Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wirte und Gäste

Der Wein macht lose Leute, und starkes Getränk macht wild; wer dazu Lust hat, wird nimmer weise. Das Schrecken des Königs ist wie das Brüllen eines jungen Löwen; wer ihn erzürnt, der sündigt wider sein Leben.

Die Bibel

Hätte Professor Gundling, am Hofe König Friedrichs I. einst der Hofgeschichtsschreiber Seiner Majestät, Präsident des Oberheroldsamtes und Professor des Bürgerlichen Rechts, der Geschichte und der Literatur an der Ritterakademie – hätte der titelreiche Hofbeamte und Gelehrte zur rechten Zeit die Berechnung angestellt, daß im Kochschen Gasthof ein Glas alten Ungarweins fast ebensoviel kostete wie anderwärts eine ganze Flasche, er wäre nicht Stammgast dort geworden und hätte in einfacheren Wirtsstuben länger seinen Wein genießen dürfen; und dieses Trostes bedurfte er jetzt sehr. Denn es hatte Gundling hart getroffen. Als der neue Herr am Tage des Regierungsantritts die Listen der Hofbeamten überflog und durchstrich, war auch er ausgetilgt worden mit all seiner Klugheit, all seiner Vornehmheit und Eleganz, seinem reichlichen Einkommen und seiner angenehmen Tätigkeit; denn ihm oblag nur, alles zu verherrlichen, was die alte Majestät unternahm, und für ihre Taten gedankenreiche Vergleiche in der Antike zu entdecken. Der junge Herr hatte auf solche Dienste verzichtet und ihre Bezahlung verweigert.

Doch begann er, als er alle Schulden des Vaters übernahm, auch die Gehaltsrückstände an die von ihm Entlassenen abzuzahlen. Von diesen Raten ließ sich fürs erste durchaus leben, sogar im Kochschen Hotel. Aber nun, nachdem seine Forderung erfüllt war, wurde es Zeit für den Professor, die Frage zu stellen, was wohl aus ihm werden sollte.

Nach Aufgabe seines Hofkavaliersappartements schien dem Verwöhnten als Domizil allein das Kochsche Haus in Betracht zu kommen. Ah, da waren auch geschulte junge Diener mit gepudertem Haar und in weißrotgestreiften Seidenwesten, Diener, die auf jeden Wink des großen Gelehrten harrten; dann, was das Leben im Gasthaus gar so angenehm machte, gab es doch kein Gezänk mit Frau oder Haushälterin und Personal; Küche und Keller waren bereit zu jeder Tageszeit, und in den Räumen fand er allen ihm unentbehrlich gewordenen Luxus. Oh, welche breiten Gänge, bespannt mit goldgetönter Blumenseide; welch reich geschwungene Türen voll der reizendsten Medaillons, Füllhörner und Putten, überreich geschmückt mit zartestem Schnitzwerk und zierlichster Malerei. Der Gastwirt Koch verstand sich auf französischen Geschmack; und nicht weniger wußte er das elegante Publikum in sein Haus zu ziehen, die Einheimischen sowohl wie die Fremden. Für die Reisenden, die am Potsdamer Tor die Grenze der Stadt überschritten, lag der Gasthof nahe bei den Zollwachen in einem freundlichen Garten inmitten köstlicher Rondelle und Rabatten, wie man sie einst nur im Lustgarten sah. Für die Berliner Kavaliere und Damen aber war es ein reizender Spaziergang dorthin, an den Gärten der Leipziger Landstraße entlang. Die Große Welt von Berlin und die distinguierten Fremden wußten voneinander, daß sie sich im Kochschen Saal bestimmt begegnen würden; und keine Hoffnung, die der Wirt auf diesen Umstand setzte, schlug fehl. Eine Stätte noblen Gebarens war, um der Fremden willen, aus der alten Zeit geblieben.

Wirt Koch war ein grämlicher und kränklicher kleiner Mann. Niemals betrat er selbst die Räume seines Gasthofs. Doch ließ er sich fast stündlich über alle Vorgänge in den Speisesälen und den Appartements der Fremden Bericht erstatten. Dann lebte er auf, war voller Einfälle und Aufträge, räsonierte und kommandierte. In der Zwischenzeit hockte er trübselig in einem hohen, altväterlichen Lehnstuhl in der Mitte der mittelsten Giebelstube seines Dachgeschosses. Die kärglichsten und unbequemsten Kammern, aus denen Erträge nicht zu ziehen waren, hatte er für sich und seine Tochter behalten. Es waren fensterlose Stuben, unregelmäßig geformt, von Balken und Pfeilern durchschnitten; ihr Licht empfingen sie nur von ein oder zwei ovalen Luken, den »Ochsenaugen«, die der Gastwirt Koch in französischer Manier hatte anbringen lassen, als er seinem Hause ein ganzes Stockwerk aufsetzen ließ. Damals richtete er auch die Fremdenzimmer völlig neu ein mit Marmorkaminen, goldenen Pfeilerspiegeln, seidenen Sesseln und elfenbein-eingelegten Kommoden. All das alte Mobiliar, das nun entfernt wurde, ließ er in seinen Dachkammern um sich häufen, so daß um seinen Lehnstuhl nicht weniger als sechs Tische aller Formen, Größen und Holzarten standen, bedeckt mit Rechnungen und alten Zeitungen, die von Gästen aus dem Reich und Ausland in den Fremdenzimmern weggeworfen worden waren. Auch waren den ganzen Tag Saucieren, Assietten, Pastetenbüchsen und Fischterrinen, hohe Kelche mit Weinproben und flache Täßchen mit vielerlei Arten von Tee und Kaffee und Schokolade um den kranken Alten aufgebaut. Keine unbekannte Sorte Weines, kein neues Gericht, von denen er nicht kostete. Kein Stück alten oder neuen Hausrats, das er nicht beschaute. Es war ein Zug seines Wesens, alles überblicken und um sich häufen zu müssen, auch wenn es alt und hinfällig geworden war. Die Kammer seiner schönen Tochter hatte er mit sämtlichem Gerümpel an gesprungenen Spiegeln aus den Appartements für die Fremden überladen. Es gab nicht eine Regung des Gesichtes, nicht eine Geste der Arme, nicht eine Wendung und Neigung des Kopfes, die das junge Mädchen aus der Unzahl der Spiegel nicht genau an sich kannte. In den Winkeln und Luken, zwischen den matten und zersprungenen Spiegeln lebte nun die Wirtstochter hin, ihren Reichtum nicht ahnend, und sehnte sich danach, die Fremden des Gasthofs möchten ihre Freunde und der Gasthof ihr Palais sein, in dem sie über all die Küchenjungen, Mägde, Diener und Pferdeknechte gebot. War sie in solche Träume verzaubert, dann erfüllte es sie mit Entzücken, dem Türenschlagen im Hause, dem Trappen der Pferde und dem Räderrollen neu eintreffender Kutschen mit Gästen zu lauschen; dann vergaß sie völlig ihrer düsteren Umwelt und trug es dem reichen Vater nicht nach, daß er sie in die Giebelkammer verbannte, während sein Haus berühmt war um seiner lichten Räume und seiner Vornehmheit willen. Ohne Groll saß sie bei qualmendem Talglicht bei ihm, wickelte ihn in Decken und Kissen, reichte ihm ein Glas des schwersten Tokaiers und plauderte von dem, was ihr von Zofen und Mägden zugetragen wurde. Und ihr Vater zog wichtige Schlüsse aus ihrem Geplauder. Da war zum Beispiel Madame Buccalossi in Not, einst an König Friedrichs Oper eine große Sängerin, die höchsten Wert darauf legte, im Kochschen Gasthof zu logieren; noch immer hoffte sie Fremden aus Dresden zu begegnen, die ihr nach der Auflösung von König Friedrichs Hoftheater ein Engagement an König Augusts Oper vermitteln könnten. Ohne Frage zog sie die Aufmerksamkeit sehr vieler Gäste auf sich, aber neuerdings, so sagte die Tochter des Wirts, finde sie nicht mehr soviel Beachtung; die Anwesenheit des neuen Fräuleins von Wagnitz mit dem tief schwarzen Haar und den perlengrauen Augen tue Madame Buccalossi sichtlich Abbruch. Immerhin, eine Dachkammer war sie dem Wirt noch wert, zumal sie ihm seine Tochter im Gesang ausbildete. Er glaubte nämlich, es könnte Wunder wirken, wenn in seinem Gasthof ein wenig konzertiert würde, da in Berlin nur noch die Tuchmacher, Wasserleitungsingenieure und Soldaten etwas galten und der Aufenthalt in der Hauptstadt für seine Gäste reichlich langweilig zu werden begann; leider hatte Madame sich geweigert, selbst im Kochschen Saale eine ihrer einst so bejubelten Arien zu singen.

Neben der aus königlichem Dienst entlassenen Sängerin verstand auch der Expräsident Professor Gundling noch immer einen größeren Kreis von Gästen allabendlich um sich zu versammeln; er wußte spannend und witzig – und sehr eingeweiht vom alten Hofe und dem Anfang des neuen zu erzählen. Der Herr Professor, dem sein Geld ausging, brauchte immer nur sein erstes Glas zu bestellen; die weiteren Becher und Kelche wurden ihm von Fremden reichlieh eingeschenkt. Auch ihm ließ sich noch eine Kammer bewilligen; auch dieser rentierte sich noch.

Eine dritte Bodenstube, die der Wirt seiner Tochter und sich selbst entziehen wollte, gedachte er an den Rat Creutz zu vermieten. Der war zwar nicht vornehm wie frühere Räte – und die Rechnungskammer war ja ein noch gar zu junges Unternehmen –, auch konnte er sich gewiß ein Appartement im Gasthof Koch auf Jahr und Tag noch nicht leisten; doch war es ein Beweis von höherem Streben, daß er bereits in Kochs erlesenem Hotel Quartier zu nehmen suchte; und schließlich mußte man mit des neuen Königs neuen Herren zu paktieren beginnen. Es war ein harter Handel mit dem neuen Rat, um Groschen und Pfennig; aber der Wirt, wenn auch mit grämlichem Seufzen, war schon entschlossen, nachzugeben.

 

Die Diener hatten an den langen Tafeln und den kleinen Tischen die hohen Leuchter entzündet. Fünf weiße, ebenmäßige Kerzen trug jeder Leuchter; schon im Entflammen dufteten sie edel. Die von Madame Buccalossi sehnsüchtig erwarteten Fremden aus Dresden waren mit mehreren Kutschen und reichlichem Personal vor einer Stunde eingetroffen und speisten in großem Kreise an gemeinsamer Tafel mit der Sängerin; noch immer war sie eine glanzvolle Erscheinung, und man rühmte ihr eine große Ähnlichkeit mit der Königin nach; leider mußte Madame Buccalossi der Unterhaltung entnehmen, daß man zu Dresden nur noch Italienerinnen an der Oper wünsche.

