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VIII.

Im permanenten Camp. (October 1879.)

Die Rennthierjagd. – Im permanenten Camp. – Unthätiges Leben. – Zubereitung der Felle. – Eine Eskimo-Schneider-Werkstatt. – Die Netchilliks. – Oelvorräthe. – Ein Kauf-Essen. – Ein Gaunerstück. – Der Hohepriester. – Fadenspiele, ein Zeitvertreib der Eingebornen. – Ein Schneesturm. – Die Erlangung eines Eskimo-Schädels. – Tulnak holt unsere' Sachen von Terror-Bai – Eine dreifache Bärenjagd. – Vorbereitungen zum Abmarsch.

Der südöstliche Theil von König Wilhelms-Land mag im Herbst mit Recht das Eldorado des Rennthierjägers genannt werden, und nie habe ich während eines vierjährigen Aufenthaltes in und an den Grenzen des nördlichen Polarkreises mehr Wild beisammen gesehen, als hier. Der Hügel, auf dem unser Zelt inmitten einer kleinen Ansiedlung von Netchillik-Eskimos stand, gewährte eine Rundschau von fünf bis sechs Meilen im Umkreise und während der Zeit von 10 Uhr Morgens bis 5 Uhr Abends gab es auch keinen Augenblick, wo wir nicht nach Hunderten Rennthiere zählen konnten. Ich habe schon früher bemerkt, daß diese während des Sommers den nördlichen und westlichen Theil der Insel zu ihrem Heim machen, und dort auf den großen Mooswiesen reichlich Nahrung finden; naht aber der Herbst, dann sammeln sie sich in großen Heerden, die täglich unter der Leitung majestätischer Böcke zum Meeresstrande kommen. Es ist nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität der Thiere, was die Rennthierkost zum Hauptnahrungsmittel macht. Namentlich die Böcke sind sehr fett und die Dicke des Talges an den Rückenseiten erreicht oft 2 ½ Zoll. Die Rennthiere sind auf König Wilhelms-Land auf einen verhältnißmäßig kleinen Raum beschränkt und dies in Verbindung mit der prächtigen Weide ist die Hauptursache ihres guten Zustandes. Der Talg ist die einzige Delicatesse des Eskimos und ich muß, wenn auch mit gewissen Bedenken, eingestehen, daß auch wir in dem besagten Artikel etwas Feines fanden. Rennthier, Seehund und Enten waren seit vier Monaten unsere einzige Nahrung gewesen, und Feingeschmack gehörte bei uns zu den Begriffen der Vergangenheit. Wir aßen nämlich, um zu leben, und lebten nicht, um zu essen. Holz ist in diesen Theilen der Insel nicht zu finden, dafür ist aber die bereits erwähnte Cassiope tetragonia in großen Massen vorhanden und ihr Gehalt an Harz macht sie zu einem besonders guten Brennmaterial. So lange es der Schnee zuließ, gingen wir täglich unter der Leitung von Eskimos landeinwärts, um in Säcken so viel davon als möglich nach Hause zu bringen; als aber die Schneekruste dick wurde, konnte nur so viel Fleisch gekocht werden, als der über die Oellampe gehängte Kessel auf einmal fassen konnte. Rohe Fleischkost bildete daher die Hauptnahrung und die Quantität, die eine Person in einem Tage zu sich nimmt, ohne sich zu überessen, steht mit dem Begriffe Mäßigkeit in schauderhaftem Widerspruche.

