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Achtes Kapitel

Die Begegnung mit Breitenbach hatte Bassow die Pflicht ins Gedächtnis gerufen, seine Antrittsbesuche auf den benachbarten Gütern und in der Hauptstadt des Kreises endlich auszuführen. Er machte sich nun daran und war viel unterwegs. Obwohl mit Widerwillen, fuhr er auch nach Lünzin hinüber, traf aber zu seiner stillen Genugtuung den Besitzer nicht zu Hause. Allerlei gelegentlich aufgefangene Aeußerungen seines eigenen Personals, das die Langeweile des Landlebens durch reichlichen Klatsch verkürzte, hatten ihn schon erfahren lassen, daß der nun verlobte Nachbar für maßlos verliebt in seine Braut galt. Sie wohnte seit einem halben Jahr in Berlin, und Breitenbach war bei ihr, sobald es ihm seine Zeit nur irgend erlaubte. Dorthin war er auch an dem Tage von Bassows Besuch gefahren, der diese Verliebtheit im Hinblick auf die Baronin mit Genugtuung vernahm.

Die Erntearbeiten waren gegenwärtig im vollen Gange, und auch die Wagenpferde für die Ausfahrten mußten mit heran. Des Barons Reitpferde nur machten davon eine Ausnahme. Um die noch unerledigten Besuche in der Kreisstadt – auf den Gütern war er nun überall gewesen – schließlich auch abzumachen, hatte sich Bassow aber doch für einen bestimmten Tag ein Gespann reservieren lassen. Als er zur angesetzten Stunde auf den Hof kam, fand er auch einen Wagen bereit, aber es war ein leichter Einspänner, den er für seine Besuche nicht benützte. Der Kutscher debattierte gerade voll Eifer und scheinbar in Aufregung mit einem gleichfalls in Livree gesteckten Stallknecht, und als Bassow nach ihm rief, kam er in sichtlicher Verlegenheit heran.

»Sürjahn, was ist mit meinem Wagen?« fragte Bassow.

»Ach, Herr Baron, mit dem Wagen wäre wohl alles in Ordnung. Aber eben, wie Hans die Braunen einspannen will, sieht er, daß der eine lahmt.«

»Das ist ja unangenehm!«

»Ja, er hat in den letzten Tagen tüchtig herangemußt. Wenn er ein bißchen Ruhe hat, wird er wohl wieder werden. Ich bin gleich gegangen und habe ihn mir angesehen und –«

»Es ist schon gut. Für heute können wir nichts daran ändern. Aber ich will jedenfalls fahren, und es ist mir recht, daß Sie mir diesen Wagen hergerichtet haben.«

Der Kutscher lachte ein breites Lachen der Verlegenheit. »Ja, Herr Baron, ich muß um Entschuldigung bitten, aber so eigentlich habe ich das nicht getan. Diesen Wagen hat nämlich die Frau Baronin für sich bestellt – sie will auch nach der Stadt.«

»Frau Baronin? Das ist etwas anders. Dann bleibe ich zu Hause.«

»Aber fahren Sie doch mit mir.«

Es war eine ganz andere Stimme als die des alten Sürjahn, die so unerwartet erklang. Eine Stimme, weich und leuchtend wie goldiger Samt, – Bassow hatte das häufig schon zu sich selbst gesagt, wenn er ihrem Klange verborgen lauschte. Die Stimme der Baronin, die geräuschlos aus dem Hause getreten war.

Ueberrascht und verwirrt wandte Bassow sich um; das Blut schoß ihm ins Gesicht, und er wußte nur zu stammeln: »Sie hier, Baronin?« Ein Lächeln ging über ihre Züge und nahm ihnen den ernsten, zurückhaltenden Ausdruck, der zu andern Zeiten darauf lag. Ueberhaupt kam es Bassow vor, als wenn etwas Heiteres, Gehobenes in ihr wäre.

»Das ist eine sehr natürliche Sache, wie mir scheint,« sagte sie, und ein leises Lachen war auch in ihrer Stimme. »Der Wagen steht für mich bereit, und ich komme, hineinzusteigen.«

»Ich aber –«

»Sie warten hier, möchten fahren und haben keinen Wagen. Da versteht sich's von selbst: ich lade Sie ein, den meinigen zu benutzen. Sie wollen doch auch zur Stadt?«

»Ich hatte die Absicht, aber –«

»Lehnen Sie meine Aufforderung ab?« Sie blickte ihm gerade ins Gesicht, und in ihren Augen, die sich dunkler färbten, las er die zweite Frage: »Mißtraust du mir noch immer? Wohnt in dir immer noch dieser abscheuliche Verdacht gegen mich?«

