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Achtzehntes Kapitel.
Genf

Warum fürchtet Europa das nationalsozialistische Deutschland? Was sollte es am Frieden Europas ändern, wenn Deutschland aufrüstet? Warum bringt nahezu jeder Staatsmann in Europa die Frage »Kommt Krieg?« in einen Zusammenhang mit Adolf Hitler?

»Es kommt ganz auf Hitler an«: das ist der Satz, der, ob er nun ausdrücklich ausgesprochen wird oder nicht, zusammenfaßt, was die Männer, die die Staaten Europas lenken, sagen, wenn man sie nach Krieg oder Frieden fragt. Ist diese allgemeine Meinung richtig? Und wenn sie richtig ist, warum »kommt es ganz auf Hitler an«?

Hier in Genf, dem Sitz des Völkerbundes, kann die Antwort vielleicht gefunden werden. Sie könnte in den überfüllten Büros des Völkerbundes gesucht werden, und das bewundernswerte, kluge und hilfsbereite Sekretariat, die Verwaltungsbeamtenschaft des Völkerbundes, könnte zur Diskussion über dieses Thema Dokumente herbeischaffen, mit denen sich ein drei Meter langes Regal füllen ließe. Eine einfachere und billigere Antwort hängt im Schaufenster einer Genfer Buchhandlung.

Sie kostet fünfundzwanzig Cent. Es ist eine Karte. Sie trägt den Namen »Sprachenkarte von Mitteleuropa« und zeigt, wenn man ihrem deutschen Herausgeber glauben darf, daß es in Europa 85 263 000 Deutsche gibt, die zum größten Teil an das Deutsche Reich mit seinen 65 000 000 grenzen.

Die Bestätigung der deutschen Version kostet weitere fünfundzwanzig Cent. Es ist auch eine Karte, in Frankreich herausgegeben, und sie weist in französischer Sprache und in anderem Maßstab praktisch dieselbe Sprachenteilung auf wie die deutsche. Beide Karten zeigen, daß zwanzig Länder Europas so viel Deutsche beherbergen, daß sie genannt werden müssen, und daß die meisten dieser zwanzig Länder genug Deutsche haben, um auf das Tiefste beunruhigt zu sein bei der Aussicht, daß eines Tages jemand den Versuch machen könnte, alle diese Deutschen in einem Reich zu vereinen.

Adolf Hitler hat die 65 000 000 Deutschen in Deutschland zum erstenmal in der deutschen Geschichte geeint. Die Staatsmänner der zwanzig Länder um Deutschland und in der Nähe Deutschlands konstatieren diese Tatsache. Sie konstatieren auch, daß die nationalsozialistische Parteiphilosophie die Vereinigung aller deutschen Völker verlangt. Hitler hat von achtzig Millionen Deutschen gesprochen. Deutsche Kartographen geben der deutschen Gesamtheit heute fünf Millionen mehr als die Schätzung des nationalsozialistischen Führers.

So sieht nach der deutschen Karte die Liste aus: Deutschland 65 000 000; Österreich 6 300 000; Tschechoslowakei 3 500 000; Schweiz 2 860 000; Frankreich 1 700 000; Polen 1 350 000; Rumänien 800 000; Jugoslawien 700 000; Ungarn 600 000; Danzig 360 000; Italien 300 000; Luxemburg 250 000; Belgien 150 000; Litauen 131 000; Holland 80 000; Lettland 75 000; Dänemark 60 000; Estland 30 000; Lichtenstein 12 000; Schweden 5 000 und Europäisch-Rußland 1 000 000.

Von den zwanzig außer Deutschland genannten Ländern grenzen elf, nämlich Österreich, die Tschechoslowakei, die Schweiz, Frankreich, Polen, Danzig, Luxemburg, Belgien, Litauen, Holland und Dänemark, mit einer deutsch sprechenden Bevölkerung von zusammen 16 741 000 an das Deutschland von heute. Sobald, beziehungsweise wenn, Österreich nationalsozialistisch wird, werden auch Ungarn, Jugoslawien und Italien mit weiteren 1 600 000 Deutschen an das große Dritte Reich grenzen.

