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Drittes Kapitel

Herr von Breitenbach war kaum gegangen, als der Gendarm eintrat. Er war ein dicker Mann mit einer zu weit geschnallten Säbelkoppel um den Leib und einem Dienstehrenzeichen auf der Brust. Mit ihm zugleich kam ein leiser Messing- und Ledergeruch herein. Er glühte vom raschen Ritt, von Aufregung und Wichtigkeit. Nachdem er in aller Ehrerbietung seiner Teilnahme an dem traurigen Vorfall Ausdruck gegeben hatte, worauf ihm die Baronin nur durch eine wortlose Kopfbewegung Antwort gab, fing er seine Nachforschungen an.

Auch er konstatierte die blutunterlaufenen Stellen am Halse des Toten und verwandte besondere Sorgfalt auf die Feststellung der fehlenden Wertgegenstände. Seine Frage, ob sich mutmaßlich eine größere Summe Geldes im Portemonnaie oder in der Brieftasche befunden habe, mußte die Baronin unbeantwortet lassen. Da ihr Mann von einer mehrtägigen Reise zurückgekehrt war, für die er sich ohne Frage reichlich mit Geld versehen hatte, so konnte sie annehmen, daß noch eine ansehnliche Summe davon übrig gewesen sei. Genaueres vermochte sie nicht anzugeben. Dagegen betonte sie die Unwahrscheinlichkeit, daß in dem geöffneten Schreibtische sich noch weiteres Geld befunden habe. Dort pflege ihr Mann es niemals aufbewahrt zu haben, sondern stets im Geldschrank in seinem anstoßenden Schlafzimmer, der bei nun vorgenommener Besichtigung unberührt erschien. Ob irgendwelche Papiere oder derartiges aus dem Schreibtisch entwendet worden seien, vermochte die Baronin gleichfalls nicht festzustellen.

Als der Gendarm sich die Gegenstände genau notiert hatte, die nach ihrer Mitteilung sicher fehlten, ließ er die Blicke suchend über den Raum dahingehen und sagte dann: »Darf ich Frau Baronin bitten, sich das ganze Zimmer und alles, was darin ist, noch einmal ganz genau anzusehen, ob nicht möglicherweise doch noch etwas fehlt.«

Verneinend bewegte sie den Kopf. »Ich habe schon alles wieder und wieder darauf angesehen, aber ich habe –« Plötzlich unterbrach sie sich selbst. Unwillkürlich waren trotz ihrer Ablehnung ihre Blicke der Aufforderung des Gendarmen gefolgt, hatten die Gegenstände im Zimmer abermals gemustert und waren jetzt auf einem niedrigen, vierbeinigen Eichentisch haften geblieben, der auf der linken Seite neben der Tür zur Terrasse stand. »Das ist merkwürdig!« sagte sie leise.

»Was denn, was denn, Frau Baronin?« fragte der Gendarm, der den gespannten Ausdruck eines wohldressierten Jagdhundes auf der Spur angenommen hatte.

»Merkwürdig ist es, daß ich das übersehen habe, und ebenso merkwürdig, daß gerade das noch fehlt.«

»Also fehlt wirklich noch ein weiterer Gegenstand?« Er atmete vor Eifer hörbar durch die Nase.

»Ja. Und sonderbarerweise etwas, das für den Mörder ohne jeden Wert sein muß, aber an sich so auffallend ist, daß es ihn leicht verraten könnte.«

»Und was? Und was?« Das dicke, schwarze, abgegriffene Notizbuch in seiner Hand bebte.

»Eine kleine Decke, die auf dem Tische dort gelegen hat, fehlt. Ich selbst habe sie einmal gestickt. Sie war mattgelb, viereckig, und um den Rand lief eine Guirlande von grünem Weinlaub mit blauen Beeren.«

Er war schon beim Schreiben. »Decke – viereckig – Guirlande mit blauen – blauen – Beeren. Ja, warum der Verbrecher die genommen haben soll, das verstehe ich auch nicht. Aber vielleicht liefert er sich durch diese Unvorsichtigkeit uns in die Hände. Jedenfalls haben wir in dieser Decke ein wertvolles, leicht erkennbares Corpus delicti.«

Er hatte seine Aufzeichnungen beendet und machte jetzt eine militärische Verbeugung mit geschlossenen Hacken vor der Herrin des Hauses. »Meine Tätigkeit hier ist fürs erste beendet. Ich habe die Ehre, mich Frau Baronin zu empfehlen. Mein Pferd steht noch gesattelt auf dem Hof; ich reite sogleich zum Landratsamt, um persönlich Bericht zu erstatten. Bei der Wichtigkeit des Falles ist das geboten. Der Herr Landrat werden sodann das weitere veranlassen.«

»Und was hat hier zu geschehen?«

»Alles muß unberührt bleiben, wie es im Augenblick ist. Wenn Frau Baronin das Zimmer verlassen, müssen Frau Baronin die Güte haben, es abzuschließen, daß niemand es betreten kann.«

»Bis der Arzt kommt, bleibe ich unter allen Umständen hier. Gehe ich dann, wird Ihre Vorschrift genau befolgt werden. Und nun eilen Sie, damit nichts versäumt wird.«

Noch einmal das militärische Hackenzusammenschlagen des ehemaligen Kürassierunteroffiziers, ein leises Klingen seiner Sporen beim gedämpften Hinausgehen, und die Baronin war wieder allein. Sie trat jetzt noch einmal zu dem Eichentischchen an der Tür, blickte auf die leere, hellbraune Fläche und schüttelte nachdenklich den Kopf.

