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Zwanzigstes Kapitel.
Straßburg

Frankreich ist zu Tode erschrocken. Frankreich ist voll ruhiger Zuversicht. Dies ist das sonderbarste Paradoxon an der ganzen Frage »Kommt Krieg in Europa?« Der Schlüssel zur Lösung mag in dieser reizenden alten elsässischen Stadt gefunden werden, wo die gemästete Gans ihre Leber und die Weinberge ihren Wein liefern, um für die Zufriedenheit Frankreichs zu sorgen, ganz gleichgültig, wie rasch das deutsche Heer an Größe zunimmt.

Frankreich fürchtet für morgen, nicht für heute. Es fürchtet den Feind in der Luft. Es fürchtet nicht den Feind zu Lande. Wenigstens nicht für dieses Jahr. Denn Frankreich hat eine Mauer.

China hat eine Mauer gebaut, um seine Feinde fernzuhalten. Nahezu tausend Jahre hat sie sie fern gehalten. Rom baute eine Mauer quer durch Europa und England, um die Stämme des Nordens abzuhalten. Sie hat sie Jahrhunderte hindurch abgehalten. Frankreich hat sich eine Mauer gebaut, um sich vor dem feldgrauen Feind aus dem Norden und Osten zu schützen, und hinter dieser Mauer rechnet Frankreich, in diesem Jahr, vielleicht auch im nächsten Jahr, unter Umständen zehn Jahre lang gegen Angriffe vom Land her sicher zu sein.

Wenn es keine Flugzeuge gäbe, müßte die große französische Mauer wohl genügen, um dieses Land für mehr als zehn Jahre mit ruhiger Zuversicht zu erfüllen. Chinas große Mauer war mehr als 4 000 Kilometer lang, fünfeinhalb Meter hoch und sechs Meter dick. Sie war eines der Weltwunder. Aber die französische Mauer ist noch wunderbarer. Nach fünfjährigem Bau ist sie nahezu vollendet. Sie hat bis jetzt rund 133 000 000 Dollar gekostet.

Es ist eine Mauer, die sich nicht fünfeinhalb Meter hoch in die Luft erhebt, sondern an ihren wichtigsten Punkten nahezu hundert Meter tief in die Erde hinabreicht. Ihr Hauptteil erstreckt sich von der Schweiz bis an die belgische Grenze. Auf halber Tiefe können in den Eisenbetoneingeweiden der Mauer Frankreichs Armeen biwakieren. Noch tiefer unter ihnen liegen so viel Explosivstoffe aufgestapelt, daß man die Alpen damit in die Luft sprengen könnte.

Oben verdecken Wälder und grasbewachsene Höhen die Schießscharten der Geschütze. Aus diesen unschuldig aussehenden Gehölzen und Bäumen kann auf einen einzigen Befehl ein Sperrfeuer kommen, das in einem sechzehn Kilometer breiten Gürtel buchstäblich nicht eine einzige Heuschrecke am Leben lassen würde. Die Mauer ist nicht lückenlos, aber die Geschütze können einen ununterbrochenen Kranz fliegenden Stahls aussenden, der von Luxemburg bis Basel reicht.

Die französische große Mauer bietet, so weit die Voraussicht militärischer Sachverständiger reicht, absoluten Schutz gegen jede erdenkliche Art des Angriffs oder der Belagerung. Es ist so, als hätte man das heldenhafte Verdun tausendfach vergrößert und die Grenze entlang gezogen. Aber ein modernisiertes und ein vervollkommnetes Verdun. Die Forts sind tatsächlich unterirdische Städte, so tief gelegen, daß keine ersinnbare Granate bis zu ihnen vordringen könnte. Sie sind bis in die letzte Kleinigkeit mechanisiert, haben ihre eigenen elektrischen Kraftanlagen, ihre Eisenbahnen, Vorräte an Nahrungsmitteln, von denen eine Armee Monate lang leben kann, und ihre eigene Wasserversorgung aus Brunnen innerhalb der Forts. Damit kein Gas eindringen kann, ist der Luftdruck innerhalb der Forts eine Kleinigkeit über dem normalen gehalten.

