ich weine, weil es noch so gute Menschen gibt, und ich weine, weil ich in der Lage bin, daß ich Ihr Geschenk nicht zurückweisen darf.«

»Sie nehmen es an? Das freut mich!«

»Nicht für mich, das täte ich wohl niemals. Aber für meine gute Mutter. Wenn die – mein Gott, aber das ist ja viel zu viel!« Sie war ein wenig näher an den Tisch mit dem Brautkranz herangetreten und sah jetzt erst, was Bassow dort niedergelegt hatte.

»Sie haben mir eben Freude gemacht – machen Sie mir jetzt keinen Kummer, indem Sie mein kleines Geschenk für Ihre Frau Mutter zurückweisen.«

»Nein, nein, – o mein Gott, wenn sie das hätte, dann könnte sie ja die Reise machen! Der Doktor möchte sie nämlich gern in ein Bad schicken, – dort haben wir Verwandte, bei denen sie wohnen könnte, aber das Reisegeld hat uns noch immer gefehlt.«

»Sehen Sie, das paßt ja vortrefflich. Und wenn es nicht genug sein sollte –«

»O, es ist übergenug. Ich weiß nur gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Sie sind ein guter, guter Mensch, Herr Baron –«

Ohne daß er es hindern konnte, hatte sie seine Hand ergriffen und einen Kuß darauf gedrückt. Eine Träne fiel zugleich darauf nieder. Bassow lächelte ein wenig verlegen. »So etwas dürfen Sie nicht tun, mein Fräulein. Und nun muß ich gehen, ich halte Sie schon zu lange auf. Leben Sie wohl. Recht gute Besserung für Sie und Ihre Frau Mutter. Und vielen, vielen Dank.«

»Ich habe zu danken ich habe zu danken, Herr Baron.«

Sie begleitete ihn durch den dunklen Korridor bis zur Ausgangstür. Mit Genugtuung sah Bassow, daß auf dem bleichen Gesicht ein leichtes, freudiges Rot aufgeblüht war. Er gab ihr noch einmal die Hand und sagte: »Und nun schelten Sie mir nicht mehr auf den zweiten Juli. Ohne den wäre ich nicht hier. Wir müssen, was uns das Leben bringt, immer aus einer gewissen Distanz betrachten, dann gewinnt es meist ein anderes Gesicht.«

Er ging, aber Konradine Börner blieb in der Tür stehen und blickte ihm nach, bis er auf der Treppe verschwunden war.

Nun erst konnte sich Bassow mit seinen Gedanken in das Gehörte vertiefen. Der Freude, seinen Zweck erreicht zu haben, mischte sich aber jetzt auch allerlei Zweifel bei. Der geistigen Anspannung folgte die Ernüchterung naturgemäß. Er hatte festgestellt, daß Breitenbach damals wirklich an seinen Vetter telephoniert hatte, daß dieser höchstwahrscheinlich auf Grund jenes Telephongesprächs vorzeitig von Berlin abgereist war, daß also die abendliche Begegnung der beiden verabredet und nicht, wie Breitenbach ausgesagt hatte, zufällig gewesen war. Aber was bedeutete diese Feststellung für eine Schuld Breitenbachs? Doch nur die Verstärkung eines vielleicht möglichen Indizienbeweises, nicht mehr. Der wirkliche Beweis, wenn Breitenbach in der Tat schuldig war, blieb immer noch zu erbringen. Und er sah vorläufig keinen Weg dafür. Das belastete seine Seele, und auf der Heimfahrt klang die Musik der unermüdlichen Räder in ein gleich unermüdliches Grübeln des tief in Gedanken Versunkenen hinein.

Die Züge lagen so, daß er vor Abend nicht in Garchim sein konnte. Derselbe Zug, in dem Breitenbach damals gefahren war, brachte Bassow zurück. Er hatte telegraphisch einen Wagen an die Bahn bestellt und war um zehn Uhr ungefähr zu Hause.

Das erste, was der Diener Franz ihm verkündete, war die Nachricht von der am Nachmittag erfolgten Verhaftung des Mannes, der das Mordattentat auf Herrn von Breitenbach verübt hatte. »Gestanden soll er auch schon haben,« fügte Franz hinzu.

