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XI · Der Feldherrnhügel

Oft habe ich meinen Jähzorn verwünscht. Aber ich glaube, damals war mein Wutausbruch berechtigt.

Es war ja auch nicht allein mein persönliches Empfinden, das getreten worden war. Die zynische Äußerung des Ministers hatte den ganzen Stoßtrupp beleidigt, die ganze bewaffnete Arbeiterschaft, die mit den bloßen Fäusten auf Bajonette und Maschinengewehre losgegangen war, damit die Minister aus ihren Schlupfwinkeln herauskriechen und ihre gepolsterten Sessel wieder drücken konnten. Warum hatten wir unser Leben in die Schanze geschlagen? Warum lagen wir wieder auf Stroh, froren in den Nächten der Bereitschaft? Damit uns einer, der von unseren Gnaden Minister war, beschimpfte?

Die französische Revolution konnte ihre Soldaten nicht satt füttern, nicht warm kleiden, sie schickte ihre Regimenter mit zerrissenen Schuhen über die Alpenpässe und an den Rhein, aber sie gab ihnen die Marseillaise und die Glorie und die voranlodernde Feuersäule einer pathetischen Parole. Auch die deutsche Revolution konnte ihre Soldaten nicht sattfüttern, nicht warm kleiden, und keiner verlangte es von ihr. Aber sie hatte nicht einmal eine Parole, die führen konnte. Sie hatte nicht einmal einen General Bonaparte des Wortes! Die Glorie der Revolution erlosch wie eine früh gealterte Sonne, und zurück blieb nur das blutige Opferrot der ermordeten Jakobiner ... Das Opferrot und der Gestank des Sumpfes ...

Wenn es nun wirklich geschehen wäre, daß einer vom Stoßtrupp in der Aufregung der Nacht einen Genossen niedergeschossen hätte? Wäre es nicht die Aufgabe des Volksbeauftragten gewesen, sich schützend vor den Stoßtrupp zu stellen? Lerne vom Gegner! Eine ganze Klasse mit all ihren Kriegsgerichtsräten, Gefangenenaufsehern, Offizieren und Pressehyänen steht auf und verbirgt hinter ihrem Rücken die Mörder Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs, verbirgt sie zehn Jahre lang, besorgt ihnen falsche Pässe, bewacht ihren Schlaf, erhebt sie zu Helden der Nation und läßt ihre Helfershelfer zu den höchsten Stellen der Republik emporklettern. Vergleiche damit, was unser Genosse tat! Er brauchte nichts zu beschönigen, nichts zu vertuschen, nichts umzulügen. Er sah vor sich ein Dokument, das später die Prüfung bestand vor drei Instanzen der Klassenjustiz. Er benahm sich schlimmer als ein Klassengegner: er bezweifelte es.

Ich will nicht verallgemeinern. Aber mir scheint, diese kleine Episode sagt uns etwas über die Ursachen des Schicksals unserer deutschen Revolution ...

Uns allen saß der Ekel damals so im Hals, daß wir in der ersten Aufwallung des Zornes beschlossen, heimzufahren und für immer abzuschnallen. Seltsamerweise hatte der Motor jetzt keine Panne. Lag es daran, daß es heimwärts ging? Sollten etwa die gestrigen Hemmungen in der Heldenbrust des Chauffeurs zu suchen gewesen sein? Jedenfalls kam uns der Rückweg viel kürzer vor. In einer Fahrtstunde wären wir am Ziel gewesen, hätte uns nicht ein neues Ereignis aufgehalten.

Bei den ersten Häusern einer kleinen Arbeitersiedlung, die sich wie Leibeigene unter die finstere Nähe eines verräucherten Werkes duckten, stand ein Mann auf der Straße und winkte wie närrisch. Wir hielten.

»Wenn ihr unterwegs den Stoßtrupp Wunderlich trefft, dann sagt ihm, er soll sofort der Reichswehr entgegenfahren, die auf der Straße von Zwieritzsch her vorrückt.«

Unser Verdruß von heute früh war verflogen. Schließlich rackerten wir uns ja nicht für diesen oder jenen Minister ab! Ich rannte mit dem Überbringer der Meldung ans Telephon. Er hatte bereits vor einer reichlichen Stunde den Auftrag bekommen, auf uns zu warten. Die Verbindung war sofort da, aber der kleine Trotzki meldete sich nicht.

»Bruno ist bereits unterwegs. Mit vierhundert Mann. Wir haben schnell einen Eisenbahnzug zusammengestellt ... Die Reichswehr kommt aus Sachsen herüber. Ein Bataillon. Du sollst die Truppe aufhalten, bis Bruno mit seinen Leuten heran ist.«

Das war ja heiter!

Mit einer Handvoll Leute ein Bataillon aufhalten ... leicht gesagt! Ich kannte die Straße, auf der die Reichswehr marschierte. Das Terrain war schwierig für eine größere Formation. Wälder und Talsenken ermöglichten das Heranschleichen. Aber aufhalten ... Zwei Maschinengewehre gegen mindestens zehn oder zwölf?

