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Der Spiegel

Es ist Gottes Ehre, eine Sache verbergen; aber der Könige Ehre ist's, eine Sache erforschen. Der Himmel ist hoch und die Erde tief; aber der Könige Herz ist unerforschlich.

Die Bibel

Wo waren noch milde Feiern des Abschieds? Wo blieb dem König noch die Rundung des Werkes gewährt? Die Leidensfurchen seines zerquälten Gesichtes gaben kaum noch ein Lächeln her, als der König, gedunsenen und gebrochenen Leibes, gezeichnet mit allen Leidensmalen der Königspsalmen, aber sorgsam gekleidet wie je, auf den letzten Festen und Paraden seiner wenigen Getreuen erschien, denen beizuwohnen er versprochen hatte. Denen, die ihn sahen, war es erschreckend und gespenstisch, daß er noch immer wieder einmal sich unter den Menschen zeigte: ein Gichtbrüchiger und Wassersüchtiger. Vier seiner Riesen hoben ihn aufs Pferd; acht Jägerburschen fuhren seinen Rollstuhl oder trugen den leidenden Koloß in seiner Sänfte. Die Türen der Portechaise mußten offenbleiben, um den geschwollenen Füßen Raum zu geben. Da drängte sich, zu seinem Zorn, sehr viel Volk herbei, sein hilfloses Leiden zu sehen. Man sagte dem König: Aus Freude! Aus Liebe! Aber er haßte die erbarmungslose Neugier und wußte, daß man ihn nicht liebte. Sie hatten seinen Festen und seiner Milde nicht geglaubt. Er war ihnen der Menschenquäler geblieben; er war es wieder geworden darüber, daß er die tiefste Ferne des Geschöpfes vom Schöpfer, den Zerfall des Leibes, durchlitt. Von diesem König mußte ganz erfahren werden, was der Mensch ist, bis tief ins Kreatürliche hinab. Es mußte durchlitten sein bis ins letzte, bis in Verwesung und Erniedrigung, daß Gott sich seinen Knechten nur zu offenbaren vermag, indem er ihnen weist, was der Mensch ist ohne das göttliche Leben in ihm. So tief ist der Fall des Geschöpfes.

In diesem Hinsterben des Leibes kehrten unsägliche Qualen immer gedrängter, immer gehäufter wieder und mit ihnen die Hilflosigkeit, die Überreiztheit, die wehrlose Verwundbarkeit! Er, der rasend vor Schmerzen von Winkel zu Winkel hätte fliehen mögen, lag in den Rollstuhl gepfercht, ein Haufen schwammigen, brennenden Fleisches. Hier galt nicht mehr Gewöhnung. Hier hatte Ergebung keine Macht mehr. Fünf Jahre, seit er aus dem Rheinkrieg kam, litt der König entsetzlich. Er, der Lebendige, starb viele Tode. Er, der Furchtbare, erlebte an seinem reingehaltenen Leibe die Schauder der Verwesung. Er brach Blut und Eiter aus. Die Berliner Chirurgie hatte trotz ihres hohen Standes die Geschwulst seiner Beine in ohnmächtigen Operationen nicht öffnen können: nun aber waren sie aufgeplatzt, so daß man sie immer wieder in kleine Zuber stellen mußte, damit das Wasser aus ihnen abfloß. Aber die unheimliche, grauenvolle Schwellung des Leibes nahm dennoch nicht ab. Die Haut an den inneren Schenkeln löste sich und hing in Fetzen herunter. Der König konnte nur noch sitzend schlafen; er hatte einen Stuhl als Stütze im Bett. Die vielen Kissen genügten ihm noch nicht. Die furchtbaren, stechenden Stöße jeden Hustenanfalls bedeuteten Erstickungsgefahr. Das Gesicht war blaurot gesprenkelt. Die Schläfenadern wirkten brüchig und geschwollen. Die Finger wurden krumm, und er konnte dem Freund in Dessau nicht mehr schreiben. Was er aber befahl, war manchmal nur noch ein stöhnendes Brüllen. Was half es, daß er in der Züchtigung durch seine Leiden eine Gnade Gottes erkannte: Gott wollte ihm seine Schwäche und Sterblichkeit erinnerlich machen und ihm Zeit lassen, sich für die ewigen Wohnungen zu bereiten!? Solches rang der Herr sich ab – doch dann waren die Diener ungeschickt in der Bedienung des Rollstuhls; oft hatten sie auch heimliche Gegenorder, den König nicht dorthin zu fahren, wohin er gefahren sein wollte; die Ärzte verwehrten es. Manche Diener waren aber auch von den Gesandten bestochen, den König zu reizen, damit man brauchbares Material für seinen despotischen Wahnsinn für die Gesandtschaftsberichte erhielte. Der Wehrlose sah in einem wie dem anderen nur die Quälerei, die Unbotmäßigkeit, die Verschwörung, das Mißtrauen, die sein verlöschendes, sich hinquälendes Leben bedrohten. Das Furchtbarste seines Wesens war wieder in ihm aufgebrochen. Acht Jahre lang, seit er ohne den Sohn von ihrer großen Reise zurückkam, hatte er niemand angerührt, den widerspenstigsten Stallburschen nicht, geschweige denn eines seiner Kinder! Jetzt ließ er sich teuflisch an den Ständer fahren, in dem seine Stöcke standen; er riß den ersten heraus; er schlug auf den Diener ein. Auch hatte er Pistolen neben sich. Er lud sie mit Salz und schoß das Salz einem Pikeur in den prallen, kerngesunden Schenkel, damit der Ungeschickte, Unbedachte, der durchaus nicht lernen wollte, ihn zu heben und zu fahren, ein einziges Mal in seinem festen, unversehrten Fleische etwas von dem glühenden, stechenden, reißenden Fieber verspürte, das seinem Herrn den ganzen Leib zermarterte.

Dem Jäger Wachs, dem solches geschah, trug es eine gute Försterstelle ein. – Aber mancher seiner Diener begann jetzt dem Herrn gegenüber eine geradezu ungeheuerliche Sprache zu reden. »Das also«, hob einer an, »ist jetzt der Lohn meiner langen Dienste. Wenn wir den Strick verdient haben – wie es nach der Behandlung, die Sie uns angedeihen lassen, scheint – warum lassen Eure Majestät uns nicht vor Ihrem Tode hängen? Sie hätten dann das Vergnügen, es zu sehen, und wir wären befreit von dem härtesten und undankbarsten Herrn, der auf Erden lebt.«

»Ich bin in der Welt zu nichts mehr nütze«, stöhnte der König in seinen Martern und Erniedrigungen, »ich bin nur noch meinen Domestiken zur Last.« So nannte er sich eine Last der Domestiken: und war doch immer darum gefürchtet gewesen, daß man niemals einem seiner Bedienten auch nur mit einem hochfahrenden Worte zu nahe treten durfte! So klagte jener König sich an, der mit Vorliebe seine Domestiken malte, forschend, ob ihm unter ihnen die treueren seiner Diener begegneten, weil die Treue noch rarer war als das Menschenfleisch. –

Er war so zerquält und überreizt, daß er die vom Ersten Leibarzt verordneten Pulver nicht nehmen wollte, weil er fürchtete, man wolle ihn vergiften. Der Diener, der sie auf den Löffel schüttete, mußte sie vor seinen Augen erst kosten. –

Aber die letzten Abgründe der Erniedrigungen waren noch immer nicht durchmessen. Wurden sie es in jener Stunde, da er auch nach seinem Leibarzt schlug und die Königin an sein Bett trat, die Lippen für alle verschwiegenen Worte des Hasses zu lösen, nun, da der Anlaß gefunden war und es im Namen der Gerechtigkeit geschah? Bleich und bebend vor Empörung, aber in der ganzen Sicherheit, die ihre üppige Gesundheit ihr gegenüber dem Siechen verlieh, trat sie zu Füßen seines Bettes. Böse und schnell redete sie die vergiftenden Worte in ihrem gläsernen Französisch hin: »Tout le monde l'abandonnerait pour le laisser mourir dans ses ordures ou qu'on le mettait à la chaîne comme un enragé –«. Wenn er sich nicht zu mäßigen verstände, so werde alle Welt ihn verlassen, um ihn in seinem Unrat verfaulen zu lassen; oder man werde ihn an die Kette legen wie einen Wahnsinnigen. –

Darüber fing der Kranke an zu weinen, ward kleinlaut und lag ruhig: von Zornesausbrüchen erschöpft und von Reue gepeinigt! Er wußte, daß er nun abermals als wahnsinnig galt. Er hielt die Menschen jetzt so ängstlich von sich fern, daß ungerufen überhaupt niemand mehr zu ihm kommen durfte; beim Anblick bestimmter Personen hatten sich seine Schmerzen endlich gar verschlimmert. Nun hatten sich, seit die Leidener Zeitung immer wieder vom Tode des Königs und dem unmittelbar bevorstehenden Regierungswechsel schrieb, wieder viele Diplomaten in die gelehrte Tabaksrunde des Königs gedrängt. Da begrenzte der Herr die Zahl der Mitglieder auf drei oder vier. Er brachte seine Abende damit zu, mit einem Bürgermeister, der früher ein Bedienter gewesen war, und einem Glaser, der ein närrischer Kauz war, sowie seinem Herrn Astralikus zu sprechen, der ihm Horoskope zuleitete: in ihnen wurde zu Berlin der Tod des Königs auf die Stunde errechnet, und es war vorausgesagt, wie an dem Abend seines Todes auf den Straßen seiner Hauptstadt fremde Menschen einander küssen und umarmen würden.

Einmal noch hatte der Herr Tabagie gehalten, weil Friedrich von Rheinsberg gemeldet war; und gerade diese Stunde sollte ihn so hart ankommen wie keine andere zuvor. Den höfischeren und anspruchsvolleren Gepflogenheiten des Thronfolgers Rechnung tragend, erhoben sich bei Friedrichs Ankunft die, welche aus jeder »letzten Begegnung« zwischen Vater und Sohn Gewinn für sich selbst zu erpressen gedachten. Und aufzustehen war in der Tabagie bei dem Eintritt des Herrn noch niemals Sitte gewesen. Der König ließ sich auf der Stelle in sein Zimmer fahren. Er sagte nur: »Ich lebe noch. Betet die aufgehende Sonne nicht zu frühe an.« So furchtbar war er getroffen. Die Heiducken vor den Königszimmern hatten den Besuchern nur zu sagen: »Kein Zutritt.«

 

So hatte über den Idyllen und Eremitagen von Wusterhausen und Rheinsberg doch nur unermeßliches Leiden gelastet?

Vater und Sohn litten unsäglich darunter, daß ihre Würde zum Gespött zu werden begann. Der König, der nun König Griesgram hieß, verwand es nicht, weil er nur noch ein Siecher war und vielen als irrsinnig galt. Der Kronprinz, der zu »Leuchteprinz« erhoben war, ertrug es nicht, dauernd den Fuß auf die Stufen des Thrones setzen und wieder herabnehmen zu müssen, gehöhnt als »Sire« und »Majestät« und »Bürgermeister von Berlin«, der zu frühe zu kommen geruhte. Hundertmal, angesichts eines Erdteiles, war der gewaltige, schwere Augenblick der Thronbesteigung schon durchlebt. Und der Thron stand zu lange bereit, wie Gruft und Sarg des Vaters zu lange schon des Vaters harrten. Der Gefangene von Küstrin, der von seinem Vater einmal mit dem Großen Kurfürsten verglichen worden war, hatte anders als andere Königssöhne um seine Würde zu kämpfen, und es war angesichts des Erlittenen zu wenig, daß der Vater ihm Bezirk um Bezirk seiner Herrschaft wies, angefangen damit, daß Friedrich als künftiges Familienoberhaupt die vom Vater für die Brüder erworbenen Güter besichtigen und über die Ehe der Schwester von Brandenburg-Schwedt wachen mußte an des Vaters Statt.

