Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel

Bassow hatte nur wenig in dieser Nacht geschlafen, war schon um fünf Uhr aufgestanden und hinuntergegangen auf den Hof, um zu sehen, ob die Leute bei der Arbeit waren. Er hatte dann die Anwesenden um sich her antreten lassen und ihnen eine kleine Ansprache gehalten, in der er ihnen strengste, unverbrüchliche Pflichterfüllung auf die Seele gebunden und ihnen gleiche Pflichterfüllung von seiner Seite versprochen hatte. Fest und ernst war der Ton seiner Worte gewesen; trotzdem hatten die Arbeiter hinterher untereinander gesprochen: der neue Baron scheine ein guter Herr zu sein, – streng, aber gut.

Den weiteren Vormittag hatte Bassow mit allerlei Schreibereien zugebracht und saß jetzt in seinem Zimmer dem Staatsanwalt von Sieglitz gegenüber, der am Nachmittag vorher an der Trauerfeier teilgenommen und ihm gesagt hatte, daß er am folgenden Morgen wieder auf das Schloß hinauskommen würde. Tatsächlich war er denn auch schon zeitig erschienen, hatte noch einmal das Arbeitszimmer des Ermordeten mit äußerster Sorgfalt besichtigt und sodann eine Unterredung mit der Baronin gehabt. Nun sprachen und berieten die beiden Männer schon eine geraume Zeit miteinander.

Nach einer Pause sagte Bassow, scheinbar mit einiger Ueberwindung: »Sehr dankbar wäre ich Ihnen, Herr Staatsanwalt, wenn Sie mir nun ganz genau darlegten, was in Ihren Augen die Witwe meines Vetters verdächtigt. Dieser Punkt beschäftigt mich – offen gestanden – so sehr, daß ich davor die Nacht nicht habe schlafen können.«

Herr von Sieglitz nickte nach gewohnter Art zur Decke hinauf und schien durch seinen goldenen Kneifer die Worte, die er sprach, dort oben abzulesen. »Sehr gern, Herr Baron. Es ist eine leider noch ungeklärte Sache, – die Schuld der Baronin steht im engsten Zusammenhänge mit der dieses früheren Sängers, Theodor Wichmann mit Namen. Wird er als unschuldig erkannt, so dürfen wir auch die Baronin dafür halten. Daß er mehrere Zusammenkünfte mit ihr gehabt, auch Geld von ihr bekommen hat, – und zwar kurz vor der Ermordung Ihres Herrn Vetters, – ist unbedingt erwiesen, wird auch von ihr nicht bestritten. Die Frage bleibt also: ist dieser ehemalige Sänger der Mörder oder nicht? Wir wissen, daß er sich am Tage des Mordes hier aufgehalten hat. Er ist nach Aussage des Stationsvorstehers auf dem Bahnhofe nachmittags um vier Uhr zehn Minuten hier angekommen und nachts um zwölf Uhr vierundzwanzig wieder fortgefahren. Inzwischen ist er einmal gesehen worden. Herr von Breitenbach, – Sie kennen den Herrn bereits?«

»Ja, gestern bei der Beisetzung haben wir einander gesehen und gesprochen.«

»Gut. Er hat sich mir in loyalster Weise zur Verfügung gestellt und mir einige wichtige Aufschlüsse gegeben. Er ist ja der Letzte, uns Bekannte, der den Toten vor seinem jähen Ende gesehen hat. Und in dessen Gesellschaft ist er am Abend einem Manne begegnet, dessen Beschreibung auf den Sänger – einen großen Menschen mit gebeugter Haltung – einwandfrei paßt. Die Frage nach dem Mörder ist nun zugleich eine Zeitfrage. Der Herr von Breitenbach ist mit dem Ermordeten zusammen um neun Uhr dreißig auf der Station eingetroffen. Langsam, im eifrigsten Gespräch sind sie zu Fuß nach Hause gegangen und haben dabei jene Begegnung mit dem Angeschuldigten gehabt. Nach Herrn von Breitenbachs Aussage muß diese Begegnung etwas nach neun Uhr stattgefunden haben. Die beiden Herren sind noch bis elf Uhr ungefähr zusammengeblieben, um eine geschäftliche Angelegenheit zu besprechen. Sie haben sich darauf an der einen Parktür getrennt, zu der Ihr Herr Vetter einen Schlüssel bei sich trug.«