Ihr Alleinsein aber dauerte nicht lange. Der Diener meldete die Ankunft des Arztes, und unmittelbar hinter ihm erschien dessen Gestalt in der Tür. Es war eine behäbige, mittelgroße Figur, auf der ein von vollem, weißem Haar und Bart umgebener Kopf saß. Ein Gemisch von Bärbeißigkeit und Güte war in dem Gesicht, aber die Güte darin erschien als das Ursprüngliche, Natürliche, die Bärbeißigkeit nur als künstliches Ergebnis eines vom Leben aufgedrungenen Pessimismus. Den »Knecht Ruprecht« nannten ihn viele Kinder in der Gegend, bei denen er die Rolle dieses lieber schenkenden als bestrafenden Geistes um die Weihnachtszeit gern und häufig gespielt hatte.

Wortlos ging die Baronin auf ihn zu. Bei seinem Anblick zum ersten Male schien ihre bisherige Fassung sie zu verlassen. Ein Schluchzen, halb erstickt, kam aus ihrer Brust; ohne reden zu können, streckte sie nur die Hände nach ihm aus. Er nahm sie, faßte sie beide und hielt sie fest in den seinen.

»Meine arme, liebe Baronin, – welche Nachricht hat mich heute zu Ihnen geführt!« Seine Stimme war unklar und rauh; er sprach nur mit Mühe.

Und seine innere Bewegung löste nun auch völlig die ihre. Sie brach plötzlich in Tränen aus, und mit einer Bewegung, wie wenn ein Kind sich zu seinem Vater flüchtete, legte sie das überströmte Gesicht an seine Schulter. Er aber ließ sie ruhig gewähren, streichelte nur mit milder Hand ihre Haare und sagte leise: »Weinen Sie, – weinen Sie! Wir Aerzte wünschen häufig, Tränen verordnen zu können, aber die muß ein anderer schenken.« Erst, nachdem sie ein wenig ruhiger geworden war, schob er sie sanft zurück und fügte hinzu: »Ueber Sie, Baronin, werden wir noch häufiger sprechen können. Aber Sie ließen mich wegen eines anderen rufen.«

Sie hob den Kopf und strich sich das Haar zurück, das mit seiner blondroten Fülle auf ihr Gesicht herabgesunken war. »Sie haben recht. Ich habe mich gehen lassen, verzeihen Sie mir. Dort ist Ihr Platz.«

Mit ausgestreckt erhobener Hand zeigte sie nach dem Diwan, doch war der Arzt ihr schon zuvorgekommen und neben der ausgestreckten Gestalt niedergekniet, auf deren Brust er horchend sein Ohr legte. Eine Weile ließ ihn die Baronin seine Untersuchungen und Bemühungen fortsetzen, dann fragte sie, wieder merkwürdig ruhig geworden: »Es ist keine Hilfe mehr, nicht wahr?«

Der Arzt erhob sich. »Nein, Baronin, es ist keine Hilfe mehr. Aber damit wissen Sie noch nicht alles –«

»Ich weiß es.«

»Wie?«

»Ich weiß, daß mein Mann ermordet worden ist.« Einen kurzen, überraschten und fragenden Blick warf der Arzt auf ihr bleiches, jetzt anscheinend nach innen blickendes Gesicht. »Sie haben einen Verdacht?« Unwillkürlich tat er die Frage.

»Nein.« Kurz und rasch kam die Antwort. Und gleich darauf, als wenn sich ihre Gedanken damit in erster Linie beschäftigt hätten, fügte sie hinzu: »Haben Sie mich auch nicht mißverstanden, weil ich geweint habe?«

Mit einem freundlichen Aufleuchten siegte jetzt in seinem Gesichte die Güte über jeden anderen Ausdruck. »Wie sollte das möglich sein, liebe Baronin?«

»Weil Sie denken könnten – Sie sind mir ja in all der Zeit hier der einzige wahre, treue, zuverlässige Freund gewesen. Sie und Ihre Frau Gemahlin. Alle die anderen –« der Schatten eines Lächelns glitt über ihre Züge – »haben es mir ja niemals verzeihen können, daß ich früher einmal eine Künstlerin war.«

»Das kam wohl nur daher, weil sie nicht aus eigener Anschauung wußten, welch' eine Künstlerin Sie gewesen sind. Ich hatte ja noch den Genuß gehabt, Sie zu hören und zu sehen, damals in Wien.«

»Das ist der Anfang und Grund unserer Freundschaft gewesen; ich weiß es. Aber später ist so vieles hinzugekommen, so viel Gutes und Liebes von Ihrer Seite. Wie oft haben Sie mich zur Ruhe gesprochen, wenn ich launisch, ungerecht, heftig war – gegen ihn.« Ein halber, scheuer Blick von ihr flog zu dem Toten hinüber.

