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Achtes Kapitel.
Wien

Wenn Dollfuß geht, kommen die Nationalsozialisten. Wenn die Nationalsozialisten kommen, kommt mit ihnen Unruhe. Vielleicht auch Krieg.

In diesen Gedankengängen bewegen sich Europas Überlegungen über die österreichische Frage. Die Gründe, weshalb Adolf Hitler Österreich wohl haben möchte, sind eben dieselben, aus denen Italien, Frankreich, die Tschechoslowakei und England nicht wünschen, daß er es bekomme. Sie sind entschlossen, ihn nicht eindringen zu lassen.

Es gibt in Mitteleuropa nur einen Mann, dessen Wille, Hitler nicht eindringen zu lassen, ebenso unbeugsam ist, wie vielleicht Hitlers Wille, einzudringen. Das ist Engelbert Dollfuß, österreichischer Bundeskanzler, Außen-, Verteidigungs-, Innen- und Landwirtschaftsminister, einundvierzig Jahre alt, jüngster Regierungschef in Europa, knapp eins fünfzig groß, der kleinste Mann im öffentlichen Leben der Welt.

Großmächte haben vor Deutschland gezittert. Österreich unter Dollfuß hat nicht gezittert. Männer, die so groß sind, daß man dreimal einen Dollfuß aus ihnen machen könnte, haben sich buchstäblich von der Drohung der braunen Sturmabteilungen geduckt. Dollfuß, der an Leibesgröße noch vom kleinsten Braunhemd übertroffen wird, das es gibt, hat sämtlichen 2 500 000 Braunhemden die Stirn geboten und erklärt, sie »sollen nur kommen.« Die Hilfe der Großmächte war wesentlich für die Erhaltung der österreichischen Unabhängigkeit. Ohne Dollfuß jedoch hätten die Großmächte Österreich wahrscheinlich seinem Schicksal überlassen müssen.

Er sieht nicht so klein aus, wie man nach den Geschichten über ihn glauben möchte. Er lacht selbst am lautesten über die Witze, die über seine Größe gemacht werden. Halb Wien fragte einen in den letzten Tagen: »Haben Sie von dem letzten Attentat auf Dollfuß gehört?« Nein, was denn? »Seine Leibwache hat eine Mausefalle im Schlafzimmer gefunden.«

Er ist eben einfach klein. Als er im Metternichsaal des Ballhausplatzes um den Tisch herumkam, war seine Taille ungefähr in der Höhe der Tischplatte. Er lächelt oft, spricht rasch und sieht sehr müde aus, aber man sagt, so sehe er schon sein ganzes Leben lang aus.

Seine beiden Aufgaben bestehen darin, einerseits die österreichischen Nationalsozialisten mit Hilfe der Polizei sowie durch Verbesserung der wirtschaftlichen Lage von der Macht fern zu halten, und andererseits die deutschen Nationalsozialisten an der Eroberung der Macht zu verhindern, indem er sich die Drohungen der Großmächte zu Nutze macht. Um die zweite Aufgabe zu erfüllen, muß er die Welt ununterbrochen daran erinnern, daß die Frage der österreichischen Unabhängigkeit für Europa nichts anderes ist als die Frage: Krieg oder Frieden.

»Die Unabhängigkeit Österreichs geht Europa als Gesamtheit an«, begann er. »Sie berührt die Interessen jedes einzelnen europäischen Staates. Nehmen Sie als Beispiel Polen. Genau vor einem Jahr bestand die heftigste Spannung zwischen Polen und Deutschland. Jetzt hat Deutschland seine ganze Aufmerksamkeit auf Österreich konzentriert. Vor ungefähr einem Jahr waren auch die Beziehungen zwischen Italien und Jugoslawien ernsthafte Quellen der Besorgnis. Heute richtet sich die Aufmerksamkeit dieser beiden Staaten auf Deutschland, und die Frage, die die ganze Welt stellt, heißt: Was sind die wahren Absichten Hitlers?«

Er legte die Hände ineinander und beugte sich über den Tisch. »Die Frage, ob und wie die Unabhängigkeit Österreichs erhalten werden kann, wollen wir in drei Kategorien teilen: erstens, kann Österreich wirtschaftlich unabhängig sein? Zweitens, wie sind die inneren politischen Aussichten für die Wahrung der österreichischen Unabhängigkeit beschaffen? Drittens, welche Rolle haben die Großmächte?