»Der Park war also verschlossen?«

»Allerdings, das ist ein wichtiger Punkt. Es war die Regel, daß die Türen um halb zehn Uhr verschlossen wurden, und es ist erwiesen, daß es auch an dem fraglichen Abend geschah.«

»Wenn aber die Herren dem Sänger nach zehn Uhr begegneten, wie soll er nach elf Uhr wieder in den verschlossenen Park hineingekommen sein?«

»Um diese Frage dreht sich die Untersuchung in der Tat. Denn es ist kein Zweifel, daß der Mord im Arbeitszimmer des Barons vollführt worden ist. Er muß also in der Tat nach elf Uhr geschehen sein, wie auch der Herr Kreisphysikus nach der Totenstarre vermutet. Sonach ist also die Erzählung der Baronin von einem geheimnisvollen Schrei unter ihren Fenstern, den sie um halb elf Uhr gehört haben will, ins Bereich der Fabel zu verweisen. Sie hat mit aller Dienerschaft sogleich den Park abgesucht und nichts gefunden, sich selbst also Lügen gestraft. Nein, diese Sache ist absichtliche Fiktion oder nervöse Täuschung.«

»Und wie soll der Sänger wieder in den Park hineingekommen sein?«

»Das war nicht so schwierig. Vor ein paar Monaten hat hier ein Windbruch stattgefunden, und die stürzenden Bäume haben das Gatter des Parkes an mehreren Stellen beschädigt. Man hat sich offenbar mit der Wiederherstellung nicht sehr beeilt; jedenfalls haben wir zwei Punkte aufgefunden, wo das Gatter noch ein Hineindringen gestattet. Wer eine dieser Stellen benutzte, mußte freilich die Ortsgelegenheit sehr genau kennen, – oder im Schloß eine Persönlichkeit haben, die darüber Aufschluß geben konnte.«

»Sie meinen die Baronin?«

»Ich sage nicht mit Bestimmtheit, daß ich sie meine. Nur weist manches auf sie hin. Der Sänger ist früher in der Gegend nie gesehen worden. Wenn er der Schuldige war, so muß er notwendig im Schloß einen Helfershelfer gehabt haben. Mit der Baronin, und mit sonst niemandem, hat man ihn im Gespräch betroffen. – Sie müssen mir zugestehen, es gibt gewisse logische Notwendigkeiten, denen man sich schwer entziehen kann.«

Bassow nickte nur, ohne zu antworten. Der Ausdruck seines Gesichtes war noch ernster und gespannter geworden.

»Leider sind ja,« fuhr der Staatsanwalt fort, »alle möglicherweise im Park vorhandenen Spuren durch das Unwetter der Nacht vollständig verwischt worden. Wir haben dort außer den beiden Oeffnungen im Gatter auch nicht den leisesten Anhalt gefunden. Wenn aber der Mord bald nach der Heimkehr des Barons, also bald nach elf Uhr ausgeführt worden ist, kann der Sänger der Zeit nach sehr wohl der Täter sein. Die Entfernung zur Station beträgt eine Stunde, so daß er den Zug um zwölf Uhr vierundzwanzig recht gut noch erreichen konnte.«

»Und er selbst – der Sänger – wo will er sich zwischen elf und zwölf Uhr aufgehalten haben?«

»Er behauptet, auf einer Bank an dem in der Nacht sehr einsamen Wege zur Bahn gesessen und bis zur Abfahrtszeit des Zuges dort gewartet zu haben, behauptet auch, daß ein Mann, der vom Dorfe her gekommen sei, ihn dort angesprochen und nach der Zeit gefragt habe. Das wäre für ihn entlastend, weil das um halb zwölf gewesen sein soll. Die Bank aber ist vom Schlosse zu weit entfernt, als daß er die Tat nach elf Uhr vollbracht und bis halb zwölf schon dorthin hätte kommen können. Der fragliche Mann war jedoch bisher nicht zu ermitteln.«

»Und wann will denn die Baronin den fragwürdigen Schrei gehört haben?«

»Um halb elf Uhr fast genau. Die Zeit hat mit Sicherheit festgestellt werden können.«

Bassow schüttelte den Kopf; seine Stirn hatte sich in scharfe Falten gelegt. »Ich meine doch, daß dieser Punkt zu ihren Gunsten spricht. Hätte sie wohl die ganze Dienerschaft alarmiert, wenn sie gewußt hätte, daß der Mörder eben auf dem Wege zu seinem Verbrechen war?«

