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XII · Pflug und Furche

Der Chauffeur hatte das Stoßtruppauto in die schützende Deckung einer kleinen Kiesgrube gefahren. Von dort holten wir die Maschinengewehre und die Munition und nisteten uns am Rande eines Straßengrabens ein. Vor uns war eine tiefe Talmulde, aus der die gegenüberliegende Höhe terrassenförmig aufstieg. Ein Dorf, es waren nur wenige Häuser, saß oben auf dem Höhenkamm, und in seinen Gärten, an seinen Scheunen und im Straßengraben am Ausgang des Ortes bauten die Soldaten ihre Schützen- und Maschinengewehrnester. Da oben entstand plötzlich eine Festung, an der wir uns die Zähne ausbeißen konnten.

Aber keiner von uns ließ den Kopf hängen. Wir setzten Zielfernrohre auf unsere Maschinengewehre, und wo sich ein Unvorsichtiger zeigte, dorthin spendierten wir etliche Zentimeter Patronengurt. Jeder Schuß war plötzlich kostbar geworden, der Gegner schien sich auf eine Art Stellungskrieg einrichten zu wollen.

Hinter uns kam es jetzt heran mit Getöse. Auf sechs Lastkraftwagen und zu Fuß rückten die bewaffneten Arbeiter in die Feuerlinie. Weißt du, ich habe vorgehende und vorgeschleppte Truppen gesehen bei Verdun, bei Bapaume und bei Arras: erstarrte, gleichgültige, todmüde Menschen in grauen Uniformen, Kanonenfutter des kapitalistischen Krieges ... Und nun erlebte ich dieses Schauspiel: Die sechs Lastautos waren so vollgepfropft, daß sie kaum von der Stelle kamen und wie rasend knatterten. An ihren Kastenwänden hielten sich Dutzende von lautrufenden Burschen, sie alle konnten nicht schnell genug ins Gefecht kommen. Es sah aus, als ob Trauben von Menschen auf den Wagen lägen und über den Rand schleiften. Nebenher rannten ungeordnete Gruppen, die der Eifer des Angriffs auseinandergerissen und zu neuen Abteilungen zusammengeschlossen hatte. Jeder war sein eigener Vorgesetzter und schrie dementsprechend. Manche hatten noch ihre alten geflickten feldgrauen Entlassungsanzüge an und die speckig gewordenen Schirmmützen auf, und sie waren mit ihren Koppeln und Patronentaschen und Gewehren einer einigermaßen organisierten Truppe am ähnlichsten. Andere trugen ihre verstaubten Straßenanzüge und Stoffhüte und hatten in den Hosentaschen nur ein paar Patronenstreifen. Sie alle stürzten heran wie eine wilde kriegsgewohnte Horde. Niemand führte sie an, kein allmächtiges Gesetz trieb sie vor. Sie konnten umkehren, wenn es ihnen nicht mehr gefiel. Ihre Verpflegung war nicht geregelt, und erst recht hatten sie kein »Sturmfutter« bekommen. Trotzdem griffen sie an wie Teufel. Der vielverachtete »Mob« stürzte sich ins Feuer. Die Lastkraftwagen entleerten sich plötzlich wie mit einer Handbewegung leergefegt, fuhren zurück, holten Verstärkung und schütteten sie auf einer anderen Stelle der allmählich das Dorf umschließenden Front in die Schützenlinie. Nach zwei Stunden hatte sich ein nicht ganz fester, aber heftig losknallender Ring um die verschanzte Truppe gelegt. Überall hämmerten Maschinengewehre ...

»So eine freche Marke!«

Drüben rannte ein Soldat mit einem leichten Maschinengewehr und einem Kasten Munition aus seinem Fuchsbau auf eine Gruppe von Büschen zu, wo er wahrscheinlich ein besseres Schußfeld zu finden hoffte. Ich wollte das Maschinengewehr auf ihn richten, als der Tierbändiger sein Gewehr anlegte:

»Laß mal. Ich kaufe ihn mir.«

Er zielte lange. Morgenstern lachte:

»Du, das wird nischt. Deine Knarre zittert doch wie ein Lämmerschwanz. Paß auf, der geht dir durch die Lappen.«

Grimm antwortete nicht. Ich beobachtete ihn heimlich. Sein von schwarzen Bartstoppeln gespicktes Kinn schob sich immer weiter vor. Die Augen zogen sich fast völlig zusammen. Und die Gewehrmündung folgte dem laufenden Ziel wie der Zeiger einer großen Uhr. Da krachte der Schuß, Grimm setzte ab, drüben überschlug sich der Soldat ...