Vorausschicken möchte ich dieser Diskussion den Ausdruck meiner Überzeugung, daß wir durchhalten werden. Das steht für mich ganz außer Frage. A la longue werden wir siegen. Aber vom wirtschaftlichen Standpunkt aus ist es wesentlich, daß wir unseren Export verbessern.«

Der Kanzler wies darauf hin, daß der größte Teil der Hilfe von Italien gekommen sei. Frankreich und die Tschechoslowakei aber hätten bei ihren Ankäufen ihre politischen Interessen außer Acht gelassen. Er forderte größeren Reiseverkehr. Er gab zu verstehen, daß es eine gewaltige Hilfe bedeuten würde, wenn Österreichs Auslandsgläubiger sich klar machten, wie wichtig die österreichische Schuldenlast im Kampf des Landes zur Wahrung seiner Unabhängigkeit ist.

»Die Gegner der österreichischen Unabhängigkeit haben das wirtschaftliche Argument immer zu ihrem stärksten Propagandamittel gemacht. Sie haben die Behauptung ins Treffen geführt, wenn Österreich allein stehe, wie jetzt, könne es nicht leben, und deshalb müsse es sich an Deutschland anschließen. Aber das ist nicht richtig. Man vergißt, daß Österreich über lange Zeiträume innerhalb von Grenzen existierte, die denen von heute sehr ähnlich waren. Und seit Kriegsende existieren wir auch als unabhängiges Land. Es ist kein Grund dafür zu sehen, daß wir nicht auch weiter unabhängig existieren könnten.

Was nun die innere politische Lage betrifft, so glaube ich, man kann getrost sagen, daß heute mindestens siebzig Prozent der österreichischen Bevölkerung für die Unabhängigkeit sind. Die Sozialdemokraten haben sich noch vor kurzem dafür erklärt. Sie haben rund fünfunddreißig Prozent der Wähler. Wenn man sie und die Menschen zusammenzählt, die hinter unserer vaterländischen Front stehen, müssen wir rund siebzig Prozent der Bevölkerung haben.

Was die äußere politische Lage angeht, so liegt es auf der Hand, daß die Chancen für die Erhaltung unserer Unabhängigkeit gering wären, wenn alle Großmächte gegen sie wären. Wir könnten alle den Heldentod sterben, aber es würde nichts nutzen. Das ist natürlich die Lage aller Kleinstaaten. Aber es ist eben so, daß die Wahrung der österreichischen Unabhängigkeit im Interesse vieler Großmächte liegt. Wenn die Grenzen Deutschlands nach Italien und Jugoslawien vorgeschoben werden sollten, würde die politische Konstellation Europas völlig revolutioniert werden.«

Er zeichnete mit einem Bleistift sorgfältig Rechtecke auf ein Notiztäfelchen. »Ich bin sehr glücklich über die Sympathie, die Österreich von Amerika erwiesen worden ist. Diese Sympathie ist ein politischer Faktor, den ich nicht unterschätze. Praktisch könnten Sie uns am besten helfen, indem Sie unsere Waren kaufen und uns Ihre Reisenden schicken.«

»Aber für den Fall, daß dies alles mißlingt, Herr Kanzler, behaupten nicht wenige, daß Sie als Trumpf noch die Habsburger-Karte haben.«

»Diese Frage«, antwortete er mit großem Ernst, »kann nicht für Österreich allein gestellt werden. Unser Land allein ist zu klein für die Habsburger. Ich sehe darin heute keine wahrscheinliche Entwicklung, und ich erstrebe sie auch nicht. Für ausgeschlossen halte ich sie allerdings auch nicht. Für einen Donaustaat vielleicht. Aber das ist heute kein ernsthaftes Problem.«