Der Staatsanwalt lächelte ein schlaues Lächeln; er machte den Mund so spitz, als wenn er ein Stück Zucker zwischen den Lippen hätte. »Und konnte sie nicht absichtlich die Dienerschaft aus dem Schloß entfernen, weil sie wußte, daß dort ein Verbrechen verübt wurde? Könnte das nicht die ganze, seltsame Komödie mit dem Schrei erklären?«

Bassow fuhr zurück, als wenn ihm jemand einen leichten Stoß versetzt hätte. »Wenn das wäre, wenn das wirklich so wäre, – aber nein, es ist unmöglich, wenigstens ungeheuer unwahrscheinlich!«

»Ich kann das nicht finden. Gewagt wäre die Geschichte freilich in mancher Hinsicht gewesen, aber mir sind noch kühnere Sachen in meiner Praxis vorgekommen.«

Bassow schüttelte lebhaft den Kopf. »Nein, nein, die Zeit widerspricht. Um halb elf Uhr hat sie die Leute alarmiert, und nach elf Uhr ist ja mein Vetter erst heimgekommen. Ja, wußte sie denn überhaupt um seine Rückkehr an diesem Abend?«

»Bewiesen ist ihr das nicht, aber sie konnte sehr wohl darum wissen. Sie hat an dem Tage ein paarmal telephoniert. Und was die Zeitdifferenz anlangt, – auch Verbrecher können sich einmal irren. Wenn der Zug des Barons um halb zehn Uhr ankam, so war seine Heimkehr um halb elf zu erwarten. Daß er den Herrn von Breitenbach im Zuge treffen und sich dadurch verspäten würde, konnte die Baronin unmöglich vorhersehen. Die Tat konnte sehr wohl auf die Zeit zwischen halb elf und elf Uhr verabredet sein, und die Affäre mit dem Schrei wäre dann zu einem sehr bestimmten Zweck eben um diese Zeit in Szene gesetzt worden.«

»Ich kann es nicht glauben!«

»Man glaubt manches nur schwer. Aber wenn die Baronin unschuldig ist, wie wollen Sie mir folgendes erklären? Als der Park vollständig abgesucht war, ist auf Anraten des alten Kutschers – merken Sie wohl, nicht auf Befehl der Baronin – auch eine Durchsuchung aller Zimmer im Schlosse vorgenommen worden. Das Arbeitszimmer ihres Mannes aber hat sie unter einem Vorwand nicht öffnen lassen. Warum sollte sie dies vermieden haben, wenn sie nicht glaubte, daß der Mord bereits vollführt worden sei?«

»Hat sie das getan?«

»Das hat sie getan. Und noch mehr: sie hat selbst ausgesagt, sie sei kurz vorher in diesem Zimmer gewesen und habe die Läden an der Tür zum Garten und an den Fenstern fest geschlossen. Darum sei das Betreten des Raumes überflüssig. Kann dieses Abschließen der Oeffnungen zum Park nicht ebensowohl in der Absicht geschehen sein, der alarmierten Dienerschaft jeden Einblick in das fragliche Zimmer von außen her zu verwehren? Wenn sie glaubte, daß der Mörder um jene Stunde dort am Werke sei, war die Sache nicht so übel ausgedacht, wie mir scheint.«

Bassow war aufgesprungen, schon während Sieglitz noch sprach, und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab.

»Wenn ich Sie so höre, – Sie verstehen es, einen von der Schuld eines Menschen zu überzeugen. Aber trotz alledem wird es mir schwer, in diesem Falle daran zu glauben.«

»Es handelt sich eben um eine schöne Frau,« sagte der Staatsanwalt maliziös. »Bei häßlichen Menschen glauben wir leichter an ein Verbrechen.«

»Das dürfte bei mir keine Rolle spielen,« entgegnete Bassow mit hochmütigem Ton. »Allerdings halte ich mich nicht nur an die juristischen Beweise, sondern auch an den Eindruck der Persönlichkeit. Und er scheint mir bei dieser Frau solch einem Verbrechen zu widerstreiten. Sie hat einen so stolzen und offenen Blick, sie hat sich gestern bei der Trauerfeier ohne jede Theatralik – obwohl sie ja beim Theater war – so taktvoll und würdig betragen –«

»Ja, sie ist eben eine sehr schöne Frau,« sagte der Staatsanwalt mit maliziöserer Betonung als vorher.

