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Zweites Kapitel

Das Gewitter, das die Baronin vorhergesagt hatte, war in der Nacht um ein Uhr losgebrochen und hatte mit wildem Lärm von Donner, Sturm und wolkenbruchgleichen Regengüssen die Luft erfüllt. Es regnete noch weiter, als der frühe Sommertag – ein wenig dunkler und später als gewöhnlich – die Nacht ablöste. Der Wind war umgesprungen, und es war kühl geworden. Er wehte, statt von Süden, jetzt beinahe aus Norden und schien die grauen, rasch treibenden Wolken den gleichen Weg zurückzujagen, den sie am vergangenen Tage vergeblich gemacht hatten.

Als flüchtete sie gleich ihnen vor einem unsichtbaren Feinde, so stürmte in der Frühe des Morgens eine weibliche Gestalt über die Treppen und Korridore des Schlosses, eilte bis zum äußersten rechten Flügel des ersten Stockwerks und pochte hier mit unsicheren, bebenden Fingern an eine Tür. »Frau Baronin! – Frau Baronin!« rief sie dabei mit einem Ton, in dem Furcht und Hast merkwürdig durcheinander klangen.

Ueberraschend schnell öffnete sich die Tür, und schon völlig angekleidet, obwohl es noch nicht viel über fünf Uhr war, erschien die Baronin zum Erstaunen des Hausmädchens, das nach ihr gerufen hatte, auf der Schwelle.

»Frau Baronin sind schon auf, – ach, ich habe der Frau Baronin etwas Furchtbares zu melden.«

»Was denn? Sprechen Sie!«

»Ja, der Gärtner, der ist nämlich heute besonders früh in den Park gegangen, weil er hat sehen wollen, was das Unwetter für Schaden getan hat, und da – hat er den Herrn Baron gefunden.«

»Im Park?«

»Nein, in seinem Zimmer, – tot in seinem Zimmer!«

»Um Gottes willen, – Rosa! Das ist ja furchtbar, – furchtbar!« Sie taumelte und hielt sich an einem Stuhl. Das Mädchen eilte hinzu, um ihr beizustehen, doch machte sie eine abwehrende Handbewegung.

»Lassen Sie, Rosa, es handelt sich nicht um mich. Tot, sagen Sie, – ermordet?«

Erstaunt blickte das Mädchen sie an. »Frau Baronin verzeihen, das habe ich nicht gesagt. Der Gärtner sprach von einem Schlaganfall.«

Die Baronin grübelte einen Moment stumm vor sich hin, dann fragte sie: »Und in seinem Zimmer ist er gefunden worden, – wie ist das möglich?«

»Ich weiß es nicht, Frau Baronin, aber der Gärtner –«

»Nein, Sie brauchen es mir nicht zu wiederholen, er soll es mir selber sagen.« Damit warf sie sich einen Mantel über, der neben der Türe hing, und eilte vor dem Mädchen her über Korridor und Treppe nach unten.

Der größte Teil der Dienerschaft war, geweckt von der Schreckensnachricht, bereits wach und auf den Beinen; die große Tür zum Park hinaus war geöffnet, aber die Baronin achtete in ihrer atemlosen Aufregung nicht auf diese Uebertretung ihres Befehles vom vergangenen Abend. Auf die Tür wies das Mädchen. »Das Zimmer ist nach dem Korridor hin, glaube ich, noch verschlossen. Vom Garten aus ist der Gärtner hineingekommen.«

Ohne weiter zu fragen, ging die Baronin mit unverminderter Hast aus der großen Ausgangstür auf die Terrasse hinaus, die schwarz und glänzend vom Wasser war, und auf die der Regen immer noch mit unverminderter Gewalt niederprasselte. Sich nahe der Hauswand haltend, kam die Baronin mit ihrer Begleiterin an mehreren dicht verschlossenen Fenstern des Erdgeschosses vorüber bis zu einer Glastür, an der ein Flügel geöffnet war. Die von innen davorgelegten Läden waren bisher weder hier, noch an den beiden Zimmerfenstern rechts und links von der Tür geöffnet worden, doch ließ im Zimmer brennendes elektrisches Licht genau erkennen, was in dem Raum vorging.

