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XXI · Marschmelodie

Ganz sicher mußte sich das Zeitfreiwilligenkommando in dem besetzten Luftkurort wohl nicht gefühlt haben. Es zog am andern Tag wieder ab, schleppte etliche Gefangene mit, die nach einer Woche in ihr Kaff zurückkamen, und die Affäre war erledigt. Die Fabrikanten und die besseren Beamten saßen natürlich sofort wieder auf dem hohen Pferd, und die Arbeiter dort oben liefen noch geknickter herum als früher.

Für das reaktionäre Gelichter kam die große Zeit der Vorbereitung eines zweiten Putsches. Es hatte von seinen Fehlern gelernt und war entschlossen, das nächste Mal ganz anders zuzupacken. Nur die passende Gelegenheit fehlte noch.

Bis dahin wurde emsig gerüstet.

Ich war später einmal Zuhörer bei einem großen Prozeß, der angeblich gegen einige Offiziere der Einwohnerwehr und den Besitzer einer großen Waffenfabrik geführt wurde. Die Angeklagten gaben die Waffenschiebungen offen zu. Sie wären zu solchen Maßnahmen gezwungen gewesen, weil sie sonst der rote Terror verschluckt hätte. Eintausend Dreyse-Pistolen und hunderttausend Stück Munition waren an vaterländische Männer verteilt worden. Der Fabrikant betonte mit Stolz, sie gern verkauft zu haben, bitte, für einen solchen Zweck! »Mußte ich nicht anständigen Menschen Waffen geben, damit sie sich gegen das Gesindel wehren können?« rief er aus. »Wenn alle Gewehrfabrikanten so wie ich gehandelt hätten, dann wäre es nicht zu solchen Schweinereien gekommen. Ich hätte den Herren noch mehr gegeben, wenn sie mehr gewollt hätten. Außerdem bestand ja selbst in Juristenkreisen Unklarheit darüber, welche Waffen unter das Verbot fielen. War doch sogar ein bei uns hergestelltes Maschinengewehr nicht abgabepflichtig, weil es eine andere Patrone verschoß als das Militär-Maschinengewehr!« Trotz dieser offenen Selbstenthüllung und trotz des zynischen Geständnisses eines mitangeklagten Syndikus der Metallindustriellen: »Ich bin mir bewußt gewesen, daß ich gegen das Gesetz verstoße«, wurden die Angeklagten teils freigesprochen, teils zu lächerlich kleinen Geldbußen verurteilt. Und die Justiz war um einen Triumph reicher ... Von den Urteilen gegen Arbeiter, die eine schwarz-weiß-rote Fahne zerrissen oder eine verrostete Flinte in der Dachkammer versteckt hatten, brauche ich dir ja nichts zu erzählen, das kennst du wohl. Der Putsch war mit Sammetpfoten niedergeschlagen worden, das war der Fehler. Aber auch wir hatten gelernt. Einstweilen freilich war so ziemlich alles verpatzt ...

Sehr heldenhaft war unser Einzug in unsere Heimatstadt nicht. Wir kamen bei später Dunkelheit an. Meine Eltern ließen sich nicht viel merken und taten, als ob sie mich zu dieser Stunde erwartet hätten. Es war, als wäre nichts gewesen. Gut, mir um so lieber!

»Morgen ist der erste Mai«, sagte die Mutter vor dem Zubettgehen. »Du bist gerade zurecht gekommen.«

Ich hätte ihr beinahe geantwortet: »Ach, es ist doch alles nur Theater, rotgefärbter Schützenfestrummel!« – so sehr hatten mich die Enttäuschungen ins Herz getroffen – aber dann sagte ich mir: Quatsch, beschlafen wir die Sache erst einmal!

Und das war gut so.

Am anderen Morgen schien die Sonne, als wäre sie Parteimitglied und wüßte, was sich gehört. Überall in unserem Viertel hingen rote Fahnen aus den Fenstern. In der Nacht hatten beherzte Kerle die höchsten Fabrikschornsteine rot bewimpelt, und auch das Rathaus zeigte den Spießern die Farbe, die sie scheu macht. Die Arbeitsruhe war vollständig.

Ich stand am Fenster, und mir war, als müßte ich mich erst wieder eingewöhnen. März – April – Mai – ging es mir immer durch den Kopf. Drehte sich die Welt so schnell? Wieviel war in diesen Wochen geschehen!

Nach dem Essen trat die Mutter an mich heran und steckte mir eine rote Nelke ins Knopfloch:

»Komm!«

Der Vater war schon unterwegs. Er war aufgeregt, denn er sollte die Ansprache halten.

