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Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Berlin

Deutschland wird in diesem Jahr keinen beabsichtigten Krieg führen. Frankreich wird keinen Präventivkrieg führen. Einen gewollten Krieg wird es 1934 in Europa nicht geben. Ein ungewollter Krieg könnte schon morgen ausbrechen. Aber Europas Kriegsfurcht macht das unwahrscheinlich.

Das sind die Schlußfolgerungen, zu denen man nach einer Reise in alle wichtigen Zentren des Kontinents bei der Ankunft in der Hauptstadt des Dritten Reiches gelangt. Sie basieren auf Informationen, Überlegungen, Ansichten. Sie alle mögen falsch sein, aber jedenfalls sind sie die besten, die man hören kann, und die aus ihnen gezogenen Schlußfolgerungen werden von allen kühl denkenden Beobachtern bestätigt.

Kurz: Frankreich wird heute nicht kämpfen, weil es nicht will. Deutschland wird heute nicht kämpfen, weil es nicht damit rechnen kann, zu siegen.

Das ist nicht gerecht gegenüber den deutschen politischen Erklärungen. Es ist unmöglich, den Erklärungen der deutschen Führer, daß sie weder jetzt noch später den Krieg wollen, überhaupt nicht Glauben zu schenken. Andererseits ist es unmöglich, die Absichten einer Nation völlig richtig einzuschätzen, und auch die besten Absichten sind Wandlungen unterworfen. Wenn man auf die Frage »Kommt Krieg in Europa?« eine realistische Antwort haben will, ist es besser, sich um alle Erklärungen über Absichten nicht zu kümmern und lediglich über die praktischen Kriegsführungsmöglichkeiten desjenigen Landes nachzudenken, das von den meisten Seiten für kriegslustig gehalten wird: Deutschlands.

Nehmen wir an, es träfe für Deutschland alles zu, was seine schärfsten Kritiker behaupten: daß es so rasch aufrüste wie es nur könne, daß es am Ende den Kontinent wenn nicht die ganze Welt erobern wolle, und daß es zur Erlangung dieses Zieles Krieg zu führen beginnen werde, sobald es dazu fähig sei. Wie sieht die Situation heute aus?

Die Chancen sind heute für Deutschland so schlecht, daß höchstens ein wahnsinniger Deutscher daran denken könnte, gegen Frankreich und seine Alliierten jetzt Krieg zu führen. Es kann, ganz im Gegensatz zu der im Ausland nicht gerade seltenen Meinung, höchst positiv versichert werden, daß Deutschland heute nicht von Wahnsinnigen regiert wird. Die Rassenlehren, der Antisemitismus, die Vernichtung der Demokratie und ein Dutzend anderer Seiten des nationalsozialistischen Glaubens mögen als übel verworfen werden, aber man müßte blind sein, um nicht zu bemerken, daß die Nationalsozialisten Meister der Machtpolitik sind.

Sie sind Meister darin, die Macht zu erringen, sie festzuhalten und sie weiter auszubauen. Sie wissen jedenfalls, daß ein verlorener Krieg das Ende des Nationalsozialismus in Deutschland, wenn nicht überhaupt das Ende Deutschlands selbst in seiner gegenwärtigen Form wäre. Überdies werden die jetzigen Beherrscher Deutschlands, wenn es einmal in den Krieg ziehen sollte, sehr genau darauf achten, was der Generalstab sagt. Der Generalstab ist die einzige Institution, die alle deutschen Umwälzungen von Friedrich dem Großen bis zu Adolf Hitler überlebt hat. Der Generalstab hat aus dem letzten Krieg sehr viel gelernt. Das Wichtigste darunter ist die Lehre, erst dann zuzuschlagen, wenn der Sieg wahrscheinlich ist.

Heute käme ein Sieg für Deutschland nicht in Frage. Der beste Weg zu einer Lösung des Problems ist ein Vergleich zwischen der Stärke Deutschlands im Jahre 1914 und seiner Stärke im Jahre 1934. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um vier Faktoren: Verbündete, ausgebildete Mannschaften, Bewaffnung, und, als spezieller Teil der Bewaffnung, Luftstreitkräfte.