Die übrigen ständigen Gäste des Kochschen Hotels hatten sämtlich kleine, separate Tische: der Expräsident Professor Gundling; das Fräulein von Wagnitz, das in schwierigen Geldgeschäften in Berlin weilen sollte; der neue Rat Creutz.

In kleiner Freundesgruppe soupierte, von allen Einheimischen erkannt und den Fremden sehr diskret gewiesen, der Staats- und Kriegsminister von Grumbkow. Er war sehr frühe aus dem Krieg am Meere heimgekehrt, da er sich gleich zu Anfang des Feldzuges ein Bein verstaucht hatte, so daß er nicht in den Laufgraben gehen konnte wie die anderen Ministergenerale. Leider tauchte da und dort nun die Erinnerung auf, daß er auch vor Malplaquet während der ganzen Schlacht in einem Graben hockte. Doch was man auch redete: Grumbkows Auftreten war von einer solchen Sicherheit, daß er nicht einmal den Versuch unternahm, das Tischgespräch von dem heiklen Thema des Krieges abzulenken. Er sprach, obwohl er als der glänzendste Gesellschafter bekannt war, überhaupt nur wenig; denn er prüfte sorgsam jeden Bissen, den er aß; er hatte die Absicht, Wirt Kochs Ersten Küchenmeister für sich selbst zu engagieren, wenn ihm der König endlich ein angemessenes Ministergehalt bewilligen würde. Grumbkow zweifelte nicht an der Erfüllung seines Wunsches. Der König kam als Sieger heim.

Dem Präsidenten Gundling war vom Minister Grumbkow für seinen Gruß ganz ungemein verbindlich gedankt worden, hatte man doch unter dem alten König nebeneinander hohe Ämter bei Hofe bekleidet. Später rückte dann der Präsident in die Tafelrunde des Ministers ein. Man lachte viel, war sehr animiert und bewunderte im geheimen den Professor, der sein Unglück so ganz als Kavalier und Grandseigneur zu tragen verstand. Als Grumbkow Gundlings Glas wieder füllte, bemerkte er den Gruß des neuen Rat Creutz. Er dankte kühl und nicht ohne Befremden.

Creutz empfand keine Demütigung. Er dachte an diesem Abend nicht mehr an die Last und an das Elend seiner Herkunft. Er sah die untrüglichen Zeichen des Aufstieges, und weil der Wein in allen Gläsern leuchtete, die Fülle der Kerzen überhell strahlte, die Frauen lachten und die Diener, ihm wie den Vornehmen zu servieren, leise von Tisch zu Tisch eilten, wurde ihm dieser Tag als der erste seines Lebens zum Feste. Er war Rat an der neuen Rechnungskammer des siegreichen Königs! Der König hatte ihm, dem Mann der Gasse, das Amt der Ziffern und Zahlen übergeben, die allein nicht trogen – ein immer noch geringes Amt, aber Creutz war es, als umschlösse es all die anderen, höheren mit eisernem Ringe. Er wußte, was ein Groschen war; und darum hatte ihn der Herr ans Rechenpult gesetzt; oh, er wollte rechnen – rechnen und abrechnen mit denen, die seine Jugend ins Elend bannten. Er hob sein Glas und sah auf die Frauen; die strenge Kälte, der quälende Ehrgeiz, die Schwermut seiner frühen Jahre erloschen zum ersten Male in ihm. Nichts war in ihm als das eine, berauschende Gefühl, daß nun die Stunde des Beginnes anbrach. Vielleicht würden einmal diese alle hier in einem Saale seines eigenen Palastes an seiner Tafel sitzen; vielleicht würden alle hier, auch die Frauen, sich darum bemühen, ihm zu gefallen: das Fräulein von Wagnitz mit den perlengrauen Augen, die ihm in all ihrem Hochmut manchmal doch so flehend schienen; die berühmte Buccalossi; all die Unbekannten. Nur begriff er nicht, warum seine Gedanken immer wieder zu der Ramen gingen. Aber die allein war Blut von seinem Blute und teilte mit ihm Herkunft und Anfang und das Wissen um die Maßlosigkeit des Ehrgeizes und der zu lange niedergekämpften Wünsche.

Als Creutz schon in seine Kammer hinaufgegangen war, um nicht gar zu lange unter den Zechenden zu sitzen, ohne neuen Wein bestellen zu können, ging es im Saal noch laut her. Man stürzte an die Fenster, man befragte, lebhaft und alle Gemessenheit der Sitte vergessend, die später noch eintreffenden Gäste. Minister von Grumbkow begab sich, kaum daß das Gerücht nur aufgetaucht war, hinweg. Es hieß, der König sei unerwartet eingetroffen und ohne daß einer es merkte vom Potsdamer Tor her soeben am Kochschen Gasthof vorübergefahren. Viele der Gäste gingen noch einmal zur Schloßfreiheit. In den Straßen war trotz der Kälte und Dunkelheit regeres Leben, als sonst am lichten Tage herrschte. Im Zeughaus brannten Ampeln über den Kanonen; noch tief in der Nacht hängten sie die Kriegsfahnen auf, ohne alle Feier. Das Gerücht schien bestätigt.

 

Am ersten Morgen nach der Heimkehr gehörte eine Stunde den Kindern. Madame de Montbail führte sie dem König zu. Seine drei Kinder waren noch der gleichen Gouvernante anvertraut, die einst die Jugend des Königs behütete. Wilhelmine und Friedrich hielt sie an der Hand; eine Kindermagd trug Friederike Luise, die Tochter, die er sich nach Charlotte Albertinens Tode so ersehnte.

Der König tat sehr aufgeräumt und lustig, damit Frau von Montbail, die ihn wohl doch zu gut kannte, seine Bewegung und Rührung nicht merke. Wie lange hatte er die Kinder nicht gesehen; und der Krieg war eine Trennung in die Tiefe. Ach, es war ja nicht üblich an den Höfen Europas, daß Herrscher, ja, nicht einmal die Fürstinnen nach dem Leben ihrer Kinder fragten, es wäre denn ein Paradieren mit dem ältesten Sohne, für dessen Erziehung man ein umfangreiches Reglement entwerfen ließ –. Die übrigen Kinder wurden ja nur bei besonderer Gelegenheit vor den hohen Eltern, dem Hof und seinen Gästen präsentiert. Sonst sah man sie nicht. Doch wurden sie unentwegt von den größten Meistern Europas gemalt. Dies alles wollte er in seinem Hause nicht. Er mußte um das Leben seiner Kinder wissen.

Seht, Wilhelmine war immer noch blaß; doch schien sie gewachsen; und die Manieren der Sechsjährigen waren wirklich sehr artig. Sie verstand es, in ihrem Samtmantel mit der großen Schleppe fürstinnenhaft einherzurauschen, einen Bund Blumen für den König in den Falten ihres Überwurfs verbergend. Sie erstarrte in tiefer Verneigung; erst als er sie an sich drückte, als er das schmale Gesichtchen in beide Hände nahm, war sie von Zeremoniell und Zwang befreit und lächelte den strahlenden Mann in der blanken Uniform zaghaft an.

Auch der vierjährige Friedrich versuchte sich in hofgerechter Verbeugung und küßte dem Vater die Hand. Es geschah noch unsicher, aber der König äußerte sich vor Madame de Montbail ganz außerordentlich zufrieden; sehr adrett sehe der Prinz aus.

Der trug eine duftige kleine Perücke, das Haar aus der Stirn gekämmt. Der Vater strich flüchtig über das weiße Gelock. Die Hugenottin bemerkte eine leichte Falte des Unmuts zwischen den Brauen des Königs. Sie hatte sie schon an dem Knaben Friedrich Wilhelm gekannt. Es störte den König, daß er von Perückenmachern und Friseuren künstlich gestuftes Gelock liebkoste und nicht das liebe Haar seines einzigen Sohnes. Aber so war es der Wunsch der Königin, und der Herr gedachte seiner alten Montbail nicht wehe zu tun mit Tadel oder Vorschrift. Mochte das Fritzchen sich selber helfen; war ja ein Bursche von vollen vier Jahren! Nicht wahr, genau vor einer Woche war sein Geburtstag? Frau von Montbail mußte dem König rasch die dringlichsten Wünsche des Prinzen verraten. Die alte Baronin kniete sich zu ihrem Zögling nieder; sie erklärte ihm das gnädige Anerbieten des Vaters. Das Männlein war sehr froh, sich wieder von dem fremden Vater abwenden zu dürfen und sich mit seinen Erwägungen abgeben zu können. Das Fritzlein schwebte wie die Tugend selbst durchs Zimmer, in einem Röckchen von pfauenblauer Seide, das noch die kleinen Schuhe bedeckte, den Mund gespitzt, die graublauen Augen groß aufgeschlagen – die Erziehung der Montbail trug sichtbare Früchte. Ob sie denn mit dem Bürschlein noch fertig werde, fragte der König seine alte Gouvernante; er selber habe doch manchmal überhaupt nur vom Sims des geöffneten Fensters, hoch über dem Fluß, über ein Entweder-Oder mit ihr verhandelt.

Das Fritzlein, ebenso artig wie geweckt, bemerkte, daß von ihm gesprochen wurde. Als lockte ihn etwas am Fenster, ging der kleine Prinz unhörbar leise zur Nische, spielte ein wenig mit der goldenen Vorhangschnur, ganz wie ein zerstreuter Erwachsener, und blickte beharrlich hinaus; kein Wort, das ihm entging.

Ob sie sich wohl entsinne, fuhr der König im Gespräch mit der Montbail fort, wie er in einer ihm aufgezwungenen Robe – auch von der Art, wie das Fritzlein sie trug, im Augenblick vor einem Festbeginn im rußigen Kamin verschwand? Und wie er sein erstes männliches Kleidchen zwar mit Vergnügen betrachtete, den brokatenen Schlafrock, den er dazu erhielt, aber sogleich als Knäuel in das offene Feuer schleuderte? Ein Vierjähriger brauche eben schon die Montur. –

Aus den Andeutungen und Scherzen, den flüchtigen Äußerungen und Fragen entnahm Madame de Montbail sehr bald, was der König nun recht eigentlich auf dem Herzen hatte. Schließlich kannte sie ihren einstigen Zögling. So war immer seine Art gewesen, wenn er einem nicht wehtun und dennoch seinen Willen beharrlich durchsetzen wollte. Er umkreiste sein Thema von allen Seiten, er ging nicht davon ab; er führte alles darauf zu; nichts hatte sich daran geändert. Das Fritzlein und sein seidener Rock, das Fritzlein und die Montur – es stand außer Frage: der Kronprinz sollte in männliche Erziehung kommen. Der König kam als Sieger aus dem Krieg und verlangte seinen Sohn für sich; er hatte als Enkel erreicht, was dem Großen seines Geschlechtes nach allem Kämpfen und Leiden versagt blieb: das war die erste Tat für seinen Sohn.