Unsere Hauptbeschäftigung war die Jagd. Kaum war eine Heerde auf eine bis zwei Meilen den Zelten nahe gekommen, so ging Alt und Jung, Weiße und Eskimo derselben nach. Man sollte glauben, daß die Netchilliks von unserer Anwesenheit nicht besonders erfreut waren, und diesen Herbst nicht, wie sonst, hinter einem Steine liegend, abwarten konnten, bis die Hirsche in der alten bekannten Fährte ankamen. Unsere gute Bewaffnung hatte zur Folge, daß verhältnißmäßig mehr Wild verwundet wurde, als dies bei Benützung von Vorderladern der Fall gewesen wäre, und da das Rennthier, um einen alten Jägerausdruck zu gebrauchen, »viel Blei tragen kann«, so waren es diese verwundeten Thiere, auf die es unsere Netchillik-Freunde abgesehen hatten, und die sie gewöhnlich auch alle erlegten. Noch nie sind auf König Wilhelms-Land so viele Rennthiere auf drei Beinen herumgelaufen, als diesmal, und noch nie waren die Jagdergebnisse der einheimischen Bewohner so ergiebig, als diesen Herbst. Das größte Jagdergebniß der Partie für einen Tag waren 24 Rennthiere.

Kommt ein Jäger oder eine Partie auf Schußweite an die Rennthiere heran, dann machen sie von ihren Hinterladegewehren Gebrauch, und aus einer Heerde erlegte einst Eskimo Joe acht und Tuluak zwölf Stücke, die am Platze liegen blieben; wie viele außerdem verwundet wurden, das hätten uns die Netchilliks am besten sagen können. Die zwei Genannten waren jedenfalls die besten Jäger der Partie, und während Tuluak die meiste Beute erlegte und im kritischen Moment, wo es sich um Fleisch und Hunger handelte, ein unfehlbarer Schütze war, brauchte der Eskimo Joe verhältnißmäßig am wenigsten Munition; mit Lieutenant Schwatka's 26 Schüsse haltendem Evans-Magazin-Gewehre erlegte er acht Rennthiere mit zehn Patronen. Ein Vergleich der Rennthierjagd mit dem Jagen amerikanischer Hirsch-Arten ist nicht anzustellen, da das Rennthier in seinen Bewegungen albern, ungeschickt ist. Ein verfehlter Schuß aus einen Hirsch hat die Folge, daß dieser Reißaus nimmt und dem Jäger das Nachsehen übrig bleibt, während beim Rennthier mit dem ersten Schusse, falls er nicht tödtlich trifft, die Jagd erst anfängt. Ein Rennthier, falls es der Jäger versteht, diesem der Landformation gemäß zu folgen, kann stundenlang verfolgt werden und es wird dem Jäger immer noch Gelegenheit geben, zum Schusse zu kommen. Nur müssen die Eskimohunde gänzlich unverwendet bleiben, und wenn sie zum Fortbringen der Beute gebraucht werden, unter specieller Aufsicht eines Zweiten auf gehörige Distanz zurückgelassen werden. Treibjagden in unserem heimischen Sinn des Wortes sind den nordischen Völkern unbekannt, doch erinnere ich mich zweier Fälle, wo Rennthiere von Jägern in größerer Zahl verfolgt wurden.

Die eine Art und Weise habe ich gelegentlich der Tödtung der Rennthiere mit Benützung der Kajeks auf den Inland-Teichen schon erwähnt; die andere ist nur in speciellen durch die Landesverhältnisse möglich gemachten Fällen anwendbar. Ein Beispiel hiervon giebt Folgendes: Am Uebergangspunkte zum Hauptlande, nahe bei König Wilhelms-Land, liegt circa ¾ Meilen von diesem entfernt eine kleine Insel, die den Namen Itah (so viel wie Essen) hat und die in den Tagen der ersten Eisbildung schnell durch eine Brücke mit der Hauptinsel in Verbindung steht. Bei den Versuchen, die Meeresstraße zu kreuzen, kommen große Heerden oft auf die Insel und diese Zeit bildet dann eine reiche Ernte für die Netchilliks. Wie ein Lauffeuer dringt die Kunde durch die Ansiedlung und was da laufen kann, bewaffnet sich mit Bogen, Speeren, Messern und Stöcken. Die Eisbrücke wird besetzt und in Reih und Glied rückt die Colonne vor, auf die Insel zu, mit dem Bemühen, durch Schreien so viel Lärm als möglich zu machen, um die Rennthiere zu verwirren. Diese rennen zuerst auf der Insel herum, wagen dann aber, durch die Verfolger durchzubrechen und werden durch diese auf einen ihnen wohlbekannten Punkt gedrängt, dessen Eis nicht stark genug ist, um die Thiere zu tragen. Deren Durchbruch durch das Eis und eine gräßliche Confusion ist unseren Jägern der erwünschte Augenblick, um eines nach dem andern zu tödten und so auf leichte Weise der Beute in Masse habhaft zu werden.