Es waren auch weiterhin keine Briefe von Rheinsberg in die Welt gegangen – doch wurden zu viele Briefe nach Rheinsberg gerichtet und vor allem immer wieder jener eine, gleiche: Der König liegt im Sterben. Der Kronprinz soll kommen. – Fünf Jahre hindurch, in immer kürzeren Abständen, traf dieser Brief auf Rheinsberg ein und war dem jungen Fürsten angesichts des Siechtums seines Vaters zum besonderen Schicksal geworden. Es kann nicht sein, daß einer sich immer wieder auf die Reise macht, um König zu werden, und stets noch einmal in die Eremitage zurückgewiesen wird, nur, um des neuen Rufes, König zu werden, zu harren. Am wenigsten vermochte es der zu ertragen, dem von Kindheit an das Königsamt in seiner ganzen Schwere gepredigt, wahrhaft gepredigt worden war! Was war nun noch Flucht vor der Größe des Amtes, was ungeduldige Bereitschaft? Immer wieder geschah das »Wunder der Genesung« – und immer wieder waren Erben Grumbkowschen Geistes da, die ihre Zukunft auf die Reizbarkeit des nur zu immer größeren Leiden Genesenden bauten. Wie einst König Ragotins Diebsburg am Styx, das alte Jagdkastell von Wusterhausen mit seinen dicken, moosbewachsenen Mauern, durch die Briefe zerstört worden war, die aus seiner Königinnenstube und Prinzenkammer in die Welt ausgingen, so zerbarsten nun die attisch heiteren Säulengänge und Pfeilersäle von San Ildefonso durch Briefe, die in seine umhegten Gartenmauern eindrangen. Es war wie eine völlige Vergeltung, obwohl der Vater sie nicht übte! Und wie der Vater es aufs qualvollste durchlitt, daß Könige vermögen müssen, mehr zu sündigen als andere Menschen, so erfuhr der Sohn aufs härteste, daß Könige auch völliger sühnen müssen als andere Schuldbeladene. »Könige müssen mehr leiden können als andere Menschen«, hatte der Vater gesagt. Könige leiden aber auch rascher, verwundbarer als andere Menschen, leiden und fehlen am ehesten und schwersten aneinander. Auf Rheinsberg, dem um den Preis von Hoenslardyck erkauften San Ildefonso, war das gleiche Maß unerträglicher Pein noch einmal durchlebt, durch das einst Wusterhausen für König Ragotin zur Hölle wurde.

Wie aber, wenn in alledem noch einem anderen Gesetze Genüge zu tun war als dem Gesetz ›Des Königs von Preußen‹? Konnten die Könige nicht zu der Vollendung ihrer Würde gelangen, ehe nicht auch der – verletzten Majestät des Vaterherzens genügt war und der Sohn nun Stück um Stück das Herz wieder heilte, das er einst zerstörte; genauso Stück um Stück, wie der Vater ihm Bezirk um Bezirk die Bereiche seiner künftigen Herrschaft wies? Mußte die Seele des Sohnes sich erst so völlig mit dem Vater erfüllen, wie einst dem Herzen des Vaters alle Welten versanken und nur noch der eine war: das ganze Schicksal und alle Leere und Fülle des Lebens umschließend!? Mußte der Sohn erst um den Vater werben und leiden, wie einst der Vater um den Sohn geworben und gelitten hatte? Mußte es geschehen, Jahr um Jahr, und blieb nicht eines davon erlassen? War dieses alles erst zu vollbringen, bis endlich der Sohn den Vater in die Arme schließen durfte, so wie ihn der Vater an jenem Geburtstagsmorgen zu Küstrin umfing – in einer Umarmung, die der zu Küstrin an Tiefe und an Schwere völlig gleichkam? Waren auf San Ildefonso noch alle Leiden der Sohnschaft zu Ende zu tragen wie vordem die Leiden des Vatertums auf der Diebsburg am Styx? Friedrich hat den ihm auferlegten Kampf um und nicht gegen den Vater geführt, fünf Jahre lang.

Endlich war der Kronprinz schwer erkrankt. Die Krankheit war von solcher Art, wie in jungen Jahren auch des Vaters Krankheiten gewesen waren: jäh, erschreckend, verzehrend und unbenennbar, wenn sie wie ein Sturm verflogen waren! Aller Fleiß, der nicht unmittelbar dem Königswerk galt, war ihm nun zum Müßiggang geworden, der endlich fast zur tödlichen Krankheit führte. Ach, über die Seligkeit des Augenblicks, mit dem Leuchteprinz zu geizen gedachte! Ach, über das glückliche Dasein im Dunkel, dessen drohenden Verlust er einst so beklagte! Ach, über die liebliche Zuflucht, an die er sich immer wieder klammerte! San Ildefonso, Remusberg, Sanssouci war zur ärgeren Gefangenschaft geworden, als das Exil des fleißigen Auskultators von Küstrin jemals gewesen war! Bitter, angstvoll, friedlos hatte der Kronprinz es wie ein ferner Dritter verfolgt, wie der König auf Wusterhausen malte und er, der Thronfolger, auf Rheinsberg Gärten pflanzte, meditierte und studierte – wenn auch preußische Politik der Zukunft! Die Soldaten lebten wie die Musensöhne an der Alma mater. Und die Beamten wurden getragen, gehalten und bewegt von der restlos durchdachten und lückenlos ineinandergefügten Maschinerie ihres Dienstes. Aber das Land erzitterte von dem Zerfall und der Verwirrung des Heiligen Römischen Reiches, und über dem Erdteil bebte die Drohung des unabwendbaren Krieges aller seiner Völker. Stand der Thron ›Des Königs von Preußen‹ verlassen? Mußte der Sohn darüber noch einmal den Vater verlieren? Sollten die Leiden all der Jahre durchgestrichen sein: ohne ein Ergebnis, ohne Frucht, ohne Sinn?! Es war, als sollte er es lernen bis zum Äußersten, des Königseins müde zu werden noch vor dem Beginn. Der tödlichen Lähmung zu entgehen, gab es nur das eine: den völligen Verzicht, die gänzliche Abkehr vom Throne, den Abschied selbst als Offizier. Vielleicht, wenn er nur noch der Sohn war, vielleicht war dann alles erfüllt. –

Als er zu Ruppin genesen war und nach Rheinsberg hinüberfuhr, verlangte der Kronprinz leidenschaftlicher denn je danach, für immer in Rheinsberg bleiben zu dürfen. Er trieb ungewöhnlich ungeduldig zur Eile an: Nach Rheinsberg! Nach Rheinsberg – auch wenn es nicht mehr Sanssouci, Remusberg, San Ildefonso war, sondern eben nur ein all seines Zaubers beraubtes märkisches Landgut – wie Cossenblath vielleicht. – So völlig war die Flucht: vergleichbar nur jener, mit der sein Vater einst vor den sieben Kirchen Brandenburgs floh.

Aber Gott findet, den er sucht.

Der Wagen des Kronprinzen wurde aufgehalten. An der Poststation wußten sie es schon. Auch hatten sich Bauernburschen aus dem Dorf mehrere Leiterwagen mit Neugierigen aus dem Dorfe vollgeladen und sich nach Rheinsberg aufgemacht; und Einsichtigere, Umsichtigere waren mit Tonnen und Pferdeeimern hinübergefahren. Rheinsberg brannte!

Die ganze Ortschaft sollte schon in Flammen stehen. Kaum vermochte die kronprinzliche Kutsche durch den Marktflecken zum Schlosse vorzudringen. Ängstlich brüllendes Vieh, aus brennenden Ställen getrieben, und Karren mit geretteter Habe versperrten den Weg. Was mit dem Schlosse war, ließ sich auch dicht davor noch nicht erkennen. Selbst aus dem See schien roter Qualm aufzusteigen. Wie Brandfackeln wogten das Schilf und die Binsen. Die aufgeregten Leute rings vermochten nicht Auskunft zu geben. Sie wischten sich den rußigen Schweiß vom Gesicht, wenn ihr Eimer in den Brand gegossen war, und hetzten gleich wieder hinunter zum See, neues Wasser herbeizuschleppen. Und weil nun die Pferde zu scheuen drohten und wieder zurückgeführt werden mußten, lief der Kronprinz, dem Wagen woraus, über den Triangelplatz zum Schloß hin. Die Gesellschaft stürzte ihm schon entgegen. Sie warteten schon alle in der Halle. Sämtlich waren sie wie zur Reise angekleidet. Im Hof war ein riesiger Berg von Kisten, Säcken, Koffern, Truhen, Beuteln aufgestapelt und mit nassen Wagenplanen überdeckt. Alles war zum Aufbruch fertig. So lange toste der Brand schon um das Schloß, daß man alles vorbereiten konnte. Der Park war der Vernichtung preisgegeben. Zwischen erfrorenen Weinstöcken und Taxusbäumen hatten sie die Wagen aus den Remisen aufgefahren und spannten nun die Pferde ein. Durch das Flammenmeer der Ortschaft war keine Ausfahrt mehr möglich. Der goldgelbe Pfingstvogel, von dem Brande aufgescheucht, stieß mit hellem, scharfem, streitendem Ruf durch die grell beleuchteten Kronen der Bäume, die im Mai noch winterlich kahl standen.

Später holte man dann die Kasten und Bündel wieder in das Schloß zurück. Das war gewiß: auf das Schloß würde das Feuer nun nicht mehr übergreifen. Die Ortschaft war freilich verloren. Der Kronprinz hielt sich noch an zwei Stunden bei den Brandplätzen auf, er hatte nur die Begleitung einiger weniger geduldet. Die übrigen traf er dann in der Bibliothek. Dort nahm man nun nach all dem Schreck und der Hast noch spät am Abend einen Kaffee. In Reisekleidern saßen sie alle auf goldenen Sesseln umher. Auf Angst, Verwirrung und erregte Spannung war übernächtige Heiterkeit gefolgt. Sie plapperten und lachten unverständlich durcheinander. Einige fanden jedoch schon weder die passendsten antikischen Vergleiche. Dem einzigen Gotte, dem man auf dem Remusberg noch nicht geopfert habe, Vulkanus, werde nun das größte Freudenfest gefeiert. Und wie der Vogel Phönix aus der Asche, werde Remusberg in dem nahen goldenen Zeitalter des neuen Königs herrlicher erstehen denn je zuvor: Königsstadt der lichten Zukunft!

Die Kronprinzessin blieb still inmitten der Lärmenden. Einen Augenblick in all dem Schwatzen, all dem Scherzen sahen Friedrich und Elisabeth Christine einander an, und es war, als begegneten sich ihre Blicke in ihrer Ehe zum ersten Male. Auch wenn das lichte Schloß, von Ruß geschwärzt, inmitten der rauchenden Träummer und glimmenden Balken und stürzenden Mauern noch unversehrt stand – zerstört war Sanssouci, Remusberg, San Ildefonso, das dem Kronprinzen einmal die bergende Flucht, der Kronprinzessin die sanfte, wärmende Nähe vorgetäuscht hatte und ihr im Orden von Remusberg den milden Trug gemeinsamen Namens vergönnte: Constanz und Constanze.

So hatten sich doch nur Höflinge statt der Ritter und Damen vom Wahren Ritter- und Menschenorden um sie geschart? So war den Gefährten ihrer Studien Rheinsberg doch nur – Monbijou gewesen? Elisabeth Christine aber hatte auf Rheinsberg nun Wusterhausen verstehen gelernt und war in ungeahnter Schwere und Tiefe des Herrn Vaters Frau Tochter geworden; sie hatte begriffen, daß die in den Leiden von Wusterhausen und San Ildefonso Geprüften einsam bleiben mußten. Der Tag, der sie Königin nannte, würde den Untergang ihres Reiches besiegeln.

Schweren Blickes, als wäre sie Herrn Friedrich Wilhelms Kind, ließ sie die Augen über den mondbeglänzten See unter den hohen Fenstern der Bibliothek hinschweifen. Verkohlte Balken schwammen darin, und der Ruß war wie ein giftiger Tau ins Schilf und den letzten Schnee der Uferränder geweht. Noch ehe der Schutt, die Asche, das ausgebrannte Dachgebälk weggeräumt und neue Hölzer, neue Ziegel angefahren werden konnten, mußte unabwendbar gewiß der letzte Bote sein Pferd durch die niedergetretenen Gärten an das Schloßtor führen und nach dem König und der Königin von Preußen verlangen.

 

Am Himmelfahrtstage hatte der König von dem Brand von Rheinsberg erfahren. Er erwähnte aber in dem Schreiben, das er nun an seinen Sohn aufsetzen ließ, merkwürdigerweise nichts davon. Der Sohn sollte nun nach Potsdam kommen und in Potsdam bleiben: das war alles.

Gott hatte im Zeichen geredet. Gott duldete das Bild. Gleich dem Zeiger der Sonnenuhr, der vom Himmel selbst bewegt wird, wies es die Stunde. Stand nicht das Pfingstfest vor der Tür? Zum Feste des Heiligen Geistes sollte Friedrich kommen, wie er längst schon versprach!