»Und oft haben Sie mir die Freude gemacht, auf meine Worte zu hören. Das geschieht einem Arzt und einem Freunde nicht allzu oft.«

»Weil Sie mein Freund sind, – eben darum sollen Sie mich nicht falsch beurteilen. Darum sollen Sie nicht glauben, daß meine Tränen erheuchelt waren. Sie wissen, was aus unserer Ehe geworden war, und wenn ich nun weinte, so waren es wohl nur die Nerven, die nach der Aufregung versagten.«

Er schüttelte mit mildem Lächeln den weißhaarigen Kopf. »Sie sind stolz, Baronin, ich weiß es. Aber darum brauchen Sie sich nicht schlecht zu machen vor mir. Ich kenne Sie doch. Und es war etwas ganz anderes als Ihre Nerven, was diese Tränen hervorrief. Sie weinten um Ihr vergangenes, verlorenes Glück, das nun einmal doch jahrelang die Gestalt jenes Mannes dort getragen hat.«

Bevor der Arzt es zu hindern vermochte, beugte sie sich mit rascher Bewegung nieder und küßte seine Hand. »Sie denken besser von mir, als ich selbst. Ich danke Ihnen von Herzen.«

Schweigend ließ er ihr einen Augenblick Zeit, sich mit milden, guten Gefühlen zu durchwärmen. Dann aber nahm er ihren Arm in den seinen und sagte: »Nun kommen Sie fort aus diesem Totenzimmer. Wir können hier nichts mehr helfen und müssen dafür sorgen, daß alles unberührt bleibt, bis die Herren vom Gericht eintreffen. Sind sie benachrichtigt?«

»Gewiß. Ich erwarte sie. Doch wird noch einige Zeit vergehen.«

»Dann kommen Sie und verschließen Sie die Türen. Sie müssen sich ein wenig niederlegen und ruhen.«

»Nein, nein, das kann ich nicht. Die ganze Nacht schon habe ich keine Minute geschlafen. Gestern abend, – – – ich muß Ihnen das noch ausführlich erzählen, – ich habe gestern etwas Entsetzliches erlebt, gehört! Bleiben Sie bei mir, dann bin ich zufrieden.«

»Gut, wie Sie wollen.«

Sie gingen hinaus; in fester Abgeschlossenheit blieb das Totenzimmer hinter ihnen. Die Baronin zog sich nur solange zurück, um ein schwarzes Trauerkleid anzulegen, dann setzte sie sich zu dem Arzt in ihr Wohnzimmer. Sie sorgte für ein Frühstück, von dem sie selbst jedoch fast gar nichts genoß, und während sie dem alten Freunde dabei gegenüber saß, erzählte sie von dem unerklärlichen Schrei, den sie gehört hatte, und in dem sie die Stimme ihres Mannes, wie sie zum ersten Male jetzt betonte, mit Sicherheit erkannt zu haben glaubte. Als aber der Arzt nach genauen Erkundigungen und Erwägungen die Ansicht aussprach, es müsse sich doch wohl um eine Halluzination des Gehörs gehandelt haben, wurde sie ungeduldig, beinahe heftig und brach das Gespräch ab.

Ein paar Stunden waren so vergangen, als der Diener meldete, daß die Herren vom Gericht angekommen seien. Die Baronin befahl, sie in den großen Gartensaal zu führen, der im Erdgeschoß, ein Stück von dem Totenzimmer entfernt, aber auch nach der Terrasse hinaus lag, und stieg in Begleitung des Arztes die Treppen hinab. Aus dem schwarzen Kleide wuchs das Gesicht der Baronin weiß und starr hervor, die Krone des Haares darüber leuchtete doppelt so stark.

Zwei Herren, ein großer und ein kleiner, traten ihnen, gleichfalls in schwarzer Kleidung, entgegen. Der kleinere, der sich der Baronin als Staatsanwalt von Sieglitz vorstellte, war so stark, daß er breitbeinig gehen mußte, wie ein Seemann, während er den Leib vorstreckte und seinen Kopf zurücklegte, um das Gleichgewicht zu bewahren.

Durch einen goldenen Kneifer auf der breiten und kurzen Nase schien er so die Welt immer von unten her zu betrachten. Ein langer Schmiß auf der linken Backe sprach von standesgemäß verbrachten Studienjahren; auch ein Stück vom rechten Ohre war ihm damals abgeschlagen worden. In dem starken Körper wohnte sonderbarerweise nur eine kleine, helle Stimme, die durch Schärfe die abgehende Kraft ersetzte. Ein unbestimmter Duft von schwerem Rotwein ging von dem Manne aus.

Sein Begleiter, der von ihm als Referendar Widukind vorgestellt wurde, war sehr elegant und modisch gekleidet und überragte den Herrn Staatsanwalt fast um Haupteslänge. Sein Gesicht wäre freundlich und hübsch gewesen, wenn sich ihm nicht – wohl durch angestrengtes Arbeiten und Nachdenken – vier strahlenförmig von der Nasenwurzel ausgehende Falten scharf in die Stirnhaut gegraben hätten, die unauslöschlich darin hafteten. Kein Wechsel im Gesichtsausdruck vermochte sie zu verscheuchen, und sie gaben ihm den Anschein, als wenn er jeden Menschen immer nur als Inquirent betrachtete. Ein gestutzter, brauner Schnurrbart vermehrte noch den Ausdruck des Fragenden in seinem Gesichte. Dem Kreisphysikus, der mit ihnen die gleiche Stadt bewohnte, waren die Herren bereits bekannt, aber da sie beide noch nicht lange am dortigen Gerichte tätig waren, hatte die Baronin sie bisher nicht gesehen.