Ihre Blicke zwangen ihn, unterjochten ihn, und er antwortete rasch, als wenn jeder Augenblick des Schweigens Beleidigung wäre: »Nein, Baronin, ich nehme sie an, wenn ich darf.«

»So kommen Sie.«

Gleich darauf saßen sie nahe nebeneinander in dem kleinen, leichten Wagen, der Kutscher sprang auf den Bock, und sie fuhren in raschem Trabe über den Hof hinaus auf die Landstraße. Wieder war ein leicht humoristischer Zug um die Lippen der Baronin, als sie den Kopf nun halb zu Bassow wandte und sagte: »Sie dürfen übrigens auch schweigen, wenn Sie nicht mit mir sprechen mögen. Nur auf dem Hofe, – warum sollen wir den Leuten immer das Schauspiel der feindlichen Geschlechter geben?«

»Nein, ich möchte mit Ihnen sprechen, Baronin. Ich bin glücklich über diesen Zufall. Denn ich habe längst schon bereut, daß ich mir jede Gelegenheit abgeschnitten habe, Sie genauer kennen zu lernen und mir ein bestimmtes Urteil über Sie zu bilden.«

»Nehmen Sie mich ins Verhör, und ich werde antworten.«

»Nein, kein Verhör. Aber doch, – eins möchte ich Sie fragen: warum sind Sie heute so heiter?«

»Ich bin es wirklich, Sie haben recht. So heiter und froh, daß ich sogar gestimmt bin, freundlich gegen Leute zu sein, die furchtbar unfreundlich gegen mich gewesen sind.«

Sie warf ihm einen raschen, kurzen Blick von der Seite zu, der ihm das Blut ins Gesicht trieb, aber zugleich ersparte sie ihm eine mühsame Antwort, indem sie schnell hinzufügte: »Leider kann ich Ihnen vorläufig noch nicht sagen, was meine Stimmung so verändert hat.«

»Vorläufig nur?«

»Vielleicht, – vielleicht auch nicht. Es hängt von Umständen ab, die nicht in meiner Macht liegen.«

Einen Augenblick verfiel er wieder in tief nachdenkliches Schweigen. Er mußte sich erst in ihr verändertes Wesen hineinfinden, und er sagte sich: war diese merkwürdige Heiterkeit und Gehobenheit nur Pose, um ihre wahren Empfindungen zu verbergen? Spielte sie vor ihm eine geschickte Komödie, um ihren Schmerz über Breitenbachs Verlobung nicht sichtbar werden zu lassen?

Diese Gedanken flogen aber nur schnell durch sein Hirn, dann wies er sie von sich ab. Seine Blicke schweiften über die weiten, halbleeren Felder, auf denen die weißen Hemdärmel der Arbeiter leuchteten, und er sagte mit einer ungelenken Handbewegung: »Hoffentlich kommen wir heute gut vorwärts mit dem Roggen. Ich glaube, wir müssen uns beeilen, – der Himmel sieht sonderbar aus.«

Der Himmel sah wirklich sonderbar aus. Ein eigentümliches Leuchten war in der Höhe, wo Gold und Blau ineinanderzufließen schienen. Einzelne lange, wie aus Watte geformte Wolken schwammen ruhig in dem schimmernden Meer, dessen Licht um sie her glänzende Ränder zog.

»Wenn wir in Italien wären, würde ich sagen, wir haben Scirocco,« brach die Baronin das Schweigen.

»Sie waren in Italien?« fragte Bassow.

»Ein paarmal. – Einmal zum Vergnügen, einmal im Dienst.«

»Im Dienst?«

»Ich habe dort gesungen, gastiert. Aber ich fühlte selbst, ich war matter als sonst. Hinterher wurde mir gesagt, wir hätten Scirocco gehabt. Darum habe ich den bösen Südwind im Gedächtnis behalten.«

»Reinen Südwind haben wir heute wirklich. Das ist hier im Norden ein seltener Wind.«

»In diesem Sommer nicht. Er hat auch damals geweht, –«

»Wann?«

»An dem Tage, als mein Mann ermordet wurde.«

Ein Gefühl, halb Schrecken, halb Freude, faßte ihn an bei ihren Worten. Hätte sie so unbefangen von jenem furchtbaren Ereignis reden können, wenn sie wirklich selbst an ihm die Schuld getragen hätte? Vergeblich suchte Bassow zuerst nach Worten, um dann zu fragen: »Gibt es gar nichts Neues in dieser traurigen Sache? Haben Sie nichts gehört über den Verlauf der Untersuchung?«