Aber inzwischen war der Sohn sehr krank gewesen; und die Gedanken des Königs hatten sich in einem Kreise des Grauens gefangen und bis zur Erschöpfung ihr Gefängnis durchrast; die Arzneien aber taten seit der Krankheitsbotschaft aus Ruppin beim König keine Wirkung mehr. Wenn die Nachtwache ging, arbeitete er gleich mit seinen Sekretären und nahm von den Meldungen, die von Friedrichs Genesung sprachen, mit keinem Worte Kenntnis. Doch mußte er nun König sein bis zum Ende, so wollte er sich vergönnen, sein Amt in Potsdam zu Ende zu tragen, der Stadt, darin das Bild von Hoenslardyck entstand. –

Die Nächte bis zu jenem Morgen, da der Sohn – genesen, wirklich genesen – kommen würde, waren noch schwerer als all die anderen langen Nächte der vergangenen Jahre. Drei seiner ältesten, klügsten, gebildetsten Offiziere – kleine, graue Männer, von denen einer gar ein Akademiker war und großen Anteil an den Universitätsreformen des Königs nahm – mußten nun wieder von der Dämmerung an bei ihm sitzen, obwohl zwei von ihnen ihre Regimenter droben im Ostlande hatten. Er gab sie nicht her. Es war, als nähme er sich für dieses eine Mal in seinem Leben das Recht heraus, zwei seiner Offiziere dem Dienst für ›Den König von Preußen‹ fernzuhalten. Es würde ja nicht mehr für lange Zeit sein. Der dritte, Buddenbrock, war jener General, der einst Des Königs Sohn Friedrich vom Orte der Gefangennahme zu der Stätte des Gerichtes eskortierte.

Auch am späten Abend hielten sich die drei alten Offiziere im Vorzimmer weiter für den Herrn bereit. Aber er dankte ihnen artig. Doch sagte er danach fast leidenschaftlich erregt: »Nein, nein, nein, sie sollen nicht bleiben.« Denn kämen sie noch auf den Abend – er würde sie die ganze Nacht nicht von sich lassen. Er konnte gar nicht mehr allein sein. Es mußte immerzu an seinem Bett gesprochen werden, wenn er überhaupt ein wenig schlafen sollte; schwieg man, wachte er sogleich beängstigt auf. Aber zu solchem Nachtgespräch wollte der Herr die drei Getreuen und ihre frommen, klugen, tapferen Gedanken nicht mißbrauchen. Sobald die Kerzen angesteckt waren, ließ er die Jägerburschen rufen. Die waren jung und gesund, munter und vergnügt, und mochten sich wohl auch sonst einmal eine Nacht um die Ohren schlagen. Die Jägerburschen sollten ihm aus den Forsten, Gehegen und der Flintenkammer erzählen. Da machte dem Herrn auch die Antwort keine Mühe. Er spielte im Bett sein Solitärspiel, wie er jetzt manchmal tat, hörte zu, warf eine Frage, ein Lob, einen Tadel in ihre Berichte. Aber weil der Schlummer überhaupt nicht kommen wollte, verlangte der König nun sein altes Handwerkszeug vom Zaren Peter und begann noch einmal ein Kästchen zu zimmern.

Die letzten Menschen, die sehr spät die Straße zwischen dem Marstall und dem Neuen Markt am Schloß entlangkamen, hätten schon daran erkannt, daß der König wieder in seine Stadt heimgekehrt war. Sie hörten wieder sein Hämmern aus der Stube, in der das Licht nicht mehr erlosch. Gegen Morgen schlief der Herr, Holz und Feile und Hammer zwischen den gichtigen Fingern, ein. Draußen polterten schon die Wagen mit den Ziegeln und Brettern zu den Baustellen. Die übernächtigen Jägerburschen stürzten erschreckt ans Fenster und riefen den Fuhrleuten hinunter, sie möchten eine Umfahrt machen. Der König winkte vom Bette her. Er war aufgewacht. Er hatte alles gehört. Sie sollten die Leiter- und Kastenwagen ungehindert auf dem kürzesten Wege zu den Bauten fahren lassen. Das war sehr gut so, daß die Ziegelwagen am Schloß vorüberpolterten. Da konnte er schlafen. Das war sehr gut so.

 

Jede Frist schien ihm von ungeheurer Bedeutung; so Gewaltiges war noch hinausgeschoben. Als reise er dem Sohn entgegen, ließ er sich im Rollstuhl aus dem Schlosse fahren, Schritt für Schritt, den allen Leiden preisgegebenen Leib einer letzten Königsfahrt opfernd. Einst war der Herr zwanzig Meilen am Tage, am Ende aller seiner Landfahrt noch knapp vier Meilen gereist. Nun schoben sie ihn Fuß um Fuß.

Nach dem harten, langen Winter hatten erst so spät im Jahr, am Ende des Maies, nach einem ersten Frühlingsregen die Knospen kaum zu sprießen begonnen, und der Sand des Exerzierplatzes war von den Wasserfluten des Himmels so dunkel, als wäre er in schwere Ackererde verwandelt.

Die Jägerburschen sollten den Herrn auf dem Paradeplatz auf und ab fahren, zwischen den Schilderhäuschen und den jungen Bäumen am Rande, dem einzigen Schmuck des Exerzierfeldes. Die Ungeduld war wohl sehr groß und die Frage sehr bange, ob er den Sohn noch sehen werde. Pfingsten war noch zu weit: neun Tage!

Bitter nötig war, den Herrn zu beschäftigen. Und da ihn das Fahren nun wohl doch zu sehr erschütterte, stellte man den Rollstuhl auf der Schloßfreitreppe auf, so daß der Herr zum Marstall hinüberzusehen vermochte. Denn neben dem Marstall legten sie heute den Grundstein für ein neues Haus. Es wurde für einen Kurschmied gebaut, den sich der Herr für seine Garnison aus England verschrieb.

Wie er den letzten Bau anblickte: so fand der Kronprinz den König. Leise trat Friedrich aus der Tür. Er war im inneren Schloßhof am alten Fortunaportal vorgefahren, nicht an der Treppe, damit er den Kranken nicht störe. Sie hatten ihn durch die Königszimmer zu der Freitreppe geführt und gesagt: »Der König sieht dem Neubau zu. Die Lebensgeister flackern wieder auf –«, nachdem der Kronprinz gestern eine heimliche Stafette über das Verlöschen des Königs erhielt.

Den Prinzen durchzuckte es qualvoll. So sollte er sich abermals abwenden müssen, einem zerstörten Rheinsberg zu!

Einen Augenblick hielt er den Atem an.

Der dort saß und auf die Maurer blickte, war ein Hundertjähriger: unfaßlich, daß der sieche Greis erst zweiundfünfzig Jahre alt sein sollte! Ein Hundertjähriger war der Vater geworden. Seine Augen waren übergroß und überschwer von dem Ausdruck eines, der alles erlitten und vollbracht hat, was Menschen leiden und vollbringen können. Und noch mehr lag in der schweren Tiefe seiner Augen; jener fremde Blick, der sich an einen hielt, den keiner sah, als sähe er ihn. Der Hundertjährige dort schaute nicht mehr auf die Balken, die sie zusammentrugen zum neuen Gerüst, und auf die Ziegel, die sie zu schichten begannen. Der dort starb.

Erst allmählich wandte sich der König seinem Sohne zu. Seine Blicke füllten sich mit letztem Leben, letzter Nähe. Er streckte die Arme weit aus, hilflose, abgemagerte, zitternde Arme im zu weiten Rock: der Sohn war noch so fern! Friedrich stürzte auf den Vater zu, und das Gesicht des Vaters begann von aufsteigendem Weinen zu zucken. Er mühte sich sehr, sich zu dem Sohn zu erheben. Der neigte sich tief zu ihm herab. Sie hielten sich ganz nahe umschlungen, Herz an Herz, nur noch Liebende, nur noch Leidende: der verletzten Majestät des Vaterherzens war genügt. Sie sprachen nicht. Die Tränen des Sohnes fielen auf die Hände des Vaters, und er vermochte noch immer keine Worte zu finden; der dann das Schweigen brach, war der König. Denn auch die Ärzte und die Offiziere um den Rollstuhl waren verstummt.

»Es ist ein solcher Trost«, hauchte der König, und seine Stimme zitterte noch von verhaltenem Weinen, »nun bist du doch nicht erst zum Pfingstfest gekommen. Ich freue mich.«

Schon wieder mußte er nach Atem schöpfen. Solange er nicht weitersprechen konnte, tastete er immer wieder über die Hände des Sohnes. Und als ihm die Sprache nun wiederkehrte, nannte er ihn nur noch Fritzchen. Sie wollten ihn in seine Zimmer zurückfahren. Auf der Schwelle winkte er den anderen zu, sie möchten nun gehen. Er sah sich nach dem Sohne um, ob der auch noch an seiner Seite sei. Der Kronprinz spürte deutlich, daß der Kranke zögerte und überlegte. Er war sich unschlüssig, wen er, falls noch etwas zu recherchieren wäre, zu dieser letzten Unterredung hinzuziehen sollte. Er äußerte es dann vor dem Sohn. Es sollte einer sein, dem der Sohn nach seinem Tode das Vertrauen auch in den geheimsten Angelegenheiten schenken zu können glaubte. Sie wechselten nur wenige Worte. Das tat dem König wohl, daß nur so wenige Worte nötig waren. So fand der Kabinettsminister von Podewils auf den Wunsch des Königs und des Thronfolgers sich ein. Schweigend stand er neben ihnen, zwei Stunden lang. Es war beinahe unfaßbar, wie der König, von erstickenden Hustenanfällen geschüttelt, in solcher Anstrengung durchzuhalten vermochte. Noch gar niemals in seinem Leben hatte er eine so lange Rede gehalten, wie nun diese große politische Rechenschaftsablegung es wurde. Er nahm das Schwerste voraus, als dränge die Zeit; er erwähnte als erstes den Geheimvertrag mit dem Kardinal von Frankreich; er verteidigte den Traktat nicht; er begründete ihn und warnte vor den Gefahren, die auch aus diesem Bunde sich unabwendbar ergeben mußten. Jeder wichtige Umstand aus den letzten anderthalb Jahrzehnten, die seine Politik so von Grund aus verändert hatten, war ihm gegenwärtig. Er vergaß und übersah nicht einen. Er schärfte und weckte das Mißtrauen des Sohnes selbst noch gegen die letzte Lösung, die er fand, die ultima ratio des Hauses Brandenburg. Dreimal wiederholte er die hundertfach durchlittenen Worte: »Die Hände freihalten!«

Der Gichtbrüchige, der Wassersüchtige, der Taube, der Lahme, der Hundertjährige ging nun, rasselnden Atems, die einzelnen Mächte durch. Er hatte ein in ungezählten Demütigungen, Enttäuschungen, Verzweiflungen, Wagnissen und Gebeten geläutertes Programm der Staatskunst für den Sohn bereit, das alle umfaßte: das Land und das Reich, Frankreich, England, Rußland, Schweden, die Niederlande, Spanien; die Völker, die Fürsten, die Heerführer, die Staatsmänner. Als er von den Generalstaaten sprach, tat er es mit holländischen Worten; als guter Freund und Nachbar solle Preußen mit ihnen leben.

Mit keiner Silbe gedachte er aber des unleugbaren Triumphes, der ihm doch zuteil geworden war: denn er sah den stolzen Wiener Hof aufs tiefste gedemütigt, Rußland mit Polen zerfallen und von Schweden gefährdet, England ohne Bundesgenossen mit Spanien und Frankreich im Kriege, die einst so hochfahrenden Niederlande in ratloser Neutralität. All dieses erwähnte er vor dem Sohne nicht. Nur verhieß er ihm, was er sich selbst stets versagte: »Ihr werdet in Europa die Balance halten können. Von Euch hängt es ab. Betet zu Gott. Denn in geweihter Sache wird Gott Euch gewiß segnen.«

Immer, wenn er den Blick verzehrend und beschwörend auf den Thronfolger heftete, war nichts mehr in seinen Augen als die bange Frage nach den ersten Worten des Sohnes. Die Stunde des irdischen Urteilsspruches hatte geschlagen. Welche Zukunft mußten ihm die ersten Worte des Sohnes erschließen! Keine Schmerzen, kein Verfall nahmen dem Kranken auch nur für einen Augenblick das Bewußtsein für die Bedeutung jener Antwort des künftigen Königs.

In Friedrich war nur ein Gefühl der Verachtung und Bitterkeit über seine Sorge, Preußen erlahme und erstarre, der Vater gelte der Welt als unschlüssig, unzuverlässig und ungefährlich. Heimlich und sorgenvoll hatte er, indes der Vater im geheimen die diplomatischen Fronten veränderte, seine eigenen politischen Entwürfe ausgearbeitet, um keine Stunde des Handelns zu verlieren, sobald er selber König wäre. Aber so brach nun in diesen schweren Augenblicken dennoch eine ungeheure Freudigkeit in ihm durch. Eben weil er sich heimlich mit den Fragen des Staates so leidenschaftlich befaßte; eben weil er dauernd all die Zusammenhänge durchdachte, mit deren Zergliederung der Vater seine jagdlosen Herbstmonate hinbrachte, vermochte er ihm nun so knapp, so rasch, so gründlich, so bestätigend, so beruhigend zu antworten, ohne daß auch nur der Schatten einer Lüge darin war. Die Klugheit des Prinzen war nicht mehr stolz, war nicht mehr kühl: die festen, harten Worte wurden durchwärmt von seiner inneren Bewegung darüber, daß die Politik des Vaters unablässig lebendig geblieben war in all seinem Siechtum und die Stunde seiner Thronbesteigung für ihn vorbereitet hatte statt des stillen, abgekehrten Endes, nach dem der Vater sich sehnte. Über dem Fegefeuer und den Wandlungen von Rheinsberg war es seinem Herzen aufgegangen, wie entsetzlich schwer der Vater daran trug, daß ihm das Amt des Königs, das Amt »von Gottes Gnaden«, bereitet war vor der Geburt und keine Stunde vor dem gottgesetzten Ende wieder von ihm genommen werden konnte!