Die Stoßtruppleute verloren kein Wort, als ich ihnen die Neuigkeit brachte. Der Chauffeur bugsierte das Auto herum, Hans bekam Arbeit, er steckte seine Nase in die Luft und ritt los.

Wir fuhren durch ein kleines Arbeiternest. Es wackelte vor Aufregung. Eine tollgewordene Blechglocke auf dem kleinen Turm des Gemeindehauses heulte wie ein hungriger Hund, ein Bäckerdutzend Bewaffnete trat an, und Frauen und Kinder standen umher und waren vor Angst doppelt elend und blaß. Als wir vorbeipolterten, machten sie ihren Herzen mit einem Hurra Luft. Wir aber dachten, haltet die Schnute!

Denn offen gestanden: ganz einerlei war uns die Sache nicht. Ein wahres Glück, daß dieser Reichswehrvorstoß von Osten her kam. In entgegengesetzter Richtung hatten wir die Eisenbahnstrecke zerstört, und der Extrazug wäre nicht weit gekommen. Hoffentlich nahm Bruno Volldampf.

Unser Karren hielt sich diesmal tapfer. Der Chauffeur hatte keine Panne. Dabei mußte der Wagen hier allerhand leisten. Die Straße bog steil durch die Wälder aufwärts und fiel dann eilig wieder in die Talsohle hinab. Plötzlich sahen wir, wie der Schimmelreiter, der uns eine Bodenwelle voraus war, seinen Gaul in flotten Trapp setzte. Ehe wir die Anhöhe erreicht hatten, war er schon wieder zurück: Auf der Bahnlinie, die wir überqueren mußten, hatte er den Extrazug halten sehen. Die roten Soldaten kletterten gerade aus den Abteilen und bauten sich an der Böschung auf. Wir hatten uns demnach hübsch verspätet. Aber Bruno schien keine Lust zu haben, uns den Empfang aus erster Hand zu schenken. Hans brachte den Auftrag mit, der Stoßtrupp möge nur vorausfahren.

Wir passierten die Bahnlinie. Die bewaffneten Arbeiter traten den Vormarsch an. Eine besonders kräftige Lokomotive hatte die Betriebsdirektion nicht zur Verfügung gestellt. Die alte Konservenbüchse ächzte und stöhnte wie ein Asthmakranker. Besonders kriegerisch sah die Offensive also nicht aus. Aber die Hauptsache war, daß der Stoßtrupp jetzt vierhundert Mann hinter sich hatte.

Von der Reichswehr war noch nichts zu merken. Schlachtenbummler bevölkerten die Gegend. Ein Gefecht sieht man schließlich auch nicht alle Tage.

Der Zufall, dieser große Gott der Schlachten, bescherte uns ein seltenes Glück. Wir konnten die Reichswehr wie in die Öffnung eines Hufeisens hineinmarschieren lassen, so günstig bog sich ein undurchsichtiger Waldrand um die Straße, auf der die Truppe jetzt sichtbar wurde. Eine prachtvolle Mausefalle!

Wenn nur unsere angriffslustigen Haufen etwas mit ihr anzufangen gewußt hätten! Das ganze Kunststück wäre gewesen, sich ruhig am Waldrand versteckt zu halten, bis die Truppe in der Schlinge saß, und dann: Gib ihr Saures! Aber mache du das einmal einer solchen Schwefelbande klar. Jeder Fünfte entdeckte sein Talent zum Kompanieführer, das Gebrüll hätte Taube stutzig gemacht, und dann kamen noch die Schlachtenbummler und verrieten die Stellung, indem sie aus dem Wald heraustraten, um ja recht nahe dabei zu sein. Das Ende vom Lied war, daß die Spitze des Reichswehrbataillons den Braten roch und den Kopf aus der Falle herauszog.

Es war zum Heulen! Alles war wieder einmal vermasselt ...

Ich lag im Gestrüpp der Fichten hinter einem Maschinengewehr. Der Waldboden atmete seinen starken Geruch aus. Und der Hunger meldete sich, die mißhandelte Müdigkeit der letzten Nacht ...

Mit einem Male schwärmten unsere Leute aus dem Wald heraus und rannten mit Geschrei über die Wiese. Nanu? Man rannte eben mit. Schüsse riefen das Echo der Wälder an, Maschinengewehre punktierten mit in grimmiger Ausdauer. Wir sparten unsere Munition, denn diese Knallerei hatte herzlich wenig Sinn. Und richtig, nach einer Weile hieß es: Feuer einstellen! Der Befehl lief die verbogen in die Waldwiese geworfene Schützenlinie entlang und wurde befolgt. Auch die Reichswehr stellte das Schießen ein.