Auf dem Markt wurde angetreten. Es war noch nicht lange her, da waren Schüsse über diesen Platz geknallt, die Pflastersteine waren von Blut rot geworden, und dann war die Woge des Massenangriffs auf den Drahtverhau und die Maschinengewehre der Putschisten gestürzt. Und jetzt baute sich hier ein festlicher Reigen auf. Ein Siegesfest? Wohl kaum. Die Sieger waren die Besiegten geworden.

Aber ich war der einzige, der so dachte. Überall sah ich aufgehellte Gesichter, bekränzte Kinder, Fahnen, Arbeitersportler in Weiß, Radfahrer auf geschmückten Rädern, und immer neue Abteilungen rückten mit Musik heran.

Als das Trommlerkorps an der Spitze des kaum absehbaren Zuges den Takt in alle Beine schlug, fiel von meiner Erinnerung etwas ab wie ein grauer Mantel, und ich sah nur noch das Schöne, die großen Erlebnisse. Das menschliche Gedächtnis hat diese wundervolle Gabe, das Unangenehme beiseite zu schieben und zu begraben und auf seinem Leichenhügel die bunten Blumen leuchten zu lassen. Ich gebe es zu, diese Gabe ist oft daran schuld, daß dunkle Erinnerungen in freundliche Farben umgelogen werden, aber in diesem Augenblick legte ich mir keine Rechenschaft darüber ab und gab mich ganz dem Marschrhythmus hin. Die Musik schlug den Schall dröhnend an die Häuserfront, zwischen den Kapellen begann Gesang aufzufliegen und wurde stark und rauschend, Trommeln hämmerten einen zornigen Takt, jede singende Abteilung hatte ihr eigenes Lied, aber die Melodien vereinigten sich, und es entstand ein Chorgesang, wie ihn noch kein Komponist in die Zauberformel der Noten gebannt hatte. Die Köpfe des marschierenden Zuges wogten auf und nieder, und auf diesen Wogen tanzten die Fahnen wie rote Wellenreiter.

Ich fühlte nichts mehr als den Massentakt und die unsichtbare, aber mitreißende Gewalt, die von einer marschierenden Masse ausgeht.

Das Wort Bewegung hörte auf, nur ein Wort zu sein.

An einer Straßenbiegung versuchte ich, den Zug zu überblicken. Es war unmöglich. Aber ich hatte bekannte Gesichter entdeckt. Meine Kameraden aus der »Eremitage« winkten mir zu. Hallo, richtig, die Schule! In einem Monat war das Semester zu Ende. Ich entschloß mich, diesen Monat noch mitzumachen. Schon die Abwechslung reizte mich.

Morgenstern und Karafiol liefen zu mir herüber, später lasen wir noch den Tierbändiger aus der Zuschauermenge auf, und so waren vier vom Stoßtrupp seligen Angedenkens beieinander!

In unserer Nähe sangen sie jetzt: Nicht mit dem Rüstzeug der Barbaren, mit Schwert und Spieß nicht kämpfen wir – da lachte Morgenstern:

»Nee, aber mit Maschinengewehren und Handgranaten!«

Und die frohe Laune war allgemein. Jetzt machte es doppelt Spaß, im Zuge zu marschieren. Wir wuchsen, indem wir marschierten. Wir wuchsen wieder zusammen.

An den Gräbern der Gefallenen des Putsches hielt der Zug. Der Garten der Toten war zu klein, die vielen tausend Menschen zu fassen. Wie die feurigen Farben des Lebens standen die roten Fahnen vor dem feierlichen Ernst der in ewige Trauer versunkenen Friedhofsbäume. Und dann sprach mein Vater.

Ich werde diese Rede an die Toten und an die Lebenden nicht so leicht vergessen ...

Sie streute nicht Maiblumen auf Gräber und festlich gekleidete Menschen. Es war kein Pietät markierendes Intermezzo zwischen Maiaufzug und Festwiese. Es war eine Maibotschaft an die Märzgefallenen, ein Gelöbnis, das Vermächtnis der Toten zu vollstrecken. Es war eine zornige Rede, ein Alarmruf, der das Vergnügen auslöschte und aus festlichen Kolonnen Bataillone des Kampfes formierte:

»Der Putsch ist vorbei, der Krieg geht weiter, der Krieg der Ausbeuter gegen die Ausgebeuteten. Dieser Krieg ist in ein Stadium getreten, das sich nicht mehr mit Verlegenheitslösungen und friedlichen Auseinandersetzungen begnügt, obwohl der friedliche Charakter dieser Auseinandersetzungen bereits zweifelhaft genug ist. Der Bürgerkrieg steht Gewehr bei Fuß. Gefahrenzeichen überall!

Wollen wir warten, bis uns der Gegner die Gesetze dieses Kampfes diktiert? Die Arbeiterorganisationen, die Gewerkschaften und die Parteien, müssen die Reihen schließen. Wo es nicht geschieht, müssen sie dazu gestoßen werden. Wo Organisationen den Schlaf der Gerechten schlafen, muß die Energie einzelner Genossen einspringen! Bereit sein ist alles!

