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XIV · Auf freier Strecke halt

Wunderlich unterbrach seine Erzählung, und wir achteten auf die ungewöhnlichen und stoßenden Geräusche der Lokomotive. Der Zug fuhr langsam und stöhnte in allen Gelenken. Dann ging ein Ruck durch die lange Wagenkette, sie streckte sich erlöst aus und stand still.

Es war unmöglich, die dick vereiste Fensterscheibe zu öffnen oder ein Guckloch aufzutauen. Wo waren wir?

Abteiltüren polterten, verschlafene Gesichter fragten. Durch den Gang kam der Zugführer und riegelte eine mit Eiskristallen bedeckte Wagentür auf: Maschinenschaden.

Wir hielten die Wagentür offen. Ein grauer Morgen lag auf der toten Ebene. Zugpersonal rannte auf dem kleinen Fußpfad des Bahnkörpers hin und her. Der Lokomotivführer kletterte müde von seiner eiszapfenbehängten Maschine. Reisende traten aus den Wagen und stampften unruhig und das Kinn im Pelz vergraben am Zug entlang. Einige blieben mit ernsten und fachmännischen Mienen am Tender stehen und beobachteten die Anstrengungen der öl- und rußbeschmierten Maschinisten.

Auch wir machten uns draußen Bewegung. Die Kälte munterte auf. Wunderlich zog den Kopf ein, und ich sah es ihm an, daß er die Fortsetzung seiner Erzählung auf der Zunge hatte. Ich stieg nach einer Weile in den Wagen zurück, er folgte, wir räkelten uns auf die Bänke. Die Zugwärme füllte jetzt das Abteil.

Der Zug stand länger als eine Stunde auf freier Strecke. Als er sich dann zögernd und vorsichtig in Bewegung setzte und die eisige Luft der wieder schneller werdenden Fahrt die niedergeregnete Eiswand des Fensters wieder hochzuziehen begann, hatte Wunderlich längst wieder seine Erzählung aufgenommen:

— — —

Symbolik liebe ich nicht sehr. Aber ist es nicht komisch, daß wir infolge eines Maschinenschadens stehenbleiben müssen, in dem Augenblick, als ich dir erzählen wollte, wie unsere Revolte auf freier Strecke halten mußte? Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte, sagt man. Unsere Revolte war nur eine kleine Vorortlokomotive, aber zur Not zieht auch die einmal einen Trupp in die Feuerlinie. Nein, das durfte sie nicht, das Signal stand auf Halt.

Eines Tages schrieb unser Lokalanzeiger, nun wäre endlich wieder Ordnung im Lande. Du weißt ja, was ein Lokalanzeiger unter Ordnung versteht. Der Putsch der Generäle war gescheitert. Nicht an der Liebe der »breiten Bevölkerung« zur Republik, sondern am Widerstand der organisierten Arbeiterschaft und an der Offensivkraft, die in den Proletariern wie Glut unter der Asche lebt und aufflackert, sobald Katastrophenluft sie anbläst. Die Verantwortlichen des Putsches waren geflohen oder hatten sich mit politischer Dummheit entschuldigt, und das genügte. Ein halbes Jahr später hatten sie neuen Mut, einen zweiten Putsch zu riskieren, und es lag nicht an uns, daß sie nicht losschlugen. Wir wissen ja heute aus ihren Memoiren, wie sie über die uns selbstverständliche Menschlichkeit der bewaffneten Arbeiter lachten und offen davon sprachen, was sie getan hätten, wenn sie Herr der Situation geblieben wären.

Die Ordnung, das heißt die Stabilität der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Und an denen rüttelte auch der Sieger nicht. Er schlug die Prätorianerhaufen der ökonomischen Machthaber, aber den Cäsaren der Wirtschaft fiel deshalb keine Perle aus der Krone. Der Erfolg war, daß sie eine neue und besser geschulte Garde organisierten und für den Krieg gegen die Arbeiter drillten.

Lieber diesen Putsch als Makulatur einstampfen, als dem bewaffneten Arbeiter die Straße auch nur noch einen Tag länger zu überlassen! Und die Arbeiter verwechselten in diesen entscheidenden Tagen die Methoden des Bürgerkrieges und des Klassenkampfes mit der militärischen Kriegführung. Sie hatten noch die alten romantischen Begriffe von Ansturm, Sieg und Niederlage, dachten nicht an den unsichtbaren, den großen Feind ihrer Klasse und glaubten, die Soldaten sind gefangen, abtransportiert, haben Waffenstillstand und Frieden gelobt, der Krieg ist zu Ende. Weshalb sollten sie da nicht abliefern, was man von ihnen zurückforderte?