»Was ist los? Verhandelt wird? Das kann ja eine nette Pfuscherei werden ...«

Genau erfahren haben wir es nie, wo und wie da verhandelt wurde. Wir lagen auf dem Bauch und dösten. Dann kam der Befehl, in den Wald zurückzugehen. Alles schimpfte oder zuckte die Achseln. Später hörten wir, daß sich einige von unseren Ministern und Organisationsführern die »Schlacht« von einem Feldherrnhügel aus angesehen und, um Blutvergießen und nach ihrer Meinung eine Niederlage zu vermeiden, den krummen Weg der Verhandlung beschritten hatten. Als es Abend wurde, zogen viele von uns verärgert und hungrig ab. Uns packte eine heillose Wut. Die Nacht erstickte die letzte Stimme der Disziplin, und als es sich herumsprach, die Reichswehr habe einen von unseren Ministern unter frecher Verletzung aller Verhandlungsgewohnheiten festgehalten, da begannen die Arbeiter den Krieg auf eigene Faust.

Maschinengewehre konnten wir dazu nicht gebrauchen. Wir packten unsere M.-G.s auf den Wagen und ließen Karafiol und vier Mann mitfahren, nach einer kleinen Ortschaft in der Nähe.

Die Reichswehr setzte ihren Marsch zögernd fort. Besonders intelligent war das nicht. In der Nacht sind fremde Wälder schrecklich. Hinter jedem Baum kann ein »Franktireur« stehen. Ob sie glaubte, wir hätten Angst, den von ihnen mitgeschleppten Minister zu treffen? Daran dachten wir gar nicht.

Die Sterne blinzelten kühl und fremd über den Schattenwipfeln. Klirrend und stampfend zog das Bataillon mit seiner Bagage westwärts. Von dieser Richtung mußten wir sie abbringen. Um jeden Preis!

Wir waren etwa zwanzig Mann, hielten uns weit auseinander, und unsere einzige Sorge war, daß wir uns nicht selbst über den Haufen schossen. Ich hielt mich an den Tierbändiger. Der war jetzt ganz in seinem Element. Er verschwendete keinen Schuß in die ziellose Nacht. Während ich seinen Rücken deckte, denn die Reichswehr ging mit Sicherungen im Walde vor, stand er minutenlang auf dem Anstand, hinter einem Baumstamm, das Gewehr auf Aststümpfe gestützt, und wartete. Seine Ruhe steckte mich an. Nach seinem Schuß bückten wir uns, um nicht von den sofort herüberpfeifenden Kugeln getroffen zu werden.

»Hast du nichts zu futtern bei dir?«

Es war sicher nach Mitternacht. Der Hunger war nicht mehr auszuhalten. Schluß für heute! Wir hatten ihnen sicher die Nacht verdorben. Dieses unsichtbare Umlauertsein mußte sie demoralisieren. Und sie kamen kaum vorwärts.

Die Schüsse knallten jetzt wie hinter einem Vorhang. Ob noch Leute von uns in den Wäldern waren? Vielleicht feuerten die Soldaten auch nur, um sich Mut zu machen oder weil der Wald ihnen Gespenster vortäuschte ... Unser Auto stand in der großen Scheune eines Bauernhofes. Ein Posten gähnte halbtot vor Müdigkeit. Die anderen lagen auf und unter dem Wagen und schliefen trotz der Nachtkälte.

»Eine Stunde noch, dann weckst du. Wir müssen weiter. Unterwegs schläfst du dann ein bissel.«

Die Nacht stand noch dicht vor uns, als wir weiterfuhren. Licht durften wir nicht haben. Also langsam. In nicht allzu weiter Ferne hörten wir die Bagagewagen der Truppe knarren. So fuhren wir fast zwei Stunden nebeneinander her.

Endlich wurde es Morgen. Die Sonne ging auf.

Wir erreichten den Sammelplatz der roten Soldaten. Aus einigen Nachbarorten war Verstärkung gekommen. Die Vorbereitungen für den Angriff rumorten durch das Nest, dessen Einwohner wie vom Erdboden vertilgt waren.

»Der Stoßtruppführer zu Bruno!«

In der engen Hinterstube eines kleinen, vollgestopften Krämerladens saß unser oberster Kriegsherr. Er hatte einen zweiten Stuhl zu sich herangezogen und das linke Bein daraufgelegt. Die schlaflose Nacht machte seinen Körper schwer. Er stützte sich auf den Tisch und studierte eine Bezirkskarte des Touristenvereins.

»Der Stoßtrupp fährt in fünf Minuten ab. Die Reichswehr ist in einer knappen halben Stunde hier, wenn sie nicht aufgehalten wird. Geht auf Schußnähe ran, aber spart Munition.«

Kein Wort über Germsbach, über die vergangene Nacht ... Die verbissene Ruhe Brunos imponierte mir. Beinahe hätte ich »Zu Befehl« gesagt.

Die Kirchturmuhr schlug acht, als der Stoßtrupp aufbrach. Wir hatten zwanzig Mann »an Bord«. Hans mußte seinen Schimmel zurücklassen. Hinter uns füllten sich sechs Lastkraftwagen mit Bewaffneten. Das übrige trat an.

Eine Viertelstunde später hob sich am Horizont die Silhouette der marschierenden Truppe ab. Bis auf vierzehnhundert Meter fuhren wir heran. Dann pfiffen uns die ersten Schüsse in den feuchten Straßengraben.

»Du, Karl, morgen ist Sonntag. Was meinst du, ob wir heute fertig werden?«


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