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Viertes Kapitel

In dem Zuge, der auf einer Bahnlinie nördlich von Berlin den stillen Sommertag mit seinem Lärm störte, befanden sich nur drei Coupés erster Klasse, und ein einziges von ihnen war bisher besetzt. Ein schwarz gekleideter Herr war in Berlin eingestiegen, ein blonder, fester Deutscher von ernstem, gemessenem Wesen, gesundem Körper und langsamen Bewegungen. Aber wenn er die blauen Augen ausschlug, war ein helles, freundliches Licht in ihnen. Er hatte den Zylinder, den er beim Einsteigen getragen hatte, in das Netz hinaufgestellt und saß nun mit bloßem Kopfe, der unter einer Fülle von kurz gehaltenem, aber doch krausem Haar eine hohe, weiße Stirn über dem kräftig von der Sonne gefärbten Gesichte zeigte. Eine schwere Zigarre rauchend, saß der Herr auf dem Eckplatz am Fenster und sah mit einer gewissen gespannten Aufmerksamkeit hinaus. Was er suchte, war aber offenbar nicht landschaftliche Schönheit. Er hatte keinen Blick für die zarten, verschwimmenden Farben und Linien der Ferne, für den Aufbau der Dörfer in ihrem Baumschmuck, für die liebliche Spiegelung des Himmels in ab und an aufleuchtenden Seen. Sein Blick war immer nur auf die Nähe gerichtet, auf die Farbe des Bodens, den Stand vorübergleitender Getreidefelder. Und wenn eins von ihnen so recht in üppiger Erntefülle prangte, dann kam es wohl vor, daß er leise zu ihm hinunternickte, als wenn er sagen wollte: »So stehst du recht.«

An einer ganzen Reihe von kleinen Stationen hatte der Zug seine letzte Rast gemacht, ohne daß der einsame Passagier gestört worden wäre. Jetzt aber zeigten zusammenlaufende Gleise und größere, rote, rauchgeschwärzte Bauten die Nähe von einem betriebsreicheren Knotenpunkt an, und als der Zug ihn erreicht hatte, kam auch in diesem Wagen ein plötzliches, unruhiges Leben. Eine Gruppe von Herren, schwarz gekleidet gleich dem einzelnen Reisenden, drängte sich an der Tür seines Coupés vorüber, schaute, wählte, verteilte sich. Und auch er bekam nun Gesellschaft.

Mit den Worten: »Na, hier kann man sich wenigstens 'ne Cichorie ins Jesicht stecken,« öffnete einer von zwei Herren die Coupétür. Sein Begleiter folgte. Der gesprochen hatte, war ein behäbiger, bereits bejahrter Mann, dessen Gesicht an Formengebung und Häßlichkeit, aber nicht an Geist mit den Büsten von Sokrates wetteiferte. Haar und Vollbart waren aus Braunrot und Grau unregelmäßig gemischt, auf der kurzen Stumpfnase trug er eine Brille mit geschwärzten Gläsern gegen die Sommersonne. Der zweite der Herren war sehr hager und sehr beweglich. Eine große, blanke Glatze – die Herren beförderten ihre Zylinder auch gleich in das Netz hinauf – überzog beinahe seinen ganzen Kopf, aber der Kranz der übrig gebliebenen Haare war gleich dem dicken Schnurrbart unter der scharf gebogenen Nase noch von tiefem Schwarz. Beim Sprechen stieß der Herr ein wenig mit der Zunge an, doch störte das die Geschwindigkeit seines Redeflusses nicht. Er lachte bei den Worten des Ersten und sagte: »Das ist ja für Sie die Vorbedingung der irdischen Glückseligkeit, Herr von Temmin. Ich glaube, Sie lassen sich noch einmal mit der Zigarre im Munde begraben. Soll ich den Wunsch vielleicht nachträglich im Testamente notieren?«

»Nur nich uffmucken, Herr Rechtsverdreher, 'ne jute Zijarre is 'n jutes Ding. Uebrigens, – reden Sie mir möglichst wenig vom Bejraben. Die Sache is mir unsympathisch. Is mir schon unanjenehm jenug, daß ich den Klimbim da heute mitmachen muß.« Er sprach mit einem lauten, dröhnenden Baß, und in unwillkürlichem Wetteifer ahmte sein Begleiter ihn mit geringerer Stimme, so weit als möglich, in der Tonstärke nach, obwohl er dabei zuweilen einen forschenden und fragenden Blick auf ihren unbekannten Reisegenossen warf.