Einen Augenblick zauderte die Baronin hier, sich in einer Anwandlung von Schwäche am Türpfosten haltend, und schaute auf die beiden Männergestalten, die sich drinnen bewegten und mit einer dritten, unbeweglichen beschäftigt waren. Dann trat sie hinein und sagte mit heiserer, aber fester Stimme: »Vor allen Dingen machen Sie die Läden auf und lassen Sie das Tageslicht herein.«

Der Gärtner ging mit den unsicheren, scheinbar auch vom Schrecken gelähmten Schritten des Alters an das eine der Fenster, der Diener, der als zweiter im Zimmer war, eilte behender mit jugendlichem Eifer an das andre. Seine rascheren Hände hatten die Läden an diesem Fenster und auch an der Glastür bereits geöffnet, als der Gärtner erst mit denen des andern Fensters zurechtgekommen war.

Nun ging die Baronin mit ein paar schnellen Schritten bis zu dem Sessel, in dem die unbewegliche Gestalt lag, kniete nieder und faßte die eine der schlaff herabhängenden Hände, um sie sogleich, wie von ihrer Kälte durchschauert, wieder sinken zu lassen. »Ist keine Hilfe mehr?« fragte sie zu gleicher Zeit. »Warum ist sein Gesicht so furchtbar verzerrt? Haben Sie schon an den Arzt telephoniert?«

Franz, noch röter als sonst im Gesicht vor Aufregung, antwortete mit gepreßter Stimme: »Leider ist wohl nichts mehr zu machen, Frau Baronin. Ich war eine Zeitlang bei der Sanitätskolonne und weiß ungefähr, was in solchen Fällen zu tun ist. Ich habe auch schon Verschiedenes versucht. Aber wenn Frau Baronin befehlen, werde ich gleich an den Herrn Kreisphysikus telephonieren.«

»Selbstverständlich muß das geschehen. Sie hätten das bereits tun können. Aber vor allem tragen Sie beide meinen Mann dorthin auf den Diwan. Wenn noch Hilfe möglich sein sollte –« Sie brachte den Satz nicht zu Ende, sondern wiederholte ihren Befehl nur mit den hastigen Worten: »Rasch, tragen Sie ihn dort hinüber.«

Die Männer gehorchten, und nach wenigen Minuten lag der starre Körper auf einem großen und breiten, mit Fellen überdeckten Diwan, auf dem seine Gestalt merkwürdig zart und klein erschien.

Als der Diener hinausgegangen war, um zu telephonieren, wandte die Baronin sich an den Gärtner und sagte in einem weicheren, umschleierten Ton: »Jetzt, Beckmann, erzählen Sie mir genau, wie Sie meinen armen Mann gefunden haben.«

Der Angeredete fuhr sich zuerst mit der Hand über den kahlen Kopf, als wenn er eine Last fortschieben müßte, die dort bedrückend lag, und begann dann seinen Bericht: »Ja, Frau Baronin werden doch das Unwetter gehört haben in dieser Nacht. Mich hat es nicht wieder einschlafen lassen; ich habe immer an mein Beet mit den Musas denken müssen, ob es die nicht ganz zerfetzt hat. Und so bin ich denn gleich nach fünf Uhr aufgestanden und habe mich angezogen und bin hinausgegangen in den Park –.«

»Das alles weiß ich, das hat Rosa mir bereits erzählt. Wie war es weiter? Wie sind Sie hier in das verschlossene Zimmer gekommen?«

»Es war nicht verschlossen! Das war es ja, was mich so gewundert hat. Es war eben nicht verschlossen. Und ich habe das gesehen, wie ich so durch den Regen an der Terrasse hingehe. Da sehe ich so ganz von ungefähr hier nach dem Schlosse herüber, und da steht unter all den fest abgesperrten Türen und Fenstern an dieser einen, einzigen Glastür der eine Flügel weit offen. Na, und weil wir doch gehört hatten, daß der Herr Baron verreist wären, hat mich das um so mehr gewundert. Und ich habe mir erlaubt, näher heranzugehen –.«

»Die Tür war offen, sagen Sie? Wirklich weit offen?«

»Der eine Flügel, der mit dem Handgriff. Ich denke mir, der Herr Baron hat ihn wohl nicht ganz fest genug zugemacht beim Hereinkommen, und in der Nacht hat ihn dann der Gewittersturm aufgerissen und ins Zimmer hineingedrückt. Auch den Regen hat es ein Stück weit hineingetrieben, wie Frau Baronin dort noch auf dem Fußboden bemerken können.«