Im Winter selbst bilden die Rennthiere nur selten das Jagdziel der Eskimos und für die Stämme, die, wie die Netchilliks zur Zeit unserer Ankunft, noch keine Feuerwaffen besaßen, ist die Zuhilfenahme von Fallen die einzig mögliche Fangweise. Zu diesem Zwecke werden in tiefe Schneebänke Gruben gegraben und mit einer dünnen Kruste aus Schneetafeln, die durch in's Wasser getauchten Schnee zusammengehalten werden, überdeckt. Um die Thiere auf die gefährliche Stelle zu locken, wird Hunde-Urin auf den Schnee der Umgebung und auf die Fallendecke geschüttet, dem die Rennthiere des Salzgehaltes wegen nachgehen. Durch die Decke brechen sie dann durch und werden auf diese Weise den Eingebornen zur Beute.

Mit dem 1. Oktober war die Eisdecke auf der Simpson-Straße so dick geworden, daß sie Menschen und Thiere tragen konnte, und die folgenden Tage sahen wir Heerde auf Heerde nach dem Hauptlande ziehen, um in weiter südlich gelegenen Landstrichen den Winter hindurch besseren Schutz gegen die nordischen Stürme zu finden. Jetzt blieb König Wilhelms-Land wie im vergangenen Winter nur ein ödes, alles Leben entbehrendes Schneefeld, dessen Bodengestaltung nicht einmal dem nordischen Wolfe zum Aufenthalt dienen konnte. Die Wölfe scheinen überhaupt den Uebergang über das Salzwasser-Eis nicht zu lieben, denn trotz der vielen Rennthiere, die doch auf dem Festlande stets Rudel von Wölfen im Gefolge haben, sahen wir während unseres ganzen Aufenthaltes auf der Insel nur ein Exemplar dieser Raubthiere.

Der Monat October sollte dazu dienen, die Bildung genügender Schnee- und Eiskrusten abzuwarten und den Eskimos Gelegenheit zu geben, für uns und sich aus den dicken Herbstfellen für einen Wintermarsch genügende Kleider anzufertigen, sowie die noch nöthigen Vorbereitungen für den Abmarsch zu treffen.

Etwa sieben Meilen von einander entfernt bezogen beide Partien ein permanentes Lager, das mit allem bei unseren Netchilliks möglichen Comfort eingerichtet wurde. Lieutenant Schwatka's Abtheilung baute sich in der Nähe eines großen Sees ein Eishaus, welches mit seinen Nebenbauten und den diese massenhaft umgebenden Felle und der großen Sammlung prachtvoller Rennthiergeweihe ein imposantes Aussehen hatte.

Dann und wann besuchten wir uns gegenseitig, doch daß der in solchen Gegenden nunmehr zwecklose Aufenthalt für uns Weiße kein Vergnügen war, brauche ich nicht erst zu sagen. Mit sichtlicher Zufriedenheit sahen wir den Schnee immer tiefer werden und dessen Tauglichkeit zur Schlittenfahrt sich täglich bessern. Die Stunde, wo wir unsere Heimreise würden antreten können, war uns erwünschter, je tiefer die Sonne sank und je kürzer die Stunden wurden, während welcher durch die kleinen Eisfenster unserer Schneehütten die spärlichen Sonnenstrahlen eine angenehme Abwechslung in ein seiner Unthätigkeit wegen doppelt unangenehmes Dasein brachten. Es war ein Leben ohne Zweck, ohne Erheiterung, ohne Bequemlichkeit; die langen Stunden schleppten sich wie eine Ewigkeit über uns hinweg, und nur selten war unser Schlaf von Träumen begleitet, deren angenehme Verwirklichung in noch so weiter Ferne stand.

