Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XII.

Die letzte Strecke bis zur Marmor-Insel. 28. Februar bis 23. März 1880.

Die letzten Märsche. – Eine Geburt. – Wieder auf dem Connery-Flusse. – Zusammentreffen mit den Eivili-Eskinlos. – Empfang. – Eine Trauerscene. – Eine fürchterliche Enttäuschung. – Aus dem Speisezettel der Eskimos. – Hungersnoth. – Ein Todesfall. – Leichen-Ceremonien bei den Eskimos. – Trübe Tage. – Erlösung. – Ankunft auf der Marmor-Insel.

Nach Asedlak's Bericht konnten wir die Küste der Hudsons-Bai mit leichten Schlitten in zwei Tagen erreichen, und durch diese Angabe aufgemuntert, traten wir am 28. Februar 1880 bei einer Temperatur von -55º C. unseren Weitermarsch an. Alles, was wir an Bagage zurücklassen konnten, wurde in einer Schneehütte verwahrt und dieselbe mit Wasser übergossen, um über das Ganze in wenigen Augenblicken eine Eiskruste zu bilden, die den Wölfen selbst auch dann ein undurchdringliches Hinderniß bot, wenn der die Aufsicht über die Sachen übernehmende Eskimo noch vor dem später erfolgenden Abholen derselben den Ort verlassen sollte. Asedlak hatte uns 6 Rennthiere verkauft, wir hatten damit die uns von unseren 42 noch übriggebliebenen 16 Hunde (26 Hunde sind zwischen dem Backs-Flusse und hier ein Opfer der Kälte und Wölfe geworden) noch einmal gefüttert und den Rest auf zwei Schlitten geladen. Den dritten Schlitten mußten wir, um Brennmaterial zu bekommen, zerschlagen, und wanderten dann, indem wir uns in's Geschirr spannten, theils über flache Hügel, theils über große Seen in ostsüdöstlicher Richtung unserem lang ersehnten Ziele zu.

Daß wir dieses schon in zwei Tagen erreichen würden, dazu gab es wenig Hoffnung, obgleich die Eskimos in ihren Forcemärschen zuweilen bis 50 Meilen in einem Tage zurücklegen. Unsere Zugkräfte waren jedoch zu schwach, um so schnell fortzukommen. Die Gegend bot für unser Auge keine besonderen Schönheiten; die von großen und kleinen Granitsteinen besäeten Schneehügel, die reich mit kleinen Wasseradern und stattlichen Seen bedeckten Thäler, sie waren uns etwas Gewöhnliches geworden, dafür aber spähten wir nur nach dem Südosten, ob wir nicht jenes dunkelschwarz-blauen Streifens gewahr werden könnten, der, als Wasserhimmel bekannt, dem Reisenden in den Schnee- und Eisregionen die Anwesenheit von offenen Wasserstellen – uns die Nähe der Hudsons-Bai bekunden sollte.

Am 2. März Nachmittags fanden wir einen großen Teich mit einem Ausflusse, der in Vielem dem im April 1879 von uns verlassenen Connery-Flusse ähnlich sah, und wir verfolgten seinen Lauf lange bis nach der gewohnten Raststunde, um Zeichen zu finden, die unsere Annahme bestätigten. Ein verläßlicher Anhaltspunkt für deren Bestätigung war jedoch nicht zu finden.

Ein wichtiges Ereigniß sollte aber doch noch eintreten. Schon im Baue der Schneehütten begriffen, ließen die Eskimo plötzlich ihre Arbeit im Stiche und begannen mit aller Hast den Bau einer kleinen, separaten Schneehütte. Dieselbe war sehr schnell fertig und die Frau des Netchillik Joe gab, kurz nachdem sie die Hütte bezogen hatte, – sie waren den Tag 20 Meilen, im Schlitten ziehend, marschirt, – einem Knäblein das Leben. Wir glaubten durch diesen Zwischenfall in unserem Weitergehen verhindert zu sein, doch schon den kommenden Morgen wurde sie in Felle gehüllt und auf den Schlitten gesetzt, um weitere 17 Meilen gefahren zu werden.

Am 3. Morgens passirten wir eine Schlucht, durch die sich der schon breite Fluß zwängt, und die in ihrer Mannigfaltigkeit, mit den auffallenden Granitbildungen und ihrer reichhaltigen Abwechslung von Felsen, Schnee und Eis, das letzte Bild der uns noch immer unbekannten Gegend bilden sollte. Nur wenige Schritte weiter und wir erkannten mit Bestimmtheit den Fluß als den Connery-Fluß wieder und begrüßten mit Freuden an den rauhen Ufer-Eisbildungen den hier schon spürbaren Wechsel von Ebbe und Fluth.

