Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXII · Alles aussteigen!

Wunderlich hatte seine Erzählung beendet. Die Zeit war wie im Fluge vergangen.

Das vereiste Fenster unseres Abteils glitzerte hell. Draußen war also inzwischen lichter Tag geworden. Der Zug flog über krachende Weichen, die Maschine schrie ein verschlafenes Einfahrtssignal an und verringerte dann ihre Geschwindigkeit.

Im Wagendurchgang drängten sich bereits die aussteigfertigen Passagiere.

Ich blickte nach der Uhr: anderthalb Stunden Verspätung.

Das Dunkel der Bahnhofshalle verfinsterte den Wagen. Wir packten unsere Sachen.

»Endstation! Alles aussteigen!«

Eine Kette von Gepäckträgern erwartete die Beladenen unter den Fahrgästen. Alle Wagen hatten eine phantastische Eishaube auf. Auch die schwere Lokomotive hatte der Winter mit kristallnem Spitzenschmuck behängt.

Der Maschinist stieg wie ein Halbgelähmter von seinem Führerstand. Sein Gesicht war Ruß, Öl und Erschöpfung.

»Das ging heute noch einmal gut ab.«

Ein dick verpackter Reisender hielt ihm das offene Zigarettenetui hin. Der etwas verlegene Dank sprach aus dieser Regung, die Angst eines Menschen, der sehr oft reisen muß und dem es plötzlich einfällt, daß die von ihm sonst herzlich wenig beachteten Arbeiter die Hand am Hebel haben.

In der Halle trennten wir uns. Und wir verloren uns im Gewühl der Stadt.

War es die Erzählung Wunderlichs, daß mir die Stadt ein anderes Gesicht zeigte? Das Geschrei der Straße – ich kannte sie, die Dissonanzen des Verkehrs, die Hupenfanfaren der Automobile und die laute Litanei der Zeitungsverkäufer – hatte heute die Atemlosigkeit eines gehetzten Alarms. Die im festgefrorenen Schnee begrabenen Wühlhaufen eines Untergrundbahnbaues und die Ruinenkulisse eines Hausabbruchs erinnerten mich an die Zeugen einer gewaltsamen Verwüstung. Ein roter Signallappen am Geländer der Baugrube wurde zur verlassenen Trophäe eines geglückten und wieder zurückgeworfenen Vorstoßes.

Das furchtbare laufende Band, das die ganze Stadt durchläuft und das sichtbar wird, wenn Arbeitsbeginn und Arbeitsschluß eine Million Menschen auf den ewigen Kreislauf dieser rotierenden Stadt werfen, hatte heute ein wahnsinniges Tempo. Die Stadt wurde von der Kälte dieses trostlosen Winters geschüttelt und hatte doch die glühende Stirn eines Fieberkranken.

Ich kaufte mir Zeitungen. Sie überschrien sich, wie immer. Aber diesmal hatten sie Grund dazu. Die Plötzlichkeit und die anhaltende Härte des Winters waren über die Kohlen- und Lebensmittelvorräte der Stadt hergefallen und drohten in wenigen Tagen alles kahlzufressen. Lumpige zwei Wochen genügten, die von den Kapazitäten der Volkswirtschaft kontrollierte und von einer Armee von Schutzleuten behütete Ordnung des Blutkreislaufs dieses riesenhaften Organismus ins Stocken zu bringen. Die Nervosität wurde durch das Zeitungsgeschrei noch gesteigert, und die Profite kletterten in die Höhe.

War diese vielgerühmte Ordnung so schnell schachmatt zu setzen? Ich mußte an die Zeit denken, als der Generalstreik die Gurgel dieser Riesenstadt umspannte. Und plötzlich wußte ich es:

Die Millionenstädte sind die uneinnehmbaren Festungen der Arbeiterklasse. In ihnen fällt die Entscheidung, und diese Entscheidung ist der Sieg.

Ich sah die Kasernen der Polizei und des Heeres, und ich spürte die straffere Disziplin und die bessere Vorbereitung auf den Bürgerkrieg. Aber ich sah auch die Arbeitervorstädte mit ihren grauen Bataillonen, und ich spürte die fester geballte Faust und die verbissenere Wut eines Angreifers, der nur noch auf das Signal wartet ...

Ich sah die Paläste der Banken und der Zeitungen, und ich spürte die Macht des Goldes und hörte die Rotationsmaschinen den Psalm des nimmersatten Besitzes singen. Aber ich sah auch die quadratischen Bastionen der Gewerkschaften und der Partei, und ich spürte hinter den Bürofenstern die Bereitschaft und die Ruhe, die das Gefühl der Macht und das Wissen von der geschichtlichen Notwendigkeit des endlichen Sieges gibt.

Ich summte im Gehen die Melodie der Marseillaise vor mich hin. Sie erinnerte mich plötzlich an das Erlebnis des heutigen Morgens. Ça. ira! Karl! Ça ira! mit einem solchen Kompaß in der Brust, wie du ihn hast!

Ça ira! Genossen in aller Welt!

Ça ira!


 << zurück