»Gestanden – was?«

»Nun, daß er auf den Herrn von Breitenbach geschossen hat.«

»Und weiter nichts?«

»Was meinen der Herr Baron?«

»Ob er gestanden hat, auch an der Mordtat hier beteiligt gewesen zu sein?«

»Das kann ich nicht sagen, Herr Baron. Wir wissen überhaupt noch nichts Näheres. Nur, daß der Mensch verhaftet ist und daß er gestanden haben soll.«

»Es ist gut, Franz. Wir werden ja morgen alles erfahren.«

Der Diener ging, und Bassow blieb allein in seinem Zimmer. Die neue Nachricht fachte sein aufgeregtes, eben ein wenig zur Ruhe gekommenes Grübeln doch frisch wieder an. Tausend Möglichkeiten erwägend, schritt er lange Zeit auf und nieder. Endlich aber zwang er die durcheinanderwogenden Gedanken mit Gewalt hinab. Sie waren zwecklos, und er haßte die zwecklosen Dinge.

Ans Fenster tretend, sah er nach dem anderen Schloßflügel hinüber. Ja, da drüben bei der Baronin war auch noch Licht. Er wäre gern sogleich zu ihr gegangen, um alles mit ihr zu besprechen, doch es war zu spät, und er hatte sich eigentlich auch vorgesetzt, erst mit einem wirklichen, positiven Ergebnis vor sie hinzutreten. Der Anblick des warmen Lichtscheins aber dort gegenüber wirkte beruhigend auf ihn, ließ das Gefühl die Gedanken übertönen. Alles, was er tat, geschah ja doch nur für sie. Dort hinter jenen warmleuchtenden Fenstern wohnte sein Glück! Und wenn er es auch niemals erreichen, es niemals in Händen halten sollte, wie ein ferner, schimmernder Stern stand es trotzdem an seinem Himmel.

Als er sich endlich abwandte und ins Zimmer zurücktrat, glitt sein Blick flüchtig über die dunklen Baumgruppen des Parkes dahin. Aber dieser eine Blick weckte doch die Erinnerung an das, was ihn den ganzen Tag über zwischendurch schon immer beschäftigt hatte. Der Aufbau des zerstörten Pavillons der Baronin! Der Gedanke daran konnte den Tag friedlich beschließen, seine Seele beschäftigen, eine ruhige Nacht für ihn einleiten.

Er hatte den vorhandenen Plan für den Ersatzbau nicht wieder angeschaut, seit ihn der Staatsanwalt ermächtigt hatte, die auf dem Schreibtisch des Ermordeten liegenden Papiere an sich zu nehmen. Seit jenem Tage ruhten sie wohlverwahrt und fest verschlossen in seinem Geldschrank, in den er sie zu höherer Sicherheit gelegt hatte, weil doch die Untersuchung immer noch einmal auf sie zurückgreifen konnte. Jetzt öffnete Bassow die Geldschranktür und suchte aus den Papieren den Plan für den Pavillon hervor, setzte sich mit ihm an den Schreibtisch und begann, den Entwurf eines offenbar geschickten Architekten zu studieren.

Das Bauwerk war zierlich und hübsch, aber Bassow hätte gern doch noch etwas anderes, ganz Besonderes an seiner Stelle gehabt. Er prüfte, veränderte und verschönerte in Gedanken und betrachtete die saubere Zeichnung, die von dem Original auf Pauspapier übertragen war, immer aufs neue. Dabei schob und hob er sie auch einmal näher an das Licht, um dann unwillkürlich mit der Hand darüber hin zu fahren. Da war etwas gewesen, was ihn störte, was wie ein leichter Fleck auf dem Papier lag. Aber es verging nicht unter seiner Hand, es war kein Staub, kein lose darauf liegender Schmutz. Es war wie ein Schatten, der nur bei bestimmter Haltung des Papieres gegen das Licht hervortrat und wieder verschwand, wenn man das Blatt anders wandte.

Bassow nahm eine Lupe und betrachtete das wunderliche Merkmal mit ihrer Hilfe genauer. Sonderbar! Nun trat es deutlich hervor, ohne sich doch sogleich zu erklären. Ein Eindruck im Papiere war's, ein Eindruck oder Abdruck von ungewöhnlicher Form. Als wenn jemand einen Kreis mit einem ziemlich breitarmigen Kreuze darin auf dem Papier abgedrückt hätte. Sonderbar! Was konnte dies geheimnisvolle, schattenhafte Zeichen aus dem Papier bedeuten? Bassow saß und schaute, schüttelte den Kopf und schaute wieder. Um dann plötzlich aufzuspringen, von einem überraschenden Gedanken emporgejagt. Von einem Gummiabsatz unter einem Stiefel mußte dieser Abdruck herrühren! Es gab viele Männer, die sich solcher Absätze bedienten; es fiel Bassow ein, wie häufig er im Winter solche Kreise mit Kreuzen abgepreßt im Schnee gesehen hatte. Hier aber an diesem Abdruck zeigte sich bei genauer Prüfung noch ein besonderes Kennzeichen. Eine der Ecken, die durch das Zusammentreffen von zwei Kreuzesarmen gebildet wurden, war offenbar im Gummi durch einen scharfen Stein oder ein Eisen abgestoßen worden und fehlte. Darum auch hier im Abdruck. Das Papier mußte – darüber war sich Bassow nun ganz klar – zu Boden gefallen sein, der Träger des Absatzes mußte den Fuß, wahrscheinlich auf einem weichen Untergrunde, darauf gesetzt und so den Abdruck – vermutlich ganz unbewußt – erzeugt haben.