Der Staatsanwalt begann sogleich die Erfüllung seiner amtlichen Pflicht, indem er sagte: »Gnädigste Baronin werden verzeihen, wenn ich nur mit kurzen Worten meine Teilnahme an dem traurigen und bisher unaufgeklärten Vorfall ausspreche, der mich hierher geführt hat. Möglichste Eile ist immer geboten, wenn sich's um Ergreifung eines Verbrechers handelt. Ich darf daher wohl bitten, mich sogleich in den Raum zu führen, wo die Sache sich abgespielt hat.«

»Gewiß.« Ohne Zögern ging die Baronin voran über den Korridor und öffnete mit einem Schlüssel, den sie bei sich führte, die Tür zu dem ehemaligen Arbeitszimmer des Toten.

Mit raschem, geübtem Blick überflog der Staatsanwalt nach allen Richtungen hin den Raum, um an der starren Gestalt auf dem Diwan haften zu bleiben. »Hat man den Toten in dieser Stellung aufgefunden?«

»Nein, er lag in dem Sessel vor seinem Schreibtisch. Weil ich Hilfe zunächst noch für möglich hielt, ließ ich ihn dorthin tragen, um dem Körper eine bequemere Lage zu geben.«

Mißbilligend und ungeduldig bewegte der Staatsanwalt seinen hintenübergebogenen Kopf hin und her, wobei er, jedoch laut genug, um auch von der Baronin verstanden zu werden, vor sich hinmurmelte: »Daß in solchen Fällen auch immer wieder dieselben Dummheiten gemacht werden!« Er fügte sodann lauter hinzu: »Nun, jedenfalls werden Sie und die anderen Zeugen mit Genauigkeit angeben können, in welcher Lage man den Körper gefunden hat.«

»Gewiß.« Mit einem Ausdruck von kaltem Stolze blickte die Baronin auf das Gesicht hinab, das auch zu ihr beim Sprechen emporschauen mußte.

Herr von Sieglitz besichtigte nun sehr sorgfältig in Gemeinschaft mit dem Arzte die Spuren des Verbrechens am Halse des Toten, die verzerrten Züge des Gesichts, auf dessen stummen Lippen auch jetzt noch ein vergeblicher Hilferuf zu schweben schien, den Anzug des Ermordeten, dessen Taschen fast völlig ausgeleert waren. Er ließ, während Referendar Widukind sich die nötigen Bemerkungen für Aufnahme des Protokolls notierte, alle fehlenden Gegenstände, soweit sie bekannt waren, vorläufig aufzählen und sagte dann: »Herr Kreisphysikus, ich möchte Sie nun bitten, die Sektion so rasch als möglich vorzunehmen.«

»Die Sektion?« Es war die Baronin, die mit einem Tone des Abscheues oder des Erschreckens die Frage tat.

Erstaunt sah der Staatsanwalt sie an. »Allerdings. Haben Sie etwas dagegen einzuwenden?«

»Ich – es ist mir zuwider. Und er, – ich weiß, daß er den Wunsch hatte, nach seinem Tode nicht seziert zu werden.«

»Ich bedauere, unter diesen Umständen auf den Wunsch des Verstorbenen keine Rücksicht nehmen zu können. Ich handle nach strengster Vorschrift. Ist ein Raum in der Nähe, in dem die Sektion vorgenommen werden kann?«

Mit auf die Unterlippe gebissenen Zähnen stand ihm die Baronin schweigend gegenüber. Sie schien entschlossen, ihm keine Antwort zu geben. An ihrer Stelle nahm der Arzt in beschwichtigendem Tone das Wort: »Ich möchte für diese leider unvermeidliche Vornahme das nebenan gelegene Schlafzimmer des Barons vorschlagen. Ich kenne den Raum als geeignet. Und Sie, liebe Baronin, darf ich wohl bitten, ein paar Männer von Ihrem Dienstpersonal zur Hilfeleistung zu bestimmen.«

Es war, als wenn ihre hart gewordenen Züge auftauten unter seinen freundlichen Worten. Sie bewegte den Kopf nach ihm und sagte: »Wenn Sie es für nötig halten und wünschen, gewiß.« Damit ging sie selbst nach der Tür und rief durch den Ton der elektrischen Glocke den Diener herbei, der kurz darauf in Begleitung des Kutschers wieder hereinkam. Sie schoben den Diwan, der auf Rollen lief, durch die weitgeöffnete Tür in das Nebenzimmer. Ein dumpfes Geräusch, ein Wiederschließen der Türen, und verschwunden war das Opfer des Todes aus dem Zimmer, das es mit seinem Schrecken erfüllt hatte. Zu dem Kreisphysikus, der dem Diener folgte, sagte der Staatsanwalt noch: »Mit dem Herrn Referendar komme ich nachher hinüber, um das Ergebnis der Sektion zu hören und das Protokoll darüber aufzunehmen. Vorläufig haben wir hier noch zu tun.« Und er fügte, sich an den Referendar Widukind wendend, hinzu: »Setzen Sie sich dorthin, Herr Kollege, um zunächst hier zu protokollieren. Nein, nicht an den Schreibtisch; er muß unberührt bleiben. Aber am Fenster steht noch ein Tisch. Das Tintenfaß können Sie dort hinübernehmen. »Auch Sie bitte ich, sich zu setzen, Frau Baronin.«