»Nun, in solchem Falle versteht sich's aber doch von selbst. Ganz abgesehen von den Geschäftsbeziehungen, die mich mit dem Toten verbunden haben. Mir ist es auch schwer geworden, mich frei zu machen. Aber die Sache geht einem doch wirklich nahe.«

»Na ja, natürlich. Man kann froh sein, daß man in das Jrab nich selber rinjebuddelt wird und noch lebendig dabeisteht. Wenn hier erst solche Jeschichten Mode werden, da is ja schließlich keener von uns mehr des Lebens sicher. – Jrade so jut, wie den armen Kerl, den Bassow, hätte das doch ooch unsereenen treffen können.«

Der Zug war noch nicht wieder in Bewegung, und keine Silbe von der Unterhaltung hatte dem einzelnen Reisenden auf seinem Eckplatz entgehen können. Als er die letzten Worte vernahm, erhob er sich ein wenig von seinem Platz und sagte mit einer halben Verbeugung: »Wenn ich nicht irre, meine Herren, fahren wir den gleichen Weg. Ich trage den Namen, den Sie eben genannt haben.«

»Was? Bassow? Sie wären der Baron Bassow, der neue, – übrigens zunächst: mein Name ist von Temmin.«

»Rechtsanwalt Jonasson,« fügte der schwarze Herr mit der Glatze in gleichem Atem hinzu.

Mit ruhiger Würde neigte Bassow den Kopf. »Ja, ich bin der Vetter des armen Verstorbenen. Zufällig auch sein einziger, männlicher Verwandter –«

»Und somit nu Majoratsherr von Garchim. Ich kann Ihnen sagen, wenn Sie's nich selber schon wissen: das Majorat is nich von schlechten Eltern.« Temmin begleitete seine Worte mit einem so dröhnenden Lachen, daß er das Geräusch des jetzt wieder im Gange befindlichen Zuges übertönte.

»Die Sache hat mich kolossal überrascht. Meine Seele hat niemals daran gedacht, daß mein Vetter vor mir sterben könnte. Und nun fällt mir auf einmal dieser Besitz in den Schoß.«

»Na, ich würde nich böse drüber sein.«

»Ich bin auch ehrlich genug, Ihnen hier nicht mit sentimentalen Redensarten zu kommen. Ich habe meinen Vetter kaum gekannt, und wer wie ich sein Leben lang auf einer kleinen, mühsam gehaltenen Klitsche in Schlesien gesessen hat, – kurz, ich glaube schon, daß ich mich später einmal sehr über diesen Glückswechsel freuen werde. Aber vorläufig, – es ist so viel Trauriges und Schreckliches dabei, – mein Vetter hat so plötzlich fortgemußt, – er hätte gewiß auch gern noch gelebt, – und für mich ist das Leben immer eine große, gewissermaßen heilige Sache gewesen.«

»Ja, das Leben –« Temmin schlug bei diesen Worten eine Stechfliege, die sich auf seinen Arm gesetzt hatte, tot, – »das Leben, das is wirklich was Jroßes. Aber wo die Sache doch nu mal so is, wo der arme Kerl hat ins Jras beißen müssen!«

»Und wie steht es mit der Untersuchung? Ich bin so im Fluge abgereist, – war nicht zu Hause, als das Telegramm kam, sondern in Breslau auf der landwirtschaftlichen Ausstellung, – hatte dann noch mancherlei zu ordnen, so daß ich auch nicht eher als heute kommen konnte. Darum bin ich bisher ganz oberflächlich orientiert und weiß eigentlich nur, was in den Zeitungen steht. Sie können mir gewiß nähere Auskunft geben.«