»Spüren Sie etwas von einem Nachlassen des Druckes aus Deutschland?«

»Nein. Wie die Lage im Augenblick ist, lebt der Nationalsozialismus in Österreich nur dank der Ermunterung und der Unterstützung weiter, die ihm aus Deutschland zuteil wird. Es spricht nicht viel dafür, daß die Absichten Hitlers selbst sich geändert hätten. Man darf nicht vergessen, daß Hitler Österreicher ist.«

»Wie wird die Lage sein, wenn Deutschland wieder die stärkste Militärmacht in Europa wird?«

»Dann wird das Problem nicht mehr bloß ein österreichisches Problem sein.«

Vor fünfunddreißig Jahren spielten zwei österreichische Knaben in ihren Vorgärtchen, in Ortschaften, die nicht ganz hundertsechzig Kilometer von einander entfernt waren. Heute sind diese beiden österreichischen Knaben Diktatoren über Bruderländer. Sie liegen im Streit mit einander. Hitler ist um vier Jahre älter und um sechzig Millionen größer. Die Odds sind für ihn. Dollfuß hat nichts weiter als seinen Mut und einige große Freunde!

*

Wie lange kann sich Dollfuß gegen die Nationalsozialisten halten? Wenn diese Frage wirklich entscheidend für den Frieden Europas ist, bedeutet sie: »Wie lange kann der Frieden erhalten werden?«

Über Österreich ist das Standrecht verhängt. Vor dem Kriegsministerium in Wien stand eine Kompagnie Soldaten Habt Acht. Ihre Augen starrten geradeaus unter martialischen Stahlhelmen. Ein hübsches Mädchen kam vorüber. Die Blicke der Wache folgten ihr, und ein Lächeln lief über die Reihe der Kriegergesichter.

Das hübsche Mädchen war die einzige Zuschauerin bei der Wachablösung vor dem österreichischen Kriegsministerium. In Berlin wird die Wache zweimal im Tag abgelöst, und zweimal im Tag versammeln sich zweitausend Menschen, um der Zeremonie zuzusehen. Niemals in der ganzen Geschichte der deutschen Armee hat ein preußischer Soldat auf Wache es gewagt, einem hübschen Mädchen zuzulächeln.

Auf der österreichischen Seite lächeln die Soldaten. Auf der deutschen Seite blicken sie finster. Trotzdem war der Kanzler Dollfuß, der heute der Kommandeur Österreichs ist, früher Kommandeur einer Maschinengewehrkompagnie im Krieg. Das war in einem Teil der Tiroler Alpen, der in der Nähe Bozens liegt. Die gewaltigen Felsgebilde, die er verteidigte, sind von Dante unsterblich gemacht worden. Die Schilderung des Hölleneingangs in der Göttlichen Komödie ist eine exakte Beschreibung des Tales, in dem Dollfuß kämpfte. Dante war in seiner Jugend in diesem Tal gewesen.

Es liegt an der Westseite der Zugna-Toria. Inmitten seiner Felsblöcke, die groß sind wie Häuser, schuf Dollfuß eine Festung. Der junge Leutnant, der kleinste Mann im österreichischen Heer, hatte nur eine Handvoll Mannschaften zu ihrer Verteidigung. Der Feind wollte sie unbedingt haben. Vom Anfang des Jahres 1917 bis zum Oktober, zehn Monate lang, warf er überwältigende Streitkräfte gegen die Dollfuß-Befestigung. Er nahm sie niemals ein. Das Heer gab den Felsen den Namen »Dollfuß-Felsen«.

Heute erklären in Wien von fünfzig Menschen fünfundvierzig, Dollfuß könne »nicht durchhalten«. Die meisten von ihnen sagen, er müsse »im Frühjahr stürzen«. Und von den fünfzig Befragten sympathisierten fast alle mit Dollfuß. Sie würden es vorziehen, wenn er bliebe. Aber sie halten es nicht für möglich.