Im Jahre 1914 trat Deutschland auf dem Höhepunkt einer durch vierzig Friedensjahre erlangten Prosperität in den Krieg ein. Es war im Besitze des ganzen Gebietes, das es nachher verloren hat. Sein wichtigster Verbündeter war Österreich-Ungarn mit einem Gebiet von gewaltiger Größe, das wegen seiner Nahrungsmittelvorräte von unendlichem Wert war. Im Südosten halfen noch Bulgarien und die Türkei.

Gegen sich hatte es, wie es mit Sicherheit wußte, Frankreich, Belgien und Rußland. Wahrscheinlich hätte Deutschland auf den Kampf verzichtet, wenn es im Voraus gewußt hätte, daß England sich am Krieg beteiligen würde. Außerdem glaubte Deutschland, Italien auf seiner Seite zu haben. Es trat also in den Krieg ein in dem Glauben, daß es sich um eine rasch zu beendende Angelegenheit zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien, Bulgarien und der Türkei auf der einen Seite und nur Frankreich, Belgien und Rußland auf der anderen handeln würde.

Heute würde Deutschland beim Beginn eines Krieges mit Sicherheit nur sich selbst auf seiner Seite haben. Von dem kleinen, noch nicht nationalsozialistisch gewordenen Österreich könnte kaum Hilfe für Berlin erwartet werden. Ungarn wäre auf diese Weise durch Österreich von Deutschland getrennt und käme als militärischer Faktor nicht in die Frage.

Aber man konzediere Deutschland, daß das nicht ganz sicher sei, und rechne ihm als Verbündete zu Österreich mit seinen sieben Millionen und Ungarn mit seinen neun Millionen Einwohnern.

Wie sich die Kontinentalmächte gruppieren könnten, und wie es um ihre wirklich kriegsfähigen Mannschaften bestellt ist, zeigt die folgende Tabelle:

Tablle

Überaus wichtig sind die Zahlen über die ausgebildeten Reserven. Sie bedeuten die Männer, die im Heer gedient haben und innerhalb eines Zeitraumes von vierundzwanzig Stunden bis höchstens zehn Tage nach der Mobilisierung ins Feld geschickt werden könnten.

Über diesen überaus wichtigen Punkt hat kein Land dem Völkerbund Angaben gemacht. Die hier genannten, bisher unveröffentlichten Zahlen stammen aus einer neutralen Quelle von größter Autorität. Sie sind mindestens so genau wie die Zahlen aller Generalstäbe.

Wenn Deutschland heute Frankreich angreifen sollte, könnte Frankreich mit Sicherheit auf Belgien und die Tschechoslowakei rechnen, auf die Länder, deren nackte Existenz von der französischen Unterstützung abhängt. Etwas weniger sicher, aber im Augenblick auch wirklich nur etwas weniger sicher, wäre die Hilfe Rumäniens und Jugoslawiens. Unsicherer wäre schon die Unterstützung Polens, dessen Nichtangriffspakt mit Deutschland in Frankreich Besorgnis erregt hat, aber nichtsdestoweniger ist das polnisch-französische Militärbündnis formell intakt geblieben, und wenn Deutschland offensichtlich Frankreich gegenüber der Angreifer wäre, könnten die Franzosen noch immer mit der polnischen Hilfe rechnen. Italien ist ein ungewisser Faktor und könnte unter Umständen neutral bleiben, aber wenn Deutschland nach der Anzettelung eines Krieges Österreich besetzen sollte, könnte vielleicht auch Italien den Verbündeten Frankreichs zugezählt werden.

Deutschland hätte seine 100 000 Mann Reichswehr. Es hätte 90 000 ehemalige Reichswehrsoldaten, die im Lauf der letzten zehn Jahre entlassen wurden. Es hätte alle Kriegsteilnehmer. Ihre Zahl wird auf 2 500 000 geschätzt. Aber diese sind ausnahmslos mehr als 35 Jahre alt. Weder amerikanische noch englische Militär-Autoritäten rechnen ihre Kriegsteilnehmer heute als Reserven von Bedeutung. Männer dieses Alters sind in den in der Tabelle genannten Zahlen für ausgebildete Reserven nicht enthalten.