»Da müssen Sie sich hier an unsern Herrn Rechtsverdreher wenden. Was einer wissen kann, das weiß der.«

»Hat man eine Spur? Ist der Mörder schon gefaßt worden?«

Jonasson zuckte vieldeutig die Schultern. »Vielleicht, vielleicht auch nicht.«

»Was soll das heißen?«

»Daß man eine Verhaftung vorgenommen hat. Ob's aber der Richtige ist –«

»Und wer ist es?«

»Ja, das ist eine sonderbare Sache. Sie kennen doch wohl die Witwe Ihres verstorbenen Vetters?«

»Ein kapitales Weib!« rief Temmin dazwischen, bevor noch Bassow mit einem »Nein« kurz antworten konnte.

»Aber Sie werden wissen, – sie war doch vor ihrer Verheiratung beim Theater.«

»Das weiß ich. Es war der Grund, weshalb meine übrigen Verwandten sehr gegen diese Heirat eingenommen waren und sich ganz von der jungen Frau zurückhielten. Bei mir – nun, jedenfalls habe ich sie auch noch nie gesehen.«

»Mit ihrer früheren Theaterlaufbahn hängt diese Verhaftung zusammen. Der Mann, der des Mordes verdächtigt wird, ist ein ehemaliger Sänger, ein Kollege von ihr, der die Stimme verloren hat und ins Elend geraten ist.«

»Aber wie soll dieser Mensch dazu gekommen sein, ihren Mann zu ermorden?«

Jonasson lächelte ein verschmitztes Lächeln, wobei sein Schnurrbart auf und nieder zuckte. »Nun, es gibt Leute, die auf eigene Hand morden, und es gibt andere, die auf Bestellung arbeiten.«

»Soll das heißen, daß –«

»Sprechen Sie es nicht aus! Niemand spricht es bisher aus. Aber der Herr Staatsanwalt soll sich allerlei denken, das weiß ich aus bester Quelle.«

»Und worauf gründet er seinen Verdacht?«

»Seine Gründe wiegen nicht so leicht. Im Zeugenverhör hat er die Baronin ausdrücklich befragt, ob in letzter Zeit irgend eine verdächtige Persönlichkeit in der Nähe des Schlosses gesehen worden sei. Das hat sie lebhaft verneint. Kurz darauf hat ein Dienstmädchen ausgesagt, es habe vor ein paar Tagen die Baronin mit einem abgerissen aussehenden Menschen im Parke zusammen getroffen und gehört, wie sie ihm versprochen habe, ihm Geld zu geben. Das Mädchen hat von ihr am selben Tage ein Geschenk erhalten, wohl um sein Schweigen zu erkaufen. Mit ihr konfrontiert, hat Frau von Bassow die Begegnung nun sofort offen eingestanden, aber gesagt, jener Mensch wäre ein Unglücklicher, von dem sie mit Absicht nichts erwähnt hätte, um nicht etwa noch neue Mißhelligkeiten für ihn zu veranlassen.«

»Aber das kann doch auch so sein.«

»Gewiß. Kann sein, kann auch nicht sein. Unsre einzige Weisheit ist: Man kann nie wissen! Am Abend, an dem der Mord geschah, hat man diesen Menschen wieder in der Nähe von Garchim gesehen. Auf der Bahnstation hat man ermittelt, daß er sich dort ein Billett nach Stettin gelöst hat und mit dem Nachtzuge um zwölf Uhr vierundzwanzig abgefahren ist. In Stettin hat man ihn denn auch aufgefunden und verhaftet. Er trug einen Zettel bei sich, der nachweislich von der Baronin geschrieben war und ihn aufforderte, an dem kritischen Abend um halb neun Uhr in den Park zu kommen, wo sie bei der Dianastatue auf ihn warten und ihm das versprochene Geld einhändigen wolle. Um das Geld – eine Summe von tausend Mark – zu holen, ist sie am Tage vorher nach der Kreisstadt gefahren.«

»Aber mein Vetter war doch verreist, und so viel ich gehört habe, wußte niemand, wann er zurückkommen würde.«