Bassow wurde rot vor Aerger, fast mehr noch über sich, als über den anderen. Er hatte ja doch selbst nach Beweisen für das Verschulden dieser Frau gesucht und gefragt, und nun er die Verdachtsgründe gegen sie von kundigster Seite vernahm, trieb ein ihm unverständliches Gefühl ihn zum Widerspruch. Sich darum fest in die Zügel nehmend, zwang er sich gewaltig zur Ruhe. »Jurist und Nichtjurist werden sich über die Wichtigkeit eines persönlichen Eindrucks immer schwer einigen,« gab er mit möglichster Gleichgültigkeit zurück. »Jedenfalls liegt mir nur an voller Wahrheit, und wenn Sie mir dazu verhelfen, bin ich Ihnen sehr dankbar. Aber wenn das, was ich von Ihnen über die Schuld der Baronin bisher gehört habe, schon alles ist –«

»Es ist nicht alles. Die Motive sind, wie stets, auch in diesem Falle das Beachtenswerteste. Und es ist keine Frage: der Baron starb seiner Frau Gemahlin sehr gelegen. Sie haben eben selbst von ihrer früheren Theaterkarriere gesprochen. Vergessen Sie nicht, was es für eine Dame vom Theater bedeutet, durch eine Heirat in die gute Gesellschaft eingeführt zu werden, ein sorgenloses, in diesem Falle sogar glänzendes Dasein mit einem unsteten Zigeunerleben zu vertauschen. Und all' das sollte nun mit einemmal zu Ende sein. Sie wissen, das Ehepaar stand vor der Scheidung. Aber das wissen Sie vielleicht noch nicht, daß der Baron die Absicht hatte, ein früher zugunsten seiner Frau gemachtes Testament, das ihr im Falle seines Todes sein ganzes, sehr beträchtliches Privatvermögen sicherte, durch ein andres zu ersetzen?«

»Darf ich fragen, woher Sie das erfahren haben, Herr Staatsanwalt?«

»Sehr gern. Der Verstorbene hat mit einem Rechtsanwalt in Berlin darüber konferiert, und von ihm ist dem Gerichte diese Mitteilung geworden. Noch wenige Tage, und das neue Testament hätte bereits existiert.«

Bassow war stehen geblieben und starrte vor sich auf den Boden, wo der Sonnenschein die Fenstersprossen abzeichnete. Sein Körper bewegte sich ungeduldig hin und her, während er zwischen den Zähnen murmelte: »Es ist abscheulich!«

»Was meinen Sie, Herr Baron?«

»Verzeihen Sie, wenn ich auch an mich selbst einmal denke in dieser Sache. Ich sehe mich da in einer ganz abscheulichen Situation. Durch den unerwarteten Tod meines Vetters bin ich Herr dieses Majorats geworden, ich habe die Frau, von der wir eben soviel gesprochen haben, nur erst ganz flüchtig, ganz formell gestern bei der Trauerfeier begrüßt. Heute fordert es der Anstand von mir, daß ich zu ihr gehe, ihr meinen Besuch mache. Wie soll ich ihr gegenübertreten, wovon soll ich mit ihr sprechen? Soll ich ihr von Teilnahme reden, wenn sie meinen Vetter vielleicht hat ermorden lassen?«

»Sie müssen da wohl ein wenig Komödie spielen.«

Bassow richtete sich hoch empor; sein Gesicht rötete sich noch mehr. »Das kann ich nicht, Herr Staatsanwalt. Ich bin kein Komödiant. Ich bin ein ganz einfacher Landmann gewesen bis heute, der einen guten Boden von einem schlechten unterscheiden kann, – zu gesellschaftlichen Finessen habe ich nie getaugt. Und ich habe in meinem Leben immer nach einfachen, klaren Verhältnissen gesucht. Ja, wenn Sie mir einen unumstößlichen, bündigen Beweis gegeben hätten für die Schuld dieser Frau –« er schlug mit dem Rücken seiner linken Hand leidenschaftlich auf die flach ausgestreckte Rechte – »dann wäre die Sache in Ordnung, und ich wüßte, was ich zu tun habe. Dann ginge ich hin zu ihr und sagte: ›Du bist eine Kanaille – scher' dich fort aus dem Hause, in dem ich nun der Herr bin!‹«