Denn soweit war es mit uns gekommen! Die Republik war wieder einmal gesichert, deshalb verlangte sie die Herausgabe der erbeuteten Waffen. Wir hatten sie den Soldaten der Republik abgenommen und Blut dabei gelassen. Die Republik verzieh ihnen und gab ihnen das gefährliche Spielzeug zurück ...

Sie ging überhaupt mit ihren Feinden gut christlich um und befolgte das Rezept: »Liebet eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen!« Lassalle war vergessen, der den Arbeitern gesagt hat, was ein Stück Verfassung ist, nämlich ein König, dem das Heer gehorcht und die Kanonen. Lassalle verwies dabei auf den General Manteuffel, der im November 1848 Kanonen aufgefahren und die Nationalversammlung gesprengt hatte. Womit fing der da an? Mit dem Niederschreiben einer reaktionären Verfassung etwa? Gott behüte, dazu nahm er sich Zeit! Er spendierte den Arbeitern sogar eine ziemlich liberal frisierte Verfassung. Aber er entwaffnete die Besiegten. Das ist die Hauptsache: den Besiegten entwaffnen! Das ist das erste Gebot für den Sieger, wenn er nicht will, daß sich der Kampf jeden Augenblick wieder erneuern soll. Alle Sieger befolgen dieses Gesetz, das nicht nur für Kriege, sondern noch viel mehr für Revolutionen gilt. Nur nach der Niederwerfung dieses Putsches wurde es vergessen. Diesmal entwaffnete sich der Sieger selbst ...

Ganz geheuer war die Sache selbst denen unter uns nicht, die sonst jede Katze im Sack kauften, wenn der Sack nur den Stempel der Republik trug. Unsere Regierung lieferte einen großen Teil der metallnen Beute ab. Damit das Gewicht nicht allzu schwer wurde, ließen wir etliche Maschinengewehre verschwinden. Die Dinger sind heute längst durchgerostet, obwohl wir sie hübsch eingefettet und eingesargt hatten.

Völlig abgebaut wurde auch die rote Truppe nicht. Eine Wachabteilung blieb zum Schutze des Ministeriums zurück, und der Stoßtrupp lebte auch noch. Er war noch keinen Monat alt. Einmal wurde ich zu Bruno gerufen. Die Hochschule in der »Eremitage« hatte ein Ultimatum geschickt: Wenn Karafiol, Morgenstern und Wunderlich nicht binnen drei Tagen in die Schule zurückkämen, müßten sie von der Liste der Schüler gestrichen werden. Das Heldenstück war unterzeichnet von Dr. Schilling. Er hatte längst sein Schneckenhaus wieder bezogen. Gefangene gab es ja nicht mehr zu bewachen. Die hatte man in Watte verpackt und abtransportiert. Du magst es mir glauben oder nicht: Bruno mußte in die »Eremitage« fahren und die Halbgötter um einen Urlaub für uns anflehen. So schnell funktionierte überall die Rücktrittbremse.

Vielleicht wäre es für mich besser gewesen, ich hätte das Räuber- und -Soldaten-Spiel, wie es Schilling nannte, abgebrochen und mich wieder auf die Schulbank gesetzt. Aber auch das war eine Schule für mich, was ich in den folgenden Wochen erlebte. Ich wurde von Instinkt und Erkenntnis hinüber- und herübergezerrt, manchmal auch gestoßen und geschleudert, und oft wollte der Korporal, der vom Krieg her noch in mir steckte, alles andere beiseiteschieben. Wir mußten uns ja damals so in acht nehmen, daß wir nicht zu Landsknechten in veränderter Auflage wurden ...

In einigen Bezirken des Reichs knallten noch die Gewehre, als unser Hoftheater – es wurde noch immer so genannt – wieder eröffnete. »Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst«, also her mit einem Lustspiel! Brot und Spiele ... Brot gab es nicht, aber eine Vorstellung zu volkstümlichen Preisen. Und der Kultusminister hatte das Stück geschrieben. Man warf den Arbeitern eine Kußhand hin: Ihr seid die Sieger, seht, euer Kultusminister betritt die weltbedeutenden Bretter! Ein neuer Molière ist aus eurer Mitte aufgestanden! Und hinter dem Vorhang zimmerten sie das Schafott für den jungen Ruhm unseres Genossen, der wirklich etwas Gescheiteres hätte tun sollen, als sich in seinen Abendstunden ausgerechnet von den Musen küssen zu lassen.