»So heißt es allerdings. Aber vielleicht war seine Frau doch genauer orientiert. Jedenfalls wußte sie auch, daß er bei solch unerwarteter Heimkehr meistens den direkten Weg durch den Park nahm und gleich von dort aus in sein Wohnzimmer ging, zu dem er den Schlüssel immer bei sich trug.«

»In diesem Wohnzimmer ist ja doch der Mord geschehen?«

»Der allgemeinen Anschauung nach allerdings, aber die Baronin zeigt ein merkwürdiges Interesse daran, den Schauplatz des Mordes nicht in diesem Zimmer, sondern im Park zu suchen. Sie – und sie ganz allein – will einen geheimnisvollen Ton, einen Hilferuf oder dergleichen gehört haben, der dorthin deutet.«

»Aber welch ein Interesse könnte sie daran haben? Und der Verhaftete? Hat er gestanden? Hat man etwas von den geraubten Sachen bei ihm gefunden?«

»Nein. Beides nicht. Ein bestimmter Beweis liegt bisher absolut nicht gegen ihn vor. Man wird ihn auch kaum längere Zeit in Haft behalten können, wenn sich ein solcher Beweis nicht noch findet.«

»Welches Motiv sollte die Frau zu solch ungeheuerlicher Tat getrieben haben?«

»An Motiven wäre kein Mangel. Das ist es eben, was den Staatsanwalt in erster Linie mißtrauisch macht. Sie wissen, daß Baron und Baronin Bassow vor der Scheidung standen.«

»Ich habe davon gehört, ganz vor kurzem zum erstenmal. Aber ich habe nicht daran geglaubt.«

»Die Sache hat ihre Richtigkeit. Soweit ich urteilen kann, war aber der Baron dabei der schuldige Teil.«

»Durch die Scheidung wäre doch beiden Teilen die Freiheit wiedergegeben worden, wenn sie danach Verlangen trugen. Dazu war kein Verbrechen mehr nötig.«

Herr von Temmin hatte bisher merkwürdig ruhig zugehört. Indem er jetzt aber wieder sein dröhnendes Lachen hören ließ, rief er: »Nu, die Freiheit – was ich mir dafür koofe! Aber die Jroschens, die Jroschens, die kamen in Frage.«

»Wieso?«

Jonasson antwortete an Stelle des Gefragten: »Es handelt sich um ein Testament Ihres Herrn Vetters. In der ersten Zeit seiner Ehe hatte er eins gemacht, in dem für seine Gattin auch im Falle der Kinderlosigkeit sehr glänzend gesorgt worden ist. Er besaß außer dem Majorat, über das er natürlich nicht verfügen konnte, noch ein sehr ansehnliches Vermögen von seiner Mutter her, die ja die Tochter eines reichen Kaufmanns in Frankfurt war. Dies ganze Vermögen hat der Baron damals für den Fall, daß er sterben sollte, ohne Kinder zu hinterlassen, seiner Gattin vermacht, auch noch einige weitere Bestimmungen zu ihren Gunsten getroffen.«

»Und nun?«

»Nun hatte sich die Sachlage doch erheblich verändert. Daß der Baron die Absicht hatte, ein für seine bisherige Gattin viel ungünstigeres Testament aufzusetzen und sie mit einer verhältnismäßig kleinen Rente abzufinden, kann ich positiv behaupten. Und auch sie hat sicher darum gewußt. Wir Juristen fragen aber bei Verübung eines Verbrechens immer zuerst: Cui bono, – wem gereicht es zum Nutzen?«

Herr von Temmin fing wieder an zu lachen: »Na, wenn Ihr Rechtsverdreher danach fragt, dann setzt nur gleich unsern neuen Majoratsherrn hier hinter Schloß und Riegel. Mehr Nutzen von der Sache hat janz jewiß keener als er! Oder können Sie ein Alibi nachweisen für den Mordabend, Herr Baron?« Sein Scherz gefiel ihm so sehr, daß er sich vor Vergnügen auf dem Wagenpolster vor- und rückwärts wiegte und sich ein paarmal vor Freude auf die Schenkel schlug. Er war so stolz auf seinen Einfall, daß er das kühle Schweigen Bassows kaum bemerkte, der ein paar Augenblicke still und sinnend vor sich nieder sah, ohne auf ihn zu achten.

