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Fünfzehntes Kapitel.
Belgrad

In einem serbischen Dorf nicht weit von hier ist vor kurzem eine Bauernfrau, die hundert Jahre verheiratet war, gestorben, und hat einen hundertdreiundzwanzigjährigen Witwer hinterlassen. Die Frau ist hundertundzwanzig Jahre alt geworden.

Die Serben sind ein zähes Geschlecht.

Feldmarschall von Mackensen führte während des Krieges überwältigende Streitkräfte in das winzige Serbien und überrannte das Land. Die Serben leisteten der gewaltigen deutschen Militärmaschine so tapferen Widerstand, daß die deutschen Offiziere erklärten:

»Die Serben sind die besten Soldaten in Europa.«

Heute sagen die Serben, sie haben im Krieg von ihrer sechs Millionen zählenden Bevölkerung eineinhalb Millionen verloren. Ihrem unbekannten Soldaten haben sie ein Denkmal errichtet, das einzigartig unter den Grabmälern Europas ist. Jedes andere Land hat seinen unbekannten Helden im Zentrum der Hauptstadt bestattet und seine sterblichen Überreste mit Symbolen des Ruhmes umgeben.

Der unbekannte Soldat Jugoslawiens liegt auf dem Gipfel eines hohen Berges, fünfundzwanzig Kilometer von Belgrad entfernt, unter einem Haufen grauer Feldsteine. Vom Avalaberg, seiner Ruhestätte, blicken wir hinaus auf die weite serbische Ebene. Das ganze Land hat ein Areal von 250 000 Quadratkilometern, das ist ungefähr die Größe des Staates Colorado, und innerhalb der Grenzen Jugoslawiens leben 14 Millionen Menschen, ungefähr so viel wie in den Staaten New York und Connecticut zusammen.

New York und Connecticut, die dieselbe Bevölkerungsziffer wie Jugoslawien haben, sandten 566 000 Rekruten in den Krieg. Aus dieser weiten serbischen Ebene, aus ihren Dörfern und den Dörfern aller neun Banate Jugoslawiens, die nicht mehr Einwohner haben als New York und Connecticut, können heute 2 284 714 ausgebildete Soldaten kommen, die am liebsten im Handgemenge kämpfen und lieber kämpfen würden als darüber reden.

Von allen Staaten Europas hat dieser die zähesten Menschen, die widerstandskräftigsten Soldaten, und kann, im Verhältnis zu seiner Bevölkerungszahl, die größte Anzahl begeistert kämpfender Männer ins Feld stellen.

Darum ist Jugoslawien der wichtigste militärische Faktor auf dem Balkan, und darum ist es von so großer Bedeutung im Rahmen der Untersuchung »Kommt Krieg in Europa?« Darum, und weil die Serben immer besser imstande zu sein schienen als andere Nationen, bevorstehende Kämpfe schon von weitem zu riechen, und auch weil sie immer dem Generalstab ihres großen Verbündeten am nächsten standen. So standen sie vor dem Krieg mit Rußland. So stehen sie heute mit Frankreich. Wenn in Europa jemand wissen müßte, ob, wie und wann es zu einem Krieg in Europa kommt, sollten das die Jugoslawen sein.

Ihr Außenminister, Herr Boguljub Jeftitch, ist ein kleiner, brünetter, kräftiger Mann, der mit seinen Worten sparsam umgeht. Er gibt nur wenige Interviews. Ihm liegt nicht das mindeste daran, im Scheinwerferlicht der internationalen Welt zu stehen. Sein Kollege Eduard Benesch, der Außenminister der Tschechoslowakei, steht mit Recht im Rufe, der geschickteste Sprecher zu sein, und sein anderer Kollege, Nicolas Titulescu von Rumänien, verdient seinen Ruf als bester Kopf in der Kleinen Entente. Herr Jeftitch begnügt sich damit, der größte Realist zu sein.