Die Montbail machte es dem Herrn und einstigen Zögling leicht und sprach es selber aus, er habe einmal gesagt, ein Fürst müsse von seinem vierten Jahre an von Männern aufgezogen werden.

Und die Wehmut ihres Herzens niederzwingend, redete sie mit der Unbefangenheit des Alters, das seiner letzten Lasten ledig wird, und mit der Sicherheit der Frau, die durch ein Menschenalter nur am Hofe lebte. Madame de Montbail lächelte und flüsterte wegen des Fritzleins, doch ihre Gedanken gingen in den Gesprächen dieses Morgens gar eigene Wege. Was lag auch näher, als daß sie die Spanne des letzten Vierteljahrhunderts vergaß und den Knaben Friedrich Wilhelm mit dem Knaben Fritz verglich, als handle es sich nicht um Vater und Sohn. In ihrem Herzen standen sie nebeneinander: Brüder, Kinder eines deutschen Fürstenhauses, das ihr, der Glaubensemigrantin aus Frankreich, unsägliche Wohltat und unbegrenztes Vertrauen bewies. Sie sah im Geiste wieder des kleinen Prinzen Friedrich Wilhelm Kinderstube voller Waffen hängen. Aber die Schublade des »martialisch« gescholtenen Knaben lag voller kleiner Bilder, die er gemalt oder ausgeschnitten hatte. Manchmal war er noch stiller gewesen als das Fritzlein; und das Fritzlein war doch ein so leises Kind, das sich sehr gern in der Nähe der Damen aufhielt; ein wenig zerfahren und vergeßlich war das Fritzlein; aber am Clavecin, nun es die ersten Tonleitern und Etüden zu üben galt, ließen Fleiß und Eifer nicht nach.

Der König stand bei der Kindermagd, die steif und verlegen das jüngste Kind vor ihn hinhielt. Der Vater betrachtete das Töchterlein ernst. Als er in den Krieg zog, war es ihm nur ein winziges Bündel in Kissen und Spitzen gewesen, das Mädchen Friederike Luise. Nun war es längst ein kleiner Mensch mit sehr ausgesprochenem Gesicht, Zug um Zug schon völlig sichtbar der Mutter Königin ähnlich. Endlich wußte er etwas von dem jüngsten Kinde; endlich war es ihm nicht mehr ein gänzlich fremdes Wesen; denn sollte es ihm nicht der Ersatz werden für das verlorene Mägdelein Charlotte Albertine, das hinschwand, ohne daß er je sein Werden sah? So völlig hatte die Unrast der ersten Regierungszeit seine Tage verzehrt. Und nun war das erste Jahr des neuen Kindes abermals verloren. Als er die Tochter Friederike Luise jetzt wiedersah, lieblich im Abglanz der mütterlichen Züge, vermeinte er erst ganz zu begreifen, welches Opfer die Gattin ihm brachte, als sie das Kleine ihren Frauen übergab und ihm in das Stralsunder Lager folgte.

In solchen Augenblicken geschah es immer von neuem, daß der König die Gattin noch stärker, noch ergriffener zu lieben begann als bisher. Er lachte in der Vorstellung, daß seine Ehe den auswärtigen Höfen als Sache der Konvenienzen und Kontrakte bekannt war und daß sich niemand um die Erwägung bemühte, ob nicht auch das Produkt der Staatsräson sich sehr wohl einmal zur wirklichen Ehe verwandeln könne. Er war den Berichterstattern der fremden Höfe ein gar zu herber Liebhaber einer gar zu kühlen Braut gewesen. Heute aber glaubte er, daß kein Mann auf der Welt leuchtendere Beweise einer großen Liebe empfangen könne, als er sie in dem bald sich rundenden ersten Jahrzehnt seiner Ehe von seiner Gattin erhielt, bis hin zum Geleit in den Krieg: als Schwangere!

Die Königin trat zu dem Gatten und den Kindern. Die Müdigkeit, die sie jetzt manchmal überkam, war wie verweht. Sie sprach entzückt von der Tochter; sie überstürzte sich in Lob, daß die Prinzessin während ihrer Abwesenheit so viele Menschen gesehen und dadurch einigen höfischen Anstand, sich zu bewegen und zu sprechen, gelernt habe. Von nun an werde sie selbst sich Wilhelmines sehr viel annehmen, versicherte sie.

Der Vater meinte, die kleine Person scheine ihm aber doch recht blaß. Man dürfe ihr wohl nicht zu viel zumuten. Damit gab er der treuen Montbail die ersehnte Gelegenheit, zu bemerken, daß die Gesundheit der Prinzessin viel zu wünschen übrig lasse. Da sie aber dauernd unter ärztlicher Obhut gestanden habe, brauchte man jedoch die Majestäten während ihrer Abwesenheit nicht zu beunruhigen. Der König drang weiter in seine Erzieherin, die ihm sein ältestes Kind, das erste, das nach dem Tod der beiden Söhne am Leben geblieben war, zu hüten hatte. Aber auf Wunsch der Herrin verschwieg ihm die Hugenottin den Blutsturz.

Die Königin beruhigte den Gatten. Sie selbst – er wisse es ja aus der Zeit, da sie am hannoverischen Hofe der gemeinsamen Großeltern weilten – sei auch so übermäßig zart gewesen, und man könne wohl nicht gut bezweifeln, daß sie recht rundliche Wangen bekommen habe. Dies letzte sagte sie lächelnd.

Fast überrascht sah der König zu ihr hin. Wahrhaftig, er hatte es über den eilenden Jahren nicht wahrgenommen, daß sie nicht mehr das schmale, junge Wesen war, in dem sein Vater so gern das verjüngte Ebenbild seiner gefeierten ersten Sängerin, der Madame Buccalossi, erblickte. In der wachsenden Liebe zu der jungen Mutter seiner Kinder hatte Friedrich Wilhelm nie danach gefragt, ob die Geburt der drei Söhne und drei Töchter sie veränderte. Nun erst bemerkte er, mit warmem Lächeln, die Fraulichkeit ihres Gesichtes und der vollen Arme. Er prägte sich die neu entdeckten Züge liebend ein und fand mit einem Male, es sei angemessen und sei an der Zeit, ein neues Bild von ihr malen zu lassen. Vor zwei Jahren wäre es besser gewesen, meinte die Königin leicht klagend. Aber er schüttelte beharrlich den Kopf. Gerade jetzt, nach dieser Heimkehr, sei es am schönsten. Die Gattin spielte flüchtig auf ihren Zustand an. Der König blieb ernst und entschlossen; gerade das meine er. Die Königin rückte ein wenig unruhig an ihrem Schmuck. Sie wagte den Vorstoß.

»In jedem Fall wird es Meister Pesne eine große Beruhigung sein, daß er den ersten Auftrag von Ihnen erhält.«

Der König wurde nachdenklich. Lange hatte er nicht nach dem berühmten einstigen Direktor an der Akademie des verstorbenen Vaters gefragt; er hatte seinen Posten nicht gestrichen; er hatte ihm auch die Bezüge, die ihm, dem aus Frankreich und Italien Herberufenen, zugesichert waren, ausgezahlt; aber dies war nun wahr: es gab keine Kunst mehr im Lande, seit er König war. Worauf wartete Pesne?

 

Pesne war sehr glücklich. Eine lange, entsetzliche Zeit des Nichtbeachtetseins war mit dieser Stunde durchstrichen. Er, der gefeierte Frauen-, Schmuck- und Kostümmaler aus alter Pariser Künstlerfamilie, wußte den biederen Uniformpinsler Weidemann in seinem alten Akademieamte walten – er, der Meister der Farben und Köpfe, dem man an allen Tischen des Kochschen Gasthofes nachrühmte, er male die Damen ähnlich und dennoch viel schöner, als sie in Wirklichkeit seien.

Er bedachte nicht, daß jener »Uniformpinsler« zum mindesten, als er den Knaben Friedrich Wilhelm für das Schloß der Frau Mutter in Charlottenburg malte, Künstler gewesen sein mußte wie er, und daß Herr Friedrich Wilhelm in Weidemann keinen Schlechten in sein, Pesnes, bisheriges Akademieamt berief. –

Pesne gab sich aber vor dem König liebenswürdig und bescheiden; das entsprach auch der Sanftheit seiner blauen Augen und seiner friedlichen Rundlichkeit, die dennoch der Eleganz seines Auftretens nichts raubte; trug er nicht die Perücke, sondern sein schwarzes Gelock, wirkte er nahezu schön. Er überging das Vorgefallene; er beklagte sich nicht beim König über die Wartezeit. Dagegen fragte der Herr, wieso Pesne nicht wie die anderen Künstler aus dem neuen Berlin in die alte Heimat zurückgegangen sei. Der antwortete mit großer Anmut des Geistes.

»Ich entsann mich, daß Eure Majestät als Knabe manchen Taler auswarfen für Blumen und Farben. Ich habe zuviel Brüder, Schwestern, zwei Töchter, drei Söhne, ungezählte Neffen, Nichten, Schwäger, Schwägerinnen, die alle ihre ersten Taler so verwendeten – und alle noch den letzten dran setzen werden. Majestät werden Ihrem Schicksal nicht entrinnen.«

Das gefiel dem König nicht übel, und er wollte gleich noch wissen, ob noch immer all die unzählbaren Glieder der Familie Pesne und der Verwandtschaft seiner Gattin, der Dubuissons, derart eifrig über ihren Supraporten, Frucht- und Blumenstücken säßen.

»Eben jene Seßhaftigkeit der unzähligen Pesnes und Dubuissons, deren Zahl eine Auswanderung fast unmöglich macht – denn alle Glieder der Familie sind mir nachgefolgt –, hat mich aber auch hier festgehalten«, sagte mit resigniertem Lächeln der Maler, und damit nun endlich der Auftrag zur Sprache käme, wagte er die Frage anzudeuten, ob man von Majestät als dem siegreichen Herrscher ein Bild für den Rittersaal des Schlosses zu erwarten habe, etwa ein Porträt in ritterlicher Rüstung, den Purpurmantel über dem Panzer, den Marschallstab in der Rechten, im Hintergrund ein fliehendes Schiff. Pesne parlierte, als hätte er nötig, außerhalb seiner Bilder zu wirken; er redete beschwingter denn je.

Doch Majestät wehrte ab. Ein solches Porträt würde einen gänzlich falschen Eindruck von dem wirklichen Verlauf der Dinge geben; alles sei ganz anders gewesen. Außerdem wolle er das Bild seiner Frau.