Abends bauten wir beinahe an demselben Punkte, wie wir es beim Ausmarsche am 1. April 1879 gethan, auf unserer Reise das letzte, seit unserem Abgange von König Wilhelms-Land das 53. Schneehüttenlager.

Am Morgen des nächsten Tages bedurfte es keines Weckenden, der die Eskimos aus ihren Pelzen trieb, und mit den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne traten wir aus der Mündung des Connery-Flusses, der uns die letzten 42 Meilen eine willkommene Fahrstraße geboten hatte, hinaus auf das offene Eis der Hudsons-Bai. Während der elf Monate und vier Tage, die wir von der Hudsons-Bai abwesend waren, hatten wir eine Distanz von 2820 Meilen (705 deutsche Meilen = 5287, 5 Kilometer) zurückgelegt, unsere Aufgabe mit Rücksicht auf Zeit und Umstände in erschöpfender Weise gelöst, uns und unsere Hunde nur durch die Jagd aus dem Thierreichthum der durchkreuzten, nur als wüste Schneeöden berüchtigten Landstrecken erhalten, ohne Menschenverlust, ja ohne Krankheit die Gefahren der weiten Reise überstanden, den Unbilden eines strengen arktischen Winters im Freien getrotzt – und standen nahe dem Ziele, nahe, wie wir vermeinten, den ersehnten Proviantvorräthen der Civilisation, und was uns am angenehmsten schien, nahe den Wohnungen von Menschen. Beinahe drei Monate waren verflossen, seitdem wir, auf uns allein beschränkt, nur dem uns erwünschten Rennthiere oder dem verhaßten Wolfe begegneten, und der Rabe, der heute krächzend über unseren Köpfen kreist, ist uns ein willkommener Anblick. Nicht umsonst begrüßt ihn der in der Wildniß umherwandernde Eskimo mit einem heiteren Tuluak, Tuluak (Rabe in der Eskimosprache), und nur zu wahr ist seine Angabe, daß dort, wo ein Rabe zu sehen ist, auch Menschen sich in der Nähe befinden. Vor uns lag der schon so lange gesuchte Wasserhimmel, und hinter der letzten Landspitze trat endlich die Depot-Insel hervor, in deren Nähe Camp Daly, der Ort liegt, wo wir während langer acht Monate (von August 1878 bis April 1879) unsere Acclimatisirungsschule für unsere Reise durchgemacht hatten. Auch die Hunde erkannten, daß das Ziel ihrer langen Reise nahe lag, und ohne Peitschennachhilfe ging es rüstig über die glatte Eisfläche dahin.

Es waren wichtige Fragen, die der Verlauf der nächsten zwei Stunden beantworten mußte. Sind Schiffe in der Hudsons-Bai, die uns den kommenden Sommer in den Schooß der Civilisation zurückführen können? – Sind mit diesen Schiffen Nachrichten von der Heimat eingetroffen? Und hat man von Amerika aus dafür gesorgt, um uns für die noch vor der Abreise erübrigende Zeit zu unserem zurückgelassenen Proviant erwünschte Verbesserungen zukommen zu lassen? Haben endlich die Eskimos die unter ihrer Obhut zurückgelassenen Depots ordentlich aufbewahrt? Das Alles waren Fragen, die uns sehr lebhaft interessirten, als am Eishorizonte eine, dann zwei und endlich mehrere Menschengestalten sichtbar wurden, denen sich später auch ein ganzes Hundegespann zugesellte. Wer die Gestalten waren, die jetzt von allen Richtungen auf uns zukamen, darüber konnte kein Zweifel existiren. Unsere früheren nächsten Nachbarn während unseres erstwinterlichen Aufenthaltes, die Eivili-Eskimos, hatten schon oft nach jener Gegend ausgelugt, von wo wir wieder zurückkehren sollten – und es war nur nothwendig, das schon vor einem Jahre verabredete Zeichen zu geben, um beiderseits die freudige Botschaft unserer Wiederkehr bekannt zu machen. Tuluak (nach Eskimobrauch haben die Männer meistens Namen von Thieren, und dieser bedeutet, wie schon oben erwähnt, Rabe), unser tüchtigster und erfahrenster Jäger, band in seiner Aufregung eine alte Decke an eine Stange und schwenkte diese vom Schlitten aus als Wiedererkennungszeichen, und um jeder Irrung vorzubeugen, gaben wir aus unseren Hinterladergewehren einige Salven. Immer näher kamen die beiden Parteien einander, schon konnte man in den Pelzhüllen die wohlbekannten Physiognomien der einzelnen Innuit (Eskimo-Bezeichnung für sich, d. i. den Eskimo selbst als Gegensatz zum Kabluna, dem Weißen) unterscheiden, und eine kleine Weile später folgte Händedruck auf Händedruck, und wir wurden ob unserer glücklich erfolgten Rückkunft beglückwünscht. Es waren blos Eskimos, die uns hier begrüßten, und doch wird für die, welche Augenzeugen jener Scene waren, die erste Begegnung mit den wackeren Eingebornen eine unvergeßliche bleiben. In seiner Aufrichtigkeit und Herzlichkeit begnügt sich der Eskimo nicht mit einem festen, für zartere Hände derb fühlbaren Händedruck, nein, er legt seine Hand auf seines Freundes Brust, und mit einem Maniktumi (so viel wie willkommen) scheint er sich zu überzeugen, ob die große Freude des Wiedersehens nicht vielleicht nur ein eitler Traum sei.