»Uebrigens das alles ganz unter uns, Herr Baron,« sagte Jonasson jetzt. »Der Verdacht gegen die schöne Witwe hat bisher wirklich so wenig tatsächlichen Hintergrund, beruht so ganz nur auf einer Kombination von Indizien, daß man ihn kaum laut auszusprechen wagt. Bisher ahnt sie selbst wohl kaum, was an gewissen Stellen über sie gedacht wird. Aber Sie hatten doch ein Recht auf die volle Wahrheit, soweit ich selbst sie kenne.«

»Ja, ja, gewiß, ich danke Ihnen,« sagte Bassow, jedoch langsam und scheinbar mit anderen Gedanken beschäftigt. Er versank jetzt in ein stummes Grübeln, und auch Jonasson schwieg. Nur Temmin machte zuweilen eine von seinen witzigen Bemerkungen. Auf der letzten Station vor ihrem Ziele betraten auch noch ein paar andere Teilnehmer an der bevorstehenden Beisetzung das Coupé, sie wurden Bassow vorgestellt, taten allerlei Fragen, und so verging rasch die noch übrige Zeit.

Auf der Station, wo die zahlreich gewordene Schar von schwarzen Gestalten den Zug verließ, wartete eine Reihe von Wagen, die sie nach Garchim hinüberführten. Unmittelbar vor Beginn der Trauerfeier trafen sie dort ein. Der Tote war in dem großen Gartensaal aufgebahrt worden, in dem die Baronin die Herren vom Gericht empfangen hatte. Kronleuchter und Spiegel waren schwarz umhangen; der Flügel, der sonst hier stand, war entfernt worden, Grün und Blüten aus den Treibhäusern umgaben den Sarg, auf dem die Kränze hoch aufgehäuft lagen. Ein schwüler und scharfer Duft von welkenden Blumen und sterbendem Lorbeer füllte den Raum.

Die Angekommenen betraten den Saal in dem gleichen Augenblick wie der Geistliche, der sofort auf die Baronin zuschritt. Sie hatte bisher stumm und regungslos unter anderen Damen gesessen und ohne Tränen, aber mit ernstem, bleichem Gesicht auf den Blumenhügel hingeblickt, unter dem der Tote lag. Jetzt erhob sie sich und reichte dem Geistlichen die Hand. Er sprach ein paar Tröstungsworte zu ihr, doch zeigte sich auf ihrem Gesichte keinerlei Regung, die von Verständnis oder Eindruck seiner Worte gezeigt hätte. Und mit gleich steinernem Ausdruck sah sie nun auf die Schar der Neuangekommenen, die nacheinander zu ihr herantraten, ihr die Hand reichten und halb nur verständliche, kühle Worte der konventionellen Teilnahme murmelten.

Unter den letzten trat Bassow zu ihr heran; er hatte mit sich gekämpft, was er tun sollte. Der von Jonasson in seinem Herzen geweckte Verdacht lastete schwer darauf, und als er nun diese Frau vor sich erblickte, die – wenn jener Verdacht irgendwie begründet war – hier in ihrer Trauerkleidung eine unwürdige Komödie vor dem Sarge des Mannes aufführte, dessen Tod sie gewünscht oder veranlaßt haben sollte, da kam ein Gefühl heißer Empörung über ihn. Aber indem er sie anschaute und sah, mit welcher ernsten Würde sie dastand, indem er das blasse, schöne Gesicht unter der goldroten Haarkrone betrachtete, das unbewegt einem großen Schicksal ins Auge zu blicken schien, da regten Zweifel sich in ihm, die für sie sprachen. Zur Komödie hätten Tränen und Jammer gehört, hier aber war nur der Ausdruck einer maßvollen, ruhigen Trauer, wie sie auch die entfremdete Gattin dem Toten schuldete.