»Und hat niemand vom Dienstpersonal meinen Mann gesehen beim Nachhausekommen?«

»Nein, soviel ich bis jetzt gehört habe, niemand. Aber wenn der Herr Baron einmal unvermutet von einer Reise oder einem Ausflug zurückgekommen sind und haben sich nicht mit dem Wagen abholen lassen von der Station, sondern sind zu Fuß den Richtweg durch den Park gegangen, dann haben der Herr Baron doch öfter schon die Tür hier selbst aufgeschlossen und sind so direkt in das Zimmer gegangen. Besonders wenn es schon spät gewesen ist, und Herr Baron die Frau Baronin nicht mehr stören wollten. Das ist doch in letzter Zeit namentlich ein paarmal vorgekommen, soviel ich gehört habe.«

»Das ist richtig, Beckmann. Und wie haben Sie den Armen gefunden?« Bei diesem erneuten Ausdruck des Mitleides war wieder ein flüchtiger weicher Ton in ihrer Stimme, doch kamen auch jetzt keine Tränen in ihre Augen.

»Auf dem Sessel dort vor dem Schreibtisch hat er gelegen, ganz hintenüber und mit herunterhängenden Armen. Und ich bin so furchtbar erschrocken gewesen, daß ich mir gar nicht zu helfen wußte. Und dann habe ich Licht gemacht und habe den Franz geweckt und –«

»Es ist gut. Wie kommt es, daß der Stuhl dort am Boden liegt? Haben Sie ihn umgestoßen?«

»Ich? Nein, Frau Baronin. Er hat schon gelegen, wie ich hier hereingekommen bin. Es hat mich auch gewundert, aber ich habe mir gedacht, Herr Baron haben sich vielleicht an dem Stuhl halten wollen, wie ihm schlecht geworden ist, und er hat ihn dann mit umgerissen.«

Sie blickte scharf, mit prüfenden Blicken auf die Stelle.

»Sie haben etwas Falsches gedacht, Beckmann,« sagte sie dann. »Wenn die Sache so wäre, müßte mein Mann dort gleich neben dem Stuhl zu Boden gestürzt sein. Ueberhaupt sehe ich hier Zeichen von Unordnung, die ich nicht verstehe. Das Fell unter dem Schreibtisch ist verschoben, die eine Schublade, in der die Schlüssel stecken, steht halb offen und sieht aus, als wenn man darin gewühlt hätte. Auch die Briefe hier auf dem Tisch liegen unordentlicher, als ich sie hergelegt habe gestern abend. Wenn ich wüßte, – haben Sie schon nachgesehen, ob nichts von den Sachen fehlt, die mein Mann bei sich zu tragen pflegte?«

»Nein, nein, Frau Baronin, wie hätte ich mir das herausnehmen können!«

»Aber jetzt müssen Sie's tun. Ich kann es nicht, kann ihn nicht berühren! Sehen Sie nach – in seinen Kleidern, in seinen Taschen. Sind Uhr und Portemonnaie noch vorhanden?«

Er gehorchte und untersuchte mit vorsichtigen Händen die Gewandung des Toten. Auch die Baronin trat nahe zu ihm heran, und bald hatten sie herausgefunden, daß Brieftasche, Uhr und Portemonnaie nicht mehr vorhanden waren. Weiter umhersuchend, erkannte die Baronin, daß auch ein goldenes Falzbein fehlte, womit sie die Papiere auf dem Schreibtisch am Abend vorher beschwert hatte. Nun musterte sie mit erneuter und erhöhter Aufmerksamkeit auch Gesicht und Körper ihres Mannes, um plötzlich mit halblautem Schrei zurückzufahren.

»Es ist ein Mord, Beckmann, kein Schlaganfall! Sehen Sie her. Sehen Sie diese blutunterlaufenen Spuren an seinem Hals? Einem gemeinen Raubmord ist mein Mann zum Opfer gefallen.«

»Um Gottes willen!«

»Gehen Sie sofort und setzen Sie die Gendarmerie in Kenntnis. Gehen Sie, gehen Sie!«

Eilig machte der Gärtner sich auf den Weg, um den Befehl der Baronin auszuführen, und sie blieb allein bei der stummen, regungslosen Gestalt auf dem Diwan.

