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Erstes Kapitel.
Berlin

Europa steht im Zeichen der Uniform.

Wird es in den Krieg ziehen?

Europa, zusammengedrängt auf einen Raum, der um ein Drittel kleiner ist als das Gebiet der Vereinigten Staaten, beherbergt heute sechs Millionen Uniform tragende Männer, die auf seinen Straßen paradieren und seinen Chausseen patrouillieren, die an den Grenzen Wachtdienst tun, die manövrieren und Scheinkämpfe ausfechten.

Wenn ein Regisseur in Amerika ein entsprechendes Bild zeigen wollte, müßte er acht Millionen Amerikaner in Khaki kleiden. Man denke an das Amerika der Kriegszeit, in dem es halb so viel Soldaten gab. Das Khaki herrschte vor. Man verdoppele die Anzahl der Soldaten, und das Bild wird genau das militärische Aussehen Europas wiedergeben.

Jeder neunte der im Alter zwischen fünfzehn und neunundvierzig Jahren stehenden Männer, die es in Europa ohne Rußland gibt, trägt Uniform. In dieser Altersklasse zählt man fünfundfünfzig Millionen Männer vom Schuljungen bis zum Mann, der im Begriff steht, sich zur Ruhe zu setzen. Heute, in Friedenszeiten, tragen sechs Millionen davon das Feldgrau, Himmelblau und Khaki der regulären Heere, das Braun, Schwarz und Khaki der irregulären Truppen.

Europa ist in Angst. In seinen fünf bewaffneten Lagern wartet der Kontinent heute wie noch nie seit 1914 mit aufgepflanztem Bajonett. Worauf wartet er?

Im französischen Lager, das noch immer das größte ist, stehen Frankreich, Polen, Jugoslawien, die Tschechoslowakei, Rumänien, Belgien, alle Länder, die im letzten Krieg gewonnen haben, was sie haben wollten.

Im deutschen Lager stehen Deutschland, Österreich, Ungarn und Bulgarien, alle Länder, die im letzten Krieg verloren haben, was sie haben wollten, und es heute wieder bekommen wollen.

Im italienischen Lager ist Italien, das Land, dem es im letzten Krieg nicht gelungen ist, sich alles zu holen, was es haben wollte.

Im neutralen Lager stehen die Schweiz, Holland, Spanien, die skandinavischen und die baltischen Staaten, alle kleinen Länder, die sich am letzten Krieg nicht beteiligt haben und heute beim Gedanken an einen zweiten Krieg entsetzt sind.

Im englischen Lager sind die Briten, das einzige Volk, das vom Handel lebt und darum ein vitales Interesse daran hat, den Frieden zu erhalten. Sie haben heute den Schlüssel zu Frieden oder Krieg in der Hand.

Ganz fern am Rande des Kontinents ist die Sowjet-Union, die zu sehr in Angst und Sorge vor Japan lebt, um für Europa mehr als ein großer Machtfaktor der Zukunft zu sein und eine Drohung, die Frankreich gegen Deutschland ausspielen zu können hofft.

Allen Lagern gemeinsam, und zwar als Einziges gemeinsam, ist die Furcht. Die Franzosen fürchten, daß Deutschland wieder aufrüstet, um Frankreich zu zermalmen, die Polen zu vernichten, die Grenzen der Kleinen Entente zu zersprengen, alle achtzig Millionen Deutsche unter dem Hakenkreuz-Banner zu vereinen und den Kontinent unter die Herrschaft der Braunhemden zu stellen.

Die Deutschen fürchten, daß die Franzosen einen »Präventiv-Krieg« führen werden. Ein Präventiv-Krieg ist ein Krieg, von dem man meint, man könne ihn heute gewinnen und damit einen Krieg verhüten, von dem man fürchtet, man könnte ihn morgen verlieren. Es gibt vielleicht einige Deutsche, die ihre Phantasie mit folgendem Bild abmartern:

Der französische Außenminister bittet eines Tages den deutschen Botschafter um seinen Besuch. »Eure Exzellenz«, sagt der Minister, »sowohl Ihre Nation wie die meine lieben den Frieden. Ihre Regierung hat immer wieder unermüdlich Erklärungen in diesem Sinne abgegeben. Wir sind einig in unserer Friedensliebe. Unglückseligerweise scheinen jedoch gewisse Institutionen in Ihrem Lande nicht unseren gemeinsamen Wunsch zu teilen.