»Das wäre sehr einfach, aber vorläufig ist es doch wohl nicht gut möglich. Und ich habe die Pflicht, Ihnen auch zu sagen, was für die Unschuld jenes Komödianten und gleichzeitig für die der Frau Baronin spricht. Er hat erstens keinen Fluchtversuch gemacht, sondern ist ruhig nach seinem bisherigen Wohnort zurückgefahren; er hat ferner den Zettel, den die Baronin ihm geschrieben hatte, nicht vernichtet, obwohl er ihn schwer kompromittierte, und endlich hat man auch nicht das geringste von den geraubten Gegenständen bei ihm gefunden. Also –«

»Also ist die Sache noch verwickelter und unklarer als vorher,« sagte Bassow mißlaunig, fast heftig. »Sie verdächtigen diese Frau und sprechen sie frei in einem Atem. Mich aber stürzen Sie damit in immer größere Verwirrung.«

Der Staatsanwalt stand auf. »Es tut mir leid, Herr Baron, wenn ich diesen Effekt erreicht habe! Mir muß es aber genügen, meine Pflicht getan zu haben. Und weil Sie nun Herr in diesem Hause sind, möchte ich vor dem Abschied noch sagen, daß die Untersuchung an Ort und Stelle hier jetzt als beendet gelten kann. Das Arbeitszimmer Ihres Herrn Vetters braucht nicht mehr verschlossen gehalten zu werden, vielleicht aber nehmen Sie dann doch zur Sicherheit gleich die Briefschaften und sonstigen Papiere, die auf dem Schreibtisch liegen, unter Verschluß.«

Bassows Gesicht erhellte sich ein wenig. »Das ist gut – das ist ein Punkt, worüber ich mit ihr sprechen kann.«

Der Staatsanwalt lächelte. »Diese Sache scheint Ihnen mehr am Herzen zu liegen, als alles andere. Nun – ich empfehle mich.«

»Ich empfehle mich,« antwortete Bassow zerstreut und starrte wieder auf den Fußboden hinab, während Sieglitz zur Tür ging. Als er sie fast schon erreicht hatte, raffte Bassow sich auf aus der tiefen Versonnenheit und ging mit raschen Schritten ihm nach. »Verzeihen Sie, Herr Staatsanwalt, daß ich so zerstreut bin. Sie sehen, wie schwer es mir wird, aus meiner stillen und einfachen Existenz heraus mich in verworrene, zweifelhafte Verhältnisse hineinzufinden. Und wenn ich unhöflich gewesen sein sollte, dann verzeihen Sie mir, bitte, auch das. Ich bin eine lebhafte Natur, mag ich nach außen hin auch still und ruhig erscheinen. Und ich danke Ihnen trotz allem sehr für die Aufklärung, die Sie mir gegeben haben. Leben Sie wohl.«

»Leben Sie wohl, mein lieber Baron. Und vergessen Sie nicht: ein Staatsanwalt ist nicht immer nur Ankläger; in erster Linie ist er Wahrheitssucher.«

Noch eine Verbeugung, ein herzliches Händeschütteln, dann war Bassow allein. Und jetzt begann er ein Hin- und Herwandern, das lange Zeit dauerte, und wobei er mitunter die Lippen bewegte, als wenn er mit jemandem spräche. Zuletzt aber blieb er stehen, warf den Kopf ungeduldig in den Nacken und sagte laut: »Ach was, wer wird sich vor einem Weibe fürchten!« Er wechselte nun rasch den Anzug, läutete dem Diener und ließ sich der Baronin melden.

Dann schritt er, als der Diener mit seiner Antwort zurückgekommen war, durch den langen Korridor des ersten Stockwerks vom einen Flügel des Schlosses zum andern hinüber, wo die Baronin wohnte. Als er eintrat, hatte sie am Fenster gestanden, doch wandte sie sich rasch nach ihm um und kam ihm entgegen. Seine kühle, steife Verbeugung schien sie kaum zu bemerken, sondern sie begann gleich zu sprechen, ein wenig hastig und aufgeregt.