Ich hatte ein Theaterbillett zugeschickt bekommen. Ein Junge brachte es ins Quartier: An den Stoßtruppführer. Ich riß das Kuvert auf, das Billett fiel heraus. Kein Brief, keine Zeile war dabei. Viel war nicht los damals, ich ging also am Abend ins Theater. Dem Logenschließer sagte ich, wenn einer vom Stoßtrupp käme, mich zu holen, ich säße da und da. Der Platz war nobel, im Parkett, an der Seite, sehr weit vorn.

Weshalb sollte ich nicht von irgendwoher einmal eine Freikarte bekommen? Als der Platz neben mir leer blieb – die Vorstellung mußte sofort beginnen –, sagte ich mir, mein noch fehlender Nachbar wird sich als der Spender entpuppen. Das alte Reibeisen neben mir hatte es unmöglich auf mich abgesehen. Vor den Vorhang trat der Dramaturg des Theaters, ein eitler, aufdringlicher Bursche, und betete einen selbstverfertigten Prolog herunter, der von Volksgemeinschaftsphrasen überfloß, die der Hofpoet besser vor etlichen Tagen am Drahtverhau der Putschisten logeworden wäre als hier zur Wiedereröffnung der Bühne. Aber bei einer Premiere erhält jeder Stuß Beifall. Dann wurde es wieder dunkel, und das Spiel begann. Ich weiß heute nicht mehr, wie es hieß. Es interessierte mich nicht. Irgendeine Rokokotändelei war es, Liebe, Verwicklungen, Eifersucht und wieder Liebe. Jeder Gymnasiast schreibt solchen Quark. Nach dem ersten Akt wollte ich verduften, zumal mein Kostüm – halb Soldat, halb Handwerksbursche – bei den von der Heiligkeit des Ortes ergriffenen Parkettgästen empörtes Aufsehen erregte ... Plötzlich war der Platz neben mir besetzt.

Eine Dame. Ich riskierte ein Auge. Sie war blond, der Hals wuchs in schöner Biegung aus dem Kleidausschnitt. Ein voller Haarknoten zog das an den Seiten lockige Haar nach hinten. Die Dunkelheit senkte sich wieder in den Zuschauerraum, der zweite Akt begann. Meine Nachbarin drehte mir ihr Gesicht zu, und ich staunte: mein Botticelli-Engel! Die Blonde lächelte und wandte ihre Aufmerksamkeit der Bühne zu ...

Hatte ich meine Karte von ihr? Das war doch nicht gut möglich. Ich nahm die Sache nicht als Abenteuer, fing sogar an, mich über die Situation zu ärgern.

Wer war sie eigentlich?

Drei Akte hatte das Spiel. Am Schluß lagen sich zwei Paare in den Armen. Es war wie bei einer Mozartoper. Nur die Musik fehlte. Das war der Unterschied – und wohl auch die Ursache der Pleite. Die Presse begrub anderntags das Stück mit Pauken und Trompeten. Es hieß hinterher, die Schauspieler hätten die letzten Szenen absichtlich zu langsam genommen, um den Schluß umzuschmeißen. Das kann sein. Geklatscht wurde trotzdem. Langert, der Mann mit dem Vollbart, wurde auf die Bühne geschleift – er tat so, als sträubte er sich gegen den Honig des Beifalls – und bekam einen Lorbeerkranz. Ich klatschte selbst mit, bloß um meine blonde Nachbarin zu versetzen, und weil es mir Spaß machte, im scharfen Bühnenlicht die Narbe auf der Stirn des neugebackenen Poeten hervortreten zu sehen, die er zum Andenken an die Volksgemeinschaft mit den Putschisten noch eine Weile spazieren trug. Als ich mit den letzten Angehörigen des Autors, die ein Abglanz des Ruhmes verklärte und die noch klatschten, als schon der barmherzige eiserne Vorhang niederging, aus dem Zuschauerraum trat, machte sich die Blonde noch an der Garderobe zu schaffen. Ich wußte nicht, wo ich meine Augen lassen sollte, und sockte ab. Auf dem Theaterplatz erwischte mich aber ein Bekannter, und als ich ihn glücklich los war, spazierte meine schöne Nachbarin langsam vor mir her.