Wenn man die deutschen Kriegsteilnehmer nicht miteinrechnet, hat Deutschland bestenfalls die 2 500 000 brauner Sturmabteilungen, schwarzer Schutzstaffeln und Stahlhelmer unter Hauptmann Ernst Röhm. Man darf annehmen, daß die 90 000 ehemaligen Reichswehrsoldaten jetzt Offiziere und Unteroffiziere bei diesen Truppen sind. Etliche überaus beachtliche neutrale Sachverständige erklären, diese 2 500 000 Mann seien nicht höher einzuschätzen als eine halb bewaffnete, gedrillte, aber unausgebildete Truppe künftiger, sozusagen noch im Embryonalzustand befindlicher Soldaten. Deutschland erklärt, es seien überhaupt keine Soldaten. Aber für den Fall, daß heute ein hypothetischer Krieg ausbräche, betrachte man, um das bestmögliche Verhältnis für Deutschland herauszurechnen, diese 2 500 000 Mann als vollzurechnende ausgebildete Reserven.

Im allergünstigsten Fall hätte dann Deutschland innerhalb weniger Tage nach der Mobilisierung 2 665 000 Mann im Felde gegen 9 176 000 Franzosen, Belgier und Tschechen. Sehr wahrscheinlich ist es, daß Deutschland sich 12 242 000 Franzosen, Belgiern, Tschechen, Rumänen, und Jugoslawen gegenüber sehen würde. Wahrscheinlich ist, daß es alle diese und dazu die Polen gegen sich hätte, zusammen also 14 219 000. Und möglich ist es, daß Deutschland zu alledem noch Italien gegen sich hätte, und damit ergäbe sich gegen Deutschland eine Gesamtsumme von 20 203 000.

Wie sieht es um den Vergleich mit dem Kräfteverhältnis zwischen Deutschland und den feindlichen Streitkräften zu Kriegsbeginn 1914 aus? Damals standen Deutschland insgesamt 6 400 000 deutsche und österreichisch-ungarische Soldaten gegen 9 500 000 Franzosen, Belgier, Engländer, Serben und Russen zur Verfügung, das Verhältnis war also zwei zu drei. Da jedoch nur wenige deutsche Divisionen den plumpen russischen Massen entgegengeworfen wurden, war praktisch die wirkliche Anzahl der an der Westfront eingesetzten deutschen Soldaten nahezu ebenso groß wie die der Feinde.

Bei Beginn des letzten Krieges war das Verhältnis zwischen deutschen und feindlichen Streitkräften nahezu eins zu eins. Heute wäre das Verhältnis bei Kriegsbeginn bestenfalls eins zu vier. Fast mit Sicherheit wäre es eins zu fünf. Wahrscheinlich wäre es um eine Kleinigkeit ungünstiger als eins zu sechs. Und möglicherweise wäre es sogar eins zu acht. Sicher ist, daß die französischen Befestigungen alle Angriffe so lange abwehren könnten, bis Frankreich mit seiner Mobilisierung fertig wäre.

Die Kräfteverhältnisse sind heute für Deutschland allzu ungünstig. Es hätte keine ehrliche Chance. In welchem Maße könnte es jedoch seine Aussichten verbessern, und wie lange würde es dazu brauchen? Vor allem, wie weit hat Deutschland schon aufgerüstet?

*

Deutschland ist moralisch aufgerüstet. Der Pazifismus gilt als größtes Verbrechen. Neun Millionen deutsche Männer, die im Alter von fünfzehn bis zu dreißig Jahren stehen, sind zu jung, um am letzten Krieg teilgenommen zu haben. Sie bilden unter allen Männern zwischen fünfzehn und fünfzig Jahren die Mehrheit. Sie, die Jugend Deutschlands, wollen als Helden, nicht als gewöhnliche Menschen leben und sterben. Sie glauben, was der ganzen deutschen Nation heute gelehrt wird: daß die Deutschen ein Herrenvolk seien, ausersehen dafür, zu herrschen.

Das sind die moralischen Faktoren, die auf Deutschlands Kriegsbereitschaft weisen.