»Doch, etwas Neues gibt es. Das Gericht ist wieder auf einer andern Spur. Nach langem Zögern hat sich nämlich ein Wirt aus einem Nachbardorfe gemeldet und ausgesagt, mein Mann wäre nicht lange vor seinem Tode mit einem krank und ärmlich aussehenden Menschen dorthin gekommen, hätte ihm zu essen und zu trinken geben lassen und längere Zeit mit ihm gesprochen. Worüber, das hat niemand gehört, aber für die Herren Juristen genügt dies – bei dem Stolze meines verstorbenen Mannes in der Tat etwas auffallende – Vorkommnis, um einen Verdacht gegen den Unbekannten zu konstruieren.«

»Und Sie, – glauben Sie nicht an eine Bedeutung dieser Spur?«

»Nein, vorläufig nicht sehr. Ich habe nie großes Vertrauen zu den Aktenmenschen gehabt, und es ist jetzt noch viel geringer geworden. Wie haben sie meine Wahrnehmungen und Aussagen mißachtet! Ich habe damals den Schrei doch gehört mit diesen meinen Ohren, der aus dem Parke zu mir heraufdrang, diesen gräßlichen Ton, den ich bis an mein Lebensende nicht vergessen werde.«

»Ich habe davon sprechen hören, aber –«

»Es war die Stimme meines Mannes, der um Hilfe rief in seinen letzten Augenblicken. Daran gibt es für mich keinen Zweifel mehr, und wenn es am Ende auch gleichgültig ist, ob er im Park oder in seinem Zimmer getötet worden ist, für die Untersuchung wäre die Frage nach dem wahren Orte des Mordes doch vielleicht von Wichtigkeit gewesen. Diese Herren aber haben mich behandelt, als wenn ich an Halluzinationen litte, oder wenn ich ihnen absichtlich ein Märchen erzählte!«

»Die Sache regt Sie auf, Baronin. Sprechen wir lieber nicht mehr darüber.«

Sie schwieg einen Augenblick. Dann sagte sie mit wieder verändertem Tone: »Sie haben recht. Wir wollen statt dessen den Segen auf den Feldern anschauen, der in diesem Jahre so reich ist. Ja, das schöne Garchim!«

»Freilich ist es schön,« entgegnete Bassow langsam. »Aber es tut mir weh, das aus Ihrem Munde zu hören. Ich komme mir dann wie ein Eindringling vor, der Sie aus Ihrem Eigentum vertreibt.«

»Was können Sie dafür, daß mein Mann Ihr Vetter war?« Es klang ihm, als wenn sie noch etwas hätte hinzufügen wollen, doch brach sie ab und fragte nur nach einer Pause: »Wohin darf ich Sie fahren lassen in der Stadt?«

»Ich will dem Landrat meinen Besuch machen und später auch dem Herrn Kreisphysikus.«

»Das ist hübsch! Dahin fahre ich selbst. Das sind prächtige Menschen, der Kreisphysikus und seine Frau. Er besonders, aber sie hat auch das Herz auf dem rechten Fleck; ein wenig Schöngeist ist sie, doch dabei von Herzen gut. Diese beiden Menschen sind hier von vornherein die ersten gewesen, die mich's nicht entgelten ließen, daß ich einmal eine angesehene Künstlerin war. Darum halte ich sie auch als wahre Freunde in meinem Herzen.«

»Dann werde ich die Freude haben, Sie dort wiederzusehen?«

»Ich hoffe darauf. Ich habe mich angesagt und bleibe den ganzen Nachmittag. Und hier sind wir ja schon am Tor und müssen verstummen. Auf dem Pflaster dieser edlen Stadt ist Reden im Fahren unmöglich.«

Ein Poltern und Stoßen des Wagens auf dem beginnenden Pflaster gab ihren Worten recht, und Bassow nickte nur lachend, weil seine Stimme doch unverständlich geblieben wäre. Bald war auch das Landratsamt erreicht und er sprang mit einem »Auf Wiedersehen« von dem einen Augenblick haltenden Wagen hinunter.

Er traf den Landrat zu Hause, kürzte seinen Besuch aber so sehr als möglich ab. Es war viel von der schwebenden Untersuchung die Rede, über die der Beamte genau unterrichtet war, doch wußte auch er nichts weiter zu berichten, als was Bassow von der Baronin schon gehört hatte.

Das Haus des Kreisphysikus war dann bald erreicht, aber als Bassow den gemütlichen alten Bau betrat, erwartete ihn dort eine bittere Enttäuschung. Schon beim Oeffnen der Tür machte die alte Dienerin des Arztes ihm die vertrauliche Mitteilung, daß außer der Frau Baronin aus Garchim noch anderer Besuch gekommen sei. Der Herr von Breitenbach mit seiner Braut sei zugegen.

