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IX · Schüsse in der Nacht

Interessiert es dich noch, was ich erzähle? Warte nur, jetzt geht es erst richtig los.

— — —

Am Donnerstagmorgen schien die Sonne, als wollte sie die zwölf Toten, die heute begraben werden sollten, wieder in das Leben zurückrufen.

Die Zwölf lagen im großen Sitzungssaal des Landtags. Zwölf Särge nebeneinander, auf einem erhöhten Podium. Elf Männer und eine Frau in stummer Reihe auf den weißen Spitzenkissen. Keiner von ihnen hatte im Leben jemals ein so teures Paradebett.

Du weißt ja, wie die Toten zu lächeln scheinen, wenn das Weinen ihrer Angehörigen sie hinüberträgt in das große Schweigen. Sie sehen so zufrieden aus, und manchmal glauben wir eine stille Heiterkeit in ihren unbeweglichen Zügen zu finden.

Auch diese Zwölf hatten den Ausdruck lächelnder Stille. Es war, als ob es ihnen gefiel, hier zu liegen, unter den hohen Fenstern und der Wölbung der weitgebogenen Saaldecke, zwischen den grünen Hügeln der Kränze. Nur einer von ihnen hatte eine sichtbare Verletzung, aber auch diese anklagende Wunde, die das Gesicht entstellt hätte, war unter Blumen verborgen.

Ich blieb an der Schwelle des Saales. Ein Doppelposten stand an der Tür.

Die Verwandten der Zwölf nahmen Abschied. Bald gehörten ihnen die Toten nicht mehr, bald trug sie der dumpfe Trommelwirbel des Trauerzuges von ihnen fort. Sogar im Tode gehörten sie der Masse.

— — —

Der Anblick des lächelnden Todes macht Philosophen aus uns. Ist das seltsame Lächeln eine Antwort auf unsere seltsamen Fragen nach dem Sinn des Lebens? Lächeln die beiden toten Soldaten, die in der Turnhalle der Kaserne liegen und auf ihren Transport warten, etwa auch?

Ach, man wird müde an den feierlichen Betten der Toten ... Ich stieg die Treppe zu Brunos Arbeitszimmer hinauf. Etliche von den Stoßtruppleuten wollten die Trauerfeier mitmachen, vielleicht ging es an, daß wir alle freibekamen.

Auf dem Korridor begegneten mir zwei Frauen. Sie kamen von oben, wahrscheinlich hatten sie einen von den Gefangenen erster Klasse besucht und Liebesgaben gebracht. Seit gestern war das erlaubt. Sehr zum Verdruß der Wache, die mit dabeistehen und sich die Mischung von Zärtlichkeit und Verlegenheit mit ansehen mußte.

Hallo, war das nicht die blonde Botticelli-Schönheit vom Dienstag? Ich beugte mich über das Geländer und sah den beiden Frauen nach, wie sie die Treppe hinuntergingen und das Ministerium verließen. Am Portal drehte sich die Jüngere um, der Blick ihrer großen Augen fing mich ein, es war nur eine Sekunde, dann lächelte sie und war verschwunden.

Weißt du, ich habe wenig Glück bei den Frauen. Vielleicht, weil ich dieses Glück nicht versuche. Aber ich gehe manchmal in ein Kino, um eine von diesen immer lächelnden schönen Frauen zu sehen. Ich weiß von diesen Filmen nichts mehr, nur das Lächeln habe ich mir gemerkt. Na schön, es hat eben jeder seinen Vogel!

Ich sprach mit Bruno. Der Stoßtrupp bekam nicht frei, die Wachkompanien auch nicht.

Wir sollten in Alarmbereitschaft bleiben.

Als ich das Regierungsgebäude verließ, glaubte ich den verheißungsvollen Mund noch zu spüren. Weshalb hatte die Blonde aus meinem Botticellibild mir zugelächelt? Ich hatte einen aus ihrer Familie, zumindest einen Bekannten von ihr, den sie soeben als Gefangenen wiedergesehen hatte, überfallen und weggeschleppt – und sie strahlte mich dafür an? Kenn sich einer aus! – Ob sie irgendeine Verwandte des Lamnitzers war? Schließlich: was ging es mich an!