Sofort beschrieb der Maler äußerst lebhaft, wie er Ihre Majestät abzubilden gedenke, und zwar auf dem Ruhebette vor dem Hintergrunde eines römischen Feldlagers; Mars, sie beschirmend; Venus, ihr dienend –

»Nein«, sagte der König, »das muß durchaus anders sein.«

Pesne gestand umständlich, daß natürlich die Schwangerschaft Ihrer Majestät einige Schwierigkeiten bereite. Der König achtete nicht auf den Einwurf. »Ich möchte«, sprach er ziemlich rechthaberisch weiter, »meine Frau in einem ganz bestimmten Augenblick festgehalten wissen, nämlich wie sie in meinem Kriegszelt ihre neue Schwangerschaft verhieß.«

Es war schwer für Pesne, sich sein Entsetzen nicht anmerken zu lassen.

Der König wünschte, daß er sich sofort zu der Gattin begebe, die erste Sitzung zum Porträt zu vereinbaren. Unverzüglich sollten ihm die erforderlichen Zimmer als Atelier renoviert werden.

Die Königin traf der Maler weniger gut gelaunt. Der Herr Vater hatte ihr seine hannoverischen Musikanten und Komödianten für ihren Hof in Monbijou sehr gnädig angeboten, da er in London in seiner neuen Königswürde bereits über ein sehr großes und berühmtes italienisches und französisches Ensemble und Orchester verfügte, während es seiner Meinung nach in Berlin in dieser Hinsicht trostlos bestellt sein mußte.

Hatte die Königin von Preußen, so fragte sie Herr Friedrich Wilhelm, denn wirklich geglaubt, daß die Sänger, Akteure und Musiker, die dem Londoner Hofe nicht zu genügen vermochten, in Berlin auch nur den Vortakt einer Notenzeile spielen, die ersten Verse eines Prologes deklamieren durften? Der König versagte der Gattin den glorreichen Einzug in Berlin, die fürstliche Rückkehr aus dem Stralsunder Lager; er verwehrte ihr, die schöne Gabe ihres Vaters anzunehmen. Was also brachte ihr der siegreiche Abschluß des Krieges? Seehandelsberichte als Tafelgespräche? Die Tochter des Königs von England wollte nicht wissen, welch armen Landes Königin sie war. Nun aber sollte sie von Pesne gemalt sein?

Es belebte sie doch sehr, und namentlich beschäftigte sie die Frage, welche Embleme wohl ihr Bild erhalten werde, Preußens Adler oder Hannovers springendes Rößlein, und wie man daneben etwa ihre nahe Beziehung zur dreifachen Krone Englands, Irlands und Schottlands andeuten könne.

Er werde ihr, schlug Pesne sogleich die Lösung vor, ein Wappenschild in die Rechte geben, auf dem sie sinnend die drei Kronen Britanniens betrachte; und ein Löwe werde ihr zu Füßen liegen.

Dies fand die Königin schön. Ihr Herz pochte schneller, ihr Blick wurde stolzer.

Ein Adler! Ein Rößlein! Ein Löwe! Drei Kronen!

Plötzlich dachte sie an ihre drei Kinder, und das vierte, das zum Leben drängte, glaubte sie in ihrem Leibe hüpfen.

An die drei toten Kinder dachte die Königin nicht.

Nochmals trat der König zum Maler; unangemeldet erschien er im Zimmer der Gattin.

»Meister Pesne«, sprach er sanft, »geht in den Dom, in die Gruft, seht Euch das Wachsenglein an und malt mir meinen ersten Sohn, als ob er lebe, im Gartenwagen durch die Blumenwege fahrend, wie sie damals hier waren. Und damit das Bild nicht gar so traurig wird, gebt dem Knaben ein Mohrlein zur Seite, das mit ihm scherzt.«

Die Pesnes und die Dubuissons, die beiden glücklichen und malenden Familien, sollten wieder viel zu reden und zu planen haben. Anders war ihnen auch nicht wohl.

 

Rat Creutz war sehr erstaunt, als er in königlichem Auftrag Geld für ein Gemälde auszahlen mußte. Für einen Augenblick schien ihm die Rechnungskammer zu wanken. Er liebte sein Amt, das Übermaß der Arbeit und die Stille des Winters, in der er unablässig Zahl auf Zahlen häufte, indes die Felder und die Bauten und mitunter auch sogar die Exerzitien ruhten. Er liebte den weißen, kühlen, festen Schnee, der das Unebene so gleich und klar machte und allen Unrat verdeckte. Er liebte das herbe, reine Licht der hellen Stunden. Er liebte die Sonne, die nicht wärmte. Von seinem Schreibpult aus sah er die Sonne aufgehen und sinken, denn das Pult stand vor einer glatten, weißgetünchten, fensterlosen Wand, und die Fenster der Amtsstube befanden sich zur Rechten und Linken des Pultes.

Immer, wenn der Rat die Rechnungskammer morgens betrat, war es noch dunkel, nur daß im Ofen die Holzscheite flackerten, die der Schreiber gerade eingelegt hatte. Wirklich warm wurde es in dem Raum zu ebener Erde nie. Aber auch das war dem Rat nur angenehm.

Ehe er seine Arbeit begann, beobachtete er noch im Lichtschein des einzigen Talglichts, ob der Schreiber auch ja in alle Winkel frischen Sand ausschüttete. Danach streifte er leinene Schutzhüllen über die Rockärmel, schlug sein Pult auf und hob die schweren, engbeschriebenen Bücher aus der Lade. Die Federn fand Rat Creutz schon gespitzt vor. Er pflegte am Abend die Arbeit damit zu beschließen, daß er die Federn zum morgigen Tagwerk selbst schnitt. Wurde es hell, so warf er noch einen letzten Blick auf den Tag. Im Schnee war noch die Spur der eigenen Schritte; kein Mensch war hier nach ihm gegangen, so früh war die Stunde. Die Seiten, die er nun aufschlug, waren weiß wie der kalte Schnee vor der Tür. Die langen Reihen dunkler Zahlen glichen seinen Fußstapfen, als bezeichneten beide den kalten und einsamen Weg eines Mannes. Schritte und Zahlen redeten eine harte Sprache. Allen Verschwendern im Haushalt des Staates waren sie unablässig und unnachsichtig auf der Spur. Sie zerstörten die Hoffnungen des Königs. Aber wer ihm verfrühte Hoffnungen nahm, wer ihn von dem Rest einer Lüge befreite, den nannte der König unter seinen besten Dienern.

Dies war die hohe Fähigkeit des jungen Rat Creutz, Verhängnis und Verfehlung in Zahlen zu bezeichnen, in Ziffern alle Mängel unverrückbar festzulegen. Ah, hier stand es in Zahlen und Daten: die Verzweiflung des Volkes, die Verwahrlosung des Staates, ehe König Friedrich Wilhelm kam; die Wendung zum Ausweg und zur Ordnung in der kurzen Spanne von der Thronbesteigung bis zum Auszug in den Nordischen Krieg; danach die Stockung alles neuen Antriebs, als der König Feldherr wurde auf der bleichen Ebene am Wintermeer; endlich der neue Ausbruch alter Not, die lässige Verschwendungssucht hoher Räte und Minister, die sich, ohne die Aufsicht des Herrn, im Besitz ihrer früheren Vollmacht zu fühlen schienen; ah, es war alles zusammengefaßt am Ende jeglicher Seite, in einer einzigen Summe unter dünn und gerade und sauber gezogenem Federstrich. Auch das Elend einer Jugend, der Haß gegen alles, was die Gasse barg; der Haß auch gegen alles, was von draußen her die Gasse umringte und abschloß, sie hatten die kalte, lähmende und unerbittliche Sprache gefunden: Addieren, subtrahieren – nichts anderes waren die Schritte im Schnee, die Zahlen auf dem weißen Blatt. Ziel und Summe aber war, der oberste Rechner im Lande zu werden: einer, der das Leben der Kassen beherrschte. Denn die Kasse war ihm der Himmel der Zahlen. Auch Rat Creutz hatte einen Glauben.

Der Vormittag war mit den Zahlenreihen vorgerückt. In Reihen und Strichen erbaute der Tag des Rats sich seine Ordnung. Dann störte Unvorhergesehenes das klare Gefüge durchrechneter Stunden.

Der Schreiber stahl sich ins Zimmer und flüsterte dem Rat ins Ohr, das Fräulein von Wagnitz stehe draußen im Flur und zittere vor Kälte trotz seines schönen weißen Pelzes.

Creutz empfand beides: Genugtuung und Zorn; Genugtuung, daß eine der Damen des hochfahrenden Landadels bei ihm um Gehör bat; Zorn, daß sie wahrscheinlich bei ihm nur den letzten Versuch unternahm, nachdem ihre Standesgenossen sie abgewiesen hatten. Mochte das Fräulein noch eine gute Viertelstunde warten; dann durfte es erscheinen. Creutz spürte mit Bitterkeit: was half es ihm, daß er sein weniges, sein mühevoll erworbenes Geld dafür ausgab, im Speisesaal des Kochschen Hotels unter den Vornehmen und Hochgestellten sein Abendbrot nehmen zu dürfen. Es brachte ihn den Hochmütigen nicht näher; es trennte ihn nur noch strenger von ihnen. Er war unter ihnen, und sie übersahen seine Gegenwart.

Auch als das Fräulein von Wagnitz schon in die Amtsstube gebeten war, blickte der Rat noch immer nicht von seinen Akten auf; nur daß er, im Schreiben, das Fräulein bat, doch Platz zu nehmen. Groß und schmal, im knappen, langen Rock, die grünen Leinenhüllen um die Ärmel, stand er am Pult. Erst als die Spalte, mit der er sich mühte, aufgerechnet war, wandte er sich dem Fräulein zu. Und nun vermochte er, der weltmännische Manier und Gemessenheit noch nicht beherrschte, sein Erstaunen nicht zu verbergen, so fürstlich erschien ihm die Bittende. Er hatte die junge Fremde im Kochschen Gasthof immer nur von fern am Tisch mit ihrer Begleiterin gesehen. Nun erst gewann er den vollen Eindruck ihrer Schönheit. Sie war groß, doch zart und sehr schlank. Zum winterlichen weißen Pelzhut trug sie ihr eigenes dunkles Haar; Brauen und Lider waren sorgsam mit dem Stift umzogen, die perlgrauen Augen noch größer erscheinen zu lassen, als sie in Wirklichkeit schon waren. Zu ihrem schwarzen, samtigen Reifrock trug sie einen kleinen, um die Hüften fest schließenden, schneeweißen Pelz und keinerlei Schmuck als einen Ring mit einem Diamanten von ungewöhnlicher Größe und Klarheit.

Creutz verfolgte aufmerksam jede ihrer Bewegungen; er sah, wie sie den Muff hielt oder das Schleierchen zurückstrich; nichts entging dem jungen Rat, vor allem nicht der Glanz des Diamanten. Er könnte das Glück einer Jugend und mühelosen Aufstieg bedeuten, dachte Rat Creutz, der aus den Gassen der Armut kam; warum läßt sie sich herab, sich vor mir mit Bitten zu demütigen? Ich vermag ihr nichts zu verschaffen, was diesem Wert auch nur annähernd gleichkäme.