»Ich stehe lieber.«

Ein kurzer, halb erstaunter, halb mißtrauischer Blick des Staatsanwalts war die Antwort auf ihre Worte. Dann schob er stumm einen Sessel für sich zurecht, in dem er sich niederließ.

»Ich schreite nun zu der eigentlichen Zeugenvernehmung. Sie, Frau Baronin, werde ich zunächst unbeeidigt vernehmen, doch muß ich Sie darauf hinweisen, daß Ihre nachträgliche Beeidigung jederzeit beschlossen werden kann.«

Sie beugte den Kopf nur ein wenig zum Zeichen des Verständnisses, und nun begann die vorgeschriebene Feststellung der Personalien. Auf die Frage nach ihrem Mädchennamen antwortete die Baronin, daß er Holstedt gelautet habe.

»Von Holstedt?«

»Nein, – bürgerlich. Karoline Mathilde Holstedt.«

Die Fragen nach Eltern und Geburtsort folgten – die Baronin war in Danzig geboren worden – und nun fragte Herr v. Sieglitz: »Haben Sie bis zu Ihrer Verheiratung immer in Danzig gelebt?«

»O nein. Von dort bin ich schon mit achtzehn Jahren fortgegangen. Ich war in Posen, Dresden, Berlin, Wien, Budapest –«

»An so vielen, verschiedenen Orten? Wie erklärt sich das?«

»Ich war Künstlerin.«

»Künstlerin?«

»Ja, Sängerin.«

»Konzertsängerin jedenfalls?«

»Nein, beim Theater.«

»Ah!« Die helle Stimme des Staatsanwalts wurde vor Ueberraschung noch heller und schärfer, und von diesem Augenblick an veränderte sich fast unmerklich der Ton seiner Fragen. Er wurde ein klein wenig herablassender und ein klein wenig vertraulicher. Dem feinen Ohr der Baronin aber entging diese Veränderung nicht, und sie stellte ihr eine wachsende Kälte gegenüber.

Das fortschreitende Verhör bezog sich auf den Zustand, in dem Körper und Zimmer des Toten gefunden worden waren, doch wußte die Baronin ihren früheren Angaben etwas Neues in dieser Hinsicht nicht hinzuzufügen. Die nachweislich fehlenden Gegenstände wurden im Protokoll verzeichnet, die durch den umgeworfenen Stuhl, die verschobene Decke unter dem Schreibtisch, die auf dessen Platte liegenden Briefe bezeugte Unordnung im Zimmer genau vermerkt.

Um diese Papiere zu betrachten, hatte der Staatsanwalt sich erhoben und war an den Schreibtisch herangetreten.

»Hat der Verstorbene diese Briefe selbst noch hierhergelegt?«

»Nein. Er war drei Tage verreist, und sie sind in seiner Abwesenheit eingelaufen.«

»Sie sind, wie ich sehe, zum Teil noch verschlossen, zum Teil erbrochen. Wie erklärt sich das?«

»Die unerbrochenen sind Geschäftsbriefe, die an meinen Mann adressiert waren und bis zu seiner Heimkehr liegen zu bleiben pflegten. Die beiden offenen waren an mich gerichtet, und ich hatte sie nur meinem Manne zur Einsicht hierhergelegt.«

»Sie selbst persönlich?«

»Ja, gestern abend.«

»Um welche Zeit?«

»Um neun Uhr ungefähr.«

»Damals also war der Baron sicher noch nicht zurückgekehrt?«

»Nein, sicher nicht.«

»Sie waren bei Licht hier im Zimmer?«

»Ich habe das elektrische Licht angedreht, es war tageshell.«

»Waren die Fenster verschlossen?«

»Nein, die Tür zum Park und beide Fenster waren offen, – der Abend war ja sehr warm. Ich habe sie dann selbst geschlossen und überall die Läden vorgelegt, weil ein Gewitter am Himmel stand. Auch die Tür zum Korridor habe ich abgeschlossen. Mein Mann hatte, wenn er unvermutet heimkam, zu beiden Türen den Schlüssel.«

»Sonst niemand?«

»Außer mir niemand. Es ist ganz unmöglich, daß nach meinem Hiersein und vor meines Mannes Ankunft irgendwer noch dieses Zimmer betreten hat.«

»Aber der Mörder könnte sich vorher durch die offene Tür vom Park her eingeschlichen und irgendwo versteckt haben. Waren Sie nebenan im Schlafzimmer?«

»Nein, das nicht.«

Er schwieg nachsinnend einen Augenblick; die Briefe auf dem Tische fesselten aufs neue seine Aufmerksamkeit.