Aber auch wir hatten Verluste. Zwei Verwundete wurden durch unseren Graben geschleppt. Der eine hatte einen Schuß in die Kniescheibe bekommen und biß sich die Lippen blutig vor Schmerz.

»Mensch – bloß kein Krüppel – – – Dann lieber eins vor den Pinsel.«

»Richtig. Der Dank des Vaterlandes, das ist schlimmer als Hundeflöhen. – Und das wäre hier nicht anders. – Den Schwindel kennen wir.«

»Ausgeschlossen! Eine Arbeiterregierung ...«

»Ach Quatsch, die hat doch andere Sorgen – – – Hinterher haben die Beamten doch den Schlüssel zum Kassenschrank, das weeßte doch.«

Auf der uns unsichtbaren Front gegenüber knallte es jetzt wie besessen los. Geschrei setzte kurz ein, ein Maschinengewehr nähte einen langen Streifen.

»Die greifen an ...«

»Und wir sollen uns wohl hier verheiraten?«

»Los, Karl, gib das Kommando!«

Ich erschrak. Wirklich, mir wurde einen Augenblick lang ganz übel. Mit einer Hand, ich glaube, sie zitterte etwas, zeigte ich in das Gelände vor uns. Bis zur nächsten Bodenerhebung waren es mindestens dreihundert Meter. Erst dort konnten wir wieder in Stellung gehen.

»Über diesen Präsentierteller hinweg wollt ihr angreifen? Ihr seid wohl verrückt!«

Es ist ja durchaus nicht heldenhaft, was ich dir da von mir erzähle. Aber vielleicht war ich doch durch die zwei schlaflosen Nächte nicht mehr auf der Höhe. Und dann blieb es wirklich ein tolles Stück, über diesen Geländestreifen zu laufen. Sie konnten uns abschießen wie Karnickel. Im Felde, während des Krieges, wäre es mir nicht eingefallen, so in die Geschoßgarbe zu rennen.

Meine Kameraden schauten mich erstaunt an. Sie kannten mich wohl nicht von dieser Seite. Unter ihren Blicken erholte ich mich allmählich:

»Ich will es nicht verantworten, euch über diese Stelle zu führen. Hinterher heißt es, ich hätte euch ins Verderben gejagt ... Wer dafür ist, daß wir von hier aus angreifen, der hebt eine Hand ...«

Ehe ich ausgesprochen hatte, musterte mich Grimm mit zusammengekniffenen Augenbrauen:

»Du hast wohl Angst?«

Das saß! Ich schrie:

»Sprung –!«

Und nun stürzte ich aus einem Extrem ins andere. Etwas wie Besoffenheit kam über mich. Weil der Stoßtrupp und die danebenliegenden Arbeiter nicht das linke Bein angezogen hatten – siehe die Exerziervorschrift bei dem Kommando Sprung –, rief ich, über die von mir aufgeführte Groteske laut lachend:

»Noch einmal zurück ... Sprung –«

Alle linken Beine zogen an ... Vergnügte Gesichter quittierten den verrückten Ulk.

»– auf, marschmarsch!«

Karafiol und Morgenstern vorn am Gewehr, Grimm und ich hinten, und nun keuchend über den Acker! Über die klebrige schwere Erde der frischgezogenen Furchen ... Aufbellend flogen die metallnen Körner einer Geschoßgarbe über unsere eingezogenen Köpfe. Und dann lagen wir in Deckung.

Verdammt! Die dreihundert Meter hatten uns in Schweiß gebracht ... Einem von unseren Leuten, der zwei Munitionskästen geschleppt hatte, schoß das Blut aus der Nase. Verwundet war niemand. Schwein gehabt!

Viel wert war unsere neue Stellung nicht. Wir krochen einzeln und langsam weiter. Es war eine Schinderei. Und wenn die Soldaten drüben besser aufgepaßt hätten, dann säße ich jetzt nicht hier ... Wir waren glücklich bis in die Talsenke hinabgerutscht, um von dort aus zu versuchen, uns an den Gegner heranzuarbeiten, natürlich immer von Deckung zu Deckung. Mit uns schob sich trotz des nervösen Maschinengewehrfeuers die an uns angelehnte Feuerlinie weiter, als sich ein Ruf von weit her fortpflanzte:

Stoppen! Feuer einstellen!

Du kannst dir unsere Wut denken. Die Nachricht, daß wieder verhandelt werden sollte, wirkte auf die Angreifer wie Wasser auf Glut. Es dampfte gehörig.