Sie hatten gelitten, was Könige an Königen und Väter und Söhne aneinander und füreinander leiden können; sie waren vollkommen Vater, Sohn und König geworden um den Preis so schweren Leidens.

So hat der Sohn nur wenige Worte zum Vater gesprochen; da endete der die lange Konferenz und entließ den Minister von Podewils, den »neuen Ilgen« des Hauses Brandenburg. Aber den Sohn hielt er zurück.

»Eins muß ich dir noch ganz allein anvertrauen«, flüsterte er.

Friedrich trat nahe zu dem Krankenstuhl des Vaters. Er gab sich die erdenklichste Mühe, dem Siechen in all diesen Anstrengungen eine erträglichere Lage zu bereiten. Bald strich er ihm eine Falte im Kopfkissen glatt, die den Kranken drückte; bald holte er neue Kissen herbei, den schwer um Atem Ringenden zu stützen. Aber das konnte der König noch gar nicht ertragen, daß sich der Sohn so zu ihm niederbeugte, so ihn ansah, so zu ihm sprach. Es regte ihn namenlos auf. Er konnte solche Liebe noch nicht fassen!

Aber in all seiner Bewegtheit begann er ihm nun doch sofort zu nennen, was noch auf ihm lastete. Er habe, sagte er, heute schon in aller Morgenfrühe die alten Werberechnungen und sämtliche Belege über den starken Bau von Potsdam ins Feuer werfen lassen. Ihm als dem künftigen König möchte er es anvertrauen, was nicht zu den Akten sollte, nämlich, daß es sich in seinem Leibregiment um einen Gesamtbetrag von zwölf Millionen Talern gehandelt habe, den Friedrich nun als das Menu plaisir seines Vorgängers betrachten müsse: eine Marotte, die der Unterhaltungskosten wegen ein Unglück sei. Der Bau werde ihm, dem neuen König, während seiner Regierungszeit immer wieder Kosten verursachen; das Leibregiment nicht mehr. Und damit sprach der König die Bestimmung aus, es sofort nach seinem Tode aufzulösen. Unter den ersten Maßnahmen eines neuen Königs werde dies aufsehenerregende Ereignis der Entlassung seiner Riesengarde ohne schädliche Nachwirkungen vor sich gehen können. Ein verständlicher point d'honneur habe ihn bis heute davor zurückgehalten, selbst zur Auflösung zu schreiten. Für den bürgerlichen Unterhalt der Grenadiere sei ja durch ihre Häuser, Handlungen, Schenken, Brauereien, durch ihre Posten als Torschreiber, Güterbeschauer, Steuerbeamte, Bürgermeister vollauf gesorgt. Unnachgiebig gegen seine eigene Schuld und seine Leiden fuhr der König fort, seit dem Rheinkrieg, seit er sich die Situation eines unmittelbar bevorstehenden Weltkampfes immer wieder mit aller Dringlichkeit und Deutlichkeit vorgestellt habe, wisse er, daß diese Riesentruppe die erforderliche Beweglichkeit nicht besitze. Auch hätten die Ergebnisse der an seine Professoren erteilten Forschungsaufträge zu dem einheitlichen Resultat geführt, daß die allgemein verbreitete Auffassung, ein besonders großer Mensch verfüge über außerordentliche Fähigkeiten, jeder Begründung in der Wirklichkeit ermangle. Der Sohn solle ihm mit keinerlei Beschönigungs- und Rechtfertigungsversuchen widersprechen, so wohlmeinend sie auch gedacht seien. Es sei alles zu genau geprüft und überlegt; auch werde der Sohn wohl schon längst diese seine Überzeugungen teilen. Der König sprach noch einmal ungeheuer lebhaft und gewandt, als helfe ihm diese Sicherheit am besten über die Schwere des Geständnisses und Verzichtes hinweg. Endlich schloß er: »Im übrigen hat es Zeiten gegeben, in denen es nicht unklug war, mich hinter der Narretei zu verbergen, daß ich in der Welt an nichts anderem Pläsier fände. Ich weiß sogar von Zeiten, in denen ein fremder Gesandter von mir sagte, daß meine Sucht nur durch künftige Anatomie erklärt werden könnte. Und ich habe solcher Zeiten, der Welt als irre zu gelten, bedurft: So schwer war der Weg.«

Danach berührte er diesen Punkt mit keinem Worte mehr. Er hatte sich dem irdischen Urteil in dem kommenden König unterworfen. Jahr um Jahr war es geschehen, daß er ihm Bezirk um Bezirk seiner künftigen Herrschaft zeigte: nun bat er ihn, den geliebtesten Bereich zu vernichten. Der König war dem König untertan.

Herr Friedrich Wilhelm schellte mit seiner kleinen Glocke einem Diener. Er ließ die Tür zum Vorzimmer öffnen, wo seine Herren nun schon die dritte Stunde warteten. Die sahen nun, indes die Flügeltüren aufgeschlagen wurden, wie der Kronprinz sich erhob, die Hand des Vaters küßte und mit Tränen bedeckte, so als hätten sie sich nicht diesen Morgen erst begrüßt und weinend umarmt. Aber nun bemerkte der König die Generale, die Minister, die Ärzte. Nun rief er es ihnen schon entgegen: »Mein Gott, ich sterbe zufrieden, da ich einen so würdigen Sohn und Nachfolger habe! Ach, tut mir Gott nicht große Gnade an, daß er mir einen solchen Sohn gegeben hat, der alle Gaben besitzt, um gut zu regieren? Gott hat mich zu einem glücklichen Herrscher gemacht. Über alle meine Vorfahren hat er mich an Macht und Vermögen erhoben, von Kindheit an mit nicht verdienten, unermeßlichen Wohltaten überschüttet – bis zu dieser Stunde! Nun habe ich mit meinem Sohn gesprochen! Nun habe ich auf dieser Welt gar nichts mehr zu tun.«

 

Die Nacht gehörte den Pastoren. Der Tag des irdischen Urteilsspruches verlangte nach der Nacht des himmlischen Gerichtes. Die Prediger der Garnisonskirche und des Leibregimentes, Cochius und Oesfeld, waren zum König entboten; und von allen Häusern, die an ihrem Wege lagen, hatte man den Geistlichen nachgeblickt, die auf die Nacht ans Krankenbett des Königs treten sollten.

Seines Propheten, der ihm einst gewährt war, beraubt und genötigt, den Dominikanerpater um des Ärgernisses der schwachen Seelen willen zu meiden, hatte der König nun diese beiden gerufen, ihm vorzubeten. Er hatte alle seine Gebete vergessen. Aber die neuen Pastoren, so sorgsam er sie auch wählte, waren ihm fremd.

Der dort vor den Geistlichen lag, begehrte nur noch ein Sünder zu sein. Die Prediger schwiegen über dem Büßer. Das quälte den König namenlos. Es war, als schwiege Gott. Er nahm das Schweigen für Gericht. Er begann alle Vergehungen seines Lebens laut zu beichten; aber sie verwiesen es ihm; die reformierte Kirche kenne keine Ohrenbeichte, vor allem nicht vor so viel Zeugen. Denn die drei alten, kleinen, klugen Offiziere weilten wieder bei dem König. Die Pastoren redeten nun kurze Ermahnungen, fromme Erhebungen des Herzens, Sprüche und Verse ihrer Trostbücher über den König hin und gemahnten ihn noch an die vergessenen Verfehlungen und Leidenschaften: die Bedrückung beim Bau; die Liebe zu Armee und Geld; die Verschärfung von Todesurteilen im Kriegsrat. Seine Sinnesänderung sei noch nicht geschehen.

Der König faßte Oesfelds Hand. Den kannte er ein wenig länger als Cochius. »Er schont meiner nicht!« sprach er. »Er spricht als ein guter Christ und ehrlicher Mann.«

Er begann sich bitter anzuklagen, daß er sich nicht mit seinem englischen Schwager versöhnen könne. Wenn er »recht tot« wäre, sollten sie den König von England seiner Versöhnlichkeit versichern. Er weile ja schon nahe, auf Schloß Herrenhausen, des Regierungswechsels in Preußen gewärtig. –

Aber noch in diesem bitteren Groll stöhnte König Friedrich Wilhelm auf, daß es den Königen verwehrt sei, umzukehren wie andere Sünder. Zermartert von dem alten, peinigenden Zwiespalt zwischen Privatmann und König, drang er in die Pastoren, sie sollten ihm sagen, was die Sünde sei, und ihn nicht mit einzelnen Vorhaltungen abfinden, vor denen er sich ebenso rechtfertigen wie ihnen zustimmen könne. Dies alles sei die Sünde nicht!

Sie nannten ihm nun viele theologische Deutungen, endlich auch diese: »Die Sünde besteht in der Unordnung.«

Der König schien ruhiger. Er nickte, obwohl es ihm sehr schwerfiel, seinen Kopf zu bewegen.

»Es ist wahr. Darin besteht die Verkehrtheit der Menschen. Ich danke Ihnen. Ich erkenne mehr und mehr, welch großer Sünder ich bin.«

Und seit langer Zeit wollte er für den Rest der Nacht wieder einmal allein sein. Am Morgen verbat er sich den Hausgottesdienst, den man ihm für diesen Tag, den Sonntag, vorschlug. An jedem Sonntag, an dem sein Zustand ihm den Kirchgang verwehrte, hatte er sich sonst abwechselnd von Lutheranern und Reformierten an seinem Bette eine Predigt halten lassen. Aber heute, an dem Sonntag vor Pfingsten, Exaudi – und das heißt: Erhöre mich! – ließ der König sich zum allgemeinen Entsetzen wieder in die Kirche bringen. Noch einmal sollte alles wie in früherer Zeit sein, nur daß er nicht auf selbstgezimmertem Schemel, sondern im Rollstuhl saß und daß er sich nicht mehr wie einst während des Gesanges erhob und stehenblieb bis zum Gebet, seinen Hut sehr lange vor die Augen haltend. Aber die Familie war doch wieder um ihn – nur Ferdinand lag an Masern erkrankt –, der Hof, die Dienerschaft, die Garnison. Doch mied er den Anblick der Töchter, wie sie ja auch im Schloß schon lange von ihm ferngehalten werden mußten. Er entzog sich ihnen; denn es blieb ihm nicht verborgen, wie von seiner Kirchenloge ein Grauen auf die Menschen im Gotteshause ausging.

Furchtbar war schon der Anblick des schleppenden Zuges zur Kirche gewesen. Die Kalesche fuhr im Schritt der Leichenwagen den kurzen, kurzen Weg vom Schloß zur Kirche. Aber dies war noch schlimmer: wie er nun im Rollstuhl lag, mühsam gestützt, das Gesicht sehr gelb, mit dunklen Flecken durchsetzt; die Schultern, die Brust, die Arme so elend, so abgezehrt, den Unterleib grauenhaft aufgetrieben – wie abgestorben, abgetrennt.

Der König blieb ganz regungslos. Nur die mageren Schultern bebten etwas. Aber in den Augen war noch der Nachglanz aller seiner Schöpfungen, Verzichte und Entäußerungen. Es war, als wache er nur noch immer wieder zum Leben auf, um Gottes Wort zu hören, nachdem er das Wort des kommenden Königs vernahm.

Die Blicke hielt er fest auf Altar und Kanzel gerichtet. Auch mußte er ja die Worte von den Lippen des Predigers lesen. Er hörte immer schwerer – und verlangte doch so sehnlich nach der Lektion, dem Evangelium und der Epistel seines letzten Sonntags! Mehr als hundertundfünfzigmal im Jahr, jeden Sonntag, jeden Feiertag der Kirchenfeste, war er vormittags und nachmittags in Gottes Haus gekommen, ihnen zu lauschen. Die Predigt war leer an Gehalt. Sie suchte sich der Stunde zu entziehen, in der ein König sterbend unter der Kanzel saß. Die Liturgie am Altar aber war aller Willkür und allem Ausweichen der Menschen entnommen. Die Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen, der Lebenden und der Toten, hatte von Jahrhunderten her noch ihr Wort für den König bereit, der noch den Lebendigen und schon den Toten angehörte. Nun waren dem Tauben die Ohren geöffnet, daß er »hörte wie ein Jünger«.