»Sie sagen, daß diese Papiere hier anders liegen als gestern.«

»Ja, zweifellos. Mein Mann war von großer Ordnungsliebe. Ich selbst bin es von Haus aus nicht in gleicher Weise, habe mich aber nach ihm gewöhnt. Ich hatte darum auch diese Papiere wohlgeordnet hier auf die rechte Seite des Tisches gelegt und sie mit dem goldenen Falzbein beschwert, das ja zu den fehlenden Gegenständen gehört.«

»Aber es wäre doch möglich, daß Ihr Herr Gemahl selbst beim Nachhausekommen die Briefe durchgesehen hätte.«

Sie hob die Schultern und verzögerte die Antwort einen Augenblick, um dann zu sagen: »In diesem Falle wären doch auch wohl die Geschäftsbriefe an ihn selbst erbrochen.«

»Das ist richtig.«

Mit vorsichtigen Fingern, um ihre Lage so wenig als möglich zu verändern, blätterte der Staatsanwalt in den Papieren. »Unter den offen daliegenden Sachen hier ist auch ein Plan, eine Zeichnung. Was bedeutet sie?«

»Dieser Plan befand sich bei dem einen der an mich gerichteten Briefe. Wir hatten hier vor zwei Monaten einen heftigen Sturm, der außer vielen Bäumen bei uns und auf dem Nachbargute Lünzin auch einen Pavillon hinten im Parke zerstörte. Mein Wunsch war es, ihn wiederhergestellt zu sehen; ich beauftragte daher gleich damals einen Architekten in Berlin, mir eine Zeichnung für einen neuen Pavillon zu liefern. Die Sache hat sich hinausgezögert. Wenn die Ausführung des Planes nun für mich auch keinen Zweck mehr hatte, so wollte ich meinen Mann doch von dem Eingang der Zeichnung in Kenntnis setzen.«

»Keinen Zweck – wieso?«

Sie tat einen tiefen Atemzug, bevor sie sprach, sonst aber veränderte sich nichts an ihrer Haltung. »Weil wir die Absicht hatten, uns voneinander scheiden zu lassen.«

Referendar Widukind warf einen bewundernden Blick zu der Frau hinüber, die so ruhig und stolz von solchen Dingen sprach; er hätte gern als Anmerkung ins Protokoll geschrieben: »Ein königliches Weib!« Der Staatsanwalt aber ließ ein zweites »Ah« der Ueberraschung hören, so hell und grell, daß es beinahe wie ein Krähen klang.

»Sie standen vor der Scheidung? Das war mir unbekannt.«

»Wir hatten auch bisher nur persönlich und mit unseren beiderseitigen Rechtsbeiständen darüber verhandelt. Einer der beiden Briefe, die dort geöffnet liegen, bezieht sich darauf.«

Nachdenklich zerrte der Staatsanwalt an dem ihm gebliebenen Reste seines zur Hälfte abgeschlagenen rechten Ohres.

»Garchim ist Majorat, soviel ich weiß?«

»Ja, Majorat.«

»Sind Kinder aus Ihrer Ehe vorhanden?«

»Nein.«

»Wissen Sie, ob ein Testament Ihres verstorbenen Gemahls vorhanden ist?«

»Was hat diese Frage mit meines Mannes Tode zu tun?«

»Ich muß bitten, es mir zu überlassen, welche Fragen ich für nötig halte.«

»Fragen Sie.«

»Ich warte noch auf eine Antwort.«

»Es ist ein Testament meines Mannes vorhanden; vor drei Jahren, bald nach unserer Verheiratung ist es aufgesetzt worden. Das Majorat fällt selbstverständlich an den nächsten männlichen Verwandten meines Mannes, einen Vetter von ihm, der jetzt in der Nähe von Breslau sein Gut hat. Mir ist eine sehr ansehnliche Jahresrente ausgesetzt, außerdem die Berechtigung zugesprochen worden, ein halbes Jahr nach dem etwaigen Tode meines Mannes noch hier auf Garchim wohnen zu bleiben.«

»So, – und Baron Bassow hat jetzt, wo Sie doch vor der Scheidung standen, nicht etwa die Absicht gehabt, ein anderes Testament zu machen?«

Sie preßte die Lippen fest aufeinander, und ein dunkles, zorniges Blitzen kam aus ihren Augen. Aber sie beherrschte die Stimme auch jetzt. »So viel ich weiß, hat er das beabsichtigt; er hat Aeußerungen darüber getan. Aber zur Ausführung ist sein Plan bisher wohl kaum gekommen.«

Herr von Sieglitz nickte ein paarmal vor sich hin; bei der zurückgebogenen Haltung des Kopfes gewann es den Anschein, als wenn er den oben an der Decke abgemalten ruhenden Mars also begrüßte. Nach einem kurzen Schweigen tat er die Frage:

»Haben Sie sonst noch etwas zu bemerken, gnädige Frau? Haben Sie vielleicht irgendwelchen Verdacht gegen eine bestimmte Person?«

»Nein.«

»Ist die Dienerschaft zuverlässig?«

»Absolut.«

»Ist in der letzten Zeit keine verdächtige Persönlichkeit in der Nähe des Schlosses gesehen worden?«