Schwatka's Herbst-Residenz auf Wilhelms-Land.

Zu lesen gab es absolut gar nichts, der Conversationsstoff mit Melms, mit dem ich zusammen eine Schneehütte bewohnte, war längst schon erschöpft, und so beschäftigte ich mich in den wenigen Tagesstunden einzig und allein mit einer detaillirten Führung meiner Journale und der Ausführung meiner Skizzen. Aber auch diese Arbeit ging nur unter sehr ungünstigen Verhältnissen von Statten. War die Hütte einmal längere Zeit bewohnt und, wie es von Seite unserer nächsten Nachbarn, den Netchilliks, oft geschah, dicht mit Menschen gefüllt, so erhöhte sich die Temperatur über den Gefrierpunkt, die Schneedecke fing an zu schmelzen und das so erzeugte Wasser tropfte unaufhörlich auf mein Papier. Bei eintretender Abkühlung froren die Blätter meines Buches zusammen, und wenn ich wieder an die Arbeit wollte, mußte ich die Seiten erst durch Auflegen der warmen Hände aufthauen und von einander trennen.

Die in beiden Campirungsplätzen wohnenden Eingebornen hatten indessen vollauf zu thun. Mit der Verfertigung der Kleider waren Alt und Jung, Mann und Frau beschäftigt. Das Gerben der Häute, das Trocknen ausgeschlossen, durfte, der alten Sitte gemäß, erst beginnen, als die Rennthiere die Insel verließen und die Jagd ihr Ende nahm.

Das Gerben des Felles geschieht ohne jede Zuhilfenahme eines chemischen Präparates. Die Felle werden im abgezogenen Zustande aller Fleisch- und Fettbestandtheile entledigt und dann auf dem Schnee oder im Sommer auf den Moosgründen aufgespannt, mittelst Rennthierrippen befestigt und auf diese Weise in der Sonne getrocknet. Ist dieses geschehen, dann nehmen die Männer einen flachen Stein (Schiefer, wenn er zu bekommen ist) und kratzen vorsichtig den blut- oder fleischgefärbten ersten Hautbestandtheil ab. Nach dieser Arbeit wird die innere Seite des Felles mit lauwarmem Wasser befeuchtet und jenes in fest zusammengerolltem Zustande 24 Stunden liegen gelassen, um das Leder zu erweichen. Ein nochmaliges Kratzen mit dem Schulterblatte eines Rennthieres oder mit einem aus Eisenblech verfertigten Kratzeisen giebt dem Felle seine Weichheit und lichte Färbung und es geht nun zur Weiterverarbeitung in die Hände der Frauen über.

Eine von Eskimos bewohnte Hütte bietet zu dieser Jahreszeit im Innern ein Bild reger Thätigkeit. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend sitzen die Frauen und Mädchen mit der Nadel in der Hand vor den hellbrennenden Thranlampen und reihen emsig die feinen Fäden aneinander. Ihr Maßstock ist die Handlänge, ihre Kreide die Zähne, indem sie durch Eindrücke mit denselben die Linien markiren, und so diesen mit ihren halbrunden Ulus (eine Art Sattlermesser) folgend, das Zuschneiden besorgen. Die Kleinen spalten die Rennthiersehnen zum Nähen der Kleider, und nur von Zeit zu Zeit kommt die Arbeit in's Stocken, wenn die Hausfrau aus ihrer Vorrathskammer ein Stück Rennthierfleisch holt und es unter die Anwesenden vertheilt.

Hauptmahlzeiten hat der Eskimo blos zwei, Imbisse aber werden zu jeder Stunde des Tages und der Nacht eingenommen, und dem ihnen ungewohnten riesigen Ergebnissen der Herbstjagd wurde diesmal besonders fleißig zugesprochen.