Noch niemals hatte er solche Sicherheit der Rede und Haltung wahrgenommen. Das Fräulein von Wagnitz war erregt, ganz gewiß; doch wer hätte überlegter zu sprechen gewußt; kaum daß im Unterton ihrer Worte Heftigkeit und Bitterkeit mitschwangen. Daß aber der vornehmen jungen Dame ihre Beherrschung nicht leicht fiel, verrieten ihm zwei plötzlich sich abzeichnende, gerade dunkle Striche unter den Augen.

Das Fräulein holte Briefe und Rechnungen, Schuldscheine, Überschreibungen und Pachtverträge hervor. Der Rat hielt prüfend das dritte Blatt in der Hand. »Hiernach, Madame«, sprach er, »werden Ihre Gläubiger binnen kurzem in Berlin eintreffen. Ein verlorenes Gut, vernichtete Höfe, ein verschuldetes Schloß – man kann sie durch die Flucht nicht leugnen. Außerdem, Madame, sind dies Affären des Adels, die keinesfalls für meine bescheidene Amtsstube bestimmt sein dürften.«

Die Wagnitz preßte unruhig die Hände gegeneinander. Wieder waren die geraden, dunklen Striche unter ihren Augen, und der Glanz der grauen Sterne schimmerte in der Erregung bis ins tiefe Schwarz.

»Ich weiß sehr gut, was Sie sagen wollen, mein Herr. Aber ich bin schon von Kammer zu Direktorium und von Kollegium zu Kommissariat gefahren. Man hat mich über Zuständigkeiten aufgeklärt; aber man hat mich nicht angehört. Ich kann nicht warten, bis der König die Geschäfte wieder aufnimmt. Ich brauche ein Amt, das mir rechnen hilft. Ich brauche den Beistand dieser einen neuen Kammer, die vom König eingesetzt und Ihnen anvertraut ist. Man hat an allen anderen Stellen nichts davon wissen wollen,; daß mein Gut verfällt, wie ich alles Besitztum meiner Nachbarschaft, Verwandtschaft und Bekanntschaft in ganz Preußen verfallen sah. Wir sind Bettler und müssen dennoch nach den ungeschriebenen Gesetzen unseres Standes aufzutreten wissen, wie Frankreichs Herzoginnen am Hofe des Sonnenkönigs. Heute und morgen tun wir es ihnen, vom letzten Darlehen, noch gleich; übermorgen aber sind wir allem Elend preisgegeben. Die Felder, mein Herr, liegen Jahr um Jahr verwahrlost; aber ihre Herren leben heiter in Warschau und Paris; unter Menschen und Tieren war die Pest, die Städte sind entvölkert, die Dörfer verwahrlost, aber die Schlösser, deren letztes Wertstück den Wucherern gehört, sind von anspruchsvollen Gästen überfüllt –«

Der König hatte leise die Tür geöffnet. Er legte den Finger auf die Lippen, Creutz hinter dem Rücken der jungen Dame Schweigen zu gebieten. Der Rat verstand ihn sogleich. Der König hörte wie gebannt zu. Aber er wollte, auch wenn er unerkannt blieb, kein heimlich Lauschender sein. Er grüßte höflich, bat um Vergebung ob der Störung und stellte sich als Oberst vor, der lebhaften Anteil nahm an den Schilderungen des gnädigen Fräuleins, zumal er demnächst das Land im Osten selbst kennenlernen werde, da ein Kommando ihn dorthin berufe.

Er wollte weiter von den dunklen Dingen hören, die auf sein Herz einstürmten, als träfe ihn der Vorwurf schwerer Versäumnis. Nach diesem Ostland hieß sein Reich ja Preußen –.

Noch niemals hatte er eine Frau so leidenschaftlich klagen und anklagen hören. Und es galt seinem Lande! Dies allein entnahm er ihren Worten, und der Gedanke lag ihm fern, daß das Fräulein von Wagnitz auf Braunsberg in der Amtsstube des Rat Creutz lediglich gegen höchst private Gläubiger kämpfte.

Die junge Frau erschien ihm als eine Richterin.

»Aller dieser Angelegenheiten muß sich der König schleunigst anzunehmen suchen«, rief der Oberst; und zu Rat Creutz gewandt, bemerkte er: »Halten Sie es dem König dreimal des Tages vor, daß er hinauf nach Preußen muß.«

Die Wärme seiner Anteilnahme tat dem Fräulein wohl. Der Oberst hatte alle Artigkeit der Kavaliere, die es kannte, darüber hinaus jedoch eine schützende und ratende Art, wie sie der Baronin noch nie an einem Manne begegnete. Creutz aber hob es in ihren Augen höher, daß er von einem solchen Obristen so vertraut in seiner Amtsstube besucht wurde, und sie gedachte, abends bei Koch einige verbindliche Worte an ihn zu richten.

Als sie gegangen war, sagte der königliche Oberst zum Rat: »Dies ist mein Ernst, Rat Creutz, dreimal des Tages soll Er mir vorhalten, daß ich nach Preußen muß; dreimal des Tages, denn die hiesigen Geschäfte werden mich aufzehren.«

Creutz schlug die Bücher auf. Und als er die Spalten, Kolumnen und Rubriken mit ihm durchging, Zeile um Zeile, war dem König alles andere schon versunken.

Außer dem König von Preußen gab es keine Produzenten, Abnehmer und Auftraggeber. Leistungen lagen vor – Gewinne nicht. Ein tödlicher Kreislauf der Ware und des Geldes war vor dem König und dem Rechenmeister aufgedeckt. Daß die kurmärkische Armenlotterie wegen Geldmangels nicht zustande kam, der Herr nahm es hin.

Die Oder, die gab seinen Rechnungsbüchern und Kassen ein großes Werk zu tun! An ein und demselben Tage mußte es geschehen, daß er den letzten Federzug unter den Friedensvertrag mit Schweden setzte und den letzten Strich entwarf, den letzten Posten im Etat kalkulierte für seinen Plan der Schiffbarmachung der Oder und aller seiner Flüsse; notwendig gehörte ihm beides zusammen. Aber die Mittel? Aber das Geld? Noch war alles nur Verheißung; noch wies alles nur in eine weite Zukunft; noch war alle Gegenwart so arm und widerspenstig und beladen mit der Schuld – und den Schulden der Vergangenheit! Was nützte der Hafen zum Meer, wenn die Flüsse nichts taugten und für die Kähne keine Ladung da war?

Der König und der Rechenmeister, auf ihren Schemeln an den Pulten, waren über die Zahlenreihen gebeugt wie über strategische Karten. Sie führten auf ihre Weise den Schwedenkrieg nochmals von neuem.

Bereits im Laufe dieser Woche mußte für die Rechnungskammer des armen Mannes Creutz eine andere Unterkunft gemietet werden, und die neuen Amtsstuben sollten sich mit Schreibern für den einstigen Schreiber füllen. Der König gab viel Geld aus, nur um zu erfahren, welche Summen ihm fehlten.

Was der jüngste Rat des Königs von Preußen noch nicht zu wissen brauchte, behielt Friedrich Wilhelm für sich: Noch war der junge Herr über Preußen nicht so stark, daß er auch nur das geringste von ihm aufgenommene Werk hätte abbrechen dürfen, sobald die Widerstände unbesiegbar schienen. Das harte Schicksal, das auch nur eines seiner Projekte traf, würde man sofort mit Eifer all den anderen Plänen prophezeien. Noch brauchten die Menschen täglich von neuem das Bild: Alles wird neu! Alles wächst! Alles gelingt!

Der König wurde mitten aus dem Rechnen abgerufen. Kaum vermochte der Lakai zu sprechen, so atemlos war er vom Lauf. Es war unendlich schwer für die Lakaien, mit einem König umzugehen, dem man in einfache Amtsstuben nachjagen mußte. Diesmal aber war der Mühe nicht zu entrinnen. Der König mußte gefunden werden. Prinzessin Wilhelmine hatte einen Blutsturz.

 

Die Ärzte wollten ihr zur Ader lassen, dem Blut einen anderen Abfluß zu geben. Der König raste. Das war gegen allen natürlichen Verstand! Er wollte Ärzte, Ärzte haben und keine Kurpfuscher! Die Akademie sollte ihm Ärzte ausbilden, statt zeit- und geldraubende Spielereien mit astrologischen und mythologischen Kalendern zu treiben!

Der König eilte die Treppen hinab. Er stürzte selbst in die Apotheke des Schlosses und scheuchte den Apotheker und seine Gehilfen auf, denen es gerade gelungen war, ein Tränklein zu mischen, welchem ein hehres Epos der Antike Zauberkraft zuschrieb. Sie hatten manche Stunde ihrer Arbeit und manchen Dukaten des Königs an ihr Werk gesetzt.

Der König fegte die Retorten und Phiolen mit dem kindischen Gebräu vom zierliehen Gestell. Er rückte die allegorisch bemalten hohen Fayencedosen auf den Regalen rücksichtslos durcheinander, warf eine Reihe duftig ziselierter Fläschlein vom Eckschrein und fluchte über Unordnung und Dunkelheit. Nichts, was er griff, war mehr wert als gefärbtes Zuckerwasser.

Apotheker und Provisor hielten ihm ängstlich entzückende Büchsen mit feingestoßenen Pulvern entgegen. Aber dem König galten sie zu gar nichts tauglich als zum milden Abführmittel für verstopfte Damen.

Sein Zorn sah alles, den Staub auf den verschnörkelten Vitrinen, den Grünspan auf den Messingmörsern, den Unrat in den Winkeln zwischen alten Fässern und korbumflochtenen, bauchigen Glasbehältern. Nirgends fand der König eine klar erkenntliche Aufschrift oder deutliche Bezeichnung. Er warf die Tür hinter sich ins Schloß und stürmte die Treppen wieder hinauf zu seinem blutenden, vergehenden Kinde. Der Apotheker und seine Gehilfen rafften auf Tabletts zusammen, was Blicke und Hände nur erreichen konnten. Mit fliegenden, veilchenfarbenen Mänteln und wehenden Locken, angstvoll die unschätzbaren Medikamente vor sich haltend, folgten sie der Majestät nach. Oh, der arge Ruf bestand zu Recht! Der König war ein Feind der Wissenschaft! Nun wußten die Apotheker darum.

Während der König vor ihnen dahinstürmte, erstand vor seinem inneren Auge schon das Neue: eine reinliche und lichte Apotheke, hell übertüncht, die Bretter und Borde aus Silber und Glas, Dosen und Schachteln und Flaschen und Behälter ohne Zierat und Blumenmuster und olympische Szenen, dafür aber mit klarer und leichtverständlicher Aufschrift versehen. Die Mörser, Stäbchen, Löffel, Nadeln, Spachteln, Pinzetten und Gewichte werden pures Silber sein. Statt matter und befleckter Butzenscheiben werden breite, hohe Fenster die schweren Mauern zerteilen; und eine Abzweigung der Wasserleitung, die dauernd große Abflußbecken mit frischem Wasser nachfüllt, wird keinen Staub dem Wasser sich vermengen lassen. Freistehende, drehbare gläserne Platten werden alles tragen, was sofort zur Hand sein muß.