Am liebsten wäre Bassow gleich wieder umgekehrt. Seine ganze Freude zerstob und verwehte vor diesen Worten, und eine plötzlich neu auflodernde Eifersucht flüsterte ihm zu, daß die Baronin um diese Begegnung gewußt habe, daß hier – zum Teil wenigstens – der Grund liege für ihre auffallende Heiterkeit und Gehobenheit auf der Herfahrt.

Aber ein Entkommen war nicht mehr möglich. Die Tür des im Erdgeschoß gelegenen Salons öffnete sich, und aus ihr hervor kam der Kreisphysikus in eigener Person, der den Ton der lauten Klingel an der Haustür vernommen hatte. Mit einer fast altmodisch anmutenden, gastfreundlichen Herzlichkeit ging er Bassow entgegen und bewillkommnete ihn mit andauerndem Händeschütteln.

»Na, Herr Baron, das ist mir eine wahre Freude, daß ich Sie hier begrüßen kann. Die Baronin hat Sie mir angekündigt. Ich hatte schon gefürchtet, Sie fänden überhaupt nicht mehr den Weg zu mir. Und das wäre mir sehr leid gewesen, weil ich auf Garchim seit vielen Jahren als guter Freund habe verkehren dürfen. Aber nun sind Sie ja da, – das freut mich, das freut mich!«

Er wiederholte sein herzliches Händeschütteln und nötigte Bassow zum Eintreten, wobei er sagte: »Sie finden heute einen Teil der Nachbarschaft bei mir versammelt. Wir haben noch zwei andere Gäste hier.«

Bassow meinte am Ton der letzten Worte zu hören, daß auch der Kreisphysikus über diesen weiteren Besuch nicht allzu erbaut sei, doch nun öffnete sich bereits die Tür, und sie mußten eintreten.

Um einen großen, runden Mahagonitisch saßen die Anwesenden beim Kaffee. Bassows Augen suchten zuerst nach der Baronin und fanden sie, wie er vermutet hatte, in eifrigem Gespräch mit Breitenbach. Aber es blieb ihm zunächst keine Zeit für nähere Beobachtung; denn der Kreisphysikus führte ihn zu seiner Frau, in der Bassow eine alte, wohlgenährte Dame mit weißen Haaren kennen lernte, die ebenso licht und voll waren, wie die ihres Gatten. Auch sie begrüßte ihn mit großer Herzlichkeit; Breitenbach sprang auf und sagte: »Welche Freude, Sie hier zu treffen!«, die Braut streckte ihm die Hand amerikanisch-herzhaft entgegen, die Baronin aber nickte ihm zu mit den Worten: »Das ist nett, daß Sie da sind.« Gleich wandte sie sich dann aufs neue Breitenbach zu, der sich wieder neben sie gesetzt hatte.

Bassow wurde von der Herrin des Hauses mit Beschlag belegt. Er fand bestätigt, was die Baronin über ihre schöngeistigen Neigungen gesagt hatte, und mußte im Verein mit der Amerikanerin, die zuweilen verstohlen durch die Nase gähnte, eine längere Abhandlung über Schillers Aufsatz »Die Schaubühne als moralische Anstalt« entgegennehmen, den er niemals gelesen hatte. Dabei sah die Frau Kreisphysikus viel mehr nach gutem und reichlichem Essen und Trinken aus als nach Aesthetik, und er hätte sich zu anderen Zeiten über diesen Gegensatz von Körper und Geist im stillen köstlich amüsiert, aber heute waren seine Gedanken viel zu sehr mit der schönen Frau beschäftigt, die unter ihrer goldenen Haarkrone ihm gegenübersaß.

Nach dem Kaffee ging man in den Garten, der sich bis zu der alten Stadtmauer hinzog, doch wenn Bassow nun auch von der Frau des Kreisphysikus freikam, so zog ihn dieser selbst jetzt mit sich fort. Er führte seinen Gast als leidenschaftlicher Blumenfreund mit Eifer durch alle Gänge des Gartens, auf dessen Beeten in der Tat eine Fülle von blühenden Blumen stand, wie man sie selten sah.

»Der Park von Garchim ist ja wunderschön,« sagte dabei der Arzt, »aber Sie haben dort nicht Blumen genug. Blumen bedeuten Freude, und Freude muß man sich schaffen so viel als möglich. Das ist für mich die ganze Lebenskunst. Blumen her, immer nur Blumen her – fürs Auge und für die Seele!«

Bassow nickte stumm; ihm war in diesem Augenblick wieder gar nicht nach Freude zumute. Denn er sah, daß die Baronin auch jetzt wie fasziniert in Breitenbachs Nähe blieb und ihn mit eigentümlich leuchtenden Augen unverwandt anschaute. Der Baron blickte verstohlen zu der Amerikanerin hinüber, ob sie nicht ärgerlich sei über solche dauernde Vertraulichkeit. Doch sie ging ruhig an der Seite der Frau Kreisphysikus und schien mit nichts beschäftigt, als mit dem wirksamen Aufschlag ihrer in der Tat abnorm schönen Augen.