Aber du wirst sehen, daß ich doch noch nicht mit dem blonden Intermezzo fertig war. Damals dachte ich es – ach, es war ja noch nicht einmal ein Intermezzo! Ich begegnete ihr wieder. Später ...

— — —

Mittags um zwölf traten die Arbeiter der ganzen Stadt zum Trauerzug an. Auch viele Bürgerliche gingen mit. Die Spitze stand auf dem Platz vor dem Ministerium: wohl an die zwanzig Reihen Trommler. Das Ende des Zuges soll draußen am Rande der Ostvorstadt gewesen sein. Hinter den Trommlern hielten die kränzeüberladenen Särge auf schwarz verhängten Wagen. Die Angehörigen der Toten folgten, dann die Regierungsvertreter und die Führer der Arbeiterorganisationen, und dann kam die endlose Masse.

Punkt ein Uhr fingen die Glocken auf allen Türmen der Stadt ihr feierlich klagendes Lied an, die Trommler schlugen mit dumpf donnerndem Wirbel in den Metallgesang, und der erschütternde Takt schob den vieltausendfüßigen Trauerzug langsam und stockend vorwärts.

Wir standen vor unserem Quartier und ließen den Zug an uns vorbei. Ich sah meinen Vater und meine Mutter, und wir grüßten uns mit den Augen. Zwei Stunden schon bewegte sich der lautlose Zug vorüber, neue Trommlerabteilungen hämmerten die Melodie des Schmerzes in alle Herzen, aber noch immer war kein Ende zu sehen. Trommeln, Trommeln, Menschen und Menschen ...

Da rasselte das Telephon im Quartier. In den dumpfen Donner der Trommeln von draußen sprach Brunos beherrschte, kurz angebundene Stimme. Der Stoßtrupp sollte sofort aufbrechen. In Germsbach, einem kleinen Ort, halb Dorf, halb Stadt, vier Fahrtstunden entfernt, waren unsere Patrouillenradfahrer aus dem Hinterhalt beschossen worden. Die kleine Parteiortsgruppe meldete, daß eine gut bewaffnete Einwohnerwehr den Ort beherrsche und daß die Kundmachungen der Regierung herabgerissen wurden. Der Stoßtrupp sollte die Waffen beschlagnahmen und, falls nötig, den Bürgermeister verhaften.

»Nimm dir genug Leute und Handgranaten mit. Und macht eure Sache gut!«

Nach fünf Minuten fuhren wir ab. Mit dem Chauffeur waren wir siebzehn Mann. Hans thronte auf seinem Gaul. Zwei Maschinengewehre und eine große Kiste Handgranaten hatten wir auf dem Karren.

Auf der Straße schob sich noch der Trauerzug vorbei. Wir mußten an der endlosen Menschenkette entlangfahren. Dann verhallten die Trommelwirbel hinter uns, und die einsame Landstraße führte uns in das graugrüne Auf und Nieder der Hügel. Die Steigungen machten dem Motor allerhand zu schaffen. Wir hätten besser den anderen Lastkraftwagen benutzen sollen. Denn allzuspät durften wir nicht ankommen.

Die Hälfte des Weges war noch nicht zurückgelegt, als Hans, der vor uns hergaloppierte, zurückgesprengt kam und atemlos meldete, daß ein Auto mit Soldaten, er hatte deutlich Stahlhelme und Gewehre gesehen, auf uns zu hielt.

Wir rissen die Maschinengewehre vom Wagen, machten sie schußfertig, nahmen im Straßengraben Deckung, und ich sprang mit dem Tierbändiger ein paar Sätze vorwärts, hinter einen großen Schotterhaufen. Man hörte bereits das Geräusch des fremden Motors.

Richtig, da kam der Kasten. Ein großer Wagen. Gewehre spießten über das Führerverdeck, und die Rundungen der Stahlhelme wurden sichtbar.

Aber da lachte plötzlich Grimm wie toll, fing an zu rufen und zu winken und trat, mit den Armen fuchtelnd, frei auf die Straße. Das Auto kam näher. Es war von bewaffneten Arbeitern besetzt, und die Stahlhelme wurden zu friedlichen harten runden Hüten. Ich glaube, Melonen nennt man die Dinger.