Sie zählen auf, was für ihn spricht. Erstens sein Mut. Zweitens seine unbeschränkte Diktatorenmacht. Seine Lage ist ganz anders als die Brünings in Deutschland vor Hitlers Machterringung. Deutschland hatte zum Präsidenten einen Hindenburg, der Brüning zum Rücktritt zwang. In Österreich gibt es niemand, der Dollfuß zum Rücktritt bringen kann. Wenn der Präsident Miklas es versuchte, würde er einfach ignoriert werden. Von diesem Standpunkt aus kann Dollfuß so lange bleiben, wie er den Mut nicht verliert.

Der dritte Aktivposten ist seine bewaffnete Macht: 22 000 Mann reguläres Heer; 8000 Mann militärische Hilfskorps; 8000 Mann Polizei; 6000 Mann Gendarmerie; 5000 Mann Hilfspolizei; 30 000 Mann Heimwehr – zusammen rund 80 000. Diese Zahlen erscheinen groß, aber sie stammen von einem Beamten der Regierung Dollfuß.

Das vierte Aktivum ist die katholische Kirche, die Dollfuß mit ebenso großem Eifer unterstützt, wie er selbst Katholik ist.

Das fünfte ist die Tatsache, daß die wirtschaftliche Lage Österreichs sich zu bessern begonnen hat.

Schließlich kommt noch dazu die Sympathie und die Unterstützung von Seiten Italiens, Frankreichs, Englands und der Kleinen Entente.

Das sind seine Aktiv-Posten. Auf der Passiv-Seite steht heute obenan die Tatsache, daß Hitler sich durch die Unterzeichnung eines Nichtangriffspaktes mit Polen den Rücken gedeckt hat und nun die Möglichkeit hätte, ungehindert seine Hauptaufmerksamkeit auf die Erwerbung Österreichs zu konzentrieren.

Zweitens liegt es auf der Hand – das geben selbst die Dollfuß wohlgesinnten Kritiker zu – daß seine Regierung rein negativ ist, lediglich antinationalsozialistisch. Gewiß, die Dollfuß-Partei sagt: »Nein, wir sind pro-österreichisch«, aber es ist Tatsache, daß die Nationalsozialisten Dollfuß ununterbrochen in die Defensive drängen.

Das dritte Passivum ist, daß wahrscheinlich die Mehrheit der Bevölkerung, darunter praktisch die ganze Jugend, gegen ihn ist.

Viertens behaupten seine Kritiker: die bewaffneten Truppen seien nicht ausnahmslos zuverlässig: es sei zweifelhaft, ob auf die Polizei im Fall eines Konflikts mit den Nationalsozialisten gebaut werden könne. Die Heimwehr, das Rückgrat seiner Miliz, habe nicht den Feuergeist der nationalsozialistischen Jugend.

Der katholischen Kirche ist es nicht gelungen, zu verhindern, daß Bayern nationalsozialistisch wurde. Und was die wirtschaftliche Besserung betrifft – auch Deutschland erholt sich wirtschaftlich.

Schließlich und endlich jedoch ist das Um und Auf des österreichischen Problems die Haltung der Großmächte. Wieviel von ihrer Unterstützung ist, genau genommen, »Sympathie« und wieviel wirkliche Unterstützung?

Mussolini hat, sämtlichen Berichten zufolge, Dollfuß versprochen, wenn deutsche nationalsozialistische Truppen oder österreichische nationalsozialistische Abteilungen, die sich jetzt in Deutschland aufhalten, über die Grenze kommen, um seine Regierung zu stürzen, werde er italienische Truppen einmarschieren und »die Deutschen hinauswerfen« lassen. Wenn Mussolini das täte, würden die Jugoslawen in Kärnten einmarschieren. Denn sie würden meinen, daß die auf Dalmatien lüsternen Italiener sich damit nur einen Vorwand schüfen, um auf dem Weg über Österreich, der einzigen möglichen militärischen Route von Italien nach Jugoslawien, über sie herzufallen.