Europas beste Chemiker – es koste, was es wolle – in sonnengebleichten, weißen Leinenschürzen, das Haar zum festen Zopf gedreht, werden hantieren an Stelle der verspielten und verträumten Alchimisten in ihren lila Zaubermänteln und verstaubten Puderperücken.

Nun, da es still war im Gewölbe, huschten die Mäuse wieder hervor zwischen den Salbenbüchsen und Truhen mit getrocknetem Thymian. Sie schnupperten an zerschlagenen Dosen; sie stoben im Nu wieder in ihre Löcher und Winkel, als ein morscher Schrankflügel knarrte, den der ergrimmte König aus den Angeln riß.

Die Sonne lag schwer und gelb auf den matten, farbigen Butzenscheiben; denn der Wintertag war sehr licht. Aber in der Tiefe des Gewölbes blieb die Dämmerung. Wo es wie ein Sonnenfleck auf den Steinen des Fußbodens war, hockte schläfrig eine träge Ratte, die der kleinen Mäuse Unruhe nicht teilte. Hätte der König sie gesehen, er würde sofort ein Gesetz zur Vertilgung von Kellerratten erlassen und das Halten von Katzen zur Pflicht der Bewohner erhoben haben. Jeder Blick und Schritt des Königs schuf Ordnung.

Aber er selbst war in Verzweiflung und Verwirrung, als er zum zweitenmal den Blutstrom aus dem Munde seines Kindes quellen sah. Ärzte! Ärzte! Ärzte! Ein König kann entsetzlich arm sein. Der Ruf nach den Ärzten verriet es.

Der König gelobte, daß er allen Vätern helfen wolle, die sich wie er um ihre Kinder bangten. Die neue Apotheke – schon war sie fest beschlossen – sollte an die Armen auch die besten Arzneien kostenlos verteilen.

 

Als er von dem Groll des Königs auf Apotheker, Ärzte, Akademiker und von der Krankheit der Königstochter hörte, machte Doktor Eisenbart, gefolgt von seiner Gauklertruppe, Sekretär und Advokat sich auf nach Berlin, um die Bestätigung seiner alten Privilegien einzukommen. Es war unter dem neuen Preußenkönig nicht so einfach damit; denn Eisenbart, der große Wundschneider, führte seinen Doktortitel nicht gänzlich zu Rechte, auch wenn man nun schon in drei Sprachen von ihm sang: »Ich bin der Doktor Eisenbart, kurier' die Leute auf meine Art« und er selbst behauptete, »daß nur ein Eisenbart ist, so lange ihm Gott sein Leben gönnen wird«.

Die Vornehmen lagen in den Fenstern, wo er nun auf einem Jahr- und Wochenmarkt sein Bretterpodest aufschlug, und luden sich in ihren Kutschen einander zu ihm ein. Seiltänzer, Trompeter, Riemenstecher, Glückstöpfer, Marktschreier mußten von hoher Tribüne seinen Ruhm verkündigen, daß er »Leute heile, die melancholisch, traurig sein, mit schwermütigen, bösen Gedanken gequält oder gar unsinnig und närrisch gewesen«, und daß er außer dem Balsamischen Haupt-, Augen- und Gedächtnisspiritus, seinem Zaubersaft, noch viele »gar rare und in Teutschland unbekannte, kuriose Medizinen habe, das Gesicht bis ins Alter weiß und rot zu erhalten, ohne Runzeln; auch emaillierte Augen in den Kopf setze, wo eines manquiere«.

Da nach der neuen Märkteschauordnung des Königs von Preußen sein Einzug in Berlin erfolgen mußte, ohne daß Harlekine Purzelbäume schossen, Trompeten schmetterten und Flugblätter durch die Gassen wirbelten, entschloß sich Johann Andreas Eisenbart zur Vornehmheit und stieg im Kochschen Hotel ab, das noch teurer war als der »Güldene Apfel« in Magdeburg und der Ratsweinkeller am Stettiner Kohlenmarkt. Doch hinderte die Noblesse seines Quartiers ihn nicht, noch immer wieder einmal des Polterhansen Bleuset Schenke aufzusuchen. Denn niemals mehr hatte er einen Ausrufer gefunden wie zu der Zeit, da der Polterhansen noch Spaßmacher in seinen Diensten war. Darüber hinaus aber verband den Prinzipal und seinen einstigen Harlekin die Leidenschaft für das heimliche Wissen um die heilenden Kräuter. In dieser Hinsicht blieb der große Doktor Eisenbart des Polterhansen Bleuset ständiger Schüler. Um dessen Schanktisch hingen nämlich heute noch in würzig duftenden Bündeln Johanniskraut und Augentrost, Mistel und Tausendgüldenkraut, Rainfarn, Zinnkraut, Gottesgnadenkraut.

 

Dem Wein- und Bierschenker Bleuset gefiel die neue Märkteordnung, die der König eingeführt hatte, gar nicht übel, auch wenn sie Meister Eisenbart die Freude am menschheitsbeglückenden Handwerk ein wenig trüben mochte. Das mußte man dem König lassen: die Märkteschauordnung lockte die Leute aus ihren Häusern; und wurde der Markt dann abgebrochen, sah der Küfer und Brauer Bleuset seine Schenke bis in den letzten Winkel gefüllt mit Händlern, Fuhrleuten und Käufern.

Und die Markttage waren für den Polterhansen um so wichtiger geworden, als der König auf der völligen Heiligung des Sonntags bestand, den Bierausschank und alle Spielmannsmusik in den Wirtschaften feiertags verbot, den Bedarf beschränkte, die Musikanten um den Tag ihrer besten Einnahmen brachte, für Kurzweil nicht einmal der Fremden sorgte – nur weil ihm gar so bitter ernst ums Herz war um der großen Nöte seines Landes willen. Der Lebenswandel aller Bürger wurde kontrolliert. Den Polizeiausreitern mußte jede Tür sogleich geöffnet werden. Das Landsknechts- und à-la-bassette-Spiel war längst bei hoher Strafe untersagt. Nicht einmal in dem eigenen Hause sollte man noch nach Belieben feiern können! Arme Leute durften nicht mehr so häufig Gevatter stehen, wie es Brauch geworden war; es kostete zu viel Geschenke; und bei Taufe und Hochzeit waren nur drei Gerichte erlaubt.

Um so mehr wuchs die Beliebtheit des Polterhansen und seiner fröhlichen Schenke.

Jeden Tisch mußte Bleuset selber bedienen. Nicht einer unter den Gästen, der nicht auf des Polterhansen Bleuset alte und neue Streiche wartete! Der hörte den Beinamen nicht ungern. Allerdings ließ er von Zeit zu Zeit immer wieder durchblicken, daß er von Hause aus ein ehrbarer Refugié und entfernter Verwandter des Pater La Chaise sei. Wie, sie wüßten nicht, wer Pater La Chaise wäre? Bleuset war es gewöhnt, daß, sobald er diese Frage tat, seine Gäste sich auf den langen Holzbänken unter den Fenstern zusammendrängten, teils sich auf die Tische hockten, Krüge und Humpen neben sich, und die ganze Mitte der Schankstube freigaben. Denn sie wußten alle: Jetzt beginnt die Vorführung! Bleuset eröffnet seine Harlekinade!

Er spielte ihnen das Lever des Sonnenkönigs vor, mit allerlei Unziemlichkeiten und derben Verrichtungen, die seiner Meinung nach zu einem Lever nun einmal gehörten. Sodann trat er als Pater La Chaise auf, als des Sonnenkönigs Beichtvater. Er spielte sie beide, den Herrscher der Herrscher auf dem Nachtstuhl und den Pater im Beichtstuhl; er tat es vermessen und zuchtlos. Die Schenke dröhnte vor Lachen, die Männer wischten sich den Schweiß vom Gesicht und den Bierschaum aus den Bärten; und waren Frauen bei ihnen, so gab es auch Tränen des Lachens und rote Gesichter vom Schämigtun und ungewohnten Trinken.

Aber als Bleuset heute die übliche Frage tat, antwortete ihm einer. Ein kleiner, dicker Mann in mächtiger Perücke, in verbrämtem und beschmutztem Rock stand auf, trank auf Bleusets Wohl, nannte ihn des Paters würdigen Nachwuchs und erklärte es in zierlichen, gelehrten und zugleich recht zweideutigen Redensarten, wer Pater La Chaise gewesen sei. Bleuset blinzelte dem neuen Gast, der sich so abhob, zu, er wolle ihm antworten und er möge drauf eingehen; es könne lustig werden. Er bat den Fremden, sich doch gütigst vorzustellen; der behauptete aber, er sei kein Mensch; er sei vielmehr eine Zeitung, und zwar die einzige, die es hier gebe. Denn die Blättlein, denen der König von Preußen nach dem zwei Jahre durchgeführten Verbot aller Zeitungen nun wieder das Erscheinen erlaube, seien nur Zeitungen von Zeitungen; sie druckten ab, was man im Ausland melde, und auch davon nur das Unwesentlichste. Oh, sie möchten es ihm alle glauben, er allein sei die einzige Zeitung.

Nun, der Schankwirt und Possenreißer Bleuset verstand: Gundling war eingekehrt, der abgesetzte Hofgerichtsschreiber König Friedrichs I., der Expräsident des Oberheroldsamtes und Exprofessor der aufgelösten Ritterakademie, ein gewaltiger Redner am Zechtisch! Dies war auch in die Schenken gedrungen, daß Gundling immer witziger wurde, je mehr er verarmte und je tiefer er sank. Wenn er den zu halten verstand, so würde bald mancher vornehme Gast hier unter dem Pöbel der Schenke erscheinen. Bleuset dachte blitzschnell; der Faden durfte keinesfalls mehr abreißen; rasch mußte er die nächste Frage tun.