Bei Demonstrationen darf es nicht bleiben. Demonstrationen sind gut und nötig. Sie beweisen Bereitschaft und Kampfwillen. Aber sie sind nur ein Auftakt. Mehr ist nötig! Mehr als Kundgebungen! Mehr als papierene Proteste!

Macht euch nicht lächerlich! Zugreifen!

Ihr habt Menschlichkeit gesät und Mord geerntet!

Ihr habt um eure Gefangenen eine Schutzwehr gebaut, und sie haben die von euch fortgeworfenen Gewehre wieder auf euch gerichtet.

Ihr habt euren Sieg mit Güte gekrönt, sie haben ihrer Niederlage das Gebiß einer Hyäne eingesetzt!

Die Gräber unserer Toten klagen unsere Gleichgültigkeit an. Die Tränen ihrer Hinterbliebenen löschen nicht, sie brennen, wo sie hinfallen.

Es ist viel zu Asche geworden in diesen Wochen und Monaten, aber die Glut lebt noch!

Wir fachen diese Glut nicht an wie Mordbrenner. Unser Wille ist der Sozialismus, und der Sozialismus ist der Friede! Aber wir sind nicht willens, die linke Backe noch hinzuhalten, wenn man die rechte schlägt. Wir antworten auf Gewalt mit Gewalt, auf Schüsse mit Schüssen!

Auf den Krieg haben wir mit der Revolution geantwortet, und diese Revolution war zu gütig. Mit was werden wir auf den Putsch antworten?

Abermals mit Güte?

Ich predige den Haß. Nicht den Haß des einzelnen gegen einzelne. Ich predige den Haß einer Klasse gegen die andere, den Kampf eines Systems gegen das andere, die Revolution gegen die Reaktion!

Ich predige den Haß, obwohl ich auf Gräbern stehe, nein, weil ich auf Gräbern stehe, und weil ich eine endlose Gräberstraße sehe, die die Straße unseres Vormarsches ist.

Jeden Schritt haben wir uns erkaufen müssen mit Opfern unerhört. Diese Opfer sind uns heilig, aber sie sind nutzlos, wenn diese Gräberstraße kein Ende nimmt.

An diesen Gräbern geloben wir die Treue zur Klasse und den Willen zur Revolution. Wir wollen den März, damit ein erster Mai sein Banner der Verheißung entfaltet. Wir sehen den kommenden Dingen ins Auge. Wir sind bereit!

Der Sturmschritt der Carmagnole muß in uns sein. Ihr Leitmotiv ist:

Ça. ira! – Es wird gehen! –

Ça ira! Marschiert, marschiert!

Der Sieg wird mit uns sein!« – –

Ich bin am Ende meiner Erzählung.

Wir sind wohl auch bald am Ziel.

Zum Schluß bin ich doch noch pathetisch geworden. Die Erinnerung hat mich überwältigt ...

Du mußt mich richtig verstehen: Ich habe sehr oft von mir gesprochen, weil ich nur erzählen wollte, was ich selbst gesehen und erlebt habe, aber es sollte nicht so aussehen, als ob ich allein die Welt umkrempeln wollte.

Meine Kameraden haben mindestens ebensoviel getan. Ich habe für sie mit gesprochen ...

Seither sind viele Jahre vergangen. Die Erscheinungen des Kampfes haben sich andere Kostüme, andere Namen zugelegt, es hat Pausen und Pannen gegeben, aber der Kampf ist geblieben.

Unsere Periode ist dadurch gekennzeichnet, daß man versucht, der unausbleiblichen Entscheidung auszuweichen. Aber man vergißt, daß dieses Ausweichen nicht weniger Opfer kostet als die Austragung des Konflikts.

Vielleicht ist es noch nicht so weit, vielleicht ist der Konflikt noch nicht reif ...

Manchmal muß ich an das Kapitel eines Buches über Afrika denken, wo ein europäischer Forschungsreisender davon spricht, daß beim Bau einer Eisenbahnstrecke im Kongo auf jedes Kilometer ein Europäer kam und auf jede Schwelle ein schwarzer Arbeiter als Verlust. Was für ein ungeheuerliches Bild!

Hunderttausende liegen als Schwellen unter den Schienen und tragen mit ihren Leibern die dahindonnernden Züge. An dieses Bild muß ich jetzt wieder denken.

Sind wir nicht auch Schwellen von Eisenbahnschienen, nur mit dem Unterschied, daß auf unserer Strecke die Lokomotiven der Weltgeschichte fahren?

Aber dieser Unterschied, auf ihn kommt es an!

Wir sind bereit, die Strecke mit unseren Leibern zu bauen, damit die Revolutionen losfahren können.

Wenn sie nur fahren wollten!


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