Wenn italienische und jugoslawische Truppen einander auf fremden Boden gegenüberständen, könnte das Resultat ein Unheil erster Größenordnung sein. Mit Leichtigkeit könnte ein allgemeiner europäischer Krieg darauf folgen. Weiter, wenn Mussolini marschierte, wäre das nahezu unvermeidliche erste Ergebnis, daß alle Österreicher Nationalsozialisten werden und so die Erreichung seines Zieles vereiteln würden. Und schließlich, würden die Italiener jemals wieder hinausgehen, wenn sie einmal Tirol besetzt haben? Wenn sie es täten, würden die Nationalsozialisten sofort wiederkommen. Täten sie es nicht, so hätte Italien Deutschland zum Nachbarn, und das ist genau das, was es zu vermeiden versucht.

Man nimmt allgemein an, daß Mussolini nur marschieren würde, wenn Deutschland offen und in flagranter Weise in Österreich einfiele. Gute Beurteiler der Lage sind auch der Ansicht, daß er sicher nicht marschieren würde, falls die österreichischen Nationalsozialisten von sich aus Dollfuß stürzten.

Von Frankreich ist materielle Unterstützung nicht gekommen und wird auch nicht erwartet. Es hat zu viel mit der Unterdrückung seiner eigenen innenpolitischen Revolten zu tun, um mit voller Klarheit zu sehen, daß hier ein Teil seines Geschickes bestimmt wird. England ist so pazifistisch, daß Österreich keinen ehrlichen Beistand von ihm erhoffen kann. Die Sonntags-Times schreibt: »Das ist ein österreichiches Problem, das vom österreichischen Volk gelöst werden muß.« Die Tschechoslowakei ist zu schwach, um von großem Nutzen zu sein. Rumänien ist zu weit entfernt, um ein Interesse zu haben. Jugoslawien, als Mitglied der Kleinen Entente genötigt, gegen den Anschluß zu sein, hätte insgeheim seine Freude daran, wenn Deutschland Österreich bekäme, weil Italien sich dann gefährdet fühlen würde.

Mussolinis Drohung bleibt so ziemlich die einzige wirkliche Unterstützung, die Österreich erhalten hat und die es erwarten kann.

Das Deutsche Reich denkt heute ganz entschieden nicht an einen offenen Einfall in Österreich. Im Gegenteil, man ist in Deutschland der, auch von vielen neutralen Beobachtern in Österreich geteilten, Überzeugung, wenn Österreich nationalsozialistisch wird, werde es das von sich aus werden. Irgendein österreichischer Papen wird der Nachfolger eines erschöpften Dollfuß werden, und dann wird, vielleicht nach einem Zwischenspiel von einigen Regierungen, durch Ausschreibung einer Wahl den Nationalsozialisten die Tür geöffnet werden. Schon die Tatsache einer Wahlausschreibung allein wäre ein nationalsozialistischer Sieg.

Nachher hätte Österreich es lange Zeit nicht nötig, seine legale Vereinigung mit Deutschland zu proklamieren. De facto wäre Hitler Kanzler von Österreich, wozu seine Parteigänger ihn ja bereits erklärt haben.

Welche Nation könnte dann den Krieg erklären? Dem Außenstehenden scheint es, daß die Kriegsdrohung hier vielleicht von Nutzen gegen die Nationalsozialisten gewesen ist, daß sie aber auch eine Drohung bleiben wird. Wer könnte auch nur protestieren, falls die Nationalsozialisten mit dieser Methode ans Ruder gelangten?

Höchstens die Juden vielleicht. Der Religion nach werden in Österreich 220 000 Juden gezählt, der Abstammung gibt es wahrscheinlich 400 000. Die meisten von ihnen leben in Wien. Sie werden heute gequält von Pogrom-Ahnungen. Ihre einzige Hoffnung ist, daß das nationalsozialistische Österreich so etwas sein könnte wie das nationalsozialistische Danzig – ein Teil des Dritten Reiches, in dem es aber etwas sanfter zugeht als bei der Revolution in Deutschland. Die Wiener Juden erhoffen das, aber sie glauben es nicht.