Doch des Dichters Wort: »Des Lebens ungemischte Freude ward keinem Irdischen zu Theil,« sollte auch hier seine Bestätigung finden. Nur zu bald waren die lauten Teimo (des Eskimos Begegnungsgruß) verhallt und an ihre Stelle trat ein jammervoll anzuhörendes Klagegeschrei. Mit der Rückkehr des obgenannten Tuluak war es den ihn Begrüßenden auch Pflicht geworden, denselben von dem während seiner Abwesenheit erfolgten Tode seiner Mutter zu verständigen. Ob es der Schmerz um den Verlust war, weshalb der Genannte und seine Frau am Schlitten ohnmächtig niederfielen und dann in langgedehnten lauten Jammerrufen ihren Gefühlen Ausdruck gaben, ob dies als die alleinige Ursache dieser Scene anzusehen war, ist mir etwas unklar geblieben; doch habe ich in späteren Monaten zu wiederholten Malen Gelegenheit gehabt, bei verschiedenen Todesfällen eine ähnliche Beobachtung zu machen. Es war nicht bitteres Weinen und halb unterdrücktes Schluchzen, das als stärkerer Ausdruck des inneren Schmerzes gelten sollte, sondern ein die eigenen Stimm- und der Umstehenden Gehörorgane bis auf's Aeußerste maltraitirendes Wehegeschrei, und seine nur kurze Dauer bringt mich zu der Ueberzeugung, hier einer ähnlichen Sitte begegnet zu sein, wie sie die orientalischen Völker bei ihren Trauerfeierlichkeiten mehrfach aufzuweisen haben. Nachdem das Wehegeschrei 15 bis 20 Minuten gedauert, stand Tuluak auf, nahm seine Peitsche zur Hand, und sein ganzes Aeußere zeigte ihn uns nun wieder nur als den Mann, wie wir ihn monatelang kannten, unseren energischen, willigen und stets munteren Begleiter.

Aber auch uns Weißen stand eine furchtbare Enttäuschung bevor. Zu wiederholten Malen hatten wir und schon in früheren Monaten uns auf ein kleines Festessen gefreut, welches wir an dem Tage unserer Ankunft am Ziele von unseren zurückgelassenen Proviantvorräthen für die ganze Partie veranstalten wollten. Zu unserem größten Schrecken waren aber diese Vorräthe für uns nicht zurückgelassen worden. – Bei unserer ersten Landung im August 1878 hatten wir nur so viel von unseren Vorräthen mit an's Land genommen, als wir vorderhand benöthigten, und den Capitän des Schiffes, das uns von New-York aus unserem ersten arktischen Domicil zuführte, ersucht, den Rest unseres Proviants bei seiner Zurückfahrt nach Amerika im August 1879 auf der Depot-Insel zurückzulassen. Ohne auf das unverantwortliche Benehmen des betreffenden Capitäns, der nichts, ja nicht einmal ein paar Zeilen der Erklärung für uns zurückließ, weiter einzugehen, will ich hier nur bemerken, daß unsere Lage eine nichts weniger als beneidenswerthe war, denn jetzt, am Ziele, sollten wir erst, wo Keiner es ahnte, nach glücklich überstandener Reise, noch schwere Stunden erleben.

Was konnten wir bei dem kaum für einen Tag ausreichenden Fleischvorrathe, der sich auf unseren Schlitten befand, wohl Besseres thun, als der Einladung unserer alten Eskimo-Freunde folgen und uns der Hoffnung hingeben, daß wenigstens sie für die, wenn auch nicht ausgehungerten, so doch auch nicht wohlgenährten Neu-angekommenen für so lange werden sorgen können, bis sich diese von einem eilfmonatlichen rastlosen Wandern erholt, gekräftigt und ausgeruht haben würden, um dann die circa 30 deutsche Meilen weiter südlich auf der Marmor-Insel (Marble-Jsland) überwinternde Walfischfänger-Barke »George und Mary« von New-Bedford aufzusuchen, von der wir eine sofortige Hilfeleistung und Beförderung nach Amerika zu erwarten hatten.