Ein König, kein »Privatmann« sprach die Worte der Schrift: »Siehe, um Trost war mir sehr bange. Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen, daß sie nicht verdürbe. Denn du wirfst alle meine Sünde hinter dich zurück.«

Hindämmernd grübelte er über den Rätseln der Sohnschaft. Es war so unfaßlich. Er konnte, was er Gott zurückgab und wessen er sich entäußerte, nur in die Hände seines eigenen Sohnes legen! Er konnte vor Gott nur treten, indem er sich berief auf Gottes Sohn, in dem allein alles Gesetz und alle heilige Ordnung des Königs der Könige erfüllt war! Das war sehr schwer zu denken, sehr schwer. Der Leib war so geplagt, daß die Gedanken sich verwirrten. Aber nun war alles ausgebreitet und dahingegeben vor seinem Sohn und Gottes Sohn. Und jeder Schlag des ermattenden Herzens pries die Dornenkrone, die Gottes Sohn für ihn trug. Nun war nicht mehr das Gericht. Der himmlischen und der irdischen Ordnung war genügt. Nun war nur noch die Gnade des Todes. Hinter der Kanzel wußte der König seine Gruft gemauert. Von Gruft und Altar kam der große Trost zu ihm.

Er war völlig in sich gekehrt, als sie ihn aus der Kirche fuhren. Er gedachte nicht einmal des Korsos, den er sonst um diese Stunde nach dem Gottesdienst im Kirchtor hier abnahm unter dem Geläut all seiner Kirchen jeden Glaubens und unter dem Lobgesang des Glockenspiels.

Auch bedrückte es ihn nicht mehr, wie sie alle nach ihm sahen. Manche meinten, er wäre schon gestorben, und flüsterten erregt. Aber da winkte der König noch einmal seinen Grenadieren zu, und sein Auge war ganz klar, nur fern.

»Flou, flou, la véri dou dai ne –« sangen seine Grenadiere im Abmarschieren ihr kleines Lied, so wie sie es auch neulich, als sie den kranken Herrn vom Wagen ins Schloß getragen und seinen Leib betastet hatten, sangen.

Als mahne ihn das Lied der Riesen an etwas, wünschte der Herr mit einem Male, man möge nun den Freund aus Dessau herrufen. Und dem Briefe fügte er danach mit seiner gichtigen Rechten noch selber hinzu: »Ich komme so gewiß als die Sonne am Himmel ist bei Gott.«

Er hatte die Bilder und Gleichnisse seines Lebens in Gericht und Gnade verstanden: er, der König, der Richter, der Vater war Gottes Kind.

Der Herr, der tausendfach das Leben bereitet hatte, begann nun seinen Tod zu bestellen. Sein Eichensarg mußte in die Schlafkammer geholt werden, jener hölzerne Totenschrein, der in dem glatten, schwarzen Marmorsarkophag aus Amsterdam verschlossen werden sollte. Der Herr betrachtete die schönen Kupfergriffe mit großer Anerkennung. Nur das klang schwer von Müdigkeit und Sehnsucht, als er sprach: »In diesem Bette werde ich recht ruhig schlafen.«

Über diesem Worte veränderte sich das Leben im Schlosse, obwohl der König wünschte, daß der Tageslauf wie gewöhnlich seinen Fortgang nehme. Nur den jüngeren Prinzen hatte er bedeuten lassen, sie möchten, wie die Schwestern, nun nicht mehr kommen. Bis dahin war es ihnen noch erlaubt gewesen, den Vater täglich zu besuchen, wobei August Wilhelm sehr erregt war und der vierzehnjährige Heinrich sich sehr gemessen verhielt. Die Königin, Ulrike und Anna Amalia sahen einander auch in diesen Tagen kaum. Die Königin schrieb von allem Künftigen nach Hannover und London: welch reiche Ehren ihrer harrten und daß sie wohl in ungewöhnlich gesicherten Verhältnissen zurückbleiben werde. Amélie malte ihre Noten; ihr Cembalo blieb ungeöffnet. Ulrike las in den Büchern, die sich allmählich auch in Potsdam in großen Schränken angesammelt hatten, obwohl doch dieses Schloß einen Bibliotheksraum einst nicht vorgesehen hatte. Sie wählte die geschichtlichen Werke aus. Sie las sie im Hinblick auf Vater und Bruder.

Nachts blieben alle lange wach. Überall in den Verbindungszimmern und Durchgangskabinetten sowie in dem verlassenen Tabakssaal konferierten Ärzte, Minister, Offiziere und Pastoren; der Kronprinz hielt sich meist bei ihnen auf; August Wilhelm wanderte ruhelos von den einen zu den anderen; Heinrich setzte auch in solchen späten Stunden seine Studien fort.

Auch in den Nischen der Gänge standen überall die Herren und Damen des Hofes, und selbst das Gesinde in den Wirtschaftsstuben des Erdgeschosses, dort, wo die Wache der Husaren war, ging nicht voneinander und sprach bis tief in die Nacht hinein von dem Unheimlichen, daß ein König bei seinem offenen Sarge schlief. Da wollten sie es nun auch nicht glauben, daß der kleinste Prinz nur an den Masern erkrankt wäre. Der alte Name des Knaben war wieder in aller Munde: Das Kind der Schmerzen. Der König, der wie ein Hundertjähriger war weit vor der Zeit, nahm das Kind der Schmerzen mit sich. Die Jägerburschen erzählten aus dem Krankenzimmer schon den zweiten Tag, vom Spätnachmittag an habe der König Fieber wie ein Pferd. Aber er werde es schon noch einmal »ermachen»: der Fürst von Anhalt-Dessau hatte ja eine Stafette vorausgeschickt, daß er mit dem Tagesanbruch eintreffen werde. Das half dem König gewiß auf die Beine.

Gegen Morgen begann der König zu frösteln. Sein Atem pfiff. Schauer überflogen seinen Leib. Er reckte den Kopf hoch auf. Es war gegen fünf Uhr, und die Dienerschaft wechselte. Der König wollte aus dem Bett gehoben werden.

»Macht meinen Mantel, macht meinen Rollstuhl fertig«, befahl der König, aber in seinem Röcheln klang es nur flehentlich.

Sein Bett sollte man ihm frisch beziehen; denn später, meinte er, werde es wohl nicht mehr möglich sein. Mit Bettleinen und Hemden trieb er schon seit langem eine wahre Verschwendung. Es sollte keinen Krankengeruch um ihn geben. Auch hatte er seine Schlafkammer neu herrichten lassen. Frische Gardinen aus den besten preußischen Kattunen waren aufgemacht worden, und das Feldbett und Taburett des Königs hatten neue Matratzen von rot und weiß gestreiftem Camelot erhalten, weil es ja Polster, die man hätte erneuern können, in den drei Königsstuben nicht gab. Sonst fand sich nichts Neues darin als eine Uhr auf dem Kamin und in schwarzem Rahmen ein Spiegel.

Die Ärzte wurden beordert. Die morgendliche Untersuchung ergab die ganze Schwere seiner Unterleibs- und Lungenentzündung. Der König hatte zu häufig und rege mit seinem Sanitäts-Rat konferiert, um nicht zu wissen, was auch sonst noch in seinem Leibe wütete. Da wunschgemäß immer in seiner Gegenwart verhandelt werden mußte, vernahm er, daß man ihm durch Punktieren keine Linderung mehr verschaffen konnte; er entließ die Ärzte mit Dank.

Ein Pikeur mußte den König nun waschen, ihm die dünnen, wirren Haare kämmen und eine neue, weiße Nachtmütze über sie streifen. Und da es nicht mehr möglich war, ihn anzuziehen, ließ er sich den Obristenmantel nur umhängen: nun doch immer wieder den Obristenrock. Nach Potsdam hatte der Herr den braunen Bürgerhabit nicht mehr mitgenommen; er hatte ihn in Potsdam niemals getragen.

Während des Wäschewechsels nahm der Herr einen Schluck Kaffee und ein kleines Stück Gebäck. Bis vor kurzem hatte er noch immer wieder einmal nach kräftigen Speisen verlangt und die schwersten Dinge gefordert. Die zarte Krankenkost, die unerläßlich war, widerte ihn an.

Das Aufräumen des Krankenzimmers beobachtete er, wie immer, mit einem gewissen Argwohn. Auch die neuen Kästen – er hatte jetzt viele Kassetten unter seinem Bett – mußten feucht abgewischt werden. Er schien beschäftigt wie an den arbeitsreichen Tagen seines Lebens, etwa vor dem Aufbruch zur Landfahrt. Er verlangte, in dem Tabakssaal und in der Totenkammer, dem Zimmer mit den Bildern seiner toten Generale, umhergefahren zu werden. Er fragte nach der Zeit; inzwischen war es in der siebenten Stunde. Da war er erleichtert: nun würden die anderen bald erwachen; er konnte sie wecken; der Abschied war da. Am ersten wollte er zur Vorkammer der Königin gefahren sein; er klopfte vom Rollstuhl aus selbst an die Tür.

»Stehen Sie auf«, so sprach er durch die Tür, »ich habe nur noch wenige Stunden zu leben!«

Aber es kam keine Antwort. Der Morgenschlaf der Königin war fest. Sie hatte bis spät in die Nacht ihre Korrespondenz erledigt.

»Es ist gut«, sagte der Herr. Niemand sollte die Herrin nun stören. Er konnte noch warten, ein wenig noch warten. Sie rollten seinen Stuhl schon wieder hinweg; er blickte noch auf die Tür. Er flüsterte: »Ich will doch in ihren Armen sterben.« Dann sah der König zu den Jägern auf, die seinen Rollstuhl stießen. »Die Prinzen werden wach sein.«

Erst wollte er zu Heinrich, dann zum kranken, kleinen Ferdinand. Heinrich lag noch im Schlummer; er sah welk und grau aus, als sei ihm der Schlaf der Jugend versagt. Bücher bedeckten seinen Stuhl und seinen Nachttisch. Der König legte die Hand auf den Mund. Er gab den Jägern ein Zeichen, sie sollten nicht so hart auftreten und den Wagen gleich wieder rückwärts über die Schwelle hinausziehen. Er sandte nur noch einen Blick zu dem Bett des Knaben hinüber, und ihm schien, Heinrich werde einmal wie er selbst erst in der Morgendämmerung einzuschlafen vermögen.

Ferdinand war wach. Der Vater wollte ganz nahe an sein Bett. Er legte dem Kind die Hand auf die Stirn. Nein, Fieber hatte der Kleine nun nicht mehr. In all den Leidenstagen hatte sich der König über Ferdinands Zustand genau berichten und sich beruhigen lassen. Aber auch angesichts dieser leichten Krankheit hatte es eine Stunde gegeben, in der ihn der Gedanke ängstigte, das Sterben der Söhne könne wieder beginnen. So tief war es dem Herzen eingegraben, daß die Kunde aus Ruppin kam, Friedrich sei dem Tode nahe. Ach, und die Enkel von Ansbach und Braunschweig waren tot!

»Mein Kleiner wird morgen gesund sein«, sprach der Vater freundlich. Ferdinand freute sich. Am Morgen war es immer so langweilig, bis sie ihn wuschen, ihm das Frühstück brachten und den Arzt einließen. Papas Besuch zu dieser frühen Stunde war eine schöne Abwechslung. Der Papa war so lange nicht bei ihm gewesen. Ob der Papa nun wieder gesund wäre, fragte er dringlich; und ob er selbst auch bald wieder aufstehen dürfe.

»Morgen wird es – uns beiden besser gehen«, versicherte der Vater und neigte sich mühsam zu dem Bett hinüber. Der Kleine sollte ihm noch einmal den Morgenkuß geben. Der Knabe küßte ihn behutsam, ja scheu, als fürchte er nun doch die dunklen Flecken im Gesicht des Vaters.

»Ich habe eben auch die Masern wie du«, sagte der Papa, winkte wieder den Jägern und deutete zur Tür.

Wo der Prinzenflügel an den breiten Absatz der neuen, stufenlosen Treppe stieß, gebot er schnell Halt, als erschöpfe es ihn, noch weitergefahren zu werden. Plötzlich verließ ihn alle Kraft. Auf seiner Stirn, unter dem Rande der frischen Nachtmütze, standen Schweißtropfen.