*

Vier Tage lang tobte der Bürgerkrieg in Österreich. Vier Tage lang hielten die Dollfuß-Truppen die Sozialisten unter Maschinengewehr- und Artilleriefeuer, und vier Tage lang war der Frieden Europas gefährdet. Diese vier bösen Februartage erfordern ein neues Kontoblatt für Österreich und für die Frage: »Kommt Krieg?« Die Vorbedingungen, die Geschehnisse und die Folgen der vier Tage könnten schließlich entscheidend für die Beantwortung dieser Frage sein.

Die Vorbedingungen zu Österreichs Blutwoche – einer Woche, die Bundeskanzler Dollfuß mit Tränen in den Augen »die traurigste Woche meines Lebens« nannte – waren in groben Umrissen ungefähr folgende. In Österreich existierten drei Armeen: erstens die Streitkräfte der Regierung, bestehend aus regulären Truppen, Polizei und Heimwehr, gedeckt von Italien. Zweitens die Nationalsozialisten, gedeckt von Deutschland. Drittens die Sozialisten, gedeckt von der Tschechoslowakei und zu einem geringeren Grade von Frankreich. Jede der drei Armeen war Gegner der beiden anderen. Die Regierung, der Opposition sowohl der Nationalsozialisten wie der Sozialisten gegenübergestellt, kämpfte im Augenblick gegen zwei Fronten.

Theoretisch wäre es für Dollfuß möglich gewesen, sich mit den Sozialisten zu verständigen und sich ihrer zur Unterdrückung ihrer erbitterten Feinde, der Nationalsozialisten, zu bedienen. Es siegten aber andere Überlegungen. Mussolini, der die Situation auf Grund seiner eigenen Erfahrung und der Hitlers in Deutschland analysierte, riet Dollfuß vor allen Dingen, dem Kampf gegen zwei Fronten ein Ende zu machen.

»Räumen Sie die Sozialisten aus dem Weg, und dann werden Sie die Hände frei haben, um mit den Nationalsozialisten fertig zu werden. Mit den Sozialisten fertig zu werden, wird leicht sein. Sie brauchen nicht mehr zu tun, als sie aus den Ämtern zu jagen und ihre Partei zu unterdrücken; ihre Führer werden dann ins Ausland fliehen, und ihre Mitglieder werden sich genau so ergeben, wie sie es in Deutschland getan haben.«

Das war der Sinn des Rates, den Dollfuß bekam. Dollfuß fand an dieser Aussicht keinen Gefallen. Aber seine Unterführer, der Vizekanzler Major Emil Fey und der Heimwehrführer Fürst Rüdiger von Starhemberg, waren begeistert davon. Die Ereignisse jedoch verblüfften sie wahrscheinlich ebenso sehr, wie sie in Rom verblüfften. Die österreichischen Sozialisten erwiesen sich als Männer von ganz anderem Kaliber als ihre deutschen Kollegen. Auf die Amtsentsetzung des sozialistischen Bürgermeisters von Wien antworteten die Arbeiter seiner Partei mit Maschinengewehrfeuer. Sie befestigten sich in den großartigen Wohnhäusern der Gemeinde, die Wien zum Vorbild der Arbeiterstädte in Europa gemacht hatten. Gegen sie führte die Regierung rund 8000 Mann Polizei, 7000 Mann Heimwehr und 4000 Mann reguläre Truppen ins Treffen, insgesamt mindestens 19 000 Mann schwer bewaffneter Truppen. Zur Verwunderung Europas schrak die Regierung nicht davor zurück, Feldartillerie gegen die Arbeiterhäuser auffahren zu lassen. Nichtsdestoweniger hielten sich die Sozialisten vier Tage lang gegen diese überwältigende Übermacht. Das waren die Geschehnisse.