Er denkt lange nach, bevor er antwortet. Über die Frage: »Halten Sie es für möglich, daß der Frieden in Europa in den nächsten zwölf Monaten erhalten bleiben kann?« dachte er so lange nach, daß es fast schien, es sei eine negative Antwort zu erwarten. Die meisten anderen Staatsmänner wären sehr rasch mit der diplomatischen Gegenfrage dagewesen: »Zwölf Monate? Warum so bangemacherisch?«

Jede Sekunde, die verging, während Herr Jeftitch nachdachte, erfüllte sein schattiges Arbeitszimmer mit mehr und mehr düsteren Vorahnungen. Endlich kam die Antwort:

»Ich glaube.«

Dann wieder eine Pause.

»Ich hoffe, viel länger. Mir scheint, es gibt in Europa keinen Staatsmann und keinen Führer, der die Verantwortung übernehmen würde, einen Krieg zu beginnen. Das heißt, ich glaube nicht, daß auch nur ein Führer in Europa heute bewußt auf einen Krieg hinarbeitet, sich mit Entschiedenheit darauf vorbereitet, und zwar in dem Wunsch, ihn herbeizuführen.

Keiner von ihnen hält einen Krieg für wünschenswert. Das Risiko ist zu groß. Niemand kann wissen, wie der Krieg enden würde.

Natürlich wäre die Situation ganz anders, wenn irgend eine Nation so stark werden oder sich so stark fühlen sollte, daß sie ihren Sieg für sicher hält.«

»Sie denken an Deutschland?«

»Nun, Deutschland steht bei jeder Diskussion über die Kriegs- und Friedensaussichten in Europa im Mittelpunkt.

Aber ich glaube nicht, daß Hitler einen Krieg wünscht. Er hat nun einmal die gesamte Verantwortung für die Führung Deutschlands übernommen und sich selbst verpflichtet, für alles, was mit seinem Lande geschieht, Lob oder Tadel auf sich zu nehmen, und eine derartige Verantwortung muß offenbar eine überaus ernüchternde Wirkung auf jeden Menschen ausüben. Hitler weiß, was ein Krieg zu bedeuten hat, und ich glaube nicht, daß er einen herbeiwünscht.

Aber es handelt sich nicht so sehr darum, ob Hitler den Krieg wünscht – und ich glaube, wir können es für eine ausgemachte Sache halten, daß er für seine Person kein Verlangen danach hat und ihn auch nicht wünschen würde, wenn sein Land völlig aufgerüstet wäre. Es fragt sich vielmehr, wie groß die Kraft der nationalsozialistischen Bewegung sein wird. Wird die Bewegung stärker sein als ihr Führer? Werden die Führer imstande sein, sie in der Hand zu behalten?«

»Haben wir denn nicht ein Parallelbeispiel in Italien?« fragte ich. »Ist es nicht richtig, daß es Mussolini mit ausgezeichnetem Erfolg gelungen ist, den kriegerischen Enthusiasmus seiner Fascisten im Schach zu halten?«

»Ja, aber Italien ist ein ganz anderer Fall. Die italienische Fascistenbewegung galt in erster Linie der Reorganisation des Staates und war erst in zweiter Linie eine nationalistische Bewegung. In Deutschland andererseits war die nationalsozialistische Bewegung vor allem anderen eine nationalistische, und sie bleibt auch in erster Linie eine nationalistische Bewegung. Und nationalistische Bewegungen sind, wie uns die Geschichte zeigt, immer überaus schwer in der Hand zu behalten, wenn sie ein Heer zur Verfügung haben, das ihnen Siegeszuversicht einflößt.«

Wir riefen uns historische Beispiele ins Gedächtnis, vor allem die Lage Deutschlands im Jahre 1914, als seine Bevölkerung, voll Vertrauen auf die Kraft ihres mächtigen Heeres und erfüllt von einem starken nationalistischen Geist, wohl kaum von einem Führer hätte dazu gebracht werden können, nachzugeben.

»Man darf«, sprach Herr Jeftitch weiter, »auch nicht vergessen, daß die italienische Fascistenbewegung eine Minoritätsbewegung ist, während in Deutschland die Nationalsozialisten das ganze deutsche Volk auf ihrer Seite haben. Und nicht nur die Deutschen innerhalb des Reiches, sondern auch die außerhalb der Reichsgrenzen. Da könnte natürlich eine der größten Gefahren liegen«, fügte er in bedeutsamem Tone hinzu.