Der Arzt fuhr fort, von seinen Blumen zu schwärmen, und Bassow hätte seine botanischen Kenntnisse bedeutend bereichern können, wenn er zugehört hätte. Aber seine Blicke und seine Gedanken waren dort hinten an der alten Stadtmauer, wo die Baronin mit Breitenbach in eifrigem, halblautem Gespräch auf und nieder ging.

Ein Imbiß, der zur Nachhausefahrt stärken sollte, trennte sie freilich von ihm. Sie bekam jetzt ihren Platz zwischen dem Kreisphysikus und seiner Frau, doch schien es Bassow, der von Breitenbach in ein lebhaftes landwirtschaftliches Gespräch gezogen wurde, daß die Baronin zerstreut sei und im Sprechen häufig die Blicke auf seinen eigenen Nachbar richte. Und vielleicht hatte das nun endlich auch Breitenbachs Braut bemerkt; wenigstens mahnte sie plötzlich, noch ehe die kleine Mahlzeit ganz beendet war, unter Hinweis auf den inzwischen drohend umwölkten Himmel zum Aufbruch. Sie blieb auch dabei trotz Breitenbachs Versicherung, daß es frühestens am späten Abend zum Regen kommen würde, und erklärte, lieber eine Zeitlang bis zur Abfahrt ihres Zuges auf der Bahnstation warten zu wollen, als während eines Gewitters, vor dem sie sich fürchtete, im Wagen unterwegs zu sein.

Man trennte sich mit eiligem Abschied von den freundlichen Wirten, und auch Bassow bestieg an der Seite der Baronin den Wagen zur Heimfahrt. Aber wie sehr hatte sein Gemüt sich wieder verdüstert in den wenigen Stunden! So tief und schwer wie die graugelb ineinandergeschobenen Wolken am scheinbar zur Erde niedergesunkenen Himmel wogten seine Gedanken durcheinander. Er zweifelte nicht mehr daran, daß die Baronin Breitenbach, trotz dessen Verlobung, noch liebte, wenn ihm ihr offenes Zurschautragen dieses Gefühles nach allem, was geschehen war, auch seltsam, unerklärlich erschien. Nach allem, was geschehen war, – denn hinter der klaren Erkenntnis dieser Liebelei lauerte ja verborgen der viel häßlichere Verdacht, den er so gern aus dem Herzen gerissen hätte, der aber stets wieder mit warnender, drohender, mahnender Stimme zu ihm sprach.

Stumm, ohne nur den Versuch zur Unterhaltung zu machen, saß Bassow neben der Baronin. Solange der Wagen auf dem stoßenden Pflaster lärmte, schien es ihr nicht aufzufallen, daß er schwieg. Als aber die glatte, leise Landstraße wieder unter den Rädern lag, schaute sie vorsichtig, mit halbgeschlossenen Augen zu ihm hin.

»Sind Sie müde?« fragte sie.

»Nein, ich bin nicht müde,« gab er kurz und hart zur Antwort, um gleich aufs neue in Schweigen zu versinken.

Sie versuchte jetzt nicht mehr, seine verschlossenen Lippen zu öffnen. In tiefer, trauriger Stille saß er neben ihr, sah sie auch nicht an, sondern blickte starr, von ihr abgewandt, auf die Chausseebäume am Wege, die beim raschen Lauf des dem Stalle zueilenden Pferdes eilig an ihnen vorüberzogen. Eine glühende, von kurzen Windstößen gepeitschte Schwüle war in der Luft um sie her, eine glühende Schwüle war in seinem Herzen.

Als der Wagen vor dem Schloßportale von Garchim hielt, sprang Bassow zuerst hinab und hob die Hand, um der Baronin behilflich zu sein. Aber es war etwas Gehemmtes, Widerwilliges in dieser Handbewegung, als wenn eine unsichtbare Macht seinen Arm niederdrückte. Die Baronin mußte dies kaum bemerkbare Zaudern auch wahrgenommen haben, denn sie verschmähte die dargebotene Hilfe und stieg allein behend und sicher vom Wagen.

Wortlos gingen sie nebeneinander die Stufen zum Portal empor. Wortlos betraten sie den weiten, leeren Flur. Draußen war es noch ziemlich hell, hier aber schlich sich die Dämmerung bereits aus den Winkeln hervor; schwarz, drohend hing die große, schmiedeeiserne Laterne in der Mitte des Raumes. Die Baronin blieb stehen, als wenn sie mindestens ein Abschiedswort von Bassow erwartete. Doch er schwieg auch jetzt, schlug nur die Hacken zusammen und lüftete seinen Hut. Da nahm sie das Wort, rasch, ein wenig atemlos.