»Mein Gott, mein Gott, wenn sich hier ein Weg auftäte zur Klarheit!« Bassow hatte die Hände ineinandergekrampft und murmelte die Worte mit bebenden, zuckenden Lippen. Aber nur keine Trugschlüsse, keine Ungenauigkeiten oder Uebereilung! Alles mußte ganz genau, ganz ruhig durchdacht werden, so ruhig wenigstens, als es möglich war bei diesem wild klopfenden Herzen. Es war ja Zeit, und hier war Einsamkeit, Stille; die ganze Nacht lag vor ihm für solche Prüfung der Dinge. Sich zur Ruhe zwingend, begann er durchzudenken, was geschehen war, langsam, sorgfältig, von Schritt zu Schritt, geduldig fortschreitend. Bassow rief sich genau zurück, was man ihm gesagt hatte. Die Baronin hatte den Brief empfangen, in dem dieser Plan geschickt worden war, hatte das an sie gerichtete Schreiben geöffnet und am Abend zusammen mit der Zeichnung und anderen Papieren persönlich auf den Schreibtisch ihres Mannes gelegt. Auf diesem Tische war es denn auch nach der Ermordung am anderen Morgen gefunden worden, doch hatten die verschiedenen Blätter ein wenig ungeordnet umhergelegen, und auch das goldene, später im Toten See gefundene Falzbein, womit nach ihrer eigenen Aussage die Baronin die Papiere beschwert hatte, war verschwunden gewesen. Die Schriften hatten hinterher aber stets in dem fest verschlossen gehaltenen Zimmer gelegen, bis Bassow selbst sie von dort entfernte; außer den Gerichtspersonen hatte sie niemand berühren können.

Das waren die Tatsachen, womit Bassow zu rechnen hatte, doch ging er, bevor er weitere Schlüsse zog, noch einmal an den Geldschrank und holte Begleitschreiben und Briefumschlag der Zeichnung hervor. Auf keinem von beiden war eine Spur jenes Hufeisenabdrucks zu sehen. Er mußte sich also entweder bereits vor Absendung des Planes darauf befunden haben, – und das war sehr unwahrscheinlich, weil durch die Zusammenpressung der Briefe in einem Postpakete der Abdruck auf dem feinen Pauspapier wahrscheinlich sehr an Deutlichkeit verloren hätte, – oder das verräterische Zeichen war ihm hier in Garchim erst ausgeprägt worden. Auch die Zeitgrenzen, innerhalb deren dies geschehen sein konnte, ließen sich mit großer Genauigkeit feststellen. Der Brief trug einen Stempel, der besagte, daß er am zweiten Juli in den Morgenstunden zwischen sieben und acht Uhr in Berlin aufgegeben worden war. Er mußte demnach mit der Nachmittagspost desselben Tages, die gegen sechs Uhr nach Garchim kam, eingetroffen sein. Abends hatte die Baronin das Papier in ihres Mannes Zimmer gelegt; es blieben also nur wenige Stunden, in denen das Abzeichen auf den Plan gekommen sein konnte.

Und nun erfolgte in Bassows Geist ein wunderbarer Vorgang. Es war ihm, als wenn er plötzlich in einer Halluzination das vor sich erblickte, was an jenem schwülen Sommerabend im Zimmer seines Vetters geschehen sein konnte. Er selbst befand sich in diesem Zimmer, das zuerst nur unerkennbar wie schwarze Nacht in tiefster Finsternis ihn umgab. In die Finsternis hinein dann ein Ton. Ein langsames, leises, mühsames Tasten und Arbeiten am Schlosse der Glastür nach dem Park hinaus, ein Klang des umgedrehten Schlüssels, ein Sichöffnen der Tür. Zugleich das Eindringen eines ganz matten Lichtes aus dem dunklen Park in das tiefschwarze Zimmer herein. Und in der hohen, länglich viereckigen, von solch mattem Licht erfüllten Oeffnung die finstere Silhouette einer Menschengestalt. Nein, zweier Gestalten. Bassow sah das, weil sich die erste zur Seite wandte. Sie trug die zweite, bewegungslose auf ihrem Rücken, indem sie deren Arme über ihre Schultern gezogen hatte und an den Händen festhielt. Und weil diese zweite, getragene Gestalt viel kleiner war, als die erste, konnten ihre Füße nicht auf den Boden kommen, konnten keine Spur zurücklassen. Jetzt waren beide Gestalten verschwunden, hineingetaucht in die Finsternis des Zimmers. Nur noch ein langsamer, vorsichtig tastender Schritt, ein lautes, aufgeregtes Atmen aus der Dunkelheit hervor. Dann ein plötzlicher, krachender Ton, doppelt laut in der tiefen Stille der Nacht. Ein Stuhl mußte gestürzt sein, der im Wege gestanden hatte. Gräßliches, angstvolles Schweigen folgte, nur auch jetzt unterbrochen von den lauten, raschen Atemzügen des unsichtbaren Mörders. Aber der stürzende Stuhl hatte keinen Menschen herbeigerufen; in den weiten Räumen des großen Gebäudes war der Ton ungehört verhallt und gestorben. Wieder nun der langsame, tastende Schritt, ein Hinstreifen an Möbeln, ein Knistern von Papier, das Rücken von einem Sessel, ein leiser, schwerer, dumpfer Ton, und endlich ein befreites Aufatmen aus tiefer Brust. Und auf einmal die große, schwarze Gestalt abermals vor der blassen Helle der Türöffnung, die nun verschlossen wurde und verschwand. Erneutes Tasten, Schweigen und Schleichen, dann ein plötzliches Aufleuchten der elektrischen Lampe, die auf dem Schreibtische stand, von einem grünen, seidenen Schirm umhüllt, und ihr Licht ergoß über das bleiche Gesicht eines toten Mannes im Sessel davor, über ein paar beim Niederlegen des Körpers herabgestreifte, zu Boden gefallene Papiere, über die große Gestalt eines anderen Mannes, der wieder herangetreten war und sich niederbeugte, um die Papiere vom Boden aufzuheben und auf den Tisch an ihren Platz zu legen. Jetzt fiel das Licht auch auf das Gesicht des zweiten Mannes, – und Bassow kannte das Gesicht!

Rasch, wie vorübergleitende Schatten waren die Bilder gekommen und gegangen. Er strich sich mit der Hand über Stirn und Augen, versuchte zu lachen, und schauderte zugleich zusammen. Ja, so konnte geschehen sein, was jener Abend mit seiner Dunkelheit umhüllt hatte. So konnte der Mörder, den Toten in der Finsternis hereinschleppend in sein eigenes Zimmer, die Papiere vom Schreibtisch herabgestoßen und sie achtlos wieder daraufgelegt haben, ohne zu bedenken, daß er darauftretend mit seinem Fuß eine deutliche Spur daraufgeprägt hatte. Eine Spur, die nur von ihm stammen konnte, die den Herren vom Gericht entgangen war, die aber Bassow im hellen Scheine des elektrischen Lichtes entdeckt hatte und nun in seinen Händen hielt. Wenn seine Schlüsse richtig waren, dann bedeutete diese Spur den Beweis einer abscheulichen Tat, und er war entschlossen, ihr nachzugehen bis ans Ziel, sobald der neue Morgen heraufstieg.

Als aber dieser Morgen mit hellem, nüchternem Lichte wirklich kam, da wurden in der Seele Bassows die nächtlichen Phantasiebilder merkwürdig blaß. Er fragte sich, ob seine Kombinationen standhalten könnten vor der Beleuchtung ruhigen Ueberlegens, ob er sich wirklich auf richtiger Spur befände, ob die neue, gegenwärtig von den berufsmäßigen Vertretern des Rechtes verfolgte Fährte nicht möglicherweise doch eher ans Ziel führen könne als die Versuche des dilettantischen Helfers. Ein plötzlicher Gedanke trieb ihn ans Telephon. Er ließ die Verbindung mit der Gendarmeriestation herstellen und bat um Untersuchung, ob der Verhaftete vielleicht mit Gummiabsätzen beschlagene Stiefel trage. Der Wachtmeister, der ans Telephon gekommen war, hatte zunächst einige Mühe, ihn zu verstehen, zuletzt aber begriff er und versprach sofortige Prüfung.

Bevor sie vollendet war, verging einige Zeit, und sie erschien Bassow noch zehnmal so lang. Endlich aber ertönte die Klingel, er konnte zum Telephon eilen und eine Antwort vernehmen, bei der er bleich vor Ueberraschung zurücktrat: »Ja, der Gefangene trug solche Stiefel!«


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