Wir haben heute den Beschluß gefaßt, Ihnen bei der Entfernung dieser Institutionen behilflich zu sein, die in so flagranter Weise die Friedenswünsche Ihrer Regierung sabotieren. Hier ist eine Liste von Munitions- und Flugzeugfabriken. Die französische Luftflotte wird diese Hindernisse, die sich unserer dauernden Freundschaft in den Weg stellen, innerhalb von vierundzwanzig Stunden aus der Welt schaffen. Mittlerweile haben Eure Exzellenz reichlich Zeit, der Bevölkerung der in Betracht kommenden Gebiete bekannt zu geben, daß sie sich aus den Zonen, die wir aufsuchen, entfernen möge.«

Vierundzwanzig Stunden später steigt eine Unzahl französischer Flugzeuge auf. Sie sind mit Karten aus den berühmten »Geheimdossiers« des französischen Nachrichtendienstes versehen und suchen die Institutionen auf, in denen Frankreich eine Bedrohung seiner Sicherheit erblickt. Ein Regen von Brisanzbomben geht nieder. Wo aber würde das Echo ihrer Detonationen ein Ende finden?

Rings um Österreich lagern andererseits mit aufgepflanztem Bajonett die Heere Italiens, der Tschechoslowakei, Jugoslawiens, Ungarns und Deutschlands. Sie belauern die Kräfteabnahme des neuen »kranken Mannes« von Europa, und jeder einzelne von ihnen gibt scharf obacht, daß keiner der anderen das Erbe stehle.

Ferner ist der alte Streit um Danzig da. Es existiert die Frage der polnisch-russischen Beziehungen. Es existieren die italienisch-französischen Differenzen, die italienisch-jugoslawischen Differenzen, die jugoslawisch-bulgarischen Differenzen, die rumänisch-russischen Differenzen, die Saarfrage.

Italien hegt viele Befürchtungen, die akuteste darunter aber ist die, Österreich könnte nationalsozialistisch, de facto, wenn auch nicht de jure, ein Teil Deutschlands werden, was zur Folge hätte, daß eine Nation von zweiundsiebzig Millionen deutschen Nationalsozialisten direkt an der italienischen Grenze leben würde.

Das neutrale Lager ist am heftigsten beunruhigt über die Aussicht des Pan-Germanismus, über die Möglichkeit, daß ein wieder aufgerüstetes Deutschland wirklich den Versuch machen könnte, die Deutschen Dänemarks und der Schweiz sowohl wie die vielen anderen Millionen Deutscher in der Kleinen Entente und Polen in Hitlers Drittem Reich zu vereinen.

Was Europa in panischen Schrecken versetzt hat, ist der Name Hitlers. Ein Jahr ist es her, daß er hier in der Reichskanzlei in der Wilhelmstraße stand und die Beifallsrufe einer vor Begeisterung rasenden Menge entgegennahm.

Im Verlauf dieses Jahres hat die politische Konstellation auf dem Kontinent große Wandlungen durchgemacht. Nicht eine einzige internationale Beziehung in Europa ist ganz dieselbe geblieben, die sie war, ehe Hitler Kanzler wurde. Insofern scheint also die Meinung der Welt ihr erstes Urteil zu bestätigen: »Hitler bedeutet den Krieg.«

Aber ist das richtig? Kommt Krieg?

Eine Möglichkeit zur Beantwortung dieser Frage ist es, zu Hause darüber nachzudenken. Eine andere besteht darin, daß man die Ursprungsorte dieser zahlreichen europäischen Konflikte aufsucht und an Ort und Stelle seine Untersuchungen anstellt; daß man versucht, im Einzelnen festzustellen, wie sich die Machtergreifung Hitlers – der eine große neue Faktor in Europa – ausgewirkt hat, und sich ganz allgemein bemüht die Tatsachen zusammenzutragen, die eine Beantwortung der Frage »Kommt Krieg?« ermöglichen.

Es wird notwendig sein, in Monarchien, in Ländern der Diktatur und in solchen der Demokratie mit gewöhnlichen Sterblichen und Königen, mit Chauffeuren und Außenministern, mit Generalstabchefs, mit Journalisten und Politikern zu sprechen. Die Reise wird von Berlin ausgehen, sie wird den Antwortsuchenden nach Danzig führen, nach Gdingen, Warschau, Stolpce an der russisch-polnischen Grenze, nach Prag, Wien, Eisenerz in der Steiermark, nach Budapest, Bukarest, Sofia, Belgrad, Sarajewo, »wo der letzte Krieg angefangen hat«, nach Triest, Fiume und Schuschak, nach Rom, Genf, in das Saargebiet, nach Paris, Brüssel, Berlin und London.

An allen diesen Orten herrscht neben den vielen lokal bestimmten, speziellen Befürchtungen eine große, überwältigende gemeinsame Furcht. Das ist die Furcht davor, daß ein Krieg, von wo immer er auch käme, alle Nationen in seinen Strudel reißen und die Zivilisation des Abendlandes vernichten würde. Selbst Amerika kann es sich nicht leisten, dieser allgemeinen Meinung Europas gegenüber gleichgültig zu bleiben.

Die Frage »Kommt Krieg?« geht alle an.


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