Das war kein schlechter Spaß. Die Leute waren aus einer benachbarten Fabrikstadt, wo sie sich nicht mit Putschisten herumzubalgen brauchten, weshalb sie kriegerische Ausflüge unternahmen.

Verdammt, wenn wir eine Minute zu früh losgeknallt hätten! Das war noch gut abgegangen. Wir packten unsere Siebensachen wieder auf den Wagen, winkten den nach kurzem Woher und Wohin weiterfahrenden Melonenträgern zu und gondelten los. Hans war schlauerweise bereits wieder ein Stück voraus.

Heute hatten wir bestimmt noch Pech! Jetzt fing der Motor wieder an zu streiken. War das eine Wirtschaft! So war es bereits Abend, als wir im letzten Ort vor Germsbach ankamen. Während der Chauffeur Station machte und an seinem Kasten herumdokterte, trat ein Genosse vom Arbeiterrat dieses Ortes zu uns:

»Seht euch vor, eine Viertelstunde vor Germsbach liegt ein Gasthof auf der Höhe. Dort ist eine Art Feldwache der Germsbacher. Auch ein Maschinengewehr sollen sie haben. Von diesem Gasthof aus beherrschen sie das ganze Tal.«

Der Überbringer dieser Nachricht fuhr mit.

Es war finster, als wir die letzte Wegstrecke unter uns hatten. Das Wirtshaus mußte bald erreicht sein. Wir machten gerade die Gewehre fertig, als uns ein Personenauto einholte, in dem vier Genossen saßen, in schwarzen Bratenröcken – sie kamen von dem Begräbnis der zwölf Putschopfer, waren Delegierte und Kranzüberbringer und fuhren jetzt wieder heim. Ich ließ mich von ihnen mitnehmen, stellte mich auf das Trittbrett – auf die andere Seite baute sich der Tierbändiger – und wir ließen die Scheinwerfer grell aufleuchten und uns schnell an das geheimnisvolle Wirtshaus heranfahren. Der Lastkraftwagen mit dem Stoßtrupp sollte folgen, so gut es ging.

Die Sache klappte. Mit einem Ruck setzte uns das Personenauto vor der Tür des Gasthofes ab, und dann jagten die Bratenröcke weiter. Grimm und ich stürzten in das Haus. Ich hielt in jeder Hand eine Pistole, Grimm zückte zwei Handgranaten. Wir wollten es dem Germsbacher Vorposten schon besorgen.

Die Tür krachte auf, wir standen in der Lampenhelle des Zimmers.

»Hände hoch!«

Es muß ein lieblicher Anblick gewesen sein.

In der Stube war weiter niemand als eine alte Frau, die einen Holzbottich auf den Knien hatte und Kartoffeln schälte.

Als wir die Tür aufrissen und wie zwei unrasierte Teufel brüllten, stieß die Alte einen furchtbaren Schrei aus, fiel vor Schreck vom Schemel, schmiß ihre Beine in die Luft und den Kübel mit Wasser und Kartoffeln über sich hinweg.

Wir hatten uns noch nicht von dieser Überraschung erholt, als die Alte wieder auf ihre Hinterflossen kam und wie am Spieß losschrie:

»Ihr Räuber! Ihr Räuber! Ihr Räuber!«

Grimm und ich, wir schauten uns an und lachten. Dann sahen wir uns im Zimmer um. Und wir fanden auf einem Fensterbrett drei Patronenrahmen, unter der Ofenbank ein Munitionspäckchen und auch sonst noch allerhand Anzeichen dafür, daß in diesem Haus vor kurzem noch Bewaffnete saßen. Wahrscheinlich hatte man uns signalisiert, und die Kerle waren getürmt.

Wir verschwendeten unsere Zeit nicht damit, in jeden Winkel zu gucken und der Alten auf den letzten, dafür aber um so größeren Zahn zu fühlen, sondern sprangen auf das inzwischen vorgefahrene Stoßtruppauto und polterten in das Tal und in die stockfinstere Nacht hinunter.