»Lassen Sie uns nicht so auseinandergehen, Baron. Der Tag fing so hübsch und heiter an, und ich hoffte schon, – Sie sind verstimmt aus irgend einem Grunde, von dem ich nichts ahne. Darum brauchen wir aber doch nicht so fremd oder gar feindselig nebeneinander zu leben wie bisher. Ich gehe noch ein wenig in den Park. Es ist hier im Hause weit schwüler als draußen, – ganz unerträglich für mein Gefühl. Wollen Sie nicht auch hinauskommen?«

Er kämpfte mit sich; es zog ihn an und stieß ihn zurück zu gleicher Zeit, doch es war ihm nicht möglich, nein zu sagen.

»Ja, ich will.«

»Das freut mich. Dann also in zehn Minuten, nicht wahr? Wir können uns bei der Bank, unter meinen Fenstern, treffen. Da sind wir gleich wieder in Sicherheit, wenn ein Unwetter kommt. Also auf Wiedersehen.«

Sie ging rasch voran, die Treppe hinauf; er folgte langsam, den Kopf in Gedanken gesenkt. Auf seinem Zimmer blieb er nur einen Augenblick. Er hätte in seinen Eifersuchtsqualen dem Zusammensein mit der schönen Frau gern auch jetzt noch widerstrebt, aber sein Herz trieb ihn gewaltsam zu ihr hin. Vor der bestimmten Zeit war er im Park an der verabredeten Stelle. Eine sonderbare, von graugelbem Lichte geheimnisvoll noch durchleuchtete Dämmerung lag über dem Garten, färbte die dunklen Laubwände mit einem kranken Schimmer und schien eine Stimme zu gewinnen in den kurzen, von Pausen unterbrochenen Windstößen, die jedesmal eine Glutwelle wie aus feurigem Ofen mit sich brachte.

Mit hastigen, unruhigen Schritten ging Bassow vor der Steinbank an der finsteren Hecke auf und nieder, bis die Stimme erklang, auf die sein durstiges Ohr gewartet hatte.

»Da sind Sie ja, – das ist schön von Ihnen.«

»Ich hatte versprochen, zu kommen, und ich pflege zu halten, was ich verspreche.«

Sie gab scheinbar nicht acht auf den finsteren, drohenden Ton, in dem er sprach, sondern sagte schnell: »Wenn ich Sie bat, noch hierher zu kommen, so war es nicht nur der Wunsch, noch ein wenig mit Ihnen zu plaudern, was mich dazu veranlaßte, obwohl ich in dieser letzten Zeit sehr viel allein gewesen bin und häufig Sehnsucht gehabt habe nach einer Menschenstimme. Aber ich wollte vor allem eine bestimmte Sache ganz in Ruhe mit Ihnen besprechen, was unterwegs doch nicht möglich war. Es handelt sich darum, daß ich hier geblieben bin trotz des Briefes, den Sie mir neulich geschrieben haben.«

Sie schwieg einen Moment, als wenn sie erwartet hätte, daß er etwas erwidern sollte, doch er blieb ganz in sich versunken, hatte die Hände geballt und starrte vor sich hin.

»Der Ton dieses Briefes war derart, daß ich von Rechts wegen sofort hätte reisen müssen. Wenn ich trotzdem – zu Ihrem Erstaunen vermutlich – geblieben bin, so dürfen Sie glauben, daß ein zwingender Grund mich zurückhielt. Ich habe Sie hierher gebeten, um Ihnen das in aller Freundlichkeit zu sagen, und ich bitte Sie, daran festzuhalten, daß es für mich in der Tat ein zwingender Grund war.«

Auch jetzt noch schwieg Bassow, doch seine Brust hob und senkte sich rasch, und plötzlich rief er in ausbrechender Leidenschaft: »Ich kenne diesen Grund!«

»Sie kennen ihn?«

»Ich habe Augen, um zu sehen, Baronin. Und wenn ich blind gewesen wäre bis heute, so hätte ich doch an diesem Nachmittag sehend werden müssen. Ich kenne die Fessel, die Sie hier festhält. Sie bleiben nicht Garchim zuliebe, Sie bleiben, weil da drüben hinter dem toten See das Herrenhaus von Lünzin liegt.«

