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I · Kamerad Wunderlich

Am liebsten ist es mir, wenn ich allein im Coupé sitze. Der kleine Klapptisch am Fensterplatz der dritten Schnellzugsklasse erleichtert das Lesen und Schreiben, und beides hilft über die vielen Reisen hinweg, die der Beruf mit sich bringt.

Der strenge Winter hat mir diese ungestörte Fahrteinsamkeit oft verschafft. So saß ich also wieder einmal an der dick vereisten Fensterscheibe, hatte ein Abteil für mich allein, packte mich fest in meinen Mantel und schrieb. Das zu besprechende Buch lag neben mir, und ich hatte gerade den richtigen Anfang zu einer längeren Rezension gefunden, als der Zug langsam in die Station einlief. Ich hoffte im stillen, daß der zugezogene Türvorhang mir helfen möchte, mein Coupé für mich reserviert zu halten, zumal ich dann zwei Stunden bis zur nächsten Station Ruhe gehabt hätte. Der Zug hielt kurz, Türen klappten, Stimmen verloren sich in der strengen Kälte des frühen Morgens, und dann setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Schon glaubte ich, für zwei Stunden nur dem rhythmischen Takt der Räder, dem gleichmäßigen Sausen und meiner Arbeit anzugehören, als ein auf dem Wagengang herumtappender Mann die Tür meines Abteils aufriß, brummig grüßte und sich in die Ecke mir gegenüber setzte. Er versuchte einzuschlafen, und ich wünschte ihm heimlich einen guten Erfolg. Aber plötzlich sah ich, wie er mich mit halb zugekniffenen Augen musterte. Ich spürte deutlich, wie er sich Gedanken über mich machte; es mochte ihm wohl seltsam vorkommen, daß ihm einer gegenübersaß, der vor sich hinstarrte, manchmal auf die eisbedeckte Scheibe, und dann dem schwankenden Wagen zum Trotz wieder etliche Zeilen hinkritzelte.

Diese Art, mir zuzusehen, störte mich. Der Mann mochte in meinem Alter sein, war breitschultrig und kräftig gebaut, machte aber trotzdem den Eindruck großer Lebhaftigkeit und eines beinahe heftigen Temperaments. Das Gesicht wäre fast kindlich gewesen, wenn nicht ein bitter gezeichneter Mund und ein energisch betontes Kinn diesen Eindruck gestört hätten.

Dieses Gesicht hatte ich doch schon gesehen?

Eine Weile saßen wir uns gegenüber. Wahrscheinlich kramten wir beide in unseren Erinnerungen, denn mein Gegenüber richtete sich schließlich auf: »Wir, entschuldigen Sie, kennen uns doch?« Und dann stellte es sich heraus: Wir waren Kameraden aus dem Felde. Richtig! Die Uniform und die Spuren des Hungers damals, und die inzwischen vergangenen Jahre! Sonst hätte ich doch den Karl Wunderlich sofort erkennen müssen.

Wenn ich alles, was ich im Kriege erlebt habe, aus dem Gedächtnis gestrichen hätte, eines werde ich nie vergessen:

Wir lagen vor Verdun auf Höhe 304, rechts vom Toten Mann, und die Stellung war so bekleckert, daß der Offizier vom Graben fast nie bis zu unserem Maschinengewehr kam. Eigentlich hätten wir dort Doppelposten stellen müssen. Aber dann hätten wir überhaupt nie mehr schlafen können. Ich hatte meine zwei Stunden Wache geschoben, war zuletzt aber, ohne es zu wollen, eingeschlafen, und als mich Wunderlich ablöste, hatte ich die kleine Bastion aus Sandsäcken, unseren geringen Schutz, durch das schläfrige Anlehnen nach dem kaum zwanzig Meter entfernten französischen Sappenkopf zu eingeworfen. Bevor ich die Augen richtig aufgebracht hatte, war Karl rausgeklettert, um die Sandsäcke wieder aufzuschichten, ehe der dicke Morgennebel durchsichtig wurde. Wie er den letzten Sack aufhob und mir zureichte, sah ich, wie durch dünnes Milchglas, drüben Kopf und Brust eines Franzosen um die Schulterwehr kommen, und in diesem Augenblick sah Karl den Franzmann auch. Er drehte sich in seiner kauernden Stellung langsam und wie geistesabwesend um und starrte dem Sappenposten ins Gesicht, dann sprang er mit einem Satz zu mir herein und war ganz ohne Atem und ohne einen Tropfen Blut im Gesicht. Nach einer Weile riskierten wir ein Auge, und sieh da, unser Freund, der vorhin Karl wie einen Hund hätte abschießen können, spähte gleichfalls um die Ecke und drohte uns lächelnd und mit erhobenem Finger. Er war ein Mann, dem man die vierzig Jahre und den Familienvater ansah, und er machte ein Gesicht, als wollte er sagen: Na, ihr Bengels, paßt mal besser auf; das nächste Mal passiert was ...