»Nein, sicher nicht.« Sie gab gerade diese Antwort so lebhaft und rasch, daß der Staatsanwalt ihr durch die Gläser seines Kneifers einen kurzen, scharf beobachtenden Blick zuwarf. Doch tat er keine weitere Frage, sondern sagte nur: »Damit wäre die Vernehmung vorläufig beendet. Ich danke Ihnen, gnädige Frau.«

»Aber ich habe noch etwas zu bemerken. Sie fragten eben danach. Es ist eine wichtige Sache.«

»Reden Sie.«

»Nach meiner festen Ueberzeugung ist mein Mann draußen im Park ermordet worden und nicht hier im Zimmer.«

»Im Park?«

»Wie die Dienerschaft bezeugen wird, habe ich gestern abend unmittelbar unter meinen Fenstern einen Ton, einen Schrei gehört, der mich furchtbar erschreckte. Gleich gestern habe ich die Stimme meines Mannes darin zu erkennen geglaubt.«

»Sie haben doch gewiß gleich Nachforschungen angestellt?«

»Gewiß. Der Park ist in meiner Gegenwart von der Dienerschaft genau durchsucht worden.«

»Und was haben Sie gefunden?«

»Nichts.«

»Nichts? Und hat jemand außer Ihnen jenen Ton, – jenen Schrei, gehört?«

»Nein.«

»So? Kann der Schrei nicht auch aus diesem Zimmer gekommen und von Ihnen gehört worden sein?«

»Ich halte das für völlig ausgeschlossen. Mein Wohnzimmer liegt im oberen Geschoß ganz am Ende; das einzige Fenster, das es nach dieser Seite hat, war nicht geöffnet. Auch hätte die Dienerschaft im Gesindezimmer den Schrei hören müssen, wenn er von hier gekommen wäre.«

Der Staatsanwalt lächelte ein maliziöses Lächeln. »Die Geschichte, die Sie mir da erzählen, gnädige Frau, ist ohne Frage sehr interessant, aber auch, wie Sie mir zugeben müssen, ein wenig romantisch. Vorläufig ist es ein ungelöstes und – vielleicht auch kaum zu lösendes Rätsel, das mir da von Ihnen aufgegeben worden ist.«

»Ich gestehe das zu. Auch mir ist die Sache vollkommen unerklärlich. Aber ich hielt mich für verpflichtet, Ihnen davon Mitteilung zu machen.«

»Gewiß, ich danke Ihnen. Und nun wären wir zunächst wohl wirklich zu Ende ...«

Das eigentümliche Lächeln blieb auf seinem Gesicht, während er sprach. Die Baronin, der es mißfiel, antwortete nur mit einer leichten, stummen und stolzen Verbeugung. Sie hatte jetzt noch das Protokoll zu unterzeichnen, was in großen, männlichen Schriftzügen geschah, dann konnte sie das Zimmer verlassen.

Der Staatsanwalt ging ein paarmal auf und nieder, ohne zu sprechen; eine innere Bewegung färbte sein Gesicht röter und ließ den Schmiß auf seiner Backe stärker hervortreten. Dann rieb er sich voller Befriedigung die Hände und sagte: »So, nun wollen wir die anderen Zeugen vernehmen.«

Diensteifrig sprang Referendar Widukind auf und veranlaßte das Erscheinen des Dienstpersonals. Einzeln betraten die Leute das Zimmer und machten ihre Aussagen. Sie bestätigten die Angaben der Baronin, doch gaben alle zu Protokoll, daß niemand etwas von dem geheimnisvollen Schrei gehört habe, daß die Durchsuchung des Parkes an den in Frage kommenden Stellen genau und sorgfältig, aber völlig ergebnislos gewesen sei. Auch sagten sie sämtlich aus, daß ihres Erachtens die Ehe ihrer Herrschaft in letzter Zeit eine unglückliche und vielfach durch Differenzen aller Art getrübte gewesen sei.

Die letzte unter der Zahl der Vernommenen war das Hausmädchen Rosa, die mit größerer Unsicherheit als ihre Dienstgenossen vor den Staatsanwalt hintrat. Seinem geschulten Blick entging ihre Verwirrung nicht. Er machte sie zunächst aber sicherer und ruhiger durch scheinbar gleichgültige Fragen, um dann plötzlich die blitzenden Kneifergläser scharf auf sie zu richten. »Haben Sie jemals wahrgenommen, daß Ihre Herrin mit fremden Personen insgeheim verkehrt hat?«

Einen Augenblick schwieg das Mädchen, dann brach es in Schluchzen aus und rief: »Ach, die Frau Baronin ist ja doch immer so gut zu mir gewesen! Ich darf es nicht sagen und kann es nicht sagen!«

»Sie dürfen und müssen! Ich verweise Sie auf die Gefahren der Eidesverletzung. Sie werden Ihre Aussagen beschwören müssen, und Meineid wird mit Zuchthaus bestraft.« Ein Tränenstrom, von undeutlichen Ausrufen begleitet, war zunächst ihre Antwort. Dann aber, als der Staatsanwalt mit Geschick einen väterlichen Ton anschlug, sie an ihre tote Mutter erinnerte und ihr sagte, daß es noch völlig ungewiß erscheine, ob durch ihre Aussage der gütigen Baronin irgendwelche Ungelegenheit bereitet würde, bequemte sie sich zum Reden.