Die ersten Tage vergingen ganz gut. Nach der Begrüßung von Seite der weiblichen Bevölkerung der verhältnißmäßig großen Ansiedlung krochen wir in verschiedene Schneehütten und wurden auf das beste empfangen. Es ist ein großer Unterschied, ob man in eine Hütte kommt, die erst neugebaut oder nur wenige Tage bewohnt ist, oder ob Menschen in einer solchen bereits Wochen und Monate zubrachten. In Bezug auf Reinlichkeit bietet die länger bewohnte Hütte keinesfalls einen Vorzug – doch ist man monatelang an den Anblick, den eine solche Häuslichkeit bietet, gewöhnt, so ist die darin herrschende Temperatur bei der Wahl zwischen einer kalten neuen oder einer warmen alten in erster Linie maßgebend.

Eine Hütte, in der Menschen längere Zeit gelebt und gekocht haben, ist mehreremale im Innern über den Nullpunkt erwärmt worden und die Schneetafeln der den Lampen am nächsten gelegenen Theile und der obersten Decke haben durch Schmelzen des Schnees, durch das Einfangen des so erzeugten Wassers in den noch festen Theil und durch das Wiedergefrieren des Ganzen eine Eisglasur erhalten, die durch den Rauch schwärzlich gefärbt wird. So oft nun die Temperatur wieder auf einen höheren Punkt als Null kommt, sammelt sich das Wasser an den kleinen Kanten und hervorragenden Theilen und fängt an, Tropfen nach Tropfen auf die als Betten dienenden Felle zu fallen. Dieses Kuduktu (Tropfen in der Eskimosprache) ist auch dem nordischen Bewohner sehr verhaßt, und er hat, um es wenigstens für einen Zeitraum zu hindern, ein ganz probates Mittel, welches, so einfach es ist, zeigt, wie schnell selbst der physikalisch ungebildete Mensch, ohne es zu wissen, durch Instinct oder Beobachtungsgabe sich die Gesetze der Natur zum wohlthätigen Diener macht. Ein Stück Schnee hat die Hausfrau für den diesbezüglichen Gebrauch immer bei der Hand, und beim ersten Tropfen schneidet sie mit ihrem Messer ein würfelförmiges Stück ab, haucht auf die eine Fläche und berührt damit die Stelle, von wo der Tropfen kam. Ein Augenblick genügt, um durch den kalten Schnee der kleinen Wasseransammlung so viel Wärme zu entziehen und es zum Gefrieren zu bringen, wodurch der kleine Schneewürfel an der Decke haften bleibt.

Durch diese wiederholt angewandte Operation, so wie durch die von Zeit zu Zeit bewirkte Ausbesserung der Decke selbst mit ausgeschnittenen und neu eingesetzten Schneetafeln erhält das Innere das Aussehen einer kleinen Tropfsteinhöhle, und betrachtet man die eigenthümliche Erleuchtung durch zwei oder drei hellbrennende Lampen, das bunte Durcheinander der primitiven Einrichtung und die Bewohner, so erscheinen die Kleinen, wie sie in ihren Pelzen vermummt die Mutter umspringen, wie die Gnomen eines unserer vielen Märchen. Konnte es uns Jemand übel auslegen, wenn wir in einer solchen Umgebung, unter Menschen, auf deren Wiedersehen wir uns monatelang gefreut, die Schattenseite des Igolos (Schneehütte) heute gänzlich übersahen und uns im muntern Geplauder schon deshalb als glückliche Menschen schätzten, weil wir uns diesmal mit dem Bewußtsein zu Bette legen konnten, morgen ungestört schlafen zu können, statt am frühen Morgen an Aufbruch, Weitermarsch und Schlittenziehen denken zu müssen?

Im ganzen Lager herrschte denn auch bis in die späte Nachtstunde eine rege Thätigkeit, und schon deshalb, weil unsere Begleiter von der Rennthierkost zum Essen des Walroßfleisches übergingen, sie sich aber bei diesem Wechsel zuvor waschen müssen – war dieser Tag eine Art Ausnahmsfesttag für dieselben.