Ich will dich nicht mit vielen Einzelheiten langweilen. Sie erzählte mir, sie sei jetzt in der Stadt bei ihrer Mutter. Als der Putsch vorbereitet wurde, war sie »aufs Land« gegangen, nach Oberlamnitz. Es hatte ihr gefallen, wie ich den Rittmeister so hoppla aus dem Bett holte.

Es hatte ihr gefallen ...?

Gewiß, sie sei eine Verwandte von ihm. Sie lachte dabei: eine entfernte Verwandte.

Ich hatte noch nicht viel mit Frauen zu tun gehabt. Der Krieg war nicht die richtige Gelegenheit, den Anschluß an das andere Geschlecht zu finden. Die neue Bekanntschaft machte mir deshalb mehr Unbehagen als Vergnügen.

Als sie stehenblieb – es war an einer Straßenecke im »besseren« Viertel – und ich dachte, ich könnte mich verabschieden, schlug sie mir leicht auf die vielleicht etwas schüchtern ausgestreckte Rechte und lachte:

»So schlapp gibt ein Mann wie Sie nicht die Hand!«

Und plötzlich spürte ich den festen Druck ihres Körpers, und eine rasche Armbewegung riß meinen Kopf zu ihr hin. Sie hatte eine sehr weiche, zärtliche Wange, und ihr Haar roch frisch und stark.

— — —

Eine halbe Woche lang war sie daran schuld, daß ich viel Zeit versäumte. Aber was stellt man nicht alles an – eines Frauenlächelns wegen ... Viel mehr wollte ich nicht von ihr, und das brachte uns auseinander.

Sie war wie aus einer mir fremden Welt. Und ich wurde nie so recht aus ihr klug. Etwas war in ihrem Wesen, das mich glücklich machte und zugleich wieder fortstieß. Es war die Ahnung, daß sie nur mit mir spielte.

An einem Abend hatte sie mich in eine einsame Gegend bestellt. Ich ging neben ihr her. Glaubst du, daß ich noch nicht einmal ihren Namen wußte? Sie lehnte sich an einen Baum und sah mich mit glitzernden Augen an. Es war sehr schön, bei ihr zu sein.

Der Ausdruck ihres Gesichts veränderte sich. Sie biß mich ins rechte Ohr und fragte unvermittelt:

»Weißt du, daß ich bald heirate?«

Wahrscheinlich habe ich sie dumm angeguckt, denn sie amüsierte sich:

»Dich nicht, du dummer Junge. Brauchst keine Angst zu haben.«

Ich kam zu mir. Die Funkensaat der Bahnhofslichter im Tale wurde ärmlich und erlosch. Der Wind rauschte leise in den Bäumen.

In dieser Nacht verlor ich sie. Vielleicht war ihre Enttäuschung größer als die meine. Wer weiß, was sie von mir dachte ... Ob sie irgend eine romantische Vorstellung von einem Stoßtruppführer hatte? Du meinst, daß sich das Wort Stoßtrupp bei ihr in eine erotische Vorstellung verwandelte? Kann sein. Vielleicht lockte sie auch nur das Abenteuer, das andere Milieu – oder hatte sie einmal gehört, die Roten wären in den Dingen der Liebe rücksichtslos und unbekümmert?

Manchmal glaubte ich zu wissen, daß sie gelogen hatte, um mir langweiligen Kerl merken zu lassen: Was zögerst du noch? Komm, nimm mich ... Aber das ist wohl nur die Phantasie meines aufgeregten Blutes gewesen. Damals traf es mich wie eine Beleidigung. Es heißt ja oft, solche Gefühle wären spießbürgerliche Angelegenheiten. Ich glaube aber, daß es leichter ist, derartige kaltschnäuzige Theorien aufzustellen als auf diesen Gefühlen herumzutrampeln. Na schön, ich war damals ein richtiger Schlappschwanz.

Einmal hätte es ja doch ein Ende nehmen müssen. Wir sollen nicht aus unserer Klasse heraus. Die Frauen der anderen sind uns fremder als die Frauen einer farbigen Rasse. Das erotische Erlebnis ist eine Brücke über die Klassengegensätze, aber diese Brücke ist nicht stabil genug. Bei der ersten größeren Belastungsprobe bricht sie zusammen.

— — —

Es war eben nur ein Intermezzo. Eine Zwischenaktsmusik.

Der nächste Akt weiß nichts mehr davon.


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