Himmel! Wir beide waren ganz außerm Häuschen! Auf einmal hatte Karl sein Päckchen Tabak – er war Nichtraucher und schon deshalb bei jeder Gewehrbedienung sehr beliebt – aus der Rocktasche heraus und warf es dem Franzosen zu. Es blieb aber im Draht hängen, und der Blaukittel konnte es nicht erreichen, auch mit dem aufgepflanzten Bajonett nicht, und allzuweit wollte er sich wohl auch nicht vorwagen. Er wußte ja nicht, ob wir nicht doch Halunken wären. Ehe ich zugreifen konnte, und ich hätte ihn natürlich zurückgehalten, war Karl raus, setzte über den Drahtverhau weg – Menschenskind, es war schon allerhand hell geworden! – und langte dem erschrockenen Franzosen das Päckchen Tabak hin. Dann rollte er wieder zu mir herein, lachte und drückte mich, als wenn ich ein Mädel und der Krieg aus wäre ...

Der war aber noch nicht aus. Wir lagen noch viele Wochen auf Höhe 304. Es war jetzt auszuhalten. Wir bekamen dort den schönsten Waffenstillstand. Und das war ganz einfach zugegangen: Wie ich am nächsten Morgen wieder von Wunderlich abgelöst wurde, schaute drüben unser Franzose wieder um die Ecke. Diesmal ging Karl gleich hinüber, und er bekam dafür Schokolade und Ölsardinen. Auch eine französische Zeitung, in der etwas über einen revolutionären Aufstand in Deutschland geschwindelt wurde, von dem damals ja noch keine Rede sein konnte. Am nächsten Morgen warteten drei Franzosen auf ihren Tabak, und so ging das weiter, bis der schönste Tauschhandel im Gange war. Karl übertrieb die Sache so sehr, daß er manchmal in den französischen Gräben spazierenging und von der Grabenbesatzung drüben versteckt werden mußte, wenn ein französischer Offizier kontrollieren kam. Unsere Offiziere taten, als wüßten sie von nichts, denn es war ihnen damals recht lieb, daß uns die Franzosen an dieser Stelle in Ruhe ließen. Unsere Stellung war nämlich sowieso nicht viel wert. Wir hingen auf dem Bergrücken wie angeklebt, und es brauchte tatsächlich nur einmal gründlich zu regnen und uns die ganze Herrlichkeit wegzuschwemmen. Karl war schließlich nicht mehr der einzige, der zu den Franzosen hinüberlief und Lebensmittel gegen Tabak einhandelte. Es war ja nun auch keine Kunst mehr. Die friedliche Nachbarschaft ging so weit, daß in den Nächten Franzosen und Deutsche zusammen einen gemeinsamen Drahtverhau bauten, was ja bei der geringen Entfernung der Gräben voneinander eigentlich auch das richtige war. Die Franzosen hielten die Pfähle, wir klopften. Oft wurde dabei sogar geraucht. Den Drahtverhau nicht zu verstärken, sondern völlig wegzuräumen, auf diesen Gedanken kam keiner, so weit war es wohl damals noch nicht.

Ich vergesse die Nacht nicht, in der ich und Karl nach einer kurzen Ruhezeit wieder in unseren Graben kamen und dort erfuhren, daß Befehl gegeben war, morgen früh, wenn die Franzosen wieder ahnungslos aus ihren Gräben auftauchten, um mit den Deutschen zu plaudern und Geschäfte zu machen, auf sie zu schießen. Der Drahtverhau war nämlich fertig geworden, in den ruhigen Nächten hatten wir genug Stollenbretter und Maschinengewehrmunition heranschaffen können, und nun sollte der glorreiche Krieg wieder weitergehen. Karl lief wie ein Verrückter von Posten zu Posten, aber alle gaben dieselbe Antwort. Sie zuckten die Achseln, wurden bleich und wortkarg, Befehl sei Befehl, und man könne ja nichts machen, wenn der Leutnant danebenstünde. Da stieg Wunderlich aus dem Graben und ging zu den Franzosen hinüber, um es ihnen zu erzählen und sie zu warnen, und so kam es, daß wir am anderen Morgen nicht auf ahnungslose und schutzlose Menschen zu schießen brauchten, mit denen wir uns in den letzten Wochen so gut vertragen und verbrüdert hatten. Mit dem Waffenstillstand war es natürlich aus, zumal unsere Artillerie den französischen Graben, aus Versehen dabei auch den unseren, mit schwerem Feuer belegte.

... So trifft man sich also wieder! Wir hatten uns seit 1916 nicht gesehen. Karl war den Essenholern zugeteilt und bei einem Feuerüberfall verwundet worden, hatte sich bis nach Deutschland durchgeschlängelt und kam dann zu einem anderen Truppenteil. Ich erfuhr jetzt, daß er es sogar bis zum Unteroffizier gebracht hatte – acht Wochen vor Kriegsende. Der alte Rebell und Meuterer – Unteroffizier!