Die Netchilliks fanden sich zum gemeinschaftlichen Mahle pünktlich und gerne bei unseren Eskimos ein, doch blieben sie auch unserer Hütte, wo es für sie keine Imbisse gab, nicht ferne. Von den umliegenden Ansiedlungen kamen sie theils auf Besuch, um ihre Neugierde zu befriedigen, theils brachten sie solche Gegenstände, die wir beim Antritte unserer Reise gebrauchen, zum Verkaufe. In meiner Verwahrung befand sich die Kiste mit Tauschmaterial und diese hatte für sie eine besondere Anziehungskraft. Im Handeln und in der Beobachtung ihres Zeitvertreibes fand ich eine erwünschte Beschäftigung. Schon im Sommer ist den Netchilliks von unserer Seite bedeutet worden, daß wir im Herbste allen Ueberfluß an Oel ihnen abkaufen werden. Dieses Anerbieten haben sich dieselben wohl gemerkt und den Sommer fleißig Seehunde gefangen. Der Thran wurde in Stücke geschnitten, in unverarbeitete Seehundsfelle gestopft und diese dann unter Steinen aufbewahrt. Acht solche volle Behälter lagen bereits in unseren Magazinen, und zum Ankaufe eines neunten begab ich mich mit Netchillik Joe auf das Hauptland.

Wie es selbst in civilisirten Ländern manchmal der Fall ist, so folgt auch beim Eskimos nach gemachtem Kaufe und Verkaufe eine kleine Mahlzeit. Es hat eine solche ihre interessanten, wenn auch nicht besonders gaumenreizenden Seiten, und ich will eine solche hier erzählen.

Auf ein ausgebreitetes Fell legt der Hausherr ein Stück halb gefrorenes Rennthierfleisch, das, je nach der Zahl der Gäste, im Gewichte von 10 bis 30 Pfund variirt, schneidet ein Stück ab und schiebt es dem neben ihm Sitzenden zu. Dieses Fleisch macht nun, indem Jeder davon ißt, die Runde, geht noch einmal und so lange herum, bis nur der blanke Knochen übrig bleibt. Die Frauen nehmen das gemeinschaftliche Mahl nur in Gesellschaft ihres Geschlechtes ein. Ein Unterschied existirt aber doch; bei den Frauen hat der Mund die Arbeit des Essens und Sprechens zugleich zu besorgen, indeß bei den Männern während des Essens eine feierliche Stille herrscht. Das Fleisch begleitet ein Alud (der schon bekannte Becher aus Moschusochsenhorn), mit Seehundsthran gefüllt, und dieser muß bis auf den Boden geleert werden. Erst nach beendetem Mahle beginnt das Gespräch. In der Conversation, auch wenn man der Sprache nicht so weit mächtig ist, um Alles zu verstehen, spiegelt sich der kalte, monotone, ganz dem Lande seines Aufenthaltes angepaßte Charakter des nordischen Bewohners. Er spricht seine Gedanken schnell aus, Frage und Antwort aber folgen nur langsam auf einander, und die ungemein tiefe Stimme, die den Eskimos des Netchillikstammes schon in der Jugend eigen ist, giebt dem Ganzen ein auffallendes, ernstes Gepräge.

Lebhafter ging es zu, wenn ich und Melms mit den Netchilliks verkehrten. Alle möglichen Gegenstände brachten sie uns zum Verkaufe, unter Anderem kamen auch interessante Reliquien zum Vorscheine. So erhielten wir z. B. einen Theil einer großen, aus nicht weniger als ⅓ Zoll starkem Stahlblech gemachten Eissäge, den oberen Theil eines Bootmastes ec., und sammelten, stets nach dem Fundorte fragend, Gegenstände von allen durch Franklin's und seiner Leute Untergang bekannt gewordenen Punkten.