Das gegenseitige Erzählen wollte nun gar kein Ende nehmen, und die kleine Gruppe der älteren Leute, der patriarchalischen Häupter des Stammes, die sich um ihren alten Freund, unsern als Dolmetsch in arktischer Forschung (er hatte auf zwei Polar- und drei Franklin- Aufsuchungsreisen die Weißen begleitet) weit und breit bekannten Eskimo Joe sammelten, konnten sich nicht genug wundern, wie es möglich war, in diesem mehr als normal strengen Winter mitten durch weites unbekanntes Land den Weg so genau zu finden, um gerade dort wieder das Salzwasser der Hudsons-Bai zu erreichen, wo wir es beim Ausgang verlassen hatten. Am nächsten Tage heulte draußen einer jener Stürme, wie sie nur im Norden so furchtbar und tagelang über die weiten Eisflächen hinwegfegen, und wir konnten uns gratuliren, das schöne Wetter der letzten Tage gerade noch vor Eintritt der Aequinoctialstürme gut benutzt und unser Ziel erreicht zu haben. In jeder Hütte machte man Anstalten, für uns Angekommene zu kochen, wir wurden unter den gegebenen Umständen auf das Beste bewirthet, es wurde sogar auch für eine gute Fütterung unserer Hunde gesorgt, und doch konnten wir uns nicht verhehlen, daß die Fleischvorräthe der Ansiedelung auf einer gewaltig niedrigen Ebbe standen.

In der That waren schon am folgenden Tag die Einladungen seltener geworden, am dritten Tage gab es nur noch eine einzige Mahlzeit, und schon am vierten Tage wurde uns eine ungekannte Speise als Aushilfe in der Noth vorgesetzt. Diese bestand aus dem sogenannten Issik (der Fußflosse des Walrosses), das aber keinesfalls schlecht zu nennen ist. Ein Liebhaber von Schweinsfüßchen würde darin nur eine bedeutende Verbesserung in Bezug auf die Schmackhaftigkeit derselben finden, und auch für uns war nicht nur das Fleisch selbst eine Delicatesse, sondern auch die durch Kochen gewonnene Brühe war weit kräftiger und nahrhafter als die von Rennthierfleisch. Hatte die Qualität besondere Vorzüge, so hatte die Quantität nur den einen Nachtheil, daß der Issik für die vielen Menschen zu klein war. Man ging daher heute schon hungrig vom Mahle, weil man wußte, daß nicht mehr zu haben war, und auch so lange nicht zu bekommen sein werde, bis der Wind sich nach Süden oder Osten dreht und den Leuten den Fang der Walrosse gestattet.

Unsere Ansiedelung war nicht auf dem Lande, sondern auf dem Seewasser-Eise, ungefähr eine deutsche Meile von der Küste entfernt. Die Eskimos hatten diesen Punkt gewählt, um leichter und schneller dorthin gelangen zu können, wo sich das bewegliche Eis befindet. Die Hudsons-Bai friert nämlich nie ganz zu, und nur der Küste entlang, je nach den Umständen und der Landformation, befindet sich ein eine bis zwei Meilen breiter, für den ganzen Winter stabiler Eisgürtel. Das übrige Eis wandert mit den wechselnden Winden; wehen diese von Norden und Westen her, so ist die Grenze des stabilen Eises vom freien Meere umspült, wehen sie aber von den entgegengesetzten Richtungen, dann war das lose Eis, auf dem die Walrosse sich aufzuhalten pflegen, in der unmittelbaren Nähe der festen Eisgrenze. Unser nordwestlicher Aequinoctialsturm mußte sich also erst austoben und einem günstigeren Winde Platz machen, bevor wir auf eine Walroß-Jagd hoffen konnten. Zwar thaten die Eskimos ihr Bestes, um Seehunde zu fangen, doch ihre Bemühungen blieben erfolglos und die Verhältnisse in der Ansiedelung nahmen einen ernsten Charakter an.

Dem Issik folgte als Speise Walroßhaut, mit der sonst nur die Hunde gefüttert werden, und schon den kommenden Tag war auch diese gänzlich aufgezehrt, und die kommenden fünf Tage gab es eine Fastenzeit, die man im vollsten Wortsinn Hungerszeit nennen kann. Tag für Tag kamen die Eskimos zu uns und fragten, ob wir sehr hungrig seien und vertrösteten uns mit einem witschaho seliko eibik (später werden wir ein Walroß erlegen), doch auch ihnen, welche die anhaltenden Stürme nur zu gut kannten, war nicht besonders gut zu Muthe. In den Hütten wurde wenig und auch dann nur leise gesprochen. und das Geschrei der Kinder nach Nahrung war nebst dem eigenen Mißbehagen das Peinlichste der Situation. Das fette Aussehen des Eskimo schwindet bei Entziehung der Nahrung sehr schnell, besonders dann, wenn er seinen Magen, wie er es in ähnlichen Situationen gern zu thun pflegt, nicht mit dem Trinken von vielem Wasser theilweise befriedigen kann. Mit dem Fehlen des Walroßfleisches im Frühjahre geht auch der Thran zu Ende, und da auf dem Eise Wasser nur durch Schmelzen des Schnees oder Thranfeuer zu gewinnen ist, so nimmt auch dieses Aushilfsmittel sein Ende.