Lange Zeit blickte sie starr darauf nieder, um dann den Kopf langsam ein paarmal zu bewegen, als wenn sie dem Toten zunickte; leise sagte sie dabei vor sich hin:

»Also vorbei für immer.« – – –

Eine halbe Stunde später ungefähr hörte sie ein vorsichtiges Räuspern an der Glastür. Aus ihrer tiefen Versonnenheit schaute sie empor auf diesen Ton. »Was gibt es, Rosa?« fragte sie rasch. »Ist jemand von der Gendarmerie gekommen?«

»Nein, Frau Baronin. Aber eben sprengte ein Reiter in den Hof. Es ist der Herr von Breitenbach und er fragt, ob er die Frau Baronin sprechen könnte. Und weil er doch der nächste Gutsnachbar ist –«

Die Baronin wiegte den Kopf ungeduldig hin und her.

»Ich möchte jetzt niemanden sehen.«

»Ich habe gleich gesagt, daß ich nicht glaube, Frau Baronin würden ihn empfangen können. Er ist aber in so großer Aufregung und läßt sagen, er hätte der Frau Baronin etwas mitzuteilen über den Herrn Baron.«

»Das ist etwas anderes. Lassen Sie ihn kommen, – hierher. Die beiden waren ja Freunde.«

Rosa verschwand, und nach wenigen Augenblicken verdunkelte sich die Glastür durch den Eintritt einer ungewöhnlich großen und breiten Männergestalt. Die Baronin war auf ihrem Platze stehen geblieben und erwartete unbeweglich das Näherkommen des Eintretenden. Mit großen Schritten, mit einer wiegenden Bewegung seines hohen Körpers ging er auf sie zu und streckte die Hände nach ihr aus. Dabei sprach er mit einer sonst wohl kräftigen und lauten, im Augenblick stark abgedämpften Stimme: »Ja, ist es denn möglich? Ist es denn wahr?«

Sie wies mit einer Bewegung des Armes auf den Toten. »Es ist wahr. Sehen Sie hin.«

Er trat ein wenig näher, jedoch nicht bis unmittelbar zu dem Diwan, und blickte schweigend ein paar Augenblicke nieder auf den Gestorbenen. Dann hob er die Hand, um die Augen damit zu bedecken und murmelte: »Mein armer, armer Freund!«

Als er sich nun wieder zu der Baronin umwandte und sein Gesicht nach dem Lichte kehrte, konnte sie sehen, daß er in Wahrheit im Innersten erregt war. Sein volles, ganz glatt rasiertes Gesicht, in dem sonst mehr vom Lebensgenuß als vom Leiden zu lesen war, hatte alle Farbe verloren, und es zuckte um seinen Mund wie von verhaltenen Tränen oder von einer nervösen Regung. Dann begann er wieder mit seiner künstlich gedämpften Stimme zu sprechen: »Ich bin gleich herübergeritten auf die erste Nachricht hin. Unglücksbotschaften fliegen ja schnell. Ich bin gekommen, Ihnen meine Dienste anzubieten und –«

»Sie hätten mir etwas über ihn mitzuteilen, sagte das Mädchen.«

»Ganz recht. Ich war nämlich gestern abend noch mit ihm zusammen.«

»Gestern? Mit ihm?«

»Ja, ich glaube sogar, daß ich der letzte gewesen bin, der ihn lebend gesehen hat, bevor dieser traurige Unfall ihn getroffen hat.«

»Es war kein Unfall,« fiel die Baronin Herrn v. Breitenbach ins Wort.

»Was meinen Sie?«

»Es war Mord. Nach meiner festen Ueberzeugung war es Mord.«

»Um Gottes willen! Aber durch wen, aus welchen Motiven?«

»Ein Raubmord, so viel ich beurteilen kann. Es fehlen verschiedene Wertgegenstände, und hier an seinem Halse können Sie Spuren von etwas Furchtbarem sehen. Man hat ihn erwürgt.«

Breitenbach stieß einen dumpfen Laut aus und verhüllte sich abermals die Augen mit der Hand. »Ach, zeigen Sie mir das nicht, ich kann es nicht sehen!«

Mit einer Art von Erstaunen betrachtete sie den Erschütterten. »Auch ich muß es sehen,« sagte sie dann, »und ich habe ihn doch einmal geliebt. Aber wie Sie wollen.«