Da wir die Sachen stets genau betrachteten, um uns von deren Echtheit zu überzeugen, wurden die Eskimos aufmerksam, und mit der Zeit entdeckten sie, daß der breite Pfeil der Königin von England, welcher jedem einzelnen Theile eines englischen Kriegsschiffes eingeprägt war, beim Ankaufe eine Rolle spielte.

Eines Tages kam der Hohepriester des Stammes, ein verschmitztes Individuum, zu uns und offerirte uns ein aus Kupfer verfertigtes, mit einer schön gearbeiteten knöchernen Handhabe versehenes Messer. Auch das Kupfer trug den breiten Pfeil, doch nicht eingeprägt, sondern eingekratzt, und der alte Ankut (die Bezeichnung für die priesterliche Würde) wunderte sich nicht wenig, als er zur Thüre hinausgewiesen wurde. Es war dies der einzige Fall, wo wir uns über einen Täuschungsversuch von Seite der Eingebornen beklagen konnten. Charakteristisch ist es, daß gerade der Ankut es war, der uns betrügen wollte.

Bei der Auffindung der ersten Reliquien der Franklin'schen Expedition durch die Eskimos war nach ihren Aussagen auch der Ankut betheiligt und fand eines Tages ein schön verziertes Pulverhorn. Er nahm den Fund mit nach Hause und begann den ihm unbekannten Gegenstand bei der Lampe näher zu besehen. Es ist leicht zu errathen, was geschah. Ein noch nie gehörter Krach und die Decke der Hütte flog in die Luft, des Hohenpriesters Gesicht aber wurde so verbrannt, daß er einen ganzen Monat nichts sehen konnte und, wie von seinen Stammesgenossen behauptet wird, ist er bis heute noch »nicht recht gescheidt«. So oft wir ihn auch schon aus der Hütte gewiesen hatten, er kam doch immer wieder, und wir mußten uns endlich seine unschuldige Zudringlichkeit um so eher gefallen lassen, als er bereitwilligst jeden erhaltenen Auftrag für den Preis eines kleinen Kaffeelöffels und einiger Nadeln pünktlich und gewissenhaft ausführte, und bei dem Stamme der Netchilliks, trotz seiner Albernheit, der Würde seines Amtes zufolge noch immer eine einflußreiche Persönlichkeit war.

Der, wie bereits erwähnt, sehr starke Stamm der Netchilliks ist durch seine Jagdgründe im Stande, im Sommer und Herbst Nahrung genug auszubringen, um den Winter hindurch, wo außer Fischfang durch das Eis keine besondere Jagdweise möglich ist, sorgenfrei zu leben. Ihre Rennthierfleisch-, getrockneten Salm- und bedeutenden Thranvorräthe machen eine besondere Anstrengung für sie den Winter hindurch nicht nothwendig, und es ist daher kein Wunder, wenn wir sie den ganzen Tag hindurch bei uns scheu mußten. Es gab nur ein Mittel, um sie los zu werden, und dieses brachten wir dann in Anwendung, wenn wir allein sein wollten. Melms oder ich brauchten dann nur unser Gewehr oder eine Pistole zu nehmen, um dieselbe scheinbar zu putzen. Die Katastrophe des Ankut hatte ihnen die Kraft des Pulvers bewiesen, und Alles, was mit diesem in Verbindung stand, war ihnen ein Dorn im Auge. Sie bewunderten die Kraft und Wirkung der Gewehre; selbst einen Probeschuß zu thun, dazu konnte man Keinen bewegen. Wenn ich in ihrer Begleitung, das Gewehr mit der Mündung nach vorne über die Achsel tragend, dieses zufällig so hielt, daß die Läufe nach dem Nebenmanne gerichtet waren, so baten sie mich sofort, die Tragweise desselben zu ändern, auch wenn ich noch so sehr versicherte, daß das Gewehr nicht geladen sei.