Hier in Straßburg ist eine Ecke der Mauer. Hier liegt der Schlüssel zur Furcht und zum Vertrauen Frankreichs. Auf der Straße galoppiert ein Trupp Kavallerie vorbei, die hellblauen Röcke der Kavalleristen sind zurückgeschlagen und festgesteckt, damit die Beine frei bleiben, sie haben Karabiner auf den Rücken geschnallt und tragen flache Stahlhelme. Wir treiben langsam den Rhein herunter. Dort, innerhalb einer Steinwurfweite, ist Deutschland – sein Gebiet beginnt genau in der Mitte des Flusses. Hier am französischen Ufer sieht man einen Betonzylinder mit einem Durchmesser von ungefähr 120 Metern, der auf seinem abgeplatteten Dach eine Stahlkuppel für Maschinengewehre trägt. Dieses Glied in der Kette ist noch nicht maskiert. Es wird noch daran gearbeitet.

Der Betonzylinder gehört zu einer ganzen, lückenlosen Kette, die sich am Flußufer entlang zieht wie eine Reihe gewaltiger Zaunpfähle. Aber dies hier ist nur für die Vorpostengefechte gedacht. In größerer Entfernung vom Fluß beginnen die eigentlichen Befestigungen. Einige von ihnen sind vollendet, einige sind halbfertig, wieder andere eben erst begonnen. Wenn man die vollendeten sehen will, muß man hundert Meter weiterfahren. Hier und da erhebt sich eine sanfte Kuppe einige Meter hoch über die Felder und Wiesen. Ein Streifen grauen Betons unterhalb der grasbewachsenen Kuppe verrät sie dem Beobachter, der auf der Erde steht. Von der Luft aus muß sie unsichtbar sein.

Französische Poilus, marschierende Infanterie, kommen an uns vorbei. Rings um die unvollendeten Werke sind Kasernen im Entstehen begriffen. An jeder Ecke warnen Schilder: »Militärgebiet, Betreten verboten.«

Am Fluß stehen dort, wo eine Brücke nach Deutschland hinüberführt, französische Soldaten neben zwei Maschinengewehrbefestigungen, die jede deutsche Annäherung verbieten. Jenseits des Flusses gibt es keine Befestigungen. An seinem Rheinufer darf Deutschland innerhalb eines Streifens von fünfzig Kilometer Tiefe keine Befestigung bauen, und kein deutscher Soldat kann diese entmilitarisierte Zone betreten, ohne einen Vertragsbruch zu begehen. Französische Geschütze können weit nach Deutschland hineinschießen. Hermann Röchling, ein Stahlmagnat aus dem Saargebiet, bemerkte mir gegenüber in einem Saarbrücker Hotel: »Bedenken Sie, daß die Franzosen, ohne ein Geschütz zu verschieben, ganz einfach, indem sie hinter ihren Linien zu schießen anfangen, dieses Hotel hier abrasieren könnten.«

All dies ist richtig. Es erklärt, warum die Franzosen noch immer zuversichtlich sind. Es läßt sich nicht leugnen, für einen Laien ist der Anblick auch nur des äußeren Kranzes der französischen Befestigungen im Verein mit dem, was man von ihren Gesamtdimensionen weiß, und der Tatsache der entmilitarisierten Zone auf der deutschen Seite so imposant, daß man sich nur sehr schwer vorstellen kann, wie ein deutsches Heer, und mag es noch so groß sein, durchbrechen könnte.

Was halten aber die Franzosen von der Wirksamkeit ihrer Befestigungen als einer völligen Sicherheitsgarantie? Es ließe sich kein Fachmann finden, der der Meinung des französischen Berufssoldaten besser Ausdruck verleihen könnte als General Camille Walch, Militärgouverneur von Straßburg und Mitglied des Obersten Kriegsrates, der höchsten Militärbehörde in Frankreich.

General Walch empfing im militärischen Stabsquartier in Zivil. Auch sein Mitarbeiter General Paul Millet war in Zivil, und der junge Adjutant gleichfalls. Und doch verkörperten die beiden Generäle das Frankreich des Krieges. Denn General Walch hat eine auffallende Ähnlichkeit mit Marschall Joffre, und General Millet erinnert außerordentlich an Marschall Foch. Es war, als spräche man mit den beiden, um zwanzig Jahre verjüngten großen Marschällen.