»Ich danke Ihnen, daß Sie zu mir kommen. Setzen Sie sich. Wir werden manches miteinander zu bereden haben.«

Er folgte der Aufforderung, und sie setzte sich ihm schräg gegenüber auf ein Sofa von heller Erdbeerfarbe, von dessen lichtem Grunde sich ihre schwarze Trauerkleidung finster abhob. Einen Augenblick sah er ihr schweigend ins Gesicht; alles, was der Staatsanwalt über diese Frau gesagt hatte, ging im Fluge wieder durch seine Seele. Sein Ausdruck wurde noch kälter bei solchen Gedanken. »Ja, Baronin,« gab er dann zurück, »wir haben wohl allerlei geschäftliche Dinge zu besprechen.«

Sie machte eine ablehnende Bewegung. »Ach, das Geschäftliche lassen wir lieber für ein andermal. Ich bin heute sehr zerstreut. All der Schrecken und all die Unruhe der vorigen Tage, – und dann – vor einer Stunde war der Staatsanwalt bei mir. Dieser Herr von Sieglitz!«

»Er hat es mir erzählt.«

»Hat er Ihnen auch gesagt, was er mit mir gesprochen hat?«

»Nein, das nicht.«

»Wie rücksichtsvoll! Ueberraschend rücksichtsvoll in der Tat!« Sie sprach mit schneidender Bitterkeit. Ihre Augen blitzten, und Bassow fühlte aufs neue, wie schön diese Frau war, trotz mancher Unregelmäßigkeit in ihren Zügen. Das goldige Haar, die feine, weiße Haut und die dunkel schimmernden, manchmal schwarz leuchtenden Augen bildeten einen wundervollen Farbengegensatz.

Plötzlich machte sie eine leichte Bewegung, als wenn sie etwas von sich abschüttelte, und fand mit überraschender Leichtigkeit nun den unpersönlichen Ton der Dame von Welt. »Wir werden jetzt eine Zeitlang Hausgenossen sein, Baron. Das Testament meines verstorbenen Mannes bestimmt, wie Sie vielleicht wissen, daß ich noch für ein halbes Jahr nach seinem Tode das Recht habe, hier im Schlosse zu wohnen.«

»Ja, sein Testament.« Es war ihm zuwider, von dem Testament sprechen zu hören, das diese Frau zu dem gemutmaßten Verbrechen getrieben haben sollte, und seine Antwort klang rauh. Sie aber fuhr fast ohne Unterbrechung fort:

»Ob ich die ganze Zeit hier bleibe, kann ich freilich noch nicht sagen. Sie werden es verstehen, daß es mir bisher nicht möglich war, einen festen Entschluß über mein zukünftiges Leben zu fassen. Die schreckliche Katastrophe ist so jäh hereingebrochen –«

Sie schwieg einen Augenblick, aber Bassow fand keine Antwort. So wechselte sie abermals den ernster gewordenen Ton und fragte: »Haben Sie schon über Ihr Hierbleiben entschieden, Baron? Müssen Sie noch einmal nach Schlesien zurück, oder –«

»Ich muß noch einmal zurück. Schon morgen muß ich fort. Ich bin so Hals über Kopf abgereist, daß ich vieles zu ordnen habe, bis ich hierher übersiedeln kann.«

»Das läßt sich begreifen. Werden Sie lange fortbleiben?«

»Ich rechne auf zehn Tage ungefähr.«

»Nun, hier läuft die Maschine wohl auch ohne Herrn ihren gewohnten Gang. Das Personal ist gut, und wenn Sie es wünschen, sehe ich auch noch ein wenig nach dem Rechten.«

»Ich werde Ihnen sehr dankbar dafür sein, Baronin.«

Sein kühler Ton schien sie zum ersten Male zu frappieren; sie schwieg einen Augenblick und sah ihm scharf ins Gesicht, um dann zu sagen: »Auch ich habe Ihnen zu danken, Baron. Dafür, daß ich kein Wort konventionellen Beileids von Ihnen gehört habe. Sie wissen als nächster Verwandter des Toten ohne Frage, wie hier die Dinge lagen in letzter Zeit.«

Er machte wortlos eine zustimmende Bewegung.