Keiner sprach davon, daß es vielleicht gar nicht so verkehrt sei, eine derart eingeschanzte Truppe auf gütlichem Wege einzufangen, nachdem wir ihr gezeigt hatten, wie hartnäckig wir sein konnten. Nein, alle schimpften, als wenn ihnen wunder was für ein Genuß entzogen würde. Gestern bereits verhandelt und vermasselt, heute wieder verhandeln und wieder vermasseln? An den führenden Genossen wurde kein Fetzen ganz gelassen.

Etwa eine Viertelstunde verging noch, ehe das Feuer völlig einschlief. Überall erhoben sich Schützen und traten zu lebhaften Gruppen zusammen. Auch die Reichswehrsoldaten standen beieinander und schauten zu uns herüber.

Ein kleines Personenauto flitzte nahe bei uns vorbei. Eine weiße Fahne wehte am Kühler. Bruno war es, der hinüberfuhr. Er drehte sich kurz nach uns um. Unablässig hupend lief das Auto den Hügel hinan.

Und wir saßen nun wieder einmal da und warteten. Wenn dieses Affentheater so weiterging, dann waren wir in einer Woche alle unsere Minister los – – – Hatte Bruno wirklich nichts Besseres zu tun?

Zu allem Verdruß kam noch der Hunger. Etliche hängten ihre Gewehre um und zogen ab.

Das schlechte Beispiel machte Schule. Wir redeten gut zu, aber die Enttäuschung war zu groß. Sie wären hungrig auf einen übermächtigen Gegner losgestürmt, aber sie hatten keine Lust, hungrige Zuschauer eines Schauspiels zu sein, das mit einer Autofahrt und einer weißen Fahne begann und wer weiß wie endete.

Das Auto fuhr leer zurück. Bald sprach es sich herum, daß die erste Bedingung einer Verhandlung die sofortige Bereitstellung eines Lazarettautos war. Sie hatten also Schwerverwundete! Unser Krankenauto fuhr fleißig hin und her.

Damit verging die Zeit. Die Schützenlinie wurde immer dünner. In einer Stunde wären auch wir reif gewesen, den Bettel hinzuwerfen. Wir hockten in der Mulde, und die Müdigkeit kam schwer über uns. Ich mußte mich zwingen, nicht fortwährend die Taschenuhr zu ziehen und nach dem höhnisch rennenden Sekundenzeiger zu sehen.

Der Tierbändiger erhob sich mit einem Fluch:

»Jetzt sind wir hier noch glücklich an die vierzig Mann. Schau dir das bloß an ...«

Sein ausgestreckter Arm wies in die Gegend, aus der wir heute früh gekommen waren, angriffslustig, ja, wirklich: lustig! Und jetzt? Überall wimmelte es von herumstromernden Gruppen. Man konnte nicht mehr unterscheiden, was Bewaffnete waren und was Spaziergänger. Und wie um das Bild noch unwahrscheinlicher zu machen, zog ein Bauer, am Horizont deutlich in jeder Bewegung sichtbar, mit Pferden und Pflug ruhig über sein Ackerstück.

Von unserem kleinen Trotzki keine Spur.

Gestern Langert, heute Bruno ...

»Du, Grimm, uns kann nur noch Frechheit retten. Wir beide gehen, mit unseren Taschentüchern winkend, hinauf und verlangen den Kommandeur der Reichswehr zu sprechen: Wenn die beiden Minister nicht binnen einer halben Stunde hinter unsere Schützenlinie zurückgekehrt sind, greifen wir an. Wir schwindeln ihnen etwas über unsere Stärke und Art der Bewaffnung vor. Unterwegs beschnarchen wir ihre Stellung.«

Mein Vorschlag gefiel. Der Tierbändiger schaute mich an:

»Ich gehe allein ... Das macht einer ebensogut.«

Er gab sein Gewehr ab, wies meinen Einwand mit einer kurzen Gebärde zurück und ging. Ab und zu zeigte er ein winkendes Taschentuch. Dann war er hinter den Gartenzäunen des Dorfes verschwunden.

Wir schauten nach der Uhr. In einer halben Stunde ...

Grimm erzählte mir am Abend, was er erlebt hatte. Die Soldaten umringten ihn, stießen ihn vorwärts und betasteten ihn, »bis in die hinterste Kimme«, ob er Waffen bei sich trüge. Allerhand Maschinengewehre hockten in Deckung. Sie hatten dem Tierbändiger einen Fetzen um die Augen gebunden, aber der rutschte herunter, und Grimm sah, was er sehen wollte. Die Bagage hatten sie im Dorf verteilt. Ein Auto war kaputtgeschossen. Der Blechkasten des Motors war durchlöchert wie ein Sieb. Im Gasthof saß der Stab. Ein ganzes Rudel Offiziere stand um unsere beiden Minister herum. Dem Langert sah man es an, daß er gestern tüchtig mitgenommen worden war. Eine blutunterlaufene Beule zog sich schräg über seine Stirn. »Die Bande guckte mich an wie die Kuh das neue Tor. Ich sagte meinen Spruch her, wurde aus dem Zimmer geführt, und in fünf Minuten war der Vertrag unterzeichnet.«