»Wo ist die Zeitung denn bisher erschienen, da ich sie noch niemals zu Gesicht bekam?«

»Im noblen Kochschen Gasthof«, sagte Gundling, »und man hat sie als kostbares Gut so geheimgehalten, daß sie eines Tages, und das ist heutigen Tages, dort gar nicht mehr zu sehen war. Aber von nun an gedenkt sie in der Bleusetschen Schenke zu erscheinen; und es ist äußerst billig, diese Zeitung herzustellen. Man muß nur immer etwas Wein und Bier aufgießen.«

»Nun«, rief der Polterhansen, »gerade daran ist bei mir kein Mangel. So abonniere ich auf die Zeitung. Bisher waren die Gazetten für meinen armen Gasthof zu teuer, und außerdem dünkten sie mich für die lustigen Herrschaften, die meine Schenke mit ihrem Durst und ihrer Fröhlichkeit zu beehren geruhen, gar zu ledern und unverständlich. Aber diese Zeitung, geliebte Zecher, nicht wahr, die gefällt euch?«

Das war einmal eine Abwechslung! Solche Unterbrechung im gewohnten Spiel! Sie rückten alle Bänke und Schemel um den Fremden, nahmen die Krüge zur Hand oder stellten sie vor sich auf die Erde, und der Polterhansen, um noch einmal einzuschenken, kletterte über die Gäste hinweg, in jeder Hand eine Kanne, und ließ sich gleich die Münzen für den Trunk in seinen Schürzenbeutel stecken; doch gab er mitten im Lachen und Lärmen wohl darauf acht, daß keiner sich etwas herausstahl. Vor Gundling setzte er gleich einen ganzen Krug ab. Als der nun doch – und war es zum Spaß? – in die Geld- und Schürzentasche des Wirts griff, legte der sogar noch ein Häuflein Geldes vor den neuen Gast auf den Tisch. Der Professor erhob sich. Es war nun ein Augenblick, und keinem außer dem Polterhansen war es sichtbar, daß eine große Traurigkeit und Müdigkeit seine Blicke verschleierte. Er machte ein zierliches Kompliment. Die Zeitung beginne nun zu erscheinen, und da sie sehr gründlich sei, fange sie auf ihrer ersten Seite mit dem Alphabet an. Ob denn auch alle verehrlichen Leser nun wirklich auch wüßten, was ein (a)sei? Und nun wiederholte er seine höfliche Verbeugung, jedoch den Gästen abgewandt, so daß sein Hosenboden von abgeschabtem Samte zwischen den gestickten und zerfransten Rockschößen erschien. Das gab ein Gelächter! Doch meinte Gundling, er finde zwar seine Leserschaft vorzüglich unterrichtet und sehr hurtig im Begreifen, aber diesmal habe sie sich getäuscht. Das ›A‹ sei doch natürlich nur jenes große Ach, das unter dem neuen König immer lastender über Brandenburg und Preußen liege und durch die neuen Armenwächter Seiner Majestät kaum behoben werde. Und ›B‹ sei der Betrug der Hoffnungen darauf, daß der siegreich aus dem Schwedenkriege heimgekehrte König seine Schätze an das Volk verteilen werde. Vielmehr presse er sich einen neuen Schatz aus dem enttäuschten Volk heraus, was mittels des ›C‹, des Kalkulators Creutz, geschehe. Und zwar gehe es um den Schatz, den man am widerwilligsten herausrücke. Doch das stehe erst als Fleiß unter ›F‹.

›D‹ und ›E‹, sie nicht zu überspringen, würden zu solchem Zwecke reichlichst angewendet, nämlich Druck und Entrechtung. Der König von Preußen sei allmählich auf das ›G‹, den Geschmack, gekommen; sonst finde er freilich an gar nichts Gefallen, und das ›H‹ würde er gänzlich verschwinden lassen, denn für Hurerei zeige der Sittsame kein sonderliches Wohlwollen, namentlich nachdem er selbst ins Feldlager das eigene ›I‹, sprich: Ihre Majestät, mitnahm, wovon er sich ohne Frage ein ›J‹, einen Jungen, versprach.

Gundling, die Wirkung seiner Worte zu verfolgen, brach ab und nahm einen langen Schluck aus seiner Kanne. Schon johlten sie nach dem ›K‹. Aber Gundling wußte noch eine bessere Deutung des ›J‹. Ein zweites ›J‹? Das sei doch klar. ›J‹ das sei die Jagd auf alle, die ein größeres Einkommen bezögen als der König mit seinen schäbigen dreiundfünfzigtausend Talern Dispositionsfonds. Bei einem derart geringen Etat könne der König sich natürlich das ›K‹, das ›L‹ und das ›M‹ nicht mehr leisten. Mit der Kunst, mit Leben und leben lassen sowie der Muße wäre es nun aus, und sie alle hätten das ›N‹, alle, alle, das Nachsehen. Doch stünde es dafür einem jeden frei, für Seiner Majestät Entwürfe und Entschlüsse ein ›O‹ nach dem andern in Gestalt eines Opfers zu bringen. Das ›P‹ werde, so höre man, demnächst in Plusmachern sowohl wie in Paraden vorherrschend sein in ganz Preußen, obwohl die Privatinteressen des Königs, seitdem er eine eigene Apotheke aus Glas und Silber errichtete und einem Doktor Eisenbart derartige Einschränkungen im Medikamentenhandel auferlegte, sich dem ›Q‹, der Quacksalberei, zugewendet hätten. Ja, ja, sie könnten sich nur alle das ›R‹, die Ruhe wünschen, wenn der Herr auch weiterhin mit soviel ›S‹, mit derartigen Schikanen fortzufahren gedächte. Dafür gebe es nun aber freilich keine Schlupfwinkel und -löcher mehr in den preußischen Städten.

Jetzt brach der Überschwang los. Sie wollten mittun. Die Männer in der Schenke überboten sich.

»Bei dem ›T‹ wird der gelehrte Herr ins Torkeln kommen!« riefen sie, denn der Professor wankte schon bedenklich. »Und mit dem ›U‹ wird er gleich allen Unrat ausspeien!« Denn es hatte dem Präsidenten zwischen gar manchen Buchstaben des Alphabets schon heftig aufgestoßen. Gundling tastete sich auch sogleich ängstlich durch die Wirrnis der Bänke. Die herabgebrannten Talglichter leuchteten ihm gar zu spärlich. Der Polterhansen mußte ihn selbst auf den Hof hinausführen.

Erst als das ganze Marktvolk bezecht aus der Schenke getrieben war, schleppte er den Professor und Expräsidenten wieder in die Gaststube. Gar nicht einmal so unsanft drückte er ihn auf die Bank im Ofenwinkel und hob ihm die Beine auf einen Schemel. Für sich selber brachte der Wirt ein altes Federbett und einen Schafspelz aus einem Kasten herbei und streckte sich auf dem längsten und breitesten Tisch aus, ohne erst Tabak und Brotkrusten hinwegzufegen oder die Bierlachen und Schnapsreste aufzutrocknen. Das Talglicht, an einer Ecke des Tisches festgetropft, war schon im Zerfließen. Er drückte es mit der Hand aus. Gundling erwachte noch einmal aus seinem Elend.

»Muß ich so schlafen?«

»Ja«, sagte der Polterhansen, »Stuben und Kammern habe ich nicht. Ich halt' es immer so.«

Aber da der betrunkene Professor noch einmal zu sprechen angefangen hatte, sollte er ihm wenigstens noch den Schluß des Alphabetes verraten, damit die erste Zeitung auch wirklich fertiggestellt wäre. Dies begriff Gundling noch, daß die Frage schmeichelhaft für ihn war. Er brauchte auch gar nicht lange nachzudenken.

»Ah, das Ende des Alphabets«, murmelte er, »das ist beinahe zuviel. Das ganze ›V‹ meines Lebens, Verhängnis und Verfall ohne Ende, steckt darin – das ganze ›W‹, die Wut auf den König, die Wehrlosigkeit vor dem Herrn, hat sich darin verkrochen. Aber das ist mein Trost: der Kaiser wird unserer Majestät nach wie vor ein ›X‹ für ein ›U‹ vormachen, damit die Bäume nicht in den Himmel wachsen; mag er noch so erfolgreich gewesen sein im Nordischen Kriege, unser Herr, – es wird auf seiner Havel auch jetzt noch nicht von goldenen ›Y's‹, von Yachten, Frachtern und von Liburniken wimmeln -!«

»Das ›Z‹, das ›Z‹«, drängte Polterhansen, dem die Buchstabendeutung gar zu politisch wurde; außerdem vermochte der Professor nur noch zu stammeln, und der Schankwirt wollte nicht um den Abschluß betrogen sein.

Da brach es aus Gundling hervor: »Die Zote, die Zote, die Zote! Und wenn der König sich auf den Kopf stellt – Minister kann er entlassen, Professoren aus dem Amte jagen, aber die Zotenmacher werden ewig leben.«

»Dann braucht man doch den Mut nicht ganz zu verlieren«, grunzte der Polterhansen. Und plötzlich, als belausche sie einer, begann er flüsternd zu fragen: »Hat Ihn Wirt Koch aus seinem vornehmen Gasthof nun ganz rausgeworfen?«

»Ja«, sprach Gundling fest, denn dies erfaßte er wieder, »ich habe keinen Staatsrock mehr für seinen Speisesaal. Und neue Kleider will er mir nicht kaufen. Das ist ihm die Unterhaltung der Gäste nicht wert.«

»So lange Er den Kopf behält, kann Er bei mir bleiben, Professor.«

Aber dem einstigen Historiographen des ersten Königs von Preußen, Professor der Ritterakademie und Präsidenten des Oberheroldsamtes war es kein Trost, daß er das neue Obdach fand in Qualm und Fusel. Er heulte. Wirt Bleuset hatte schon viele Betrunkene heulen hören. Er warf sich in seinem Schafspelz auf die andere Seite, so daß der Tisch, auf dem er lag, noch lange ächzte und knarrte.

»Morgen muß Er mit dem ›Z‹ beginnen, Professor, für meine Gäste ist es besser als das andere.«

So forderte er den Lohn für das Quartier.

 

Als Bleuset den Unrat des Vortages in den späten Morgenstunden mit dem großen Reisigbesen zusammenzufegen begann, mußte ihm Gundling aus dem Wege gehen. Der tat es bereitwillig. Er hatte die Absicht, nicht wiederzukommen, ohne daß er wußte, wohin er sich wenden sollte. So, wie er aus seinem Ofenwinkel hervorgekrochen war, Rock und Perücke zerdrückt, die Strümpfe in Falten hängend, ungewaschen, streifte er in den Straßen um den Köllnischen Fischmarkt umher. Gundling merkte bald, daß der König in der Nähe sein mußte; niemals und nirgends war man vor ihm sicher. Die Marktfrauen kramten eiligst ihre Strickzeuge hervor, denn in den Pausen des Verkaufs war ihnen das Stricken vom König befohlen. Die Fuhrknechte stürzten aus den Schenken herbei und machten sich eifrig an ihren Geschirren und Wagen zu schaffen. Mütter zerrten ihre schmutzigen Kinder in die Häuser, und einige junge Stutzer, die fremden Freunden einmal das Treiben des rohen Berliner Volkes zeigen wollten, entfernten sich, zwar lässig in der Haltung, doch mit unverkennbarer Eile. Es war nicht ganz verständlich, wieso der König schon wieder in Berlin sein konnte. Ganz kürzlich erst war er aus der alten Hauptstadt in die neue aufgebrochen, und lange Reihen von Wagen mit allem Maurer- und Zimmermannsgerät waren der Kalesche des Königs gefolgt; denn der Schnee war im Tauen, und der König drängte, den Bau von Potsdam wieder aufzunehmen. Der König harrte ungeduldig der Soldatenhäuser. Der König und die Korporale wollten exerzieren! Solange man den König in Potsdam vermutete, hatte Berlin ein wenig aufgeatmet. Sogleich ließ man sich ein wenig gehen. Aber schon war die gute Zeit wieder um –! Der Herr mußte nahe, ganz nahe sein! Zwei Bürgerinnen, die sich sonst viel Muße zum Plaudern und zum Promenieren nahmen, rannten, atemlos, quer über die Gasse in eine Handlung, in der sie als gute Kundinnen galten. Ängstlich schloß der Kaufmann die Tür hinter ihnen. Mochte niemand bemerkt haben, daß sie Kleider trugen aus den verbotenen französischen Kattunen! Niemand als Gundling nahm es wahr, der nichts mehr auf der Welt zu wirken hatte, als eben sich umzusehen. Ah, sie hatten Glück gehabt, die Bürgerinnen! Erst als der Krämer sie geborgen hatte, bog König Friedrich Wilhelm um die Ecke, frischen Gesichtes und in blanker Uniform, lebhaften Schrittes und Blickes. Fast schien es, als sei die Kühle des Brunnenwassers, mit dem er sich allmorgendlich zu übergießen pflegte, um ihn.