Aber Deutschland kann schließlich die militärische Überlegenheit wiedererlangen, die es im Jahre 1914 auf dem Kontinent besaß. Deutschland hat auch einen Keil zwischen Frankreich und Polen getrieben und mit Erfolg den »Präventivkrieg« verhindert.

Das sind die praktischen Mittel der deutschen Kriegsbereitschaft.

Schließlich wünscht Deutschland, im Dritten Reich die achtzig bis fünfundachtzig Millionen Deutschen Europas zu vereinen, von denen fünfzehn bis zwanzig Millionen außerhalb des Deutschland von heute leben. Es wünscht, sich alles wiederzuholen, was es im letzten Krieg verloren hat. Es wünscht darüber hinaus noch, entweder auf dem Kontinent oder in Gestalt von Kolonien, Land genug zu gewinnen, um den Lebensraum zu erhalten, den es als notwendig für seine Prosperität erachtet. Endlich hoffen die Deutschen Frankreich in der Vorherrschaft auf dem Kontinent abzulösen.

Das sind die deutschen Ziele. Die meisten von ihnen sind ohne Krieg nicht zu verwirklichen. Diese moralischen Faktoren, diese Mittel, diese Ziele Deutschlands weisen auf den schließlichen Krieg hin.

All dies ist nicht entscheidend für die Frage »Kommt Krieg in Europa?« Ernsthafteste Beachtung muß den Faktoren geschenkt werden, die gegen Deutschlands Kriegsbereitschaft, Kriegsvorbereitung und Kriegsziele sprechen.

Deutschland ist noch nicht vorbereitet auf den Krieg. Eine große Mehrheit sowohl neutraler wie deutschfeindlicher militärtechnischer Sachverständiger in Europa ist der Ansicht, daß Deutschland, selbst wenn man ihm völlig freie Hand in der Aufrüstung ließe, frühestens in drei Jahren dieselbe absolute Stärke wiedergewinnen könnte, die es im Jahre 1914 hatte. Es ist aber möglich, daß Deutschland, im Verhältnis zu seinen potentiellen Feinden, niemals wieder so stark wird, weil alles dafür spricht, daß die anderen, während Deutschland aufrüstet, mit ebensolcher, wenn nicht noch größerer Geschwindigkeit rüsten werden.

Das sind die Mittel gegen Deutschlands Kriegsbereitschaft.

Nicht weniger wichtig ist aber im Augenblick die Tatsache, daß Adolf Hitler selbst nicht den Krieg wünscht. Das wird nicht hier erwähnt, weil er es so oft gesagt hat, sondern weil er nahezu ganz Europa dazu gebracht, daran zu glauben, weil er sein eigenes Volk dazu gebracht hat, daran zu glauben, und weil er, wie die Befugtesten, die es wissen müssen, versichern, sich selbst dazu gebracht hat, es zu glauben.

Er erklärt und ist auch überzeugt davon, daß er nicht den Krieg will, nicht nur heute, da Deutschland nicht in der Lage ist, auf einen Sieg zu hoffen, sondern auch morgen, wenn es vielleicht erwarten könnte, siegreich zu sein. Von den dreißig europäischen führenden Staatsmännern, Königen, Diktatoren, Außenministern, Kriegsministern und Generalstabschefs, die im Verlaufe dieser Untersuchung befragt wurden, verabsäumte nicht ein einziger zu erklären, daß Hitler aufrichtig sei in seinen Versicherungen, daß er weder jetzt noch in der nahen Zukunft einen Krieg wünsche. Fast jeder von ihnen aber machte die einschränkende Bemerkung, daß auch Hitler selbst in seinem eigenen Herzen nicht imstande sei zu sagen, welche Haltung er dem Krieg gegenüber einnehmen werde, sobald Deutschland einmal so weit aufgerüstet sei, daß ein Sieg wahrscheinlich werde.