Bassow fühlte sich angezogen und fortgestoßen im gleichen Augenblick, und er zauderte in diesem Widerstreit mit seiner Begrüßung so lange, daß er kaum noch Zeit für sie fand. Der Geistliche war schon an den Sarg herangetreten, da stand auch er vor der Witwe und sah mit einem scharfen prüfenden Blick tief in die fragend auf ihn gerichteten Augen. Bei seinem Nahen war eine leise Bewegung in das erstarrte Gesicht gekommen, ein Forschen in den unbekannten Zügen war dort erwacht. Alle die wechselnden, widerstreitenden Gefühle der letzten Minuten wogten jetzt noch einmal in Bassow durcheinander: vergeblich suchte sein Mund nach einem der herkömmlichen Worte der Teilnahme, und er vermochte nichts zu tun, als mit einer tiefen, förmlichen Verbeugung den Namen zu nennen, den er trug: »Kurt von Bassow.«

»Sie sind –«

Sie brach ab; stumm sahen sie einander in die Augen. Sie hatte mit unwillkürlicher Bewegung die Hand ein wenig zur Begrüßung erhoben, er aber konnte sich nicht überwinden, sie zu ergreifen, und nun senkte sie sich langsam wieder hinab auf das Trauerkleid, wo sie ruhen blieb. Mit erneuter Verbeugung trat er zurück, aber sein Blick vermochte sich nicht loszureißen von der schönen, marmorweißen Hand auf dem schwarzen Gewand, und es gab ihm gleichzeitig einen leisen Stich ins Herz, daß er sie nicht hatte fassen dürfen.

Die Trauerfeier begann. Der Geistliche beklagte den Toten, der so plötzlich und unvorbereitet vom Licht hatte scheiden müssen, verfluchte den Verbrecher und rief das Gericht Gottes auf ihn herab. Von seinen Worten aber hörte Bassow nur einen geringen Teil. Ein Gefühl der Unruhe, des Aergers über sich selbst, den er sich nicht zu erklären wußte, – war in ihm erwacht. Er empfand ein Unbehagen, daß er als der zukünftige Herr dieses Hauses am Sarge des Ermordeten stand, und konnte sich's doch zugleich nicht versagen, den schönen Raum, den weißen, vergoldeten Stuck an Decken und Wänden mit einem zwiespältigen Gefühl von Eindringling und rechtmäßigem Herrn zu betrachten. Aber dies Herrengefühl besiegte zuletzt seinen Aerger und sein Mißbehagen, indem es sich zugleich von der flüchtigen Besitzesfreude reinigte. Den Herrn des Hauses erwarteten Pflichten, die zu erfüllen waren, die eine, nächste Pflicht vor allem, den Mann zu rächen, der dort ermordet im Sarge lag, den Verbrecher zur Verantwortung zu ziehen, der den Wehrlosen erwürgt hatte. Bassow richtete sich höher auf, der ernste Ausdruck seines Gesichts verstärkte sich. Nein, vor ihm sollte niemand Gnade finden, und wenn diese Frau – seine Augen suchten sie abermals, ein kalter, harter Blick flog zu ihr hinüber. Sie aber sah und erwiderte den Blick. Auch sie hatte die Augen erhoben von dem Blumenhügel auf dem Sarge und mit einem Ausdruck von gespanntem Interesse auf Bassow geschaut. Auch wandte sie den Blick nicht ab, als er sie nun mit den Augen suchte, doch war es, als wenn deren mißtrauischer Glanz einen Widerschein in den ihrigen erweckte. Auch in ihnen verschwand jener warme Schein; mit kühler, feindlicher Schärfe kreuzten sich ihre Blicke über dem Sarge des Toten.