»Das ist vollbracht«, sprach der Herr, und sein Leidensausdruck war so erschütternd, daß ein Kammerherr der Königin, der den Gang überquerte, mit einem Male nicht über sich brachte, die Höflichkeitsformel über das Befinden seiner Majestät dahinzuparlieren. Er grüßte den Herrn mit stummer Verneigung, und der König ließ ihm sehr artig den Rollstuhl aus dem Wege fahren. Und nun wollte er in seine Zimmer zurückgebracht werden. Erst befahl er, sie sollten nun die beiden ältesten Prinzen, die Minister und die Offiziere rufen. Dann fügte er, wie er es längst schon bedacht hatte, hinzu: »Bis zu den Hauptleuten. Und die drei Kabinettssekretäre auch.« Die Offiziere nannte er alle einzeln bei Namen. Dazwischen horchte er auf. Vom Schloßhof drang das Geräusch einer langsam einfahrenden Kutsche herauf. Alles ging sehr leise zu. Kaum vernahm man eine Stimme.

»Vielleicht ist der Doktor Leopoldus aus Dessau gekommen«, sagte der König sofort, als erwarte er noch einen letzten, hochberühmten Arzt. Als er sich dann in den Tabakssaal zu den dorthin beorderten Herren fahren ließ, stand der Generalissimus in ihrer Mitte. Der König verlangte gleich, auf ihn zugeschoben zu werden; der alte Fürst stürzte aber schon auf ihn zu. Der Herr sprach mit dem Freund, als käme er wie immer von seiner Reise; er erkundigte sich nach seiner Fahrt und meinte, es reise sich wohl am besten in der Morgenkühle, wie Seine Liebden es heute hielten.

Aber auch in dieser großen Freude, den Fürsten noch einmal zu sehen, vergaß der Herr der anderen nicht, die bei ihm erschienen waren. Er sprach mit jedem, nur nicht mit den beiden Söhnen. Nur einmal sah er ganz flüchtig zu ihnen hinüber, die in dem Kreis der jüngeren Offiziere standen. Die drei Sekretäre sollten nun an dem langen Tische Platz nehmen, von dem alles holländische Rauchgerät seit langem schon weggeräumt war. Der König bat die Herren Minister und Offiziere, den Raum um den Tisch freizugeben, und ließ nun die Begräbnisordnung verlesen. Er selber strengte seine tauben Ohren mit Zuhören nicht mehr an. Das Reglement war gar zu wohl überlegt. An Feierlichkeit war nur geduldet, was die Würde seines Amtes unbedingt verlangte. Die Diener sollten aber nicht einmal Trauerröcke, sondern nur Flor für die Hüte erhalten. Die übliche Leichenschaustellung im Totenprunk durch viele Wochen hindurch war untersagt. Die Offiziere hatten ihn schon nach dem Pfingstfest, dem Fest des Heiligen Geistes, in seine Gruft zur Soldatenkirche hinüberzutragen, und die Hoboisten mußten dabei blasen:

»O Haupt voll Blut und Wunden,
voll Schmerz und voller Hohn,
o Haupt, zum Spott gebunden
mit einer Dornenkron –«

Die Leichenpredigt war im ganzen Lande am Sonntag Trinitatis, dem Feste der Dreieinigkeit, zu halten, und zwar über den Text: »Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten; hinfort ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit, welche mir der Herr an jenem Tage, der gerechte Richter geben wird.«

Allen war es in Vergessenheit geraten, daß einst der Abenteurer Clement jenes Bibelwort von seinem Galgen herab verkündete und daß der Herr es damals schon, als er davon erfuhr, zum Texte seiner Leichenpredigt wählte. Der Herr erinnerte keinen daran.

Die letzten Worte des Beerdigungsreglements bestimmten: »Von meinem Leben und Wandel, auch Factis und Personalien soll nicht ein Wort gedacht, dem Volke aber gesagt werden, daß ich solches expresse verboten hätte, mit dem Beifügen, daß ich als ein großer und armer Sünder stürbe, der aber Gnade bei Gott und seinem Heiland gesuchet.«

Sie sollten ihn nirgends beschimpfen oder loben.

Die Offiziere, die den Sarg zur Kirche tragen würden, weilten alle um ihn. Sie standen sämtlich hier bei ihm und dem Sarge.

Während die Kabinettssekretäre auf ein Zeichen des Königs ihre Schreibzeuge auspackten, erklärte der Herr ohne jeden Übergang, er möchte nun den so lange gehegten Lieblingsplan ausführen, die Regierung niederzulegen. Mehr sagte König Friedrich Wilhelm nicht davon; auch ließ er keinerlei Gegenäußerungen oder Redensarten aufkommen und begann sofort die Urkunde der Regierungsübergabe zu diktieren – in jenem Übermaß der Beherrschung aller Worte und Gedanken, das schon seit Tagen die Umgebung im Anblick seiner Auflösung erschütterte, selbst die Kühlen und Stumpfen.

»Seine Königliche Majestät«, ließ er zum letztenmal von sich schreiben, »haben sich also ernstlich resolviert, Dero bisherige Regierungslast niederzulegen, und übergeben demnach hiermit Dero aeltestem Sohn als legitimem Erben Dero ganzes Land, Domänen, Städte und alles Uebrige, nichts ausgenommen als blos diejenigen Güter, so sie für die drei übrigen Prinzen August Wilhelm, Heinrich und Ferdinand acquiriert haben, welche der Kronprinz ihnen lassen soll, selbiges auch bereits Seiner Königlichen Majestät versprochen haben. Sie wünschen ihm also dazu und zu Seiner Regierung alles ersinnliche Glück, Heil, Segen und Gloire. Sie befehlen auch allen und jeden, so gegenwärtig sind, nunmehr dem Kronprinzen alle untertänige Submission, Pflicht und Parition, auch Treue zu erweisen, eben als wenn der König bereits gestorben wäre.«

Dabei erging, noch einmal in der Form eines Ediktes, des letzten, die Mahnung an die Minister, »nicht wie die Schauspieler aufzutreten und zu reden, sondern an die Schlichtheit Christi und seiner Jünger zu denken«.

Aber nun wurde der Atem des Königs so schwach und seine Stimme so leise, daß sein Adjutant sich über ihn beugen und dem Sekretär alle seine Worte laut wiederholen mußte. Doch der Herr ließ nicht ab, bis auch das letzte Wort in die Feder gegeben war. Friedrich war indes von der Gruppe der jüngeren Offiziere zu den Generalen und Ministern getreten, die eine feierliche Haltung eingenommen hatten, so daß er nun totenbleich und allein in ihrer Mitte stand. Zärtlich war der Vater zu dem Sohne jetzt nicht mehr. Er sagte nicht mehr Fritzchen zu ihm. Feierlich nannte er ihn Friedrich. Und in der Art, mit der er den Namen seines Sohnes aussprach, lag ein tiefes Ausruhen.

Nun brauchte er sich nicht mehr so mühevoll zusammenzuraffen. Er suchte eine leichtere Lage in seinem Rollstuhl. Sein Blick gewann noch einmal wärmeres Leben, seine flüsternde Sprache eine unendlich ergreifende, zaghafte Heiterkeit. Er habe seinen Offiziers- und Beamteneid gehalten, habe das Kriegsjahr und das Verwaltungsjahr 1739/1740 bis zum letzten Tage ausgedient. Der 31. Mai sei nun da! Bis zu dieser Stunde sei jeder laufende Erlaß und Bescheid in sein »Minutenbuch« eingetragen. Nun könne er Abschied nehmen ohne Tadel, ohne Vorwurf; und ganz nach der Ordnung des Jahresplanes schließe sich nun die große Reise an. –

Jetzt sollten sie sich alle um ihn setzen. Aber Friedrich stand sofort wieder auf, ging zum Rollstuhl, beugte sich über die Hand des Königs, suchte seinen verschleierten Blick zu verbergen und die Stimme klar zu erhalten und beschwor den Vater, ihm, so lange er noch lebe, die Übernahme der Regierung zu erlassen. Er könne vor dem Tode des Vaters nicht herrschen.

Aber König Friedrich Wilhelm wollte es schon öffentlich bekanntgemacht haben. Alle Fragen der Minister wies er ab. Er zeigte auf den Sohn. »Dieser ist von nun an euer Herr. Ich habe nichts mehr zu befehlen.« Er ließ die Türflügel seines Arbeitskabinetts aufschlagen.

»Gehen Sie in Ihr Arbeitszimmer«, sagte er zu dem Sohn. Der Minister von Boden – einst ein Domänenpächter in Calbe; nun hieß ein ganzer Stadtteil von Potsdam »Bodenstadt« nach seinen Siedlungen – war an der Reihe; er ließ sich seine Arbeitsmappe reichen und begab sich zu Friedrich.

Der Vater sah den König von Preußen an seinen Schreibtisch gehen, das neue Dienstjahr zu eröffnen. Alle Ämter wußte er um diese Stunde die laufenden Geschäfte erledigen. Die Lakaien schlossen die Tür.

»Fahrt mich ans Fenster«, wünschte der Kranke. Fürst Leopold sollte neben ihm bleiben.

»Ich muß doch von meinem Rechte als ausscheidender Oberst Gebrauch machen«, sprach Herr Friedrich Wilhelm weiter, »ich darf mir nun das allerbeste Pferd auswählen.«

Schon schickte er auch nach dem Marstall hinüber, und die Stallknechte führten Rappen, Füchse und seinen herrlichen Schimmel am Fenster vorüber: die letzten Pferde, die er nach dem großen Verkauf noch zurückbehalten hatte.

»Lebte Gundling noch« – der Kranke bemühte sich, recht verständlich zu dem alten Fürsten zu reden –, »er würde eine Parallele wissen. ›Dies ist das Totenpferd von alters her‹, würde er mir aus der Historie erzählen, ›das schenkt man dem Treuesten.‹ Da nehmen Sie mein Totenpferd, alter Kriegsmechanikus, wählen Sie es selber aus.«

Der Dessauer deutete nur von ungefähr hinaus. Sein Blick war von Tränen getrübt. »Da – dies – das vor dem Fenster«, würgte er hervor.

Herr Friedrich Wilhelm schalt. »Sie nehmen ja gerade das schlechteste. Behalten Sie doch den Schimmel. Der ist gut. Ich stehe dafür.«

Der Dessauer starrte wortlos vor sich hin.

»Nicht doch, alter Freund«, sagte der Herr, der eben noch so grollte. sehr sanft, »das ist des Menschen Zoll.«

Groß und gebeugt, doch immer hagerer von Jahr zu Jahr; einer, der in tausend Wettern des Ackers und vor langer Zeit einmal des Schlachtfeldes zäh und braun geworden war, stand der Alte bei dem jüngeren Freund König. Er war dem Rollstuhl gefolgt, wie er einst dem Reisewagen des Herrn ins Ostland nachzujagen pflegte. Kühl, ein wenig zusammengekniffen waren seine grauen Augen, in denen kein Alter und keine Müdigkeit war: nur spähende Ausschau – freilich, vielleicht auch die Ausschau nach dem Tode, in den ihm der liebste Sohn vorangegangen war.

Sein Bubainen und Norkütten, hob er an, trügen ihm nun dreißig Prozent Zinsen ein.

»Aber für mich«, unterbrach ihn der Freund, »liegt auf Bubainen und Norkütten eine – uneingestandene Schuld.« Im Grunde, bekannte er nun nicht ohne Leidenschaft, habe er den Dessauer um Sinn und Ruhm seines Lebens betrogen. Der größte deutsche Feldherr neben Prinz Eugen sei einst in die Dienste des jungen König-Korporals getreten, um sich als Züchter, Pflanzer, Roder, Gärtner auf Bubainen und Norkütten zu bescheiden. Statt des großen Feldherrn von Europa sei er der Gutsherr von Bubainen geworden, er, dem unter allen Feldern das Schlachtfeld als der fruchtbarste Acker erschien.

Unbewegten Antlitzes hörte der alte Fürst die Confessio seines sterbenden Herrn an, die nur ihm allein galt. Er, der freie Reichsfürst, hatte sich diesen König erwählt, weil keiner sonst den Schimmer der Waffen und das Rauschen der Fahnen mehr verstand und nur die Federkiele in beringten Händen galten.

Er begehrte den Anteil am Wachstum des jungen Königreichs Preußen. Dort allein war Tat im allgemeinen Stillstand und Niedergang. Er hatte den Anteil am Wachstum auf eine ungeahnte Weise erhalten: der elendeste Flecken der preußischen Erde ward sein, in ihm aber auch die wahre, die ganze Freundschaft des Königs!

»Ich habe es unternommen«, sprach der kranke Herr zum alten Kriegsmechanikus, »mich nach dem Tode Eugens für Ihre Ernennung zum kaiserlichen Generalissimus einzusetzen, obwohl es mir nicht leicht wurde. Aber ich war es Ihnen schuldig.«

»Ich werde keine Zeit haben, auf die Wiener Antwort zu warten«, stammelte der Alte.

Der Kranke sah auf. »Warum, Eure Liebden?« Er beharrte bei der feierlichen Anrede. Dann gab er selbst die Antwort.