Wenn diese Zeit kommt, wird Hitler wahrscheinlich gleichfalls das sein, was er heute ganz gewiß ist: der einzige Mann in Europa, auf den es bei der Entscheidung der Frage »Kommt Krieg in Europa?« ankommen wird. Seine Macht in Deutschland grenzt heute mehr als jemals an Allmacht. Sie ist gegründet auf die mystische Vorstellung, die Deutschland von ihm hat als dem Propheten der deutschen Blutsbruderschaft, sie ist nahezu absolut. Er beherrscht die Gedanken und Empfindungen seiner Landsleute in einem Maße, das zu verstehen für einen Nichtdeutschen überaus schwierig ist. Er kann mit Deutschland machen, was er will.

Er ist seit dem Krieg der erste deutsche Kanzler, der eine solche Autorität genießt, daß er, solange er nur will, alle Konzessionen machen kann, die zur Sicherung des Friedens notwendig sind. Welcher andere deutsche Staatsmann hätte den Nichtangriffspakt mit Polen abschließen und für zehn Jahre auf den Korridor verzichten können? Wenn Brüning das getan hätte, wäre er gekreuzigt worden. Hitler behielt seine Sturmabteilungen in Danzig in der Hand. Er kann sie im Saargebiet in der Hand behalten, und auch in Österreich, wenn er will.

Das ist der moralische Faktor, der Deutschlands Kriegsbereitschaft zügelt und im Augenblick gegen sie spricht.

Und schließlich: wenn Deutschland auch viele Ziele anstrebt, die nur durch einen Krieg zu erreichen wären – sie könnten selbstverständlich nur durch einen siegreichen Krieg erreicht werden. Und wenn Deutschland an einen Krieg denkt, muß es auch daran denken, was die Folgen eines verlorenen Krieges sein könnten.

Ein verlorener Krieg, davon ist Deutschland als Gesamtheit überzeugt, würde vor allem anderen das Ende des Deutschland von heute als eines einheitlichen Staates bedeuten. Keine pazifistische Propaganda könnte wirksamer sein als die eben jetzt von den Nationalsozialisten veröffentlichten Daten, die zeigen, »was die Feinde Deutschlands wollen.« Frankreich würde gemäß dieser Voraussage das ganze linke Rheinufer nehmen; Polen würde ein großes Stück Norddeutschlands und den größten Teil seiner Ostseeküste bekommen; die Tschechoslowakei würde den größten Teil Sachsens kriegen, und der Rest Deutschlands würde in unabhängige deutsche Staaten aufgeteilt werden, ein winziges Preußen um Berlin herum, Hannover, Sachsen, Westfalen, Württemberg und das Rheinland.

Ein verlorener Krieg würde aber das unvermeidliche Ende des Nationalsozialismus bedeuten. Deutschland hätte es dann innerhalb einer einzigen Generation mit den Hohenzollern, der Republik und der Nationalsozialisten versucht. Nach dem Versagen dieser drei bliebe nur noch der Kommunismus. Der nächste Krieg würde, für Deutschland verloren, eine Reduktion auf einen Zustand bedeuten, der vielleicht nur wenig besser wäre als der Zustand Deutschlands nach dem Dreißigjährigen Krieg.

Das sind die Überlegungen, die die nationalen Ziele Deutschlands sozusagen parallelisieren. Sie sprechen gegen den Krieg wenigstens so lange, bis Deutschland die absolute Zuversicht hat, siegen zu können.

Wie lange könnte es dauern, bis Deutschland diese Siegeszuversicht hat? Das ist der allerwichtigste Faktor bei der Beantwortung der Frage »Kommt Krieg in Europa?« Völlig einstimmig haben alle im Verlauf dieser Untersuchung befragten militärischen Autoritäten erklärt, daß Deutschland mindestens drei Jahre brauchen würde, um ein Heer aufzustellen, auszubilden und auszurüsten, das sich mit seinem 4 000 000 Mann zählenden Heer im Jahre 1914 vergleichen ließe, und daß das rund vierzig Milliarden Dollar kosten würde. Und durchführbar wäre dies auch nur, wenn das Reich arbeiten könnte, ohne Restriktionen befürchten zu müssen. In Anbetracht der Tatsache, daß Deutschland noch immer Restriktionen zu fürchten hat, obwohl sie stets geringer werden, geht die Meinung der Mehrheit von diesen Sachverständigen dahin, daß fünf bis zehn Jahre dazu notwendig wären. Diese Meinung gewinnt an Gewicht noch dadurch, daß sie zu neunzig Prozent aus deutschfeindlichen Quellen stammt.