Im Falle, daß Österreich nationalsozialistisch wird, würde also das große Dritte Reich mit einer Bevölkerung von rund 72 000 000 Deutschen an ein Gebiet grenzen, das weitere 12 000 000 beherbergt. Nur Rußland, Schweden, Estland und Lettland wären durch andere Staaten von der gewaltigen Anziehungskraft der größten Nation getrennt, des am intensivsten nationalistischen Volkes in Europa. Heute weiß niemand, wieviele von diesen deutsch sprechenden Völkern außerhalb des heutigen Deutschland eine Vereinigung mit dem Dritten Reich gern sehen würden. Es ist nicht einmal klar, wieviele von ihnen das Dritte Reich gern innerhalb seiner Grenzen sehen würden. Noch weniger klar ist es, wieviele von ihnen das Dritte Reich innerhalb voraussehbarer Zeit sich anzugliedern imstande zu sein glaubt.

Aber die Deutschen oder die deutsch sprechenden Völker, die gleich jenseits der deutschen Grenzen leben, sind offenbar das interessanteste Objekt für Alldeutschland. Wenn man, in der nordöstlichen Ecke beginnend, die Karte entgegengesetzt dem Urzeigersinne umfährt, kann man diese Gruppe von Deutschen in folgenden Gebieten finden: Memel, das zu Litauen gehört; Danzig; Westpreußen und Oberschlesien, die zu Polen gehören; ein breiter Gürtel an der nördlichen, der westlichen und der südlichen Grenze der Tschechoslowakei; ganz Österreich; ein Randgebiet in Ungarn, nächst Österreich; ein Randgebiet in Jugoslawien; Südtirol in Norditalien; das ganze winzige Lichtenstein; zwei Drittel der Schweiz; Elsaß-Lothringen, die ehemaligen »verlorenen« Provinzen Frankreichs; das Saargebiet; Luxemburg als Ganzes; Eupen-Malmedy in Belgien; der Maastrich-Bezirk in Holland; und Nord-Schleswig in Dänemark.

Woodrow Wilson, der von den Deutschen als Verräter der deutschen Nation angesehen wird, hat ihnen nichtsdestoweniger eine Waffe in die Hand gedrückt. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker müßte logischerweise auch für die Deutschen gelten. Wenn dieses Prinzip gerecht angewendet werden würde, müßte es dem Dritten Reich die Eingliederung der Gebiete gestatten, die an das Reich grenzen und von einer Mehrheit von Deutschen bewohnt werden, die ein Teil des Vaterlandes zu werden wünschen.

Wieviele von diesen Deutschen außerhalb des Reiches wünschen sich dem Dritten Reich anzugliedern? Die Antwort läßt sich nicht in genauen Prozentzahlen ausdrücken. Aber wenn man aus dem Anwachsen der Nazi-Parteien in den Ländern, die bedeutende Gruppen von Deutschsprechenden haben, schließen kann, ist es ein sehr großer Prozentsatz, vielleicht sogar eine Mehrheit.

Die nationalsozialistischen Parteien sind gegründet worden und existieren, wenn auch vielfach unterdrückt, legal oder illegal anwachsend, in den meisten Fällen weiter in Schweden, Estland, Lettland, Litauen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, der Schweiz, Holland und Dänemark, und selbstverständlich in Österreich und Danzig. Danzig ist in praktischer und politischer Hinsicht bereits ein Teil des Dritten Reiches. Die Lage der Nationalsozialisten in Österreich ist zu gut bekannt, um noch weiter geschildert zu werden.

Wie wäre aber die Lage der verschiedenen betroffenen Länder, wenn der Traum des Pan-Germanismus sich verwirklichen sollte und alle in den an Deutschland grenzenden Gebieten lebenden deutsch sprechenden Völker vereinigt werden?