»Es ist ein paar Tage her,« begann sie, doch unterbrach sie der Staatsanwalt sofort.

»Wieviel Tage? Sie müssen ganz genau sein. Bezeichnen Sie den fraglichen Tag bestimmt. Heute haben wir Freitag –«

»Ja, ich muß mich nur erst besinnen. Am Dienstag – jawohl, am Dienstag ist es gewesen. Ich weiß es, weil der Herr Baron an diesem Tage abreisten.«

»So, so!«

»Vormittags um zehn Uhr ist er fortgefahren, und nachmittags ist es gewesen.«

»Um welche Zeit?«

»Um vier Uhr – ja, so um vier Uhr wird es gewesen sein. Es war ein Besuch gekommen, die Frau von Linker von Torchow, und ich suchte die Frau Baronin auf ihrem Zimmer, um den Besuch anzumelden. Der Diener war im Augenblick nicht da. Und weil ich die Frau Baronin nicht fand, ging ich in den Park. Sie hat einen Lieblingsplatz, wo sie meistens sitzt, und eine von den weißen Figuren steht neben dem Platz. Ich war über den Rasen gegangen, um rascher hinüberzukommen, und so hatte sie mich nicht hören können. Denn sie war dort, wie ich es mir gedacht hatte, aber sie war nicht allein.«

»Nicht allein – so? Und wer war außer der Frau Baronin dort?« fragte der Staatsanwalt.

»Ein fremder Mann, den ich noch niemals gesehen hatte. Ein großer Mann, der aber den Kopf gebeugt hielt –«

»War er jung oder alt?«

»So in mittleren Jahren, aber die Haare waren schon ein wenig grau, – er hielt seinen weißen Strohhut in der Hand. Das heißt, weiß war er eigentlich nicht mehr, und überhaupt sah der Mann ein wenig abgerissen und verkommen aus.«

»Haben Sie nicht gehört, was die Frau Baronin mit ihm sprach?«

»Nein, – ein paar Worte nur, – ach, muß ich das alles sagen?«

»Unbedingt! Sie werden vereidigt werden.«

»Sie sagte, – weiter habe ich aber wirklich nichts gehört: ›Lassen Sie sich nicht hier sehen, bis ich Ihnen geschrieben habe, wann und wo Sie das Geld in Empfang nehmen sollen.‹«

»Und er, – was hat er gesagt?«

»Nichts. In dem Augenblick sah mich die Frau Baronin und machte ein Zeichen mit der Hand, wohl, daß er schweigen sollte. Mich aber schickte sie gleich wieder fort und sagte, sie würde in ein paar Minuten hinüberkommen.«

»Weiter also haben Sie nichts gehört?«

»Nein, ganz gewiß nicht.«

»Und auch hinterher hat die Baronin über die Sache nicht mit Ihnen gesprochen?«

»Nein, – aber –«

»Aber was?«

»Am Abend hat sie mir eine wunderschöne seidene Bluse geschenkt, hellgelb mit Spitzen, ganz wie neu.«

»Hat sie dabei gesagt, Sie sollten schweigen über die Begegnung vom Nachmittag?«

»Nein, das nicht, aber –«

»Aber Sie haben das auch ohne Worte verstanden. Sie scheinen mir ein gescheites Mädchen zu sein –«

»Ach, ich danke sehr!«

»Und weiter haben Sie nichts bemerkt, haben den Mann vom Dienstag nicht etwa noch einmal gesehen?«

»Nein, wirklich nicht. Ich habe ganz genau gesagt, was ich weiß. Wenn ich nur der guten Frau Baronin damit keine Ungelegenheiten bereite!«

»Beruhigen Sie sich, das dürfte kaum geschehen. Die Sache wird sich gewiß ganz harmlos aufklären. Und nun können Sie gehen. Wenn ich Sie noch einmal befragen muß, werde ich Sie rufen lassen.«

Mit einem tiefen Knix empfahl sich das Mädchen. Der Staatsanwalt aber trat seine Wanderung durch das Zimmer wieder an, wobei seine Augen abermals den Mars an der Decke zu betrachten schienen. Plötzlich blieb er dann vor dem Referendar Widukind stehen, der ein wenig erschrak, weil er in dieser Pause heimlich einen kleinen Taschenspiegel hervorgezogen und seinen Schnurrbart auf korrekten Zustand untersucht hatte.

»Nun, Herr Kollege, wie denken Sie über die Sache?«

»Ich, – wie denken Herr Staatsanwalt darüber?«

»Haben Sie keinen Verdacht?«

»In gewisser Weise, – so unbestimmt, – ganz in Ordnung scheint mir die Sache mit diesem fremden Manne wohl nicht.«

»Er war nur das Werkzeug. Die geistige Urheberschaft für das Verbrechen haben wir anderswo zu suchen. Cherchez la femme!«

»La femme?«

»Jawohl. Diese Frau, – diese frühere Theaterdame und jetzt gewesene Baronin von Bassow!«


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