Die ersten zwei Tage fanden wir hier und da noch ein Stück Seehundshaut, auch einmal einen Seehundsschädel, aus dem wir zu zehn oder zwölf Personen das Gehirn aßen – doch auch diese Quellen versiegten, und um dem Hunger keine Gelegenheit zu geben, sich gar zu schmerzlich zu äußern, blieben wir in den Schlafsäcken. Der männliche Theil der Eingebornen machte täglich erneuerte Versuche, Seehunde zu fangen, doch vergebens. Das Jammern der Kinder that ihnen wehe, und einmal erinnerte sich einer derselben, daß er vor einiger Zeit auf dem Eise ein Walroß erlegt habe. Im heftigsten Sturm ging der Brave am zeitlichen Morgen aus, um am Abend mit dem blutgetränkten Schnee der Stelle, wo er seine Beute zerlegt hatte, zurückzukommen. Dieser blutgetränkte Schnee wurde für die Kinder geschmolzen, das Wasser zum Sieden gebracht und unter dem dankbarsten Jubel bot diese gewiß sehr spärliche Mahlzeit wenigstens für einige Zeit insofern eine Befriedigung, als es Jedem weh thun mußte, die Leiden und das Gefühl der Mütter zu sehen, wenn sie den Kindern auf ihr jammerndes Bitten nichts bieten konnten. Was die eigene Person anbelangt, so will ich mich nicht darauf einlassen, hier die stillen Betrachtungen zu erwähnen, die uns die langen Stunden hindurch beschäftigten. Es mag den Leser, der Dr. Tanner's vierzigtägige Hungercur glaubwürdig finden mag, vielleicht wundern, daß wir schon in so wenigen Tagen eine gewisse Schwäche zu fühlen begannen – doch erlaube ich mir darauf aufmerksam zu machen, daß es ein großer Unterschied ist, ob man in diese Situation in wohlgenährtem oder in einem Zustande kommt wie wir. Wir waren monatelang marschirt, hatten, wenn auch nicht ungenügende, doch namentlich in den letzten Wochen nicht so viel Nahrung gehabt, daß sich ein Superplus von Fett an uns hätte ansetzen können, und hatten, was wohl die Hauptsache sein mag, nicht von Brodstoffen, sondern ausschließlich von Fleischkost gelebt. Wenn man ferner bedenkt, daß das Rennthier im Winter selbst mager ist und wir in den letzten drei Monaten sogar des Salzes hatten entbehren müssen, dann dürfte man unsere Lage wohl begreiflich finden.

Lieutenant Schwatka, der Commandant der Expedition, entschloß sich endlich am dritten Tage, mit den besten Hunden und zwei Eskimos selbst die Reise nach dem früher erwähnten Winterhafen anzutreten und von dort aus Proviant für uns abzusenden.

Wir zurückgebliebenen drei Weißen vertrieben uns die Zeit, so gut wir eben konnten, und so sehr wir lange gewünscht hatten, Lesematerial zu bekommen, heute, wo wir wenigstens etwas, wenn auch weder besonders Wissenschaftliches, noch sehr Geistreiches besaßen, fanden wir kein Interesse daran. So lag ich denn in der Hütte, schaute den ganzen Tag in meinen »Leibarzt der Kaiserin« und weiß heute noch nicht, ob es ein Roman oder eine Novelle ist, am allerwenigsten aber, wer der Autor ist. Der Magen, er fühlte sich so leer, und ich fürchtete ordentlich, mich zu rühren.

Merkwürdig, welchem Wechsel des Menschen Wünsche oft unterworfen sind! In König Wilhelms-Land, wo wir zwei Monate nichts Anderes thun konnten, als uns wohl zu nähren, hätte ich gerne fünf ganze Rennthiere mit Haut und Haaren für einen kleinen und vielleicht auch schlechten Roman hergegeben, – in den geschilderten Märztagen, also nur etwa fünf Monate später – ich weiß nicht was für mich – natürlich nur während der Hungertage, der Fastenzeit – von größerer Wichtigkeit gewesen wäre: die gesammten deutschen Classiker oder zehn Pfund Fleisch.