»Viele halten, wenn sie über die Möglichkeit eines Krieges in der nächsten Zukunft nachdenken, Österreich für den größten Gefahrenpunkt. Glauben Sie, daß es dem jetzigen Regime in Österreich möglich sein wird, sich noch lange zu halten?«

»Wir hoffen es ganz entschieden«, erwiderte Herr Jeftitch als loyaler Minister eines der Staaten von der Kleinen Entente. »Aber man muß es für unwahrscheinlich halten«, fügte er als Realist hinzu, »wenn es nicht eine radikale Änderung durchmacht. Die Österreicher sind Deutsche. Und viele von ihnen sind jetzt sicherlich Nationalsozialisten. Früher oder später muß der von ihnen ausgehende Druck irgendeine Wirkung zeitigen. Und ganz gleichgültig, was für eine Lösung in Vorschlag gebracht wird, diese Tatsache – daß es sich zum größten Teil um Nationalsozialisten handelt – wird auch weiterhin die entscheidende Tatsache sein. Das Land würde unter jeder Regierungsform, welche es auch sei, immer deutsch bleiben.«

»In Österreich sagt man, Dr. Dollfuß hebe als letzten Trumpf noch die Habsburger auf für den Fall, daß seine Schwierigkeiten zu groß werden.«

»Aber was hat denn das für einen Sinn?« rief Herr Jeftitch, der Vertreter eines der Staaten, die aus den Trümmern der zerschlagenen Habsburgermonarchie geschaffen wurden. »Das würde die Nationalsozialisten nicht davon abhalten, ihre Tätigkeit fortzusetzen. Es würde lediglich bedeuten, daß das Deutschland Hitlers schließlich sowohl um Österreich wie um Ungarn vergrößert werden würde. Nein, wir sind ganz entschieden gegen diese Lösung. Und wenn die Habsburger versuchen sollten zurückzukehren, so gäbe das einen sehr ernsthaften Augenblick. Wir können darauf vertrauen, daß die Großmächte nicht uninteressiert bleiben würden. Wir kleineren, schwächeren Nationen können es uns gestatten, die österreichische Frage den mehr interessierten Großmächten zu überlassen.«

»Aber Ihr Land, Exzellenz, läßt sich ganz entschieden nicht zu den schwächeren Nationen zählen. Es ist die stärkste Militärmacht auf dem Balkan, und ich habe nie etwas anderes gehört, als daß die Jugoslawen die besten Soldaten seien.«

»Danke schön«, er lächelte, »aber davon haben wir jetzt schon ziemlich genug. Wir würden gerne heute etwas mehr tun als bloß gute Soldaten sein. Wir möchten gern unsere Nation aufbauen. Und das können wir nicht, wenn wir Krieg haben.«

»Wird die gegen Deutschland gerichtete Völkerallianz zusammenhalten? Manche erklären, Polen hätte bereits geschwankt.«

»Ich nehme dieses ›Schwanken‹ nicht allzu ernst. Es liegt natürlich auf der Hand, daß diese ganze Angelegenheit der polnisch-deutschen Verständigung eine rein taktische ist, mit der man den Zweck verfolgt, Zeit zu gewinnen. Selbstverständlich wird eine neue Situation geschaffen sein, sobald Deutschland aufgerüstet ist.

Nein, ich glaube, die Allianz wird von Bestand sein. Und ich glaube, sie wird den Frieden erhalten. Auf jeden Fall können Sie sicher sein, daß Jugoslawien seine Anstrengungen für den Frieden mit der größten Entschlossenheit und Zähigkeit fortsetzen wird.«

»Und ein Präventivkrieg? Halten Sie den sogenannten Präventivkrieg für möglich?«

»Sie meinen, Frankreich gegen Deutschland? Nein, das ist ganz unmöglich.«

Der Minister hatte mit positiven Worten geschlossen. Die Schatten in seinem Arbeitszimmer hatten sich vertieft. Es ist klar, daß Jugoslawien das Beste hofft, es aber für notwendig hält, auf das Schlimmste vorbereitet zu sein. Die Serben sind Realisten.


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