Dann begann der Abschluß der Trauerfeier im stillen Gebet, das alle Köpfe sich beugen ließ. »Und vergib uns unsre Schuld,« kam es von den Lippen des Geistlichen, – Bassow meinte, daß er die Worte mit einer besonderen Betonung spräche. Noch ein allgemeines Schweigen, dann das Aufheben des Sarges. In der Familiengruft im Parke sollte die Beisetzung erfolgen, und langsam ordnete sich der Zug des Gefolges. Während sich die Teilnehmer noch durcheinanderschoben, trat ein hochgewachsener Herr an Bassow heran und sagte gedämpft: »Sie sind der neue Majoratsherr, wie ich höre. Mein Name ist von Breitenbach, ich bin der nächste Gutsnachbar von Garchim. Der Verstorbene war mir ein sehr lieber Freund, und ich würde mich freuen, wenn auch wir gute Nachbarschaft hielten. Ist es Ihnen recht, so gehen wir zusammen.«

Bassow verbeugte sich zustimmend, sie stellten sich nebeneinander im Zuge auf, und als dieser nun durch den Park dahinging, dessen Grün in der Nachmittagssonne leuchtete, begann Breitenbach halblaut zu erzählen. Er sprach zunächst von seiner letzten Begegnung mit dem Ermordeten, kam dann auf die Verhältnisse der beiden Güter, nannte und charakterisierte verschiedene Teilnehmer im Zuge. Fast unaufhörlich sprach er, während Bassow nur ab und an eine Bemerkung, eine Frage einwarf. Es lag ihm auf den Lippen, auch nach Breitenbachs Urteil über eine mögliche Schuld der Baronin an der Ermordung zu fragen, doch hielt ihn eine unbestimmte Scheu davor zurück.

Und nun waren sie auch schon an der Kapelle angelangt, in der die Familiengruft sich befand. Viel älter als das Schloß, wies dies ernste, graue Gebäude, um das finstere Tannen emporwuchsen, gotische Formen auf; eine spitzbogige Tür stand offen und zeigte einen matt von Kerzen umflimmerten Altar. Und indem der Zug einen großen Bogen beschrieb, sah Bassow etwas Unerwartetes. Er hatte auf die Anordnung des Zuges nicht viel geachtet und bestimmt geglaubt, daß die Baronin sich nach der Feier im Schlosse sogleich zurückgezogen habe. Nun sah er sie plötzlich unmittelbar hinter dem Sarge stolz und fest einherschreiten. »Wie schön sie geht!« war sein unwillkürliches Denken, aber gleich schalt er sich selbst im stillen, daß ihm kein andrer Gedanke kam, daß die Entrüstung über ihre mögliche Schuld nicht jedes andre Gefühl besiegte.

An der Beisetzung selbst konnten in der engen Kapelle nur wenige Personen teilnehmen, und Bassow hielt sich absichtlich zurück. Obwohl er nun Herr war an diesem Platze, kam er sich heute doch noch wie ein Fremder vor. Er sah nur, wie die schwarze Gestalt der Baronin sich schattenhaft abhob vor der Helle des Altars.

Im Sonnenschein draußen waren die Gesichter der übrigen Teilnehmer um so deutlicher zu erkennen, und viele Augen suchten den neuen Majoratsherrn, dem ein Mord solch einen Besitz geschenkt hatte. Nach aufrichtiger Teilnahme und Ergriffenheit forschten seine Blicke vergeblich. Nur Breitenbach schien ernstlich bewegt. Er hatte ein Taschentuch hervorgezogen, das er in nervös bewegter Hand zusammenballte, doch kamen keine Tränen in seine Augen. Mit starker Selbstbeherrschung hielt er sie offenbar zurück.

Jetzt war auch das letzte geschehen; ein Blumenhügel in der Kapelle bezeichnete die Stelle, wo der Tote ruhte. In Gruppen zusammengeschlossen, gingen die schwarzen Gestalten durch den Park zurück. Im Schlosse war für die auswärtigen Teilnehmer ein Imbiß hergerichtet worden, weil erst am Abend ein Zug die Station passierte, der sie wieder fortführen konnte. Die Baronin hatte die nötigen Anordnungen getroffen, aber sie blieb auf ihren Zimmern, und an Bassow war es, zum ersten Male den Besitz zu repräsentieren, der ihm unvermutet zugefallen war. Das freudige Herrengefühl von vorhin stieg wieder in ihm empor, als die Dienerschaft ihm die nötigen Meldungen machte, nach seinen Befehlen fragte. In fester und stolzer Haltung setzte sich Bassow auf den Herrensitz an der Spitze der Tafel.