»Was meinen Sie damit?«

»Sie haben gesagt, daß ein zwingender Grund Sie hier festhält. Ich aber weiß, – an mir selbst habe ich es in unsagbar schweren Stunden erfahren, – daß es keinen zwingenderen Grund für die Menschen gibt als die Liebe. Ja, die Liebe! Sie möchten fort, aber es läßt Sie nicht gehen, Sie möchten sich losreißen, aber Sie fühlen sich immer wieder festgehalten, – ich weiß, daß Sie bleiben, weil Sie diesen Herrn von Breitenbach lieben und sich trotz seiner Verlobung nicht entschließen können, fortzugehen aus seiner Nähe!«

Er hatte sich nicht überlegt, welche Folgen seine Worte vielleicht haben könnten. Aber wenn er auch nachgedacht hätte über die mögliche Wirkung seines Tuns, niemals würde sie so vor ihm erschienen sein, wie sie sich nun in Wirklichkeit ihm zeigte. Die Baronin lachte! Nach einem ganz kleinen Schweigen der Ueberraschung begann sie zu lachen, laut, herzlich, mit ihrer klaren, reinen, melodischen Stimme, der sein Ohr ebenso schwer widerstehen konnte wie sein Herz. Dabei sah sie so freundlich auf ihn, wie noch nie zuvor und sagte: »O, Sie sind, – aber nein, das darf ich nicht aussprechen, sonst sind Sie wieder beleidigt.«

»Sprechen Sie es aus!«

»Ich hätte beinahe gesagt, Sie sind ein großes Kind. Jawohl, es gibt große Kinder, die ganz aussehen wie die Herren der Schöpfung, und dabei doch, – machen Sie kein so böses Gesicht! Ich hab' es ja nicht wirklich gesagt, nur beinahe. Geben Sie mir Ihre Hand – Sie sind ein ehrlicher Mensch.«

»O, Baronin, was machen Sie mit mir, was bedeutet das alles?«

»Daß Ihre Männerklugheit auf einem ganz, ganz falschen Wege umhergeirrt ist. Und etwas will ich Ihnen heute sagen, was Ihnen vielleicht helfen kann, auf die richtige Fährte zu kommen. Sie wissen, daß wir uns wollten scheiden lassen, mein Mann und ich. Das aber wissen Sie wahrscheinlich nicht – es wurde noch sehr geheim gehalten, und ich selbst bin der Sache nur durch einen Zufall auf die Spur gekommen –, daß bei der Entfremdung meines Mannes gegen mich eine andere Frau im Spiele war. Er wollte sie heiraten, wenn er sich von mir freigemacht hatte; diese Frau aber war Miß Lowfeller, die Amerikanerin.«

»Die Braut des Herrn von Breitenbach?«

»Seine Braut. Ueberlegen Sie sich einmal, wenn Sie allein sind, recht genau, was diese jetzige Verlobung bedeutet.«

»Ich weiß nicht – ich verstehe Sie nicht –«

»Ueberlegen Sie sich's in der Stille und Einsamkeit.«

»Gewiß, ich will es tun – aber darum – ich meine, die Vermutung, von der ich sagte –«

Ihre letzten Worte hatte sie mit einer ganz besonderen, feierlich-geheimnisvollen Betonung ausgesprochen, jetzt aber kam die vorige Heiterkeit auf ihr Gesicht und in ihre Stimme zurück. »Sie meinen, daß ich darum doch diesen Herrn von Breitenbach lieben könnte? Ja, Sie haben recht, es wäre kein Hindernis. Aber der Fall ist mir so völlig undenkbar, so lächerlich – verzeihen Sie, wenn ich immer wieder darüber lachen muß.«

Wirklich lachte sie wieder, aber mit verändertem Ton. Es war etwas wie Bitterkeit oder Zorn darin. Und plötzlich verstummte sie jäh mit einem abgerissenen Laut des Schreckens. Denn es war gewesen, als wenn ihr Lachen ein häßliches, grauenvolles Echo geweckt hätte.

Mitten hinein war ein Ton geklungen, schrill, angstvoll, wie ein lauter Hilferuf in Todesnot. Eine helle, doch halb erstickte, scheinbar kindliche Stimme hatte ihn ausgestoßen, und es war gewesen, als wenn dieser gräßliche Schrei unmittelbar neben ihnen wäre ausgestoßen worden. Als wenn er aus den Wänden des Hauses, aus einer der schwarzen Hecken, aus dem Boden, auf dem sie standen, hervorgedrungen wäre.

»Was war das?« Die Baronin sprach zuerst wieder, ganz leise, mit bebender Stimme.

»Ich weiß es nicht – o, hören Sie doch!«

Zum zweiten Male war der Schrei erklungen, erstickter, gedämpfter als das erstemal, aber scheinbar wieder aus unmittelbarer Nähe. Nun folgte tiefe Stille, nur unterbrochen von den einzelnen Stößen des glühenden Windes. Die beiden standen regungslos und horchten, aber kein Laut wurde wieder wach.