Die materiellen Folgen waren erstens schätzungsweise 300 bis 400 Tote und an die 2000 Verwundete. Zweitens eine Reihe von Exekutionen auf Grund von Standgerichtsurteilen, darunter die Hinrichtung eines Arbeiters, der so schwer verwundet war, daß er von der Tragbahre auf den Galgen gehoben werden mußte. Drittens die Errichtung von Konzentrationslagern in einem Maße, das hinter dem Vorbild Hitler-Deutschlands nicht zurückblieb. Der wirkliche Sachschaden an den bombardierten Häusern war überraschend gering, obwohl zum Beispiel das Goethehaus, das sich als letztes ergab, Einschläge hatte, die so groß waren, daß ein ganzes Pferd durchkonnte.

Die politischen Folgen waren bedeutend ernster. Im Kontobuch der Innenpolitik zeigten sich auf der Debetseite für Dollfuß folgende Posten: die Vernichtung der sozialistischen Partei, die bei der letzten Wahl in Wien 700 000 Stimmen auf sich gezogen hatte, bedeutete, daß Dollfuß wohl vielleicht einen potentiellen Feind aus der politischen Arena entfernt hatte, aber auch seinen stärksten potentiellen Verbündeten gegen die Nationalsozialisten. Ferner hatte die Erbarmungslosigkeit, mit der die Regierungsaktion durchgeführt wurde, die Arbeiter in solchem Maße erbittert, daß viele von ihnen das Gefühl hatten, es bleibe ihnen nur eine Möglichkeit sich zu rächen: sich den Nationalsozialisten anzuschließen. Mindestens zehn, zwölf Frauen und Kinder waren unter den Toten der Sozialisten. Die Überlebenden erklärten, Hitler sei mit den deutschen Sozialisten niemals auch nur im entferntesten so übel umgesprungen wie Dollfuß mit den österreichischen Sozialisten. Ihre einzige Möglichkeit, ihren Protest zu einem wirksamen zu machen, sei eine Vereinigung mit den Nationalsozialisten.

Andererseits konnte Dollfuß als Aktivposten für sich buchen, daß die Erbarmungslosigkeit seines Angriffes auf die Sozialisten eine gute Lehre für die Nationalsozialisten gewesen sei. Die Überlegungen der Regierung gingen dahin, daß der Anblick der auf »Rebellen« feuernden Feldartillerie die Nationalsozialisten ernüchtert haben müsse. Entschieden würden die Nationalsozialisten es sich nun zweimal überlegen, bevor sie von sich aus einen Putsch inszenierten. Außerdem konnte Dollfuß damit rechnen, daß eine gewisse Anzahl von Reaktionären, die sich den Nationalsozialisten angeschlossen hatte, weil ihnen Dollfuß gegen die Sozialisten nicht scharf genug vorgegangen war, nunmehr in das Dollfußlager übergehen würde.

Die am klarsten zu Tage tretende politische Folge war jedoch, daß Dollfuß mit der Vernichtung der sozialistischen Partei den Nationalsozialisten eine Arbeit abgenommen hatte, weil sie ihr erstes Ziel nach Erringung der Macht darin gesehen hätten, die Sozialisten zum Verschwinden zu bringen.

Im Auslande legte Dollfuß nur in Italien Ehre ein. Anderwärts, vor allem in England und Frankreich, verlor der kleine Kanzler unter den breiten Massen der Bevölkerung den größten Teil der Sympathien, die er durch seine Persönlichkeit in so hohem Maße für seine Sache erworben hatte. Die öffentliche Meinung im Ausland sah lediglich, daß die Dollfußregierung mit einer Härte und Unerbittlichkeit vorgegangen war, die es unmöglich zu machen schien, sie in dieser Hinsicht anders zu beurteilen als das nationalsozialistische Deutschland. Man übersah völlig, daß das, wovon der Friede Europas abhing, nicht der Charakter der österreichischen Regierung war, sondern die Fähigkeit Österreichs, unter welcher Regierung auch immer, sich vom nationalsozialistischen Deutschland freizuhalten. Welche Folgen hat der österreichische Bürgerkrieg für diese Fähigkeit?