Um aber den Becher des Leides bis an den Rand zu füllen, trat unter die Bewohner der Ansiedelung auch noch der Sensenmann. Man muß den furchtbaren Aberglauben des Eskimos kennen, um die Wichtigkeit eines solchen Vorfalles einzusehen. Im Todeskampfe ist der Gatte der Frau, die Mutter dem Kinde, das Kind den Eltern fremd, im Todesfalle hört die Verwandtschaft, in Todesgefahr jede Nächstenliebe, jede Menschenhilfe auf. Der Eskimo, der eines natürlichen Todes stirbt, stirbt allein.

So war es auch heute. Seit langer Zeit war Kudliak, eine junge Frau, krank und gab des Abends durch Röcheln kund, daß ihr Dasein unter den Sterblichen kein langes mehr sein werde.

Sogleich nahmen die Insassen der Hütte, in der sie lag, ihre sämmtlichen Habseligkeiten und gingen einen anderen Schlafplatz suchen, die Hütte wurde verschlossen und die Sterbende blieb sich selbst und dem Himmel überlassen. Am nächsten Morgen war sie eine Leiche. Jetzt erst regte sich das Gefühl der Eingebornen, die traurige Kunde lispelte man von Hütte zu Hütte, doch hätte es Niemand ohne Verletzung ihrer Gebräuche wagen dürfen, die Todte auch nur sehen zu wollen. Ein Mann und eine Frau, in diesem Falle also ihr Mann und ihre Tante, hatten die Pflicht, für die Beerdigung zu sorgen. Zwei Stunden, nachdem diese den Tod erfahren, ruhte die in einige Felle und ihre sämmtlichen Kleider eingenähte Leiche auf einem Schlitten, und die zwei Personen selbst zogen diesen nach der nächsten Landspitze. Hunde dürfen zu diesem Zwecke nicht verwendet werden, und der Grund dafür dürfte wohl in dem Bedenken der Eskimo liegen, daß die Hunde, wenn hungrig, die oberhalb der Erdoberfläche aus Steinen gebauten Gräber besuchen dürften. Ohne jede Ceremonie verläßt der Schlitten die Ansiedelung, und die Leute gehen nicht einmal vor die Hütten, um den einfachen Leichenzug eines letzten Blickes zu würdigen.

Ein Todesfall bringt aber, so einfach die Bestattung selbst ist, eine Menge Gebräuche mit, die namentlich in der gegenwärtigen Situation sehr unangenehm sind. Ist der Ankut, eine Art Hoherpriester, anwesend, so verhängt er über die nächsten Verwandten des Verstorbenen einen sogenannten Tarbu, d. i. eine Zeit von je nach Umständen der näheren oder weiteren Verwandtschaft von acht Tagen bis zu einem Monat (1 Jahr hat für die Eskimos 13 Monate, und diese Zeit von Neumond zu Neumond wird wie der Mond selbst Taktuk genannt), welche die Betreffenden in ihrer jeweiligen Behausung, ob Zelt oder Schneehütte, zubringen müssen. Diesmal war der Ankut nicht anwesend, und man begnügte sich mit Einhaltung der drei Tage (da in diesem Jahre der dritte Todesfall vorkam), an welchen nichts gethan werden sollte. Nach Recht und Gesetz sollten die Männer nicht jagen gehen, durften gemeinsam nicht essen, die Hunde durften nicht in die Schlitten gespannt, ja nicht einmal auf dem Erdboden gefüttert werden, so wie auch die größte Vorsicht gebraucht werden muß, um nichts, seien es auch nur Abfälle von Rennthierkleidung, fallen zu lassen.

Doch unter den obwaltenden Umständen gingen die Eskimos am frühen Morgen, als sich der Wind wirklich gedreht hatte, hinaus, um Walrosse zu jagen. Mit der größten Spannung saßen die Zurückgebliebenen in den Hütten. Trostlos genug sah es darin aus. Die Lampen standen leer, die Kessel waren schon Tage lang in einen Winkel gesetzt worden, und stumm vor sich hinbrütend hing Jeder, ob Weißer oder Eskimo, seinen keinesfalls erfreulichen Gedanken nach. Ja, die letzten Tagen, sie haben sich auf den Gesichtern schon sichtbar gemacht, und die Augen, diese schönen Augen der Kinder, lagen tiefer in den Augenhöhlen als je zuvor. Wird uns der heutige Tag etwas zu essen bringen? werden die Männer Walrosse sehen? werden sie noch Kraft genug haben, sie zu fangen, werden endlich die ausgehungerten Hunde stark genug sein, um den Fang ohne Schlitten (denn die Schlitten durften auf keinen Fall mitgenommen werden) in die Ansiedelung zu bringen? Das waren Fragen, die wir uns stellten und zu beantworten suchten, als vom Eise her Hundegebell erscholl und mit einem Male Frauen und Kinder wie aus einem Traume auffuhren und zu den Hütten hinausstürzten.