»So war es damals,« flüsterte die Baronin aus dem lastenden Schweigen heraus, »genau so war es damals –«

»War es auch so nahe – auch so, als wenn es hier unter Ihren Fenstern –?«

»Ganz ebenso.«

»Es muß in der Nähe gewesen sein. Wollen wir nicht suchen?«

»Ja, kommen Sie. Aber ich fürchte –.« Sie sprach nicht zu Ende. Mit einer Handbewegung nur forderte sie Bassow zum Folgen auf. Die Dämmerung war schon tief, doch das eigentümliche gelbe Licht in den Wolken war noch nicht erloschen und ließ für aufmerksame und scharfe Augen alles erkennen. Sie gingen rasch und stumm durch die benachbarten Gänge des Parkes, rechts hin, links hin, eine ansehnliche Strecke weit, spähten in die Gebüsche hinein, suchten hinter den dicken Stämmen alter Bäume, doch war alles ebenso vergeblich wie an jenem Abend, als die Baronin ihre Dienerschaft auch zu solchem nutzlosen Suchen alarmiert hatte. Keine Spur eines menschlichen Wesens war zu erblicken.

Jetzt waren sie wieder an dem Punkte angelangt, von dem sie ausgegangen waren; die Dunkelheit wuchs rasch und beängstigend um sie her. In tiefem Sinnen blieben sie gleichzeitig stehen.

»Kann ein Tier so geschrien haben?« fragte die Baronin halblaut, als wenn sie sich vor dem Klang ihrer eigenen Stimme fürchtete.

»Nein, nein, so schreit kein Tier. Es war eine menschliche Stimme.«

»Sie war es auch damals – es war seine Stimme.«

»Heute klang es wie die eines Kindes. Wir aber haben uns überzeugt, daß kein Mensch in der Nähe war. An etwas Uebernatürliches kann ich nicht glauben, also –«

»Also?«

»Es gibt Ohrentäuschungen, wie es auch Augentäuschungen gibt. Unter besonderen Umständen kann man Töne ganz aus der Nähe zu hören meinen, wenn sie auch in Wahrheit aus ansehnlicher Entfernung kommen. Ich weiß das als Jäger, ich habe ein paar sonderbare Fälle dieser Art erlebt.«

»Sie meinen, wir hätten weiter umhersuchen sollen?«

»So ganz ohne weiteren Anhalt wäre das wohl allzu schwierig gewesen. Aber durch die Ermordung Ihres Gatten hat sich der Ton erklärt, den Sie damals gehört haben, vielleicht erklärt sich auch dieser.«

Schweigend standen sie einander einen Augenblick in der steigenden Dunkelheit gegenüber; keiner vermochte mehr die Züge des anderen genau zu erkennen. Dann begann die Baronin langsam: »Jetzt will ich Ihnen auch sagen, weshalb ich nicht fortgehen kann von hier, – andeuten wenigstens. Was mich hält, ist der Wunsch und Wille, den Mörder meines Mannes aufzufinden um jeden Preis. Ich muß dies Ziel erreichen, meiner selbst wegen fast noch mehr, als um des Verstorbenen willen, der in Frieden schläft. Ich brauche reine Luft, um atmen zu können.«

»Und Sie meinen, von hier aus Ihr Ziel am besten erreichen zu können?«

»Ja, das meine ich.«

»Sie haben einen Verdacht?«

Den Bruchteil einer Sekunde zögerte sie mit der Antwort, aber dann kam sie fest und klar hervor: »Ich habe einen Verdacht.«

»Wollen Sie mir nicht sagen, gegen wen?«

»Nein, heute noch nicht. Verdacht ist kein Beweis, und erst wenn ich einen solchen fest in meinen Händen halte, darf und werde ich sprechen. Gegen Sie zuerst.«

»Und bis dahin kann ich gar nichts tun, um Ihnen beizustehen?«

»Sie können mir helfen. Lassen Sie uns gemeinsam zu ergründen suchen, woher die rätselhaften Töne gekommen sind, damals und heute. Wenn wir das erst wissen, dann sind wir des Rätsels Lösung um einen großen Schritt näher.«

»Ich werde suchen.«

»Für heute lassen Sie uns hineingehen, – es ist Nacht geworden. Und halten Sie bei Ihrem Suchen das eine fest: von derselben Stelle, von wo der schreckliche Ton damals gekommen ist, kam höchstwahrscheinlich auch der heutige Schrei. Und wenn wir die Stelle kennen, dann wissen wir damit auch: an diesem Platze wurde mein Mann ermordet.«


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