Zeitvertreib ist auch den Eskimos eine Nothwendigkeit, und die Netchilliks, selbst erwachsene, alte Männer, haben stets ein Geflecht von Rennthiersehnen bei sich, aus dem sie durch verschiedenartige Verknüpfung (wie dieses ähnlich auch bei uns noch hie und da als Kinderspiel bekannt ist) verschiedene figurale Verschlingungen hervorbringen, die sie dann, ihrer Phantasie freien Lauf lassend, nach verschiedenen Thieren benennen. Die auf Seite 139 befindlichen Figuren geben mit den dazu gesetzten Namen eine bildliche Erläuterung dieses Spieles. In der Geschwindigkeit der Ausführung der Fadenverschlingungen wetteifern die Leute, einander zu übertreffen, und finden auf diese unschuldige Weise ihren Spaß und eine Unterhaltung.

Zeltlager auf König Wilhelms-Land.

Unsere Besuche in Lieutenant Schwatka's Eishaus boten keine große Abwechslung, denn auch er und Gilder litten an demselben Uebel, wie wir, an geistiger und körperlicher Unthätigkeit. Schwatka hat in seinem nautischen Werke die Richtigkeit aller darin gegebenen Beispiele bereits nachgerechnet und Gilder studirte aus langer Weile in einem alten Herald-Kalender den Curs der amerikanischen Werthpapiere vom Jahre 1877. Eine kleine Abwechslung brachte ein furchtbarer Sturm, der uns durch drei Tage in den Schneemassen, die er daher trieb, zu begraben drohte. Jede halbe Stunde mußten wir den Eingang ausschaufeln, und um zur nächsten circa dreißig Fuß entfernten Hütte zu gelangen, mußte man eine genaue Ortskenntniß besitzen, denn sehen konnte man absolut gar nichts, und bedurfte seiner ganzen Kraft, um sich gegen den Wind aufrecht zu erhalten. Diese Schneestürme hatten aber auch ihre guten Seiten, denn ohne einen solchen hätten wir es nie zu Wege gebracht, im Interesse der Wissenschaft für das amerikanische National-Museum einen Eskimoschädel zu bekommen.

Schon während der Forschung an der nordwestlichen Küste hatten wir Gelegenheit, einen solchen zu finden, doch stemmte sich unser Schlittenführer sehr dagegen, denselben seiner Ladung beizugesellen. Erst nach langem Zureden gab er nach, doch mußte dieser Schädel stets die Schuld tragen, wenn irgend ein Mißgeschick den Schlittenführer oder uns betraf. Das Skelet des Lieutenant Irving konnte er anstandslos führen, den Schädel eines inuit (Eskimo) aber nicht, das verboten ihm seine religiösen Begriffe. Fehlte er einen Seehund bei der Jagd, oder konnte er keine Rennthiere erblicken, gab's schlechtes Wetter – dann war es der Schädel, der dies verschuldete; beim Aufbrechen des Eises hatte in erster Linie der mitgeführte Schädel die Schuld daran, so daß Lieutenant Schwatka endlich, einsehend, daß uns dieser Schädel noch manchen Verdruß bereiten würde, bevor wir denselben an Ort und Stelle brächten, Tulnak ganz freien Willen ließ, als dieser wiederholt fragte, ob er den Schädel abladen dürfe, so daß letzterer endlich zurückgelassen wurde.