Der Verlauf der Mahlzeit aber weckte in ihm Unbehagen. Unter den Gästen waren verschiedene trinkfeste Herren, und bald nahm die Unterhaltung einen Ton an, den Bassow wenig passend fand in einem Trauerhause. Herr von Temmin vor allem, der eine Flasche Wein rasch hinuntergegossen hatte, fing in kurzer Zeit an, zweideutige Anekdoten zu erzählen, über deren Pointen er sein brüllendes Gelächter anstimmte.

So war es Bassow willkommen, als der Diener meldete, daß die Wagen zur Abfahrt bereit stünden, und als er dem letzten der Gäste die Hand gereicht hatte zum Abschied. Nun ging er zunächst auf sein Zimmer, um eine bequemere Hauskleidung anzulegen, dann aber trieb es ihn wieder in den Park hinunter ins Freie. So vielerlei Neues bestürmte ihn von allen Seiten, daß er sich's zurechtlegen mußte im einsamen Umherstreichen.

Es war noch die lichte Dämmerung des Hochsommerabends, die nur wie ein weicher Schleier die Gegenstände umhüllte, sie aber deutlich erkennen ließ. In dieser sanften Beleuchtung betrachtete Bassow seinen neuen Besitz und freute sich an ihm. Der Tote hatte sein Recht gehabt, nun kam der Lebendige. Kraftgefühl und Schaffenslust regten sich in ihm.

Im langsamen Dahinschreiten durch die abgelegenen, stillen Wege des Parks aber blieb er plötzlich fast erschrocken stehen. Aus einem engen Laubgang hervortretend, sah er auf einer Marmorbank eine bewegungslose, schwarze Gestalt. Sie wandte ihm halb den Rücken zu, so daß ihr sein Kommen verborgen geblieben war. Er aber hatte die Baronin sogleich erkannt. Ueber ihrem leuchtenden Haar lag ein schwarzer Schleier, die stolze, schöne Figur saß ungebeugt, nur in tiefes Nachdenken schien sie versunken zu sein. Einen Augenblick hatte Bassow Lust, heranzutreten und sie aus ihrem Sinnen zu wecken, dann aber kam ihm plötzlich die Erinnerung an das, was er auf der Herfahrt gehört hatte. Hier dieser Platz, neben dem eine weiße Marmorfigur stand, war vielleicht derselbe, wo die Baronin im Zwiegespräch mit einem Fremden überrascht worden war, wo sie den Plan zur Ermordung ihres Gatten sollte verabredet haben. Ein tiefer Widerwillen stieg in Bassow empor, und leise ging er wieder zurück.

Eine innere Erregung war in ihm nach diesem Augenblick, die nicht wieder weichen wollte. Ein Instinkt sagte ihm, daß diese Frau die Fähigkeit besaß, Macht über ihn zu gewinnen, doch er sträubte sich zugleich gegen dies Gefühl und kehrte das Mißtrauen gleich einer Waffe gegen sie. Ein unerhörtes, niedriges Verbrechen sollte sie geplant und begangen haben. Durch ihre Schuld sollte der Ermordete jetzt in seiner Gruft ruhen. Es trieb ihn zu der Totenkapelle hin, um sich in ihrem Anblick anzufüllen mit Empörung, und nach einiger Zeit fand er den Ort, wo das graue Gebäude unter den abendschwarzen Tannen düster und feierlich dastand. Ein leises Duften und Leuchten der Blumen auf der Gruft kam durch die geschlossene Gittertür zu ihm her gleich einer Mahnung, des Toten zu gedenken, gleich einer Warnung vor unbekannten, im Verborgenen schleichenden Mächten.

Bassow hatte die Furcht noch nie gekannt. In harten Kämpfen eines arbeitsreichen Lebens war er gestählt worden gegen solches Gefühl. Aber die Mahnung verstand er, die der frühere Herr dieses Erdfleckes an den neuen richtete, und seine Muskeln strafften sich in leidenschaftlicher Energie. Sich umwendend, hob er drohend seinen Arm und flüsterte in die dunkler niedersinkende Dämmerung hinein: »Hüte dich vor mir, wenn du schuldig bist!«


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