Oberflächlich müßte man zunächst antworten, daß Dollfuß seinen inneren Feinden gegenüber stärker geworden sei und in Deutschland solche Verblüffung hervorgerufen habe, daß es Österreich in Ruhe lassen werde. Die öffentliche Meinung bezeichnet die gegenwärtige Dollfußregierung als fascistische Regierung. Es wird erklärt, wenn sich der Fascismus mit solchem Erfolg in Italien und Deutschland halte, müsse sich auch ein unabhängiger österreichischer Fascismus halten. Aber ist das Dollfuß-Regime fascistisch?

Die Hauptelemente dauernder Macht sind für den Fascismus: erstens eine gleich einer Armee disziplinierte und ihrem Führer ergebene Partei; zweitens ein seinem Führer in gleichem Maße ergebenes Parteiheer; drittens absolute Beherrschung der Presse und aller anderen Mittel zur Information der Allgemeinheit; viertens Anhängerschaft der Jugend und eine so völlige und intensive Beherrschung des Erziehungswesens, daß die jüngere Bevölkerung automatisch im Fascismus aufwächst.

Dollfuß hat jedoch keine fascistische Partei. Seine Partei ist die Kirche. Er hat kein eigenes Parteiheer, sondern bloß die vorläufige Verfügung über ein Parteiheer, über die Heimwehr, die in erster Linie nicht Dollfuß ergeben ist, sondern ihrem Führer, dem Fürsten Starhemberg, und ihrem stellvertretenden Führer, dem Major Emil Fey. Die Heimwehr rekrutiert sich aus denselben Teilen der Bevölkerung wie die Nationalsozialisten. Und die Jugend – ihre überwiegende Mehrheit ist nationalsozialistisch. Von allen wichtigen Elementen der fascistischen Macht besitzt das Dollfuß-Regime also lediglich die diktatoriale Herrschaft über die Presse. Die Dollfuß-Organisation ermangelt sowohl der Ideologie wie der disziplinierten Solidarität der Nationalsozialisten in Deutschland und der Fascisten in Italien. Als individuelle, auf einer schmalen Grundlage anhängender Volkskreise basierende Diktatur scheint das Dollfuß-Regime durch den Krieg gegen die Sozialisten eher geschwächt worden zu sein. Aber, so wird andererseits erklärt, Hitler scheint verblüfft worden zu sein. Freilich, unmittelbar nach dem Kampf stellte der deutsche Führer der österreichischen Nationalsozialisten, Theodor Habicht, ein Ultimatum, in dem mit erneuten nationalsozialistischen Aktionen gedroht wurde. Freilich, die Großmächte, England, Frankreich und Italien, warnten Hitler noch einmal. Freilich, Habicht verschwand daraufhin aus der ersten Front des nationalsozialistischen Propaganda-Feldzuges zur Eroberung Österreichs, und es setzte eine Periode oberflächlicher Ruhe ein.

Aber: kaum jemand, der informiert ist, hält es für möglich, daß Hitler sein Ziel, Österreich und Deutschland zu vereinigen, aufgegeben habe. Das erste Jahr seiner Außenpolitik hat gezeigt, daß Deutschland, wenn es auf ein Ziel verzichtet, das nur tut, um sich mit größerer Kraft auf ein anderes zu konzentrieren. Es mag sein, daß Berlin die Überzeugung gewonnen hat, es wäre klüger, die Regelung der Saarfrage zu Deutschlands Gunsten abzuwarten, bevor der nationalsozialistische Druck in Österreich fortgesetzt wird. Es mag auch noch andere Gründe für den Aufschub geben. Aber der jetzt anscheinend zwischen Berlin und Wien bestehende Waffenstillstand hat mindestens eine bestimmte Ablaufsfrist. Ihr Ende ist der Augenblick, in dem die deutsche Aufrüstung Berlin wieder eine materielle Waffe gegeben hat, die stark genug ist, seine politischen Ziele wirksam zu unterstützen.


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