»Eure Liebden müssen den dritten König von Preußen an die Stufen seines Thrones geleiten. Sie waren von Anfang an dabei. Sonst ist keiner mehr da.«

Draußen marschierte das Leibregiment zur Wachtparade auf. Doch war den Grenadieren untersagt, die Anwesenheit des Herrn am Fenster zu beachten. Das Soldatenjahr war um, das Rechnungsjahr des Generaldirektoriums abgeschlossen. Die Grenadiere trugen die Montur des neuen Kriegsjahres. Seltsamerweise hatte der Herr sein Leibregiment noch einmal mit eingekleidet, obwohl der Sohn doch schon den Befehl zur Auflösung hatte. Wollte er vermeiden, daß Unberufene vorzeitige Schlüsse zogen? Oder sollte die Heerschar der Göttersöhne im höchsten Glanze scheiden? Gönnte er sich, Abschied nehmend, noch einmal das strahlende Bild? – Ahnte der alte Bildermacher, daß Preußens Heer nicht geworden wäre, hätte er nicht Tag um Tag dieses Bild vor seinen Augen gehabt, unmittelbar vor den Stufen seines Schlosses?

Wie die Regimenter hatte auch die königliche Dienerschaft heute ihre neue Livree erhalten. Das hatte der Herr seit langem so bestimmt, daß am gleichen Tag, im gleichen Jahr Soldaten, Heiducken und Lakaien ihr neuer Rock gegeben würde.

Die Livreen wollte er ebenfalls vorgeführt haben. Während die Grenadiere exerzierten, besichtigte der Herr geflissentlich die Dienerschaft. Lakaien, Diener und Jäger füllten das Zimmer. Die Livreen waren ganz vorzüglich ausgefallen. Aber auf die Stirn des Herrn trat eine Falte tiefen Unwillens.

»Eitelkeit, Eitelkeit«, sprach er verächtlich, »wenn nur der Wind drein bläst, so zerstäubt alles. Ich habe auch Eitelkeit an mir gehabt. Aber, gottlob, das ist nun alles weg. Doch ich fühle, ich könnte, wenn ich genese, wieder in meine früheren Fehler verfallen. Darum bitte ich Gott, mich von der Welt zu nehmen.«

So müde war er es, mehr sündigen zu müssen als andere Menschen. Zu der Besichtigung der neuen Livreen war auch die Königin erschienen. Sie hatte die Zimmer des Gatten gemieden, seit der offene Sarg darin aufgestellt war: der gleiche Sarg, der auch ihrer schon harrte. Aber nun hatte sie nur auf einen Vorwand gewartet, kommen zu dürfen. Sie wollte sich nicht mehr gedulden, bis man sie rief. Seit die Minister und die Offiziere aus der großen Abschiedsaudienz entlassen waren, hatte es sich im ganzen Schloß herumgesprochen, der König habe abgedankt. Friedrich war König! Sie mußte wissen, ob die Urkunde der Regierungsübergabe schon unterzeichnet wäre. Aber die wurde nun nach dem Diktat erst aufgesetzt und abgeschrieben. Die Königin hörte es jedoch mit eigenen Ohren, wie der Gatte um Beschleunigung ersuchte.

Plötzlich war er unruhig. Er sah die Königin. Er winkte ihr von seinem Fensterplatz aus zu. Er wollte in seine Schlafkammer gebracht sein. Sein Gesichtsausdruck war gequält. Nicht alles war geordnet – abgeschlossen wohl. –

Man fuhr ihn an der Königin vorüber, die ihn zu seinem großen Entschluß beglückwünschte, ihm baldige Genesung und einen langen, friedvollen Lebensabend wünschte. Wortlos winkte der Gemahl ihr ein zweites Mal zu. Da folgte sie seinem Rollstuhl. Aber er kam nicht mehr dazu, mit ihr zu sprechen. Aufs Bett gelegt, fiel er in Ohnmacht. Der Mund schien verzogen. Ein fremder Ausdruck lag über den Zügen des Königs.

Die große Geschäftigkeit, die Sterbehäuser in seltsamem Widerspiel mit so ungeheurer Lebendigkeit erfüllt, setzte ein. Alles hielt sich bereit. Man sah nach der Uhr, die Stunde genau bestimmen zu können. Die Prediger Cochius und Oesfeld wurden noch einmal eiligst gerufen; aber sie erklärten, »bei so großer Sinnlosigkeit des Patienten« nicht mit ihm sprechen zu können. Sie beteten dem Tauben mit lauter, sehr lauter Stimme vor. Der Herr, nun wieder zu sich kommend, flüsterte gequält: »Redet jetzt nicht so laut.« Aber er schien ihnen noch etwas sagen zu wollen. »Ich bin müde, zu leben«, röchelte er, kaum noch verständlich, »ich will gern sterben. Ich habe mich von allem losgemacht.« Seine Worte wurden immer unhörbarer. Sie mußten ihn fragen. Plötzlich war es dem König wieder wie in seiner Knabenzeit. Er dachte, er wäre am Hofe seines Vaters und man wolle ihn nicht verstehen, weil er Deutsch sprach wie mit den Stallknechten. Man sah ihm an, mit welcher Schmerzhaftigkeit er sich sammelte. Er wollte übersetzen, was sie deutsch nicht verstehen zu können vorgaben, die Höflinge des Vaters.

»Je suis las de vivre.« Er zerlegte jedes Wort, »Je mourrais volontiers.« Mit der Rechten, sehr zitternd, zog er einen Strich und verfiel wieder ins Deutsche, als er dabei sagte: »Ich habe mich von allem losgemacht – du monde entier –«

Der Feldprediger des Leibregimentes fiel ein: »Sire, c'est la marque du fidèle.«

Und er wollte von dem König, daß er als ein gläubiger Christ die Welt verlasse, wie ein mäßiger und tugendhafter Mann von der Tafel aufsteht: nicht aus Ekel oder Langeweile, sondern nur vollkommen gesättigt.

Der gemarterte König, auch in diesen Qualen noch voller Ehrerbietung gegen die Priester, lobte den Gedanken sehr. Aber dann schüttelte er sein wundes Haupt und widersprach hilflos und ängstlich: »– nicht wie von der Tafel! Ich habe mein Herz von allen Gegenständen meiner Liebe losgerissen – von meiner Frau – meinen Kindern – meinem Königreich – der ganzen Welt –«

Das letzte erstickte schon wieder in Röcheln. Der Kranke schrak auf. Er vernahm kein Wort mehr. Er konnte gar nichts mehr hören. Vor Angst sprach er ganz laut.

Er hielt dem Oberchirurgen des Leibregimentes den Puls hin. »Wie lange habe ich nun noch zu leben?«

Gemäß dem früheren Befehl gab der Arzt unumwundene und offene Antwort: »Der Puls geht sehr schwach. Es wird wohl leider nicht mehr lange dauern.«

»Nicht leider! Nicht leider!« rief der Herr mit immer schwächerer Stimme. In einem Berg von Kissen aufrecht im Bett hockend, blickte er starr vor sich hin. Er sah, daß Friedrich und August Wilhelm zu Füßen seines Bettes getreten waren. Friedrich war sehr bleich. August Wilhelm würgte an den Tränen; seine Wangen hatten fieberhafte Flecken. Die Königin saß in einem aus ihren Räumen eigens hergebrachten goldenen Sessel, die Hände gefaltet und maßlos erregt, vor dem Kamin, unter der Standuhr, die jene letzten Augenblicke ihres Königintumes zählte und alle ihre vertane Zeit an den langsam kreisenden Zeigern schleppte. Das Zimmer hatte sich gefüllt. Aber der Vater sah jetzt nur noch die Söhne: Friedrich, den König, und Hulla, den er hatte lieben dürfen, wie jeder Vater seinen Sohn liebt. Er zerrte den Oberchirurgen am Ärmel. »Wenn sie weinen«, flüsterte er, »fürchte ich, ich bleibe nicht mehr fest.«

Der Oberchirurg umfaßte noch einmal seinen Puls. Einst hatte er die Ader des Königs vor der Heerschar der Krieger, Brüder, Söhne unter freiem Himmel im Frühlingsschneegestöber geöffnet.

»Das Ende ist nahe, Majestät. Der Puls bleibt zurück.«

Der Herr seufzte auf. »Um so besser. Dann kehre ich in mein Nichts zurück.« Plötzlich fügte er mit ganz veränderter, klarer Stimme hinzu: »Aber der Puls bleibt ja gar nicht zurück. Dann könnte ich die Finger nicht so bewegen.«

Das klang bedrückt. Es sollte nicht mehr beginnen, das Leben: die Ferne von Gott. Er blickte nach der kleinen Standuhr über dem Haupte der Königin. Es war nach drei Uhr.

Dann war es, als wolle er die knappe Frist, die ihm verblieb, noch nützen, um sich für den Tod in Ordnung zu bringen. Er bat um seinen neuen Spiegel in dem schwarzen Rahmen. Mit sehr kräftiger Gebärde nahm er ihn dem Diener ab und schaute hinein.

»Ich werde beim Sterben ein garstiges Gesicht machen«, sagte er langsam. Er sah die Höhlen, die Schatten, die Gruben, die Furchen seines Antlitzes: die Landschaft des Todes dämmerte auf. Bald würde sie verwehen wie die Wolken. Bald würde kein irdisches Bild und Gleichnis mehr sein: nur noch Wirklichkeit und Ewigkeit.

Er sprach darüber hinweg. Er sehe nicht so abgemattet aus, wie er sich eingebildet habe. Er zeigte auf die hart abgesetzten, dunklen Ringe unter seinen fahl und trüb gewordenen Augen.

»Bis hierher bin ich schon tot.«

Der Prediger fiel ein: »Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, so sehet auf und erhebet eure Häupter, darum daß sich eure Erlösung naht.«

Der Herr, den Spiegel noch immer ohne Zittern vor sich haltend, horchte merklich auf. Dies eine Wort, dies eine endlich unter all den falschen Sprüchen der Erbauungsbücher, war noch von Gott! Die Pastoren bat er, sie möchten nun gehen. Er danke ihnen. Nun wisse er alles, was sie ihm noch sagen könnten. Und da durchströmten ihn die Worte der Schrift, um die er sich in all den harten Nächten mühte, in denen er seine Gebete vergaß: er, der die Bücher der Könige und Propheten, der Evangelisten und Apostel hatte auswendig lernen wollen, um danach vielleicht predigen zu können.

Nun standen all die Worte vor ihm:

»Es spiegelt sich in uns allen des Herrn Klarheit mit aufgedecktem Angesicht, und wir werden verklärt in dasselbe Bild von einer Klarheit zu der anderen, als vom Herrn, der der Geist ist.

Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise. Dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.

Ich will schauen dein Antlitz in Gerechtigkeit. Ich will satt werden, wenn ich erwache, an deinem Bilde.«

Der König hielt den Spiegel vor geschlossene Augen. Sie glaubten, er schlafe ein – entschlafe. Sie sangen leise mit, was die Pastoren, schon jenseits der Schwelle, angestimmt hatten:

»Warum sollt' ich mich denn grämen?
Hab' ich doch
Christum noch –
wer will mir den nehmen?
Wer will mir den Himmel rauben,
den mir schon
Gottes Sohn
beigelegt im Glauben?

Nackend lag ich auf dem Boden,
da ich kam,
da ich nahm
meinen ersten Odem.
Nackend werd' ich auch hinziehen –«

»Nein, das stimmt nicht«, unterbrach der Sterbende die Singenden, »das ist nicht wahr. Ich werde in meiner Montur begraben.«

Dann bedeutete er den Erschreckten mit einer freundlichen Geste, sie möchten nur fortfahren im Choral –. Und sie sangen mit der nächsten Zeile weiter:

»– wann ich werd'
von der Erd'
als ein Schatten fliehen.«

Er hatte jetzt ganz wach zugehört. Die Worte, die Klänge taten ihm wohl. Die Worte waren gut zum Sterben. Nun blieb ja nur noch ein kleiner Schritt zu tun: aus dem wunden, schwammigen, feuernden Leibe »als ein Schatten fliehen«; mehr war es nicht – ein kleiner Schritt, viel näher, als es gewesen war vom Königsschloß zum Gotteshaus, vom Gotteshaus zum Königsschloß. Dann würde kein Bild mehr sein: nur Gottes Angesicht. Als sie geendet hatten, legte er den Spiegel weg. Die Schläfen waren ihm eingesunken. Seine Hände gingen auf der Decke hin und her, auch die fast gelähmte: ganz leichthin. Noch einmal war ein Schimmer ihrer einstigen Schönheit über ihnen, obwohl die Gicht sie so entstellte. Dem Leibarzt bedeutete der Verlöschende – und die riesigen Augen waren in diesem Augenblick noch einmal ungeheuer beredt –, man möge die Königin hinausführen; es war nur, daß er flüchtig zu ihr und zu dem Arzt hinsah; mehr war es nicht.