»Erzählen Sie mir nun, wo Sie meinen Mann getroffen haben und was er mit Ihnen gesprochen hat.«

Er atmete scheinbar erleichtert auf. »Wir haben einander ganz zufällig auf der Bahn getroffen, im Zuge. Bassow kam von Berlin zurück, ich von Rostock. Als ich einstieg, sah ich ihn gleich und setzte mich zu ihm ins Coupé. Mir war es außerordentlich lieb, ihn zu treffen, denn ich hatte eine geschäftliche Sache mit ihm zu verhandeln. Sie wissen, Baronin, daß ein Stück von meinem Gute – der Teil da drüben mit dem toten See – tief in das Ihrige eingreift, eine Halbinsel gewissermaßen, die auf zwei Seiten von Ihrem Besitz umgeben ist. Bassow hatte schon lange den Wunsch, zu arrondieren, dieses Stück zu erwerben. Ich hatte früher nie davon wissen wollen, wegen des wertvollen Waldbestandes gerade auf diesem Fleck. Seit aber der Windbruch im Frühjahr die meisten von den Bäumen gefällt hat, liegt die Sache für mich anders, und gerade in diesen Tagen hatte ich mich entschlossen, ihm seinen Wunsch zu erfüllen.«

»Darüber also haben Sie mit ihm gesprochen?«

»Ja, jedoch erst, als wir den Zug verlassen hatten. Im Coupé waren verschiedene Leute, vor denen Geschäftliches besser nicht verhandelt wurde. So schickte ich meinen Wagen, den ich an die Station bestellt hatte, wieder zurück, weil Bassow unerwartet heimkam und zu Fuß gehen wollte. Darauf sind wir ganz langsam zusammen den Feldweg gegangen. Wir konnten uns über den Preis nicht einigen, darum haben wir geraume Zeit auf dem Wege zugebracht. Etwa eine Viertelstunde haben wir auf einer Bank am Waldrand gesessen.«

»Und es ist Ihnen unterwegs nichts Verdächtiges begegnet?«

»Ja; da Sie mich fragen, fällt es mir ein. Sie wissen, der Feldweg führt eine Strecke durch den Wald. Er ist nur schmal dort, und es war schon sehr dämmerig. An dieser Stelle ist uns ein Mann begegnet. Genau habe ich ihn nicht erkennen können, aber trotzdem war etwas in der Erscheinung, was mir auffiel und mich veranlaßte, mich nach ihm umzusehen. Er war stehengeblieben und sah uns ebenfalls nach; als ich nach einer Weile noch einmal zurückschaute, schien es mir, als wenn er umgekehrt und ein Stück hinter uns hergekommen wäre.«

»Wie sah er aus?«

»Ich sagte schon, es war sehr dämmerig an der Stelle. Das aber habe ich doch erkennen können, daß es ein großer Mann war, beinahe so groß wie ich selbst, und daß er in gebeugter Haltung ging.«

»Gebeugt und groß – dann glaube ich nicht –«

Sie brach plötzlich ab; es war, als wäre sie über die eigenen Worte erschrocken.

Mit einem raschen Blick, bei dem in seinen hellgrauen Augen ein eigentümlicher, harter Stahlglanz aufleuchtete, blickte Breitenbach ihr ins Gesicht. Eine Sekunde lang schwieg er, als wenn er ihr plötzliches Verstummen um so deutlicher hervorheben wollte; dann erst folgte seine Frage: »Baronin, Sie haben einen Verdacht?«

»Nein, nein, keinen Verdacht. Warum sagen Sie das?«

Ganz rasch, mit wenig Atem kamen ihre Worte hervor.

»Weil Sie den Satz, den Sie angefangen hatten, unvollendet ließen.«

»Ich bin unruhig, zerstreut, ist das ein Wunder an diesem furchtbaren Morgen? Und immer kommt noch niemand von der Polizei! Würden Sie den Mann, dem Sie begegnet sind, wiedererkennen?« fügte sie dann unvermittelt hinzu.