Wir mußten daher einen Schädel so zu bekommen und so zu verwahren trachten, daß unsere Eskimos nichts davon erführen. Die Gelegenheit hierzu ergab sich eines Tages, als ich und Melms, in der Nähe unseres Campirungsplatzes planlos herumspazierend, ein Eskimograb trafen. Außer einem sehr gut erhaltenen Schädel befanden sich keine Gebeine darin, und vor demselben lagen, wie dies bei jeder Grabstätte der Eingebornen der Fall ist, einige Gegenstände, die er bei Lebzeiten gebraucht hatte. Gerade als wir uns den Fund näher betrachteten, erschien auch unser zudringlicher Bekannter, der Hohepriester, und machte uns begreiflich, daß wir den Schädel, der der eines Eingebornen ist, also nicht von den gestorbenen Kablunas (Weißen) stammt, nicht anrühren dürfen. Als wir ihm aber, gleichsam auf den Zahn fühlend, zu verstehen gaben, daß uns dessen Besitz angenehm wäre, und ihn frugen, was er dafür haben wolle – da sträubte sich der Alte, offerirte uns gerne die übrigen nebenliegenden Gegenstände, aber den Schädel könnte er uns nicht verkaufen. Wir waren über das Resultat, theilweise auch über unsere zu große Aufrichtigkeit nicht sehr erfreut, doch der Schädel – mußte unser sein. Wir verließen mit dem Hohenpriester die Stelle – doch hatten wir uns dieselbe nach Schritten und Direction schon so eingeprägt, daß wir sie zu jeder Stunde bei Nacht und Nebel finden konnten.

Vierzehn Tage vergingen ohne ein besonderes Ereigniß, der Schädel blieb unter den Steinen, doch jedesmal, wenn ich und Melms auf eine halbe Meile in die Nähe desselben kamen, war uns der wachsame Ankut auf den Fersen. Von unserer Seite wurde er ebenso scharf beobachtet, ob er den Schädel nicht vielleicht an einen anderen Ort brachte, und wenn, wohin er ihn gab. Bei Nacht konnten wir unser Vorhaben nicht ausführen, da uns die Fußspuren verrathen haben würden, und erst, als es eines Tages anfing recht dicht zu schneien und zu stürmen, gelang es Melms, auf einem Umweg den Schädel zu holen und denselben, indem er ihn circa drei Meilen unter seinem Pelzrock am bloßen Leibe getragen, in unserer Schneehütte in sicherem Gewahrsam unterzubringen. Der fallende Schnee hatte seine Fußspuren sogleich verdeckt und der ganze Vorfall blieb sowohl dem Hohenpriester, als auch unseren Eingebornen, die den Schädel nun Tag für Tag auf dem Schlitten führten, unbekannt.

In den letzten Octobertagen endlich ging Tuluak in Begleitung einer Frau mit einem Hundegespann nach Terror-Bai, um die dortselbst zurückgelassenen Gegenstände zu holen. Er legte den Weg hin und retour, etliche 110 Meilen, in vier Tagen zurück und erlegte gelegentlich drei Eisbären. Diese hatten sich gerade nach ihrer Art amüsirt, als sie der ihnen im vollen Lauf nachspringenden Hundeschaar ansichtig wurden. Ihr erstes Ziel war eine in ihrer Nähe befindliche offene Stelle Seewasser, doch hatten sie dieselbe kaum erreicht, als Tuluak mit wohlgezielten fünf Schüssen einen nach dem anderen traf und tödtete. Der unangenehmste Theil der Arbeit mag für die zwei Personen wohl der gewesen sein, die bereits im Wasser verendeten, nach den Fellen zu urtheilen, 800 – 1000 Pfund per Stück wiegenden Thiere mit Hilfe der Hunde herauszuziehen. Einem Tuluak war – außer dem Führen eines Eskimoschädels natürlich, nichts unmöglich.

 

Uebersichtstafel der Temperatur-Verhältnisse vom 1. April bis 31. October 1879.

  Temperatur in Graden (nach Celsius)
Monat Durchschnitt für Beobachtung im Schatten
  den ganzen
Monat
die erste
Hälfte des Monats
die zweite
Hälfte des Monats
höchste niedrigste
April -14 -19 -10 0 -35
Mai -8 -9 -7 +6 -18
Juni 0 -2 +2 +15 -10
Juli*
August*
September -6 -3 -9 +6 -20
Oktober -17 -12 -22 -4 -39

* In Folge des Verlustes unseres Thermometers auf König Wilhelms-Land mußte durch diese beiden Monate [Juli, August] die Notirung der Temperatur unterbleiben.


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