Um es kurz so zusammenzufassen, wie ein Sachverständiger es spezifizierte: »Deutschland könnte morgen eine auserlesene Truppe von 100 000 Mann, die Reichswehr, ins Feld stellen; in drei Monaten könnte es mit den Reichswehrreserven, der Polizei und den Sturmabteilungen weitere 200 000, im ganzen also 300 000 Mann haben. In einem Jahr könnte es, wenn ihm freie Hand gelassen wird, 500 000 bis 600 000, in achtzehn Monaten 750 000, in zwei Jahren 1 000 000 erstklassige Soldaten haben. Aber mehr könnte selbst Deutschlands Genialität und Tüchtigkeit nicht erreichen.«

Niemand von Gewicht ist der Ansicht, daß die Ausrüstung des deutschen Landheeres mit schweren Geschützen, Tanks und Maschinengewehren auch nur annähernd ausreicht, um solche Streitkräfte genügend zu bewaffnen. Aber, wie die moderne Formel lautet: »Die Entscheidung liegt in der Luft.« Hier gehen die Beobachtungen der Sachverständigen in geradezu unglaubhafter Weise auseinander, aber es existiert positives Material genug, auf Grund dessen die deutsche Luftrüstung heute als Hauptquelle der europäischen Besorgnisse gilt.

Eine französische militärflugtechnische Zeitschrift erklärt, Deutschland habe 42 000 Piloten, deren größter Teil militärisch ausgebildet sei. Andererseits sagte mir ein neutraler Militärsachverständiger, der Jahre mit der Beobachtung Deutschlands verbracht hat, er glaube nicht, daß Deutschland auch nur zwölf militärisch ausgebildete Piloten habe. Ein französischer Fliegermajor schätzte die Zahl auf zweihundert.

Ein französischer General, dem große Autorität zukommt, hat mir gegenüber erklärt, seiner Ansicht nach sei die Flotte der deutschen Bombenflugzeuge bereits der französischen überlegen. Hauptmann Guest erklärte im englischen Unterhaus, Deutschland besitze 1099 Verkehrsflugzeuge, die für militärische Zwecke verwendbar seien. Hier in Berlin ist bekannt geworden, daß die deutsche Regierung soeben von einer amerikanischen Firma zum Preise von je 75 000 Dollar drei große Passagierflugzeuge erworben habe, die offensichtlich in Bombenflugzeuge umgewandelt werden können.

General Hermann Göring, der Luftfahrtminister von Deutschland, hat öffentlich erklärt, die Minimalforderung Deutschlands sei: dreißig bis vierzig Prozent der Militärflugzeuge, die die an Deutschland grenzenden Länder Frankreich, Belgien, Polen und Tschechoslowakei besitzen. Der offizielle nationalsozialistische »Völkische Beobachter« rechnet folgendermaßen: Frankreich 4546 Flugzeuge, Belgien 500, Polen 1000 und Tschechoslowakei 700, zusammen rund 7000, mit rund 3000 Reservemaschinen im Hintergrund. Nach dieser Berechnung würde sich die deutsche Forderung auf mindestens 2100 bis 2800 Militärflugzeuge erstrecken. Nach vorsichtigerer Rechnung soll Göring 1200 Maschinen gefordert haben.

Dies ist einer der Hauptgründe für den Pessimismus Europas. Wenn Deutschlands offizielle Luftflotte 1200 bis 2800 Flugzeuge zählte, wieviele würden dann die anderen fordern? Bald könnte der Himmel Europas von Kriegsflugzeugen verfinstert sein. Beim Abwägen der Kräfte, die für den Krieg und gegen den Krieg am Werk sind, sprechen die gewichtigsten Argumente für den Frieden während der nächsten drei, fünf, zehn oder vielleicht auch noch mehr Jahre. Aber das Wettrüsten hat bereits begonnen. Bis jetzt hat jedes Wettrüsten in der Geschichte nur mit dem Krieg geendet. Wird sich diesem Wettrüsten Einhalt gebieten lassen? Die Antwort liegt bei Großbritannien.


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