Von Bruno hörte ich dann die Ergänzung. Er hatte von der Reichswehr die Übergabe gefordert und ihr zugesichert, daß sie Schutz vor weiteren Überfällen und Geleit bis an die Grenze bekäme, über die sie sich verlaufen hatte. Der Reichswehrmajor zierte sich vor seinen Offizieren, gab gewundene Erklärungen ab, daß sie nicht die Absicht hätten, der Linksregierung Schwierigkeiten zu machen, beklagte sich über den »wilden Guerillakrieg« und spiegelte sich in seiner Offiziersehre. So kam man ins Handeln, und schließlich lag ein Vertrag vor, nach dem die Reichswehr zwei Drittel ihrer Waffen und Munition abgeben, das eine Drittel aber »zu ihrem persönlichen Schutz« behalten sollte, auch wenn ihr ein »sicheres Geleit« bis zur Grenze weitere Belästigung fernhielt.

Die Unterschriften Brunos und Langerts zierten den Wisch. Aber die Offiziere zögerten plötzlich wieder. Da tauchte Grimm auf und gab sein Ultimatum ab. Die Wirkung war verblüffend. Grimm machte seine Sache gut, und die Herren glaubten, die scharenweise in der Gegend herumspazierenden Schlachtenbummler wären bewaffnete Arbeiter, Marke Tierbändiger. Sie fragten sogar, ob wir Geschütze hätten ... Der Vertrag war in Butter ...

Gegen Abend wurden die zwei Drittel Waffen und Munition auf alle möglichen Karren verladen. Das Dorf wimmelte von Bewaffneten und Neugierigen. Die Soldaten standen ziemlich eingeschüchtert herum.

Wo aber gab es etwas zu essen? Wir liefen nach unserem Wagen und fuhren zum nächsten Rittergut, keine Viertelstunde weit.

Das Auto hielt vor der Freitreppe des Herrenhauses. Der Besitzer stand auf der obersten Stufe – Haltung: Wir Deutschen fürchten Gott, sonst nichts auf dieser Welt – ein stolzer Rasierpinsel thronte auf seinem Lodenhut.

»Ich habe nichts zu verkaufen!«

»Schön, dann beschlagnahmen wir.«

»Wenn Sie etwas finden?«

Das hätte der gute Mann nicht sagen sollen! Drei Mann blieben mit mir auf dem Wagen, die anderen schwärmten aus. Der Hunger machte sie findig. Triumphierend kamen sie zurück – mit einem Schinken, mit Würsten, Eiern, Broten, acht Flaschen Wein, einem gerupften Huhn, und einer hatte seine Hosentaschen voll Schmalz gesackt.

Diesen Anblick konnte der Mistbaron nicht ertragen. Er schob ab.

Wir fuhren mit Hallo aus dem Hof.

Wunderlich hielt den fetten Schinken hoch:

»Mensch, da hast du die notleidende Landwirtschaft ... Wir fressen Dreck und Pappdeckel und wundern uns, daß wir nicht fett dabei werden, und die armen Großbauern müssen mit Schinken vorliebnehmen und dabei den Vers singen: In der Not schmeckt die Wurst auch ohne Brot ...«

Unsere Stimmung war glänzend.

Und heute abend winkte ein Bett, mindestens ein Lager, eine ruhige Nacht.

Daraus wurde aber nichts. Als wir in das Dorf zurückkamen, wackelten die letzten Lastwagen, beladen mit Beute, die Straße hinab und mit ihnen die Nachzügler der heimkehrenden roten Abteilungen.

Bruno stieg in sein Auto:

»Es tut mir leid, Karl, aber du mußt mit deinen Leuten noch einmal ran. Diese eine Nacht noch. Die Reichswehr hat ein Drittel ihrer Waffen behalten. Sie muß bewacht werden. Und sie bleibt hier bis morgen früh. Auf alle Fälle!«

»Der Stoßtrupp hat zwei Nächte nicht geschlafen. Wir können nicht mehr.«

Er warf die Wagentür zu:

»Dann mag alles schief gehen, meinetwegen! Du siehst ja, daß alle fortgelaufen sind. Es gibt eben keine Disziplin bei uns! ... Hier, kaufe deinen Leuten Zigaretten. Haltet euch gut. Noch diese eine Nacht. Ich bin früh um sieben wieder hier.«

Tatatü! Fort war er.


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