Der Leibarzt gab dem Kronprinzen ein Zeichen, die Königin wegzubringen: ein Geringerer war dazu in solchem Augenblicke nicht befugt.

Friedrich reichte der Mutter den Arm, doch blickte er nach dem Vater. Es sei soweit, flüsterte er der Zögernden zu und redete ihr in der Sprache von Monbijou zu, sie müsse sich schonen. Im Vorzimmer übergab der Kronprinz die Königin einem Kammerherrn. Er selbst ging ins Sterbezimmer zurück. Und die Mutter wußte nicht, daß sie mit diesem Augenblick gerichtet war, mit feurigem Schwerte ausgetrieben aus dem Garten Eden der Liebe, welche Ehren ihrer auch noch harren mochten.

Friedrich stürzte ans Bett des Vaters zurück. Der Sterbende hauchte nur noch Worte von dem Sohne Gottes. Auch Friedrich war nicht mehr für ihn da.

»Herr Jesus, dir leb' ich; Herr Jesus, dir sterb' ich; Herr Jesus, du bist mein Gewinn im Leben und im Sterben – mein Herr Jesus!«

Wie der Vater jetzt geröchelt hatte – Friedrich horchte auf; – wie der Vater jetzt Atem holte: das war es. Es war wie ein Geräusch des Herzens, kein Hämmern mehr. Das Räderwerk einer Uhr zerbrach an der ewigen Stunde. Der Leibarzt flüsterte dem neuen König zu: »Er ist erstickt.«

Friedrich verneigte sich kurz vor den Herren, die in schweigender Verbeugung verharrten. Unverzüglich begab er sich, an dem weinenden August Wilhelm vorüberschreitend, zu der Königinwitwe. Er verweilte nur einen Augenblick bei ihr und bat ihre Damen, sich ihrer anzunehmen. Im Zimmer der Königinwitwe – man rief nun die Töchter – wurden viele Tränen vergossen, Ulrike und Anna Amalia zweifelten am meisten an der Echtheit dieser Tränen. Beide Töchter weinten nicht. Sie sahen einander nicht an. Ulrike vermied es. Sie ersparte der Mutter das Urteil, das in dem Blick der Töchter ausgesprochen worden wäre. Sie küßte der Fürstin, in der Stunde, da sie aufgehört hatte, Königin zu sein, die Hand. Der junge König ging ins Arbeitskabinett des Vaters. Die Sekretäre wies er ab, es handle sich um Handschreiben. Er blieb allein.

Die erste Stunde nach dem Tode des Vaters verbrachte er am Schreibtisch. Er schrieb an die Nächsten: an die Schwester von Braunschweig; an den Dichter von Frankreich; er gedachte unter den ersten auch der Schwester von Baireuth als der ältesten Königstochter. Aber die Briefe waren nur wie ein Vorwand, der großen Erschütterung Herr zu werden. In jeder Zeile bebte sie nach, als er niederschrieb: »Mein Los hat sich geändert. Ich bin bei den letzten Stunden, dem Todeskampfe und dem Sterben eines Königs zugegen gewesen. In der Tat brauchte ich bei meinem Regierungsantritt diese Lektion, um Ekel vor der Eitelkeit und der menschlichen Größe zu bekommen. Wir sahen den König in seinen Qualen den Stoizismus eines Cato zeigen. Er starb mit der Neugier eines Naturforschers, der zu wissen wünscht, was in dem Augenblick des Todes in ihm vorgeht, und mit dem Heroismus eines großen Mannes. Er starb mit der Festigkeit eines Philosophen und mit der Ergebung eines Christen und über den Tod triumphierend als ein Held.

Wenn es wahr ist, daß wir den Schatten der Eiche, die uns umfängt, der Kraft der Eichel verdanken, die den Baum sprossen ließ, so wird der Erdkreis darin übereinstimmen, daß in dieses Fürsten Leben und in der Weisheit seines Wartens die Urquellen der Wohlfahrt zu erkennen sind, deren das Königshaus nach seinem Tode sich erfreut.«

Und sich selbst demütig als den schwachen Sprößling einer ungeheuren Eiche bezeichnend, schloß er dann: »Die unendliche Arbeit, die mir nach seinem Tode zugefallen ist, erlaubt mir kaum, mich meinem gerechten Schmerze zu überlassen. Seit dem Tode meines Vaters glaube ich ganz meinem Lande zu gehören.«

Dann schlug der Herr die von den Kabinettssekretären wie alltäglich bereitgelegten Mappen mit den Briefen und Resolutionen, Dekreten, Etatsbewilligungen und -verweigerungen, Edikten, Zirkularen und Rückfragen des Vaters auf. Er las; und tat nicht einen Federzug davon ab oder dazu, ob sie nun die Menschen oder das Land, das Heer, den Schatz oder die Kirche, den Jahres- oder den Stundenplan des Vaters betrafen. Er setzte seinen Königsnamen unter jedes Schreiben. Und seine erste Königstat war, daß er sich dem Vater übergab, wie es dessen letzte Königstat gewesen war, sich dem Sohne zu übergeben.

Im ersten eigenen Erlaß verbat er sich alle Aufzüge, Einholungen, Empfangsfeierlichkeiten; nur eben das, was bei dem letzten Regierungsantritt geschehen sei, solle wiederholt und auch derselbe Betrag auf die nämlichen Kassen angewiesen werden. In zwei sehr wichtigen Punkten trat König Friedrich II. in offenen Widerspruch zu den Wünschen König Friedrich Wilhelms I. Er ordnete eine sehr feierliche Beisetzung an, damit es keinen Zweifel geben könne, wie es um ihn und den Vater bestellt war. Allerdings organisierte er die Beerdigung rein militärisch.

Sodann vermochte Friedrich sich nicht dazu zu entschließen, das Leibregiment des Vaters aufzulösen. Er plante nur, es nicht mehr zu ergänzen. Er wollte die Göttersöhne alt werden lassen im reichen Erbteil des Vaters.

 

Im Schlafkabinett, im Sterbezimmer nebenan hörte er rücken und räumen. Er wußte, daß die Jäger des Vaters dort schalteten. In dem lichten Gang, dem sandgestreuten mit den hohen Bildern all der Grenadiere, war er ihnen eben erst begegnet. Schweigend standen die Jäger des Vaters in den Fensternischen. Soeben hatten sie den Leichnam zur Sektion geschafft. Nun räumten sie die Königsstuben leer. Unter dem Sterbebett zogen sie zwei Tresore hervor, einen großen und einen kleinen. Die lieferten sie sofort dem neuen König ab, und er ließ sie gleich öffnen.

Der große war dem König vermacht. Davon sollte er aber nichts angreifen; nur schwere Not durfte ihn veranlassen, diesen besonderen Schatz auszustreuen; etwa Mißernte in großen Landesteilen. Das Letzte, was der tote König seinem Volke gab, war, künftige Not schon in der Zeit der Fülle bedenkend, goldenes Korn. Als sollte in seinem Leben die Bibel immer wieder unmittelbare Gegenwart werden, hatte der König sieben große Hungersnöte und Teuerungen seines Landes erlebt und siebenmal so überreiche Ernten eingebracht, daß jeder Halm, wie im biblischen Traum, sieben Ähren zu tragen schien. Davon war der große Tresor des verstorbenen Königs nun ein letztes, frommes Zeugnis: auch noch sein im Kasten eingeschlossenes Gold lobte Gott!

Der kleine Tresor war für die anderen Söhne bestimmt. Er war in vier Schatullen verteilt: in einen für die Königin bestimmten kleinen Koffer; eine mit rotem Leder beschlagene Reiseschatulle; einen mit braunem Leder überzogenen Kasten; eine grüne, eiserne Truhe. Auf der Eisentruhe war ein Zettel festgebunden: »nach mein toht soll mein lieb ferdinand haben im Eisernen kast die zwey silbernen schaustücke in Numero 3 und das geldt ist mein letz wille.«

Und in jeder der drei Schatullen, deren Inhalt je einem der drei jüngeren Prinzen durch die dabeiliegenden eigenhändigen Verfügungen des Vaters bestimmt war, fanden sich auch Beutel mit Medaillen, Ringen, Petschaften, Geld. Die Geldbeutel waren mit Postzetteln versehen. Auf denen standen die Angaben über die darin befindlichen Summen, mühsam mit gichtiger Hand aufgemalt. Und jeder dieser Postzettel enthielt nun – Rechenfehler. Es waren zweihundertneunundneunzigeinhalb Louisdors mehr in den Beuteln, als die Rechnung besagte, ein nicht unerhebliches, doch ungezähltes Plus. So hatte der Plusmacher, als es zum Sterben kam, nur noch Gold in die Beutel gefüllt und die Beträge nicht mehr notiert – Gold für die Söhne.

König Friedrich verteilte das Erbe der Brüder, das ungezählte Plus, zu gleichen Teilen unter sie. Den kleinen Überschuß, der sich ergab, erhielt Ferdinand. Die Kassetten befahl der Herr in der kleinen, hellgetünchten Kammer, dem Vorraum zu den Königsstuben, abzustellen, darin nur ein holländischer Stuhl stand: gegenüber der Wand mit den Bildern aller Königssöhne, der toten und der lebenden, inmitten das »Fritzchen«.

Wo unterdessen die Ärzte den Leichnam des Vaters sezierten, war König Friedrich unbekannt. Er hatte für Ort und Stunde der Sektion weder eine Anweisung gegeben noch eine Frage danach gestellt.

 

Bis zu der Sektion, so hatte der Vater befohlen, sollte man ihn waschen, mit einem weißen Hemde bekleiden und auf einem hölzernen Tische aufbahren. Er, dem sie es so bitter verargten, als er die Leichname seiner im Frieden gestorbenen Grenadiere für die neue Anatomie bestimmte, hatte über den eigenen Körper nicht anders verfügt. Die Ärzte mußten lernen an ihm, der so unermeßlich litt und viele Tode starb.

»Mein Leib soll aufgemacht werden«, war von König Friedrich Wilhelm dekretiert, »zu sehen, wovon ich eigentlich gestorben bin, man soll mir aber keine specerey mach, mein eingeweide herausser nehmen, sondern mir alles lassen, so wie ich aus Mutterleibe gekommen.

Der Leib soll geöffnet und gründlich examiniert werden, wie es in meinem Leibe aussieht. Wasser und Schleim soll so viel möglich ist aus dem Leibe geschaffet werden. Alsdann mein Leib überall recht sauber gewaschen und mir darauf die beste Mundirung, so ich habe, ordentlich angezogen werden soll.«

Alles war von ihm festgelegt, die Reinlichkeit noch vorgesorgt bis in die Verwesung.

Er war, als er noch lebte, schon wie ein Verwesender erschienen. Die Ärzte kannten seinen zerstörten Leib und seine Leiden. Als sie ihn nun öffneten, erwies das Herz sich als sehr groß, von starken Fibern und sehr muskulös. Die Doktoren hatten dergleichen noch nicht gesehen, auch bei sehr großen und robusten Naturen nicht.

Die Ärzte standen über das Haupt des toten Königs geneigt. Die Gruben, die Furchen, die Hügel, die Ebenen und Täler, die harte Landschaft des Todes war vor ihnen ausgebreitet. Flüsternd berieten sie miteinander, flüsternd, obwohl das Witwenhaus der Lakaienfrauen, in dem sie die Sektion vornahmen, für jedes Menschen Zutritt gesperrt war. Sie wuschen sich und gingen in die Nebenkammer. Auf dem Schreibpult lag der Sektionsbericht in seinen einzelnen Etappen schon ausgefertigt. Der Oberchirurg des Leibregimentes, von den anderen Ärzten umstanden, war ans Pult getreten und nahm ein neues Blatt. Bald war der Wortlaut vereinbart.

»Da man nun nach allen Umständen dieses königlichen Körpers mehr als zu viele Ursachen des Todes entdecket, auch niemals, von Anfang der Krankheit bis zum Tod, die geringste Anzeigung eines verletzten Gehirnes bemerket worden, der Höchstselige auch bloß ex suffocatione und nicht apoplexia sein Leben geendigt, so hat man nicht nötig erachtet, den Kopf zu eröffnen und unseres teuersten Königs Haupt zu verletzen.« Darunter setzten sie feierlich das Datum des 31. Mai 1740 samt ihren sieben Namen. Dann schickten sie das Schriftstück zu dem jungen König ins Schloß.

Der König billigte es, daß die Ärzte gegen den Willen des toten Herrschers handelten.

Der Sohn widersetzte sich dem Willen des Vaters.

Sie hatten das Herz des Vaters zerschnitten. Aber sie sollten ihm sein Hirn nicht öffnen.

Gottes Vaterhände ruhten über seinem Haupt.


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