»Sie wissen, daß wir vor der Scheidung standen. Aber das ist Ihnen doch vielleicht nicht bekannt, – meines Mannes Verwandte haben die Dame vom Theater ja mit großem Nachdruck abgelehnt, – daß wir zwei Jahre lang in sehr, sehr glücklicher Ehe gelebt haben. Dann ist es anders geworden. Meine Schuld aber ist es nicht gewesen, ich glaube das kühn behaupten zu können.«

Ihr Gesicht hatte sich leicht gerötet, ihre Augen leuchteten in einem besonderen Glanz. Sie war noch schöner als zuvor, aber Bassow fragte sich doch im stillen, ob Ton und Bewegung echt seien. Das Komödiespielen war ihr Beruf gewesen, – vielleicht war auch dies nur Komödie. Da er wieder nicht antwortete, sah er, wie sie stutzte, von seinem Schweigen betroffen. Dann fragte sie rasch und kurz: »Was hat Ihnen der Staatsanwalt über mich gesagt?«

Er zauderte einen Augenblick, aber gleich hob er den Kopf und sah ihr fest in die Augen: »Ich möchte das nicht wiederholen, Baronin.«

»Indem Sie das sagen, weiß ich, was er gesprochen hat. Aber ich weiß dadurch auch etwas andres noch: Sie sind vorhin unwahr gewesen gegen mich.« Sie war plötzlich aufgestanden; die Hände, die ein wenig zitterten, fest auf den Tisch gestützt, stand sie ihm gegenüber. Unter ihren Worten aber verwandelte sich auch sein Wesen. Er sprang empor gleich ihr, ein Beben durchlief auch seinen Körper.

»Ich muß die gnädigste Baronin bitten, das zurückzunehmen. Ich bin nicht unwahr, niemals! Manchen Fehler mag ich haben, aber diesen nicht. Es ist ein Bedürfnis meiner Natur, immer wahr zu sein.«

»Dann bin ich neugierig, wie Sie mir den Gegensatz in Ihren eigenen Worten erklären wollen. Sie haben mir vorhin gesagt, Sie wüßten nicht, was der Staatsanwalt mit mir gesprochen hat.«

»Es ist genau, wie ich gesagt habe. Sie aber haben danach jetzt auch nicht gefragt. Sie wünschten zu wissen, was der Staatsanwalt mir über Sie mitgeteilt hätte, – das ist ein Unterschied. Und auf diese Frage muß ich die Antwort schuldig bleiben. Ich lüge niemals, – ich schweige, wenn ich nicht antworten will.«

Mit ihr ging eine merkwürdige, rasche Veränderung vor. Der Ausdruck der Heftigkeit wich aus ihren Zügen, ein weiches, freundliches Lächeln flog darüber hin. Ebenso weich und freundlich war auch die Stimme, womit sie nun sagte: »Sie sind im Recht, wie ich sehe. Die Logik hat mich einen Augenblick im Stich gelassen, – das darf uns Frauen ja mitunter passieren. Und ich bin von starkem Temperament. Sie wissen, ich war beim Theater, wo ja das Temperament als Tugend gilt. Seien Sie mir nicht böse darum, ich wollte Sie nicht kränken. Und wenn Sie die Wahrheit lieben, so glaube ich, wir werden gut miteinander auskommen. Auch ich liebe die Wahrheit von ganzem Herzen.«

Einen Augenblick war es ihm, als wenn er ihre Hand ergreifen und küssen müßte, als wenn es an ihm wäre, sie um Verzeihung zu bitten. Aber sein sich immer neu verwirrendes Empfinden machte seine Lippen auch jetzt wieder stumm und ließ ihn ungeschickt, verlegen vor ihr stehen.

»Wollen Sie mir nicht verzeihen?« fragte sie nach einer kleinen Pause mit nervös zusammengezogenen Augenbrauen.

Da siegte in ihm das warme Gefühl. »Doch, doch, Baronin, – und seien Sie mir auch nicht böse, daß ich heftig war.«