Es war klar: wir waren angemeldet. Keine Lampe brannte. Kein Mensch war auf der Straße, durch die wir jetzt rollten. Der Stoßtrupp war genau eingeteilt, jeder wußte, was er zu tun hatte, und glücklicherweise waren wir bergab nicht auf den launenhaften Motor angewiesen. Da sich der Chauffeur gut auskannte, ging alles wie am Schnürchen. Wir hielten auf dem kleinen Marktplatz, sechs Mann blieben bei den M.-G.s, vier rannten in das Rathaus, in dessen Gasträumen sofort Licht wurde, und die übrigen verteilten sich an die Straßenecken des Platzes.

Das Manöver hatte keine Minute gedauert. Ich lief von einem Posten zum anderen und schaute mir die Situation an: überall gähnten nachtschwarze Gassen. War das ganze Nest ausgestorben?

Auf einmal ging ein Geschrei los. Eine wütend kreischende Stimme zerriß die dunkle Stille. Zwei Stoßtruppleute hielten einen barhäuptigen, mittelgroßen Burschen gepackt, der in Filzlatschen stand und wie ein Besessener brüllte. Kein Mensch hatte ihm etwas getan. Lediglich weil er nicht über den Platz spazieren durfte, schrie er sich die Zunge aus dem Hals. Natürlich gingen überall jetzt Fenster auf, was wiederum die Posten veranlaßte, mit rauher Kehle zu rufen: »Fenster zu, oder wir schießen!« Es war ein toller Spektakel.

Ich gab dem Schreihals eins zwischen die Zähne:

»Warum brüllst du wie eine Sau, die gemaust werden soll?«

Der Bursche schrie, daß ich keine Silbe verstand.

Schäumend vor Wut nahm ich Morgenstern das Gewehr aus der Hand und schlug dem Lümmel eins über den Kopf, der nur aus einem Maul bestand. Die Wirkung war fabelhaft. Das Gebrüll wurde noch lauter. Ich konnte kaum noch an mich halten, schleppte den Tobenden an unseren Wagen und schnauzte ihn an:

»Wenn du noch einen Ton von dir gibst, lasse ich dich niederknallen. Auch wenn du ausreißen willst ...«

Plötzlich rief man von einer Ecke des Marktes nach mir. Ich sollte sofort in die Post kommen. Ferngespräch. Der Minister ...

Fluchend übergab ich das verstummte Geschrei zwei Stoßtruppleuten. Ich war keine zehn Schritte weg, da brüllte der Strolch wieder, und sofort krachten zwei Schüsse. Mit einem Satz war ich dort:

»Seid ihr verrückt geworden?«

Sie hatten den Auftrag wörtlich genommen. Als der Kerl wieder zu schreien angefangen hatte und ausriß, feuerten sie auf ihn. Glücklicherweise trafen sie ihn nicht. Er verlor bloß einen von seinen Filzlatschen und verschwand in der Dunkelheit ... Ich nahm mir vor, in Zukunft vorsichtiger zu sein. Die beiden zuckten die Achseln: Befehl ist Befehl ...

Also zur Post! Grimm ging mit, weil er glaubte, man wolle mich in eine Falle locken. Das Postgebäude lag nicht weit vom Marktplatz. Auch hier war alles stockdunkel, nur aus dem Dienstzimmer der Post fiel ein Streifen Licht auf die Straße.

Der Beamte reichte mir den Hörer. Die matt aus der Ferne heranklingende Stimme des kleinen Trotzki befahl mir, sofort Germsbach zu verlassen. Der Stoßtrupp würde dringend gebraucht.

»Aber hör mal, ich bin doch eben erst angekommen.«

»Um so schlimmer. Ihr müßt sofort umkehren. Wir brauchen euch hier sehr notwendig. Beeilt euch. In Germsbach ist ja sowieso nichts los.«

In diesem Augenblick fielen draußen zwei Schüsse. Schnell hintereinander.

Dann antworteten vier, fünf Schüsse. Laute Stimmen stürzten durcheinander.

Wirklich, ich mußte lachen ... In Germsbach ist ja sowieso nichts los ...

»Bruno, wenn du gute Ohren hättest ...«

»Was ist? Ich verstehe nicht!«

»Wenn du gute Ohren hättest, dann könntest du hören, wie auf der Straße geschossen wird.«

Der Beamte war hinausgerannt. Jetzt kam er zurück. Seine Augen standen entsetzt und groß offen:

»Jetzt haben sie einen erschossen! Jetzt haben sie einen von Ihren Leuten erschossen!«


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