Litauen würde seinen einzigen Hafen verlieren, nämlich Memel, das es allerdings Deutschland in einem Augenblick, in dem das Reich am schwächsten war, mit Gewalt nahm. Polen würde reiche Bergwerksgebiete in Oberschlesien verlieren. Die Tschechoslowakei würde einen so großen Teil Böhmens verlieren, daß nur ein sehr zusammengeschrumpftes Kerngebiet übrig bliebe. Österreich würde natürlich restlos im Reich aufgehen.

Für Ungarn, Rumänien und Jugoslawien hat die Frage eine geringere realistische Bedeutung, weil ihre deutschen Bevölkerungsteile zu sehr zerstreut gesiedelt sind. Für Italien wäre der Verlust Südtirols die Folge, das in strategischer Hinsicht für die Landesverteidigung unerläßlich ist, und der Verlust des geschätzten Triester Hafens.

Für die Schweiz würde es den Zerfall des Bundes bedeuten, zwei Drittel kämen an Deutschland, während die französischen und italienischen Teile den beiden Mutterländern zufielen. Für Frankreich würde es den Verlust des größeren Teiles der Gebiete bedeuten, für die es im Krieg gekämpft hat: Elsaß und Lothringen. Luxemburg würde ganz an Deutschland kommen. Belgien würde ein unbedeutendes Stückchen Landes verlieren, ebenso Holland, aber Dänemark würde wieder das von ihm so hoch gewertete Nordschleswig aufgeben müssen.

Schließlich würde nach Erreichung dieses gewaltigen Zieles das große Dritte Reich existieren mit seiner achtzig bis fünfundachtzig Millionen zählenden Bevölkerung, unvergleichlich reicher an Menschen, wohlhabender an Bodenschätzen und industriell, politisch und militärisch mächtiger als alle anderen Staaten oder Staatenkombinationen in Europa. Die Deutschen träumten schon lange vor Hitlers Geburt diesen großartigen Traum. Sie sind in aller Aufrichtigkeit und nicht ohne historische Berechtigung überzeugt davon, daß sie ein Recht auf nationale und rassenmäßige Einheit haben. Spanien, Frankreich und England gewannen ihre nationale Freiheit Jahrhunderte früher, als Deutschland den ersten Schritt zu der seinen unternahm. Amerika war eine Nation, als Deutschland erst ein Begriff war. Japan ist über seine Sprachengrenzen hinausgesprungen. Italien ist in das Stadium der Reife getreten.

Deutschland hat das Gefühl, ihm allein sei sogar das elementare Recht versagt, seine eigenen, in dem Reich benachbarten Gebieten lebenden Volksgenossen innerhalb seiner Grenzen zu vereinigen. Adolf Hitler war der erste, der dieser Überzeugung eine Stimme und eine Waffe gab.

Clemenceau wird die Prägung des Satzes zugeschrieben: »Es gibt zwanzig Millionen zu viel Deutsche auf der Welt.« Hitler hat darauf in der nationalsozialistischen Bibel »Mein Kampf« Anmerkung des Verlages: Adolf Hitler, Mein Kampf. 20. Auflage. 1933. 205. bis 214. Tausend. Ungekürzte Ausgabe in einem Band. Seite 767: »Heute zählen wir achtzig Millionen Deutsche in Europa! Erst dann aber wird jene Außenpolitik als richtig anerkannt werden, wenn nach kaum hundert Jahren zweihundertfünfzig Millionen Deutsche auf diesem Kontinent leben werden, und zwar nicht zusammengepreßt als Fabrikkulis der anderen Welt, sondern: als Bauern und Arbeiter, die sich durch ihr Schaffen gegenseitig das Leben gewähren.« geantwortet: »Es gibt in Europa heute 80 Millionen Deutsche«, schrieb Hitler, »in nicht ganz hundert Jahren von heute an wird der europäische Kontinent von 250 Millionen Deutschen bewohnt sein.«

Das ist es, weshalb Europas Staatsmänner sagen: »Es kommt ganz auf Hitler an.«


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