»Gewiß nicht. Lassen wir die Sache ruhen. An dem allen ist ja nur dieser Staatsanwalt schuld. Er hat uns beide aus dem Gleis geworfen. Mir hat er unerhörte Dinge gesagt und Ihnen hat er Mißtrauen gegen mich in das Herz gelegt. Ich weiß und fühle das, ohne daß ich es von Ihnen höre. Er hat mich bei Ihnen verlästert, – jawohl, verlästert! Glauben Sie mir, dieser Herr hat sich in seine juristischen Theorien verrannt und verfolgt eine vollkommen falsche Spur. Der Sänger, den er für den Mörder hält, ist ebenso unschuldig an der Tat wie Sie. Er ist ein Unglücklicher, der tiefstes Mitleid verdient. Er war ein großer, echter Künstler, – wie oft hat er als Wotan neben mir auf der Bühne gestanden, wenn ich die Brünhilde sang! Aber die Künstler verstehen selten, in die Scheuern zu sammeln, wenn Erntezeit ist. Auch er hat es nicht gekonnt. Nun kam sein Schicksal, er verlor die Stimme, und aus dem gefeierten Sänger ist ein armer, elender, hilfloser Mensch geworden, der sich eines Tages heimlich, schamvoll zu mir schlich und mich um Hilfe bat. Ich mußte ihn wiederbestellen auf ein anderes Mal. Denn ich wollte nicht nur ein Almosen geben, ich wollte ihm helfen, sich eine neue, wenn auch bescheidene Existenz zu gründen. Dazu reichten im Augenblick meine Mittel nicht aus. Ich schrieb ihm dann, als ich sie mir verschafft hatte, und bestellte ihn in den Park, weil er in seiner Abgerissenheit sich scheute, von andern Menschen gesehen zu werden. Das ist alles, und ich meine, daß dies Tun mir keine Unehre macht. Der Herr Staatsanwalt aber konstruiert daraus einen Schuldverdacht gegen den Unglücklichen und unerhörterweise auch gegen mich selbst. Erst heute hat er die Stirn gehabt, mir gegenüber das anzudeuten. Mein Trost ist aber, daß niemand außer ihm an diese Fabel glauben kann und glauben wird!«

Sie hatte sich immer mehr hineingesprochen in die Leidenschaft und ging jetzt mit raschen Schritten zum Fenster, an dem sie einen Augenblick von ihm abgewandt stehen blieb, als wenn sie sich fassen und beruhigen wollte. Dann, da er stumm an seinem Platze verharrte, kehrte sie sich plötzlich wieder zu ihm um und kam hastig auf ihn zu.

»Sie schweigen, Baron, – warum schweigen Sie denn?«

Er suchte nach Worten. »Was soll ich sagen?«

»Habe ich mich getäuscht? Gibt es außer diesem Herrn von Sieglitz noch einen zweiten Menschen, der mich eines gemeinen, heimtückischen Verbrechens für fähig hält? Hat er wirklich Gehör bei Ihnen gefunden, und sehen auch Sie nun in mir die hinter den Kulissen Ränke spinnende Anstifterin eines Mordes? Ist das möglich? Antworten Sie mir, – ich verlange das von Ihnen!«

In furchtbarer Verwirrung stand Bassow ihr gegenüber. Vertrauen, Zweifel, Fragen wogten wild in ihm durcheinander und verschlossen seine Lippen in ihrem Widerstreit. Er fand keine Antwort, als ein vieldeutiges Achselzucken, als eine unsichere Bewegung der Arme.

»O, ich verstehe Sie auch ohne Worte! Sie haben vorhin gesagt, wenn sie nicht lügen wollen, schweigen Sie. Nun weiß ich, was Ihr Schweigen bedeutet, nun weiß ich, daß auch Sie, dessen Namen ich trage durch meinen Mann, mich eines abscheulichen Verbrechens für fähig halten.«

»Lassen Sie mich Ihnen sagen –«

»Ich habe nichts mehr mit Ihnen zu sprechen. Verlassen Sie mich auf der Stelle. Nur das eine noch: ich sprach vorhin von meinem Bleiben hier im Schlosse für das nächste halbe Jahr. Davon kann jetzt keine Rede mehr sein, obwohl es mein Recht ist. Sie reisen morgen, und wenn Sie zurückkommen, werden Sie mich nicht mehr hier finden.«

»Ich hoffe, Sie werden sich das noch überlegen, Baronin. Lassen Sie uns beiden Zeit, uns zurechtzufinden. Man hat uns beide aus unserm Gleis geworfen, wie Sie selbst vorhin sagten. So vieles spricht für Sie, aber – verzeihen Sie – auch manches gegen Sie. Lassen Sie mich überlegen, zu Besinnung kommen! Unter normalen Verhältnissen werden wir alles, was geschehen ist und zu geschehen hat, ruhiger betrachten und erwägen können.«

»Ich habe nichts mehr mit Ihnen zu sprechen. Verlassen Sie mich.«

Er zauderte noch einen Augenblick, dann aber ging er mit stummer, tiefer Verbeugung hinaus.


 << zurück weiter >>