Ueber die Lösung der Fragen existirte kein Zweifel mehr. Hunde bellten und zogen Etwas, die Männer trieben die Hunde an, winkten mit den Händen und riefen laut unverständlich klingende Worte – doch wenn auch unverständlich, die Antwort darauf sollte nicht ausbleiben, und das »Alianei« (der Freudenruf des Eskimo) tönte hundertfach aus allen Kehlen. Ich habe die Freudenäußerungen vieler Nationen gehört, aber unter allen: Hoch, Vivat, Eljen, at' žije klang keines so gut, keines so aufrichtig und einstimmig wie das »Alianei« der Schaar, die damals sich freute, den Hunger befriedigen zu können. Daß es nicht langer Zeit bedurfte, um das bereits zerlegte Walroß in die Hütten zu bringen, ist ebenso selbstverständlich, wie daß die Lampen gerichtet, die Kessel aufgehängt und sogleich gekocht wurde. – Doch wie geschwächt unsere Mägen waren, konnten wir am besten aus dem Umstande sehen, daß wir Alle nur langsam und in gewissen Zeiträumen essen durften; Diejenigen, welche zu hastig zugriffen, wurden sogar von einer Art Ohnmacht befallen.

Mit befriedigtem Magen schlief es sich heute besser, am folgenden Tage aber wurde der Todtengebrauch in der strengsten Weise gehandhabt. Die Hunde, für deren Erhaltung die Eskimos besorgt waren, wurden zwar gefüttert, doch nicht wie sonst auf dem Erdboden, sondern auf der Erhöhung, die als Lagerstätte dient, und zwar mußte ein Jeder einzeln aus einem Gefäß fressen.

Am Abende des dritten Tages seit dem Ableben der Kudliak wurden die zwei Leichenbestatter in eine separate Schneehütte gebracht und dort mußten sie die Nacht hindurch allein zubringen. Mit Sonnenaufgang begaben sie sich zum Grabe der Verstorbenen und bis zu ihrer Rückkehr mußte ein Jeder in der Ansiedlung nüchtern bleiben. Was sie dort an der Begräbnißstätte thaten, wäre interessant zu wissen, doch sind die Eskimos in der Mittheilung ihrer religiösen Gebräuche ungeheuer wortkarg, und sie zu belauschen ist mit großen Schwierigkeiten verbunden.

Nach der Rückkehr dieser zwei Personen wurde die innere Peripherie eines jeden Schneehauses vom Hausvater mit einem Gegenstande, dessen Nennung ich hier nicht für passend erachte, und der die ganze Zeit der Trauer oberhalb des Eingangs befestigt war, mit Eindrücken versehen. Der Hausvater sowie alle Insassen nach der Reihenfolge des Alters bis zum sprechfähigen Kinde drehten sich dann nach verschiedenen Richtungen in der Hütte und sprachen das Wort taba, d. h. genug, und mit dem Waschen der Hände und des Gesichtes war die ganze Ceremonie zu Ende.

Jetzt erst wird zum gemeinsamen Mahle geschritten, und wer essen sehen will, muß zu den Eskimos gehen. Freilich konnten wir für unseren Theil auch Bedeutendes leisten. Noch denselben Tag erschien ein Hundeschlitten als Extrapost von dem Winterquartier des oben erwähnten Schiffes und brachte nebst Zwieback, Schweinefleisch und Melasses auch einen Brief des Lieutenants Schwatka mit der Ordre, nach der Marmor-Insel zu kommen. Lieutenant Schwatka hatte, selbst ohne Nahrung, die letzten 75 Meilen zu seinem Ziele ununterbrochen in Begleitung eines Eskimos zu Fuß in 23 Stunden zurückgelegt.

Drei Tage später wurden auch wir auf dem Schiffe herzlich willkommen geheißen und von Weißen mit allen möglichen Bequemlichkeiten versorgt. Der Schiffskoch blieb lange unser bester Freund.

So endete unsere erste bedeutende Fastenzeit unter den Eskimos, so die letzte Strecke unserer eigentlichen Reise.

 

Uebersichtstabelle des Thermometerstandes (nach Celsius) vom 1. November bis 31. März 1880.

    Temperatur in Graden
    Durchschnitt für Beobachtung
    den ganzen
Monat
die erste Hälfte
des Monats
die zweiteHälfte
des Monats
höchste niedrigste
1879 November -31 -27 -35 -17 -55
1879 Dezember -45 -43 -47 -36 -56
1880 Januar -47 -49 -44 -30 -57
1880 Februar -43 -46 -39 -23 -50
1880 März -32 -39 -25 -11 -50

 << zurück weiter >>