»Da staunste! Weißt du, am meisten habe ich mich selbst damals gewundert. Der Alte, der trotz seiner Verwundung und der Länge der Zeit beim Leutnant hängengeblieben war, weil er öfter den Mund auftat als es dem Stab lieb war, unser Alter also, mit dem man ein Wort reden konnte, fragte mich nach der Beförderung: ›Na, Wunderlich, was denken Sie sich nun eigentlich, daß Sie Unteroffizier geworden sind?‹ Ich grinste ihn an: ›Was ich denke? ... Ich denke, der Krieg ist für Deutschland verloren.‹ Er tat, als ob er nicht recht verstünde. ›Wieso?‹ Ich guckte ihn scharf an: ›Wenn die Auswahl so klein ist, daß ich an die Reihe komme, dann ist bald Feierabend.‹ Und machte kehrt.«

Das sah ihm ähnlich. Lachend erinnerte ich mich mancher Nuß, die er den Vorgesetzten zu knacken gegeben hatte. Wir kamen dann auf meine Angelegenheiten zu sprechen. Viel war da nicht zu erzählen. Wunderlich griff nach dem Buch, über das ich zu schreiben begonnen hatte.

»Ein Revolutionsroman? Taugt er was?«

Ich schob die Schultern hoch. So schnell und kurz war auf diese Frage nicht zu antworten. Der verpatzte Ausgang der Revolution hatte auch dieses Buch in Klagen und Anklagen enden lassen. Die Arbeiter wurden beschuldigt, den Führer, den Helden des Romans, im Stich gelassen und dem Mob ausgeliefert zu haben ...

»Weißt du«, unterbrach mich mein Freund, »viel scheint der Roman nicht wert zu sein. Held der Erzählung, wenn ich das schon höre! Und – Mob, womöglich gar Janhagel ... Wir sollten uns hüten, dieses Wort in den Mund zu nehmen, wenigstens nicht so, als wollten wir es ausspucken. Schließlich wissen wir ja, welche sozialen Mißstände den – Mob erst schaffen. Und was nennt man nicht alles Mob? Gehört jeder unbequeme rebellische Tollkopf, der aus der Reihe tanzt, zum Janhagel? Wer war es, der auf allen Barrikaden gekämpft hat? Wer hat in jeder Revolution sein Blut vergossen? Wer schritt zur Tat, während die anderen glaubten, schlichten zu können, wo nur die Tat entscheiden kann? Und wurde nicht die Mütze des Pariser Vorstadtpöbels die Standarte der größten Revolution? Die Sansculotten waren sicherlich keine auserlesene Gesellschaft, sie rochen nicht so gut wie die Zierpuppen der Aristokratie, aber sie legten Bresche in die Festungen des Absolutismus. Glaube mir, nichts verletzt mich mehr als die Überheblichkeit, mit der heute oft auch von Proletariern, die sich etwas über den geistigen Durchschnitt emporgearbeitet haben, über alle anderen geurteilt wird. Ich werde auch in den Versammlungen, die ich besuche, oft das Gefühl nicht los, daß sich zwischen Führer und Masse eine Entfremdung einschiebt. Manchmal kommt es mir vor, als wolle man nicht eine Versammlung mit Stellungnahme und Aussprache, sondern als wäre es eine Vorstellung der Person und der Privatsache des Herrn Referenten – Redner klingt auch schon nicht aristokratisch genug.«

Karl war in Glut geraten: »Gehört jeder aus Instinkt und Not regierungsfeindliche Arbeiter, jeder nicht mit uns marschierende Feind der herrschenden Gesellschaftsordnung zum Mob? Ich weiß, was du einwenden willst. Ich spreche nicht von dem Mob, der stiehlt und käuflich ist. Aber ich weiß auch, daß die Geschichte des Sozialismus eine Periode kennt, wo der Rote mit der Ludenmütze, dem roten Halstuch und der Schnapsflasche in der zerrissenen Rocktasche dargestellt wurde. Und diese Periode war die schlechteste nicht! Ich kenne schlechtere und du auch! Die Masse, die der Klassengegner so gern Mob nennt, um sie verächtlich zu machen, ist wahrhaft revolutionär. Sie ist bereit, anzugreifen, Opfer zu bringen ... Das ist keine Phrase, glaube es mir ...«

Er warf mir das Buch, in dem er geblättert hatte, auf den Klapptisch: »Die Dichter haben nichts erlebt. Das ist es. Das Leben schreibt die besten und die spannendsten Romane. Ich denke manchmal, ich müßte etwas von dem, was ich erlebt habe, niederschreiben. Aber ... ich weiß nicht, vielleicht würde es ein Loblied auf den – Janhagel, was meinst du?«

Ich schwieg, da ich merkte, daß er jetzt anfangen wird, zu erzählen. Er saß mir gebückt gegenüber und blickte starr auf das dick vereiste Fenster. Der Zug flog krachend über die Weichen einer Station und wiegte sich dann wieder in der brausenden Melodie. Und mein Freund begann seine Erzählung.


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