Sie waren allein auf dem Bürgersteig, der König und Gundling. Alle waren vor dem Herrscher ausgewichen, und nun, da sie scheu nach ihm ausblickten, sahen sie es mit Entsetzen: – der kleine, taumelnd schreitende Mann in der wirren Perücke, im zerschlissenen und befleckten Rock, ging geradeswegs auf den König zu, trat nicht zur Seite und machte auch nicht halt. Professor Gundling hatte nur einen schmalen Spalt der Augen geöffnet; aber nichts entging ihm, was er angespannt wahrnehmen wollte. Er sah, daß der König betroffen war, einen Augenblick stockte, dann lebhafter ausschritt –. Mit seinem harten Schädel und dem Wust der schmutzigen Perücke stieß Gundling in die Schulter des Königs. Nun hielten sie an.

»Verzeihen der Herr Offizier!« entschuldigte sich Gundling, »ich wußte nicht, daß man mich sieht und spürt.«

»Daran war aber kaum zu zweifeln, muß ich sagen«, meinte König Friedrich Wilhelm schroff, rieb sich die Schulter und zupfte angeekelt ein paar häßliche Perückenhaare ab, die an seinem blauen Rock haften geblieben waren. »Wieso sollte man Ihn nicht sehen?«

»Weil ich ein Toter bin«, sagte Gundling, dem der König am Hofe seines Vaters nie begegnet war, weil er gerade jenen Kreis des Hofes am meisten mied. Der König ging einen Augenblick auf die Redensart ein, weil solch absonderliche Wendung ihn überraschte.

»Ich muß die Dauerhaftigkeit Ihrer Materie bewundern.«

Noch immer hielt Gundling die Augen nur zu einem schmalen Spalt geöffnet.

»Und das besonders, mein Herr Offizier, wenn man bedenkt, wie lange ich schon tot bin.«

Der König lachte kurz auf: »Wie lange nur?«

»Ich vermag es selbst kaum auszurechnen«, sprach Gundling zögernd weiter und empfand ein Triumphgefühl, daß es ihm gelungen war, den König ins Gespräch zu ziehen. Auf der anderen Straßenseite und am Markt, in den die Straße mündete, beobachteten es staunende Gruppen.

»Kaum auszurechnen ist es«, wiederholte Gundling nochmals, »es ist so lange her, daß auf Erden an Stelle von Königen Obristen regieren; und ich würde mich überhaupt nicht zurechtfinden, wenn nicht aus meinen Erdentagen noch eine hohe und gelehrte Akademie bestände. Die freilich scheint unsterblich.«

Dies Letzte sagte er lateinisch. Der König hatte aber auch so schon begriffen, daß dieser wunderliche Vagabund kein gewöhnlicher Mann war. Gundling wartete, das Interesse seines Königs nützend, eine Aufforderung, weiterzusprechen, nicht ab.

»Wir waren mehrere Tote zu gleicher Zeit, Herr Offizier. Man kann behaupten, daß wir sozusagen aneinander gestorben sind: das Oberheroldsamt, die Königliche Ritterakademie und ich.«

Nun gab es für König Friedrich Wilhelm keinen Zweifel mehr, wer dieses seltsame Abenteuer mit ihm suchte. Noch immer unterbrach er Gundling nicht.

»Es ist so lange her«, rechnete der ihm weiter vor, »daß alle Zeitmaße auf Erden sich änderten, und deshalb wird auch die erlauchte Akademie der Wissenschaften niemals mit ihrem gelehrten Kalender zum Abschluß gelangen und muß demnach notwendig unsterblich werden.«

Wieso die Zeitmaße sich geändert hätten; das wollte der König nun doch auf der Stelle wissen.

»Es ist sehr einfach zu verstehen, mein Herr Offizier. Die Begriffe der Muße, der Atempause, der Rast sind verschwunden, der Feierabend ist hin, es gibt nur den Werktag, und es gilt nur noch ein gewisses Cito! Cito!, das neuerdings als Marginale die Edikte einzuleiten pflegt. Ich vermag es Ihnen auch an drei Exempeln zu erläutern. Zu meiner Lebenszeit währte ein Krieg nicht unter einem und einem halben Dezennium. Heute tut man ihn über das Neujahrsfest ab. Oder dies andere: früher nahmen Aufstieg, Höhe und Niedergang eines Mannes genau je ein Drittel seines Lebens ein. Heute, zu Ihren Lebenszeiten, mein Herr, stürzt jedoch mancher schon, ehe er die Höhe erreichte, und ein anderer wird ohne die Mühen des Aufstiegs sofort zur Höhe getragen. Auch vergingen, seit ich auf der Erde weilte, ganze Schlösser und Parks, ja, eine ganze große Residenz, doch sind dafür schon Städte aus dem Nichts erstanden.«

»Woher kommt Ihm all das Wissen um das Neue?« warf der König ein. Da kam es wieder über Gundling, das Gestikulieren und Phantasieren! Der König schritt neben ihm! Der König hörte ihm zu! Der Professor parlierte im beredtesten Französisch.

»Ich beeile mich, solange ich auf Erden weilen darf, Herr Offizier, wenigstens einige der wahrhaft Weisen dieser Welt zu sprechen: die Wirte. Denn Sie werden mir recht geben, mein Herr: im Grunde kommt man mit einigen wenigen Gastwirten aus, wenn es gilt, die ganze Menschheit kennenzulernen. Aus allen Enden der Welt und aus allen Ecken der Stadt strömen Jahrzehnt um Jahrzehnt und Stunde um Stunde die Menschen durch Wirtsstuben und Schenken. Und was es an diesen Menschen nun an Besonderheiten, Verschiedenheiten und Unfaßlichkeiten gibt, das haben die Wirte studiert, durchschaut, erfahren und in ein Schema gebracht. Für sie ist es nicht schwer zu erraten, wessen das Herz des Landes voll ist und wo den Staat der Schuh drückt, mein Herr. Der Wirt ist der wichtigste Mann im Lande – der Herr kann es mir glauben! Wär' ich ein König – ich umgäbe mich mit Wirten! Selbst für die Toten verlieren sie nicht ihren Wert und Reiz. Sie sparen uns die Mühen einer weiten Wanderschaft, wenn wir noch einmal zur Erde zurückkehren dürfen.«

Jetzt verneigte Gundling sich tief, bat nochmals um Entschuldigung, daß er gegen die Rechte der Lebenden verstieß, und schickte sich zum Gehen an. Er wußte, was er wissen wollte; er ahnte mehr als andere: der grimme Herr war durch Gedanken verwundbar, ja, zu bannen. Der König hatte ihm zu lange zugehört. Der König war dem Untertan, und nun gar dem so tief Herabgekommenen, zu weit gefolgt. Auch sah er ihm nach, als Gundling auf den Zehenspitzen und lautlos, mit dem Schein des Rätsels sich umgebend, verschwand.

Der Professor glaubte fest, der König werde ihn noch einmal wieder holen, damit er weiter zu ihm spräche.

Lärmend, schwadronierend, kühnen Schrittes und mit erhabenen Gesten kehrte Gundling nun doch in Bleusets Schenke zurück, denn er hatte diesen Tag noch nichts getrunken, und nach solcher Begegnung verlangte er nach Becher und Gespräch. Der Polterhansen war wenig erstaunt. Er habe gedacht, erklärte ihm der Professor und Expräsident, nicht mehr wiederzukommen. Aber er wolle doch noch für ein paar Tage mit der elenden Schenke vorliebnehmen. Wirt Bleuset möge sich seine Zeche merken; er werde sie ihm in blankem Golde bezahlen.

Der Polterhansen putzte gerade einen fleckigen Zinnkrug mit einem Bündel getrockneten Eisenkrautes. Er hielt einen Augenblick ein.

»Einem wie Euch traue ich es zu, daß er's noch einmal kann. Daß er's dann tut, glaub' ich kaum.«

Gundling rauschte durch die Wirtsstube, drehte und wendete sich wie ein Pfau und glaubte, das stumpfgewordene Goldgewirke seines alten Staatsrocks müsse wieder blitzen und sein verschmutztes und zerdrücktes Hemd dem Wirt als ein duftiges Spitzengekräusel erscheinen. Ah, ihm zu Ehren machte Polterhansen Bleuset sich endlich wieder einmal über sein schmieriges Zinn her! Ah, Geist war nicht zerstörbar und fand immer wieder Verehrung! Man brauchte seinen Geist nur aufzurufen, und er blühte in ungebrochener Fülle und Schönheit wieder auf!

Als Gundling sich diesen Mittag betrank, geschah es zum erstenmal wieder ohne alle Verzweiflung.

 

Rat Creutz lag wach auf seinem Bett. Es bereitete ihm Wohlbehagen, die Härte der Bettstatt zu fühlen, den widrigen Geruch des zerrinnenden gemeinen Talglichts einzuatmen, die Kälte der Kammer in blutleeren Fingern zu spüren und sich den Glanz der Zukunft mit einiger Sicherheit zu errechnen. Nur noch einen Augenblick krochen die großen Schatten vom Deckengebälk zur Diele herab, dann fielen sie zusammen, und das Licht war verlöscht. Wie alle Dunkelheit die Sinne schärft, vernahm Rat Creutz erst jetzt, wie ruhelos drunten im seidenbespannten Alkoven unter seiner Kammer das Fräulein von Wagnitz auf und ab schritt. Beruhigte es sie so wenig, daß ihre Mahnbriefe, Schuldverschreibungen, unbeglichenen Rechnungen in den Händen des königlichen