»Unsere Befestigungen«, sagte General Walch, »reichen hin, um den Feind zum Nachdenken zu bringen, bevor er marschiert. Vielleicht genügt das. Sie sind gut genug, um ein reifliches Überlegen zu empfehlen.

Aber ich bin nicht optimistisch. Ich war sieben Jahre mit der interalliierten Militärkontrollkommission in Berlin. Ich kenne die Deutschen. Und als ich Berlin verließ, hatte ich das zuversichtliche Gefühl, es werde kein Krieg kommen. Bis vor kurzem war ich optimistisch. Heute bin ich es nicht mehr.

Wenn ich die Informationen, die wir über den Fortschritt der deutschen Rüstungen haben, und die wohl begründeten Annahmen und Schlußfolgerungen, die zu ziehen wir genötigt sind, zusammenrechne, kann ich nicht mehr optimistisch sein. Unsere Befestigungen sind ausgezeichnet. Sie müßten hinreichen, um jeden Landangriff abzuweisen. Aber was vermögen sie gegen eine Offensive aus der Luft? Meiner Ansicht nach ist der deutsche Bestand an Bombenflugzeugen bereits groß genug, um als höchst beachtlicher Faktor zu gelten.«

»Und Ihre Flanken?« fragte ich. »Könnte ein Feind Ihre Befestigungen umgehen? Neutrale Militärsachverständige haben mir gesagt, daß es für die Deutschen unmöglich wäre, durch die Schweiz zu marschieren.«

»Warum denn?« rief General Millet aus. »Warum? Nein, es ist durchaus denkbar.«

Das ist die Antwort auf das französische Paradoxon: die ganz auf der Hand liegende Tatsache, daß keine Mauer Flugzeuge daran verhindern kann sie zu überfliegen, und die Möglichkeit, daß ein Heer die Mauer umgehen könnte.

Trotzdem wissen die Franzosen, daß sie wenigstens heute noch sicher sind. Sie wissen, daß es, was immer mit Luftbomben gemacht werden kann, bei der Entscheidung eines Krieges auf die Infanterie ankommt. Der Endkampf wird mit den Bajonetten ausgetragen. Der Mann zu Fuß ist es, der schließlich eine Nation dazu zwingt, sich dem Willen einer anderen zu fügen. Die französische große Mauer ist der Hauptgrund dafür, daß das französische Volk, bei all seiner Kriegsangst, noch nicht einmal bereit ist, seine Militärdienstzeit von einem Jahr auf achtzehn Monate zu verlängern. Und doch erwartet es das Schlimmste.

Unser elsässischer Freund, durch und durch Franzose, obwohl er perfekt deutsch spricht, rief aus: »Wissen Sie, ich bekomme schon Kopfschmerzen vom Nachdenken über diese Probleme. Wir tun ja nichts anderes hier, ununterbrochen denken wir, denken und denken wir über die Deutschen nach. Wir wissen, daß sie kommen. Sie sagen, sie wollen Elsaß-Lothringen nicht zurückhaben. Aber Sie werden in diesen beiden Provinzen nicht einen einzigen Menschen finden, der das glaubt. Wie können wir sie aufhalten?

»Ach ja«, rief er aus. Wir fuhren an einem Denkmal vorbei, das die Deutschen nach der Eroberung Elsaß-Lothringens 1870/71 aufgestellt haben. Gerade in dem Augenblick, in dem mein Freund fragte: »Wie können wir sie aufhalten?« zeigte sich, wie von einem Regisseur postiert, in der Lücke eines Scheunenhofzauns ein großer weißer Hahn, der gallische Hahn Frankreichs. Er lüpfte die Flügel, schleuderte den Kopf zurück und krähte so kräftig, daß ein Mensch mit scharfen Ohren ihn auf der anderen Seite des Rheins hätte hören können. Während er krähte, funkelte er mit seinen hellen kleinen Augen das deutsche Denkmal an.


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