»Sein Gesicht, nein. Aber seine Figur mit ihrer auffallenden Haltung ist mir deutlich im Gedächtnis geblieben. Und wenn ich etwas dazu beitragen könnte, den Schändlichen zu ermitteln, der mir den liebsten und nächsten Freund ermordet hat –«

Sie unterbrach ihn. »Ist in Ihrem Gespräch mit meinem Manne nicht irgendein Wort gefallen, das auf eine Spur leiten könnte?«

»Nein, wir haben lediglich über unser Geschäft gesprochen, das nicht zum Abschluß kommen wollte und auch tatsächlich noch nicht zum Abschluß gekommen ist. Ich glaube, daß er den Mann, der uns begegnete, kaum beachtet hat.«

»Ich spreche nicht von diesem Manne, der meiner Ansicht nach nichts mit der Sache zu tun hat.«

»Aber Baronin!«

»Nehmen Sie an, daß ich meine Gründe habe, um das zu sagen, daß ich sie aber vorläufig noch nicht aussprechen möchte.«

Sie hatte jetzt volle Sicherheit in Ton und Haltung wiedergefunden und stand mit ihrem bleichen Gesicht ganz ruhig vor ihrem Besucher. Und mit gleicher Sicherheit fügte sie nun hinzu: »Nein, ich frage, ob nicht gestern oder sonst in letzter Zeit mein Mann irgend etwas gesagt hat, was für die Nachforschung nach dem Mörder nützlich werden könnte. Früher ist er öfter mit Bettelbriefen belästigt worden – vielleicht – hat er von etwas Derartigem nicht gesprochen.«

Mit immer schärferer und nachdrücklicherer Prüfung hatte Breitenbach seine Blicke auf ihrem Gesichte ruhen lassen, und immer stärker war der Stahlglanz in seinen Augen geworden. Wer auch seine Stimme war ganz ruhig, als er nun antwortete: »Nein, davon hat er niemals mit mir gesprochen, weder gestern, noch früher.«

»Und wo haben Sie sich von ihm getrennt?«

»Ich bin bis zu der nächsten Tür im Parkgitter mit ihm gegangen und habe mich dort von ihm verabschiedet.«

»Die Tür war verschlossen?«

»Gewiß. Er zog den Schlüssel hervor und öffnete.«

»Und schloß er sie hinter sich wieder ab?«

»Das ist meines Wissens bei dieser Türe nicht nötig. Sie fällt von selbst ins Schloß, wenn man sie zuzieht.«

»Ja, das ist richtig. Und Sie haben hinterher nichts mehr gehört? Keinen Ton, keinen Schrei?«

»– Nein – nichts.«

Sie öffnete die Lippen zu einer Antwort oder zu einer weiteren Frage, doch wurde sie durch unerwartetes Erscheinen Rosas in der offen gebliebenen Glastür verhindert, sie auszusprechen. Halblaut meldete das Mädchen: »Der Herr Wachtmeister von der Gendarmerie ist eben angekommen.«

Die Baronin befahl ihr, den Mann sofort hereinzuführen, und als das Mädchen wieder gegangen war, trat Breitenbach auf sie zu. »Gestatten Sie mir, mich zu verabschieden, Baronin, und zugleich etwas nachzuholen, was ich im Schrecken und in der Unruhe dieses Tages bisher leider versäumt habe.« Seine Mienen hatten sich verändert, und er sprach wieder in dem weichen, vibrierenden Tone, wie bei seinem Eintreten: »Ich habe versäumt, Ihnen meine tiefste, herzlichste Teilnahme bei diesem großen, jähen Verluste auszusprechen.«

Mit einer energischen Bewegung richtete sich die Baronin auf; die Linien ihres Gesichtes wurden fest und hart. »Lassen Sie das, Herr von Breitenbach, wir wollen keine Komödie miteinander spielen. Es weiß niemand besser als Sie, sein vertrauter Freund, wie mein Verhältnis zu meinem Manne sich seit einem Jahr ungefähr verändert hat. Sie wissen, daß wir einander geliebt haben, schwärmerisch, leidenschaftlich, – Sie wissen aber auch, daß diese Liebe in uns gestorben ist. Nicht erst heute habe ich meinen Mann verloren. Wie sehr ich den Lebenden betrauert habe, ist meine Sache. Sie meinen es gut, und ich danke Ihnen, aber ich bitte Sie, sprechen Sie mir nicht von Teilnahme.«

Einen Augenblick schien Breitenbach nach einer Antwort zu suchen, dann aber verbeugte er sich tief und sagte nur: »Wie gnädigste Baronin befehlen.« Damit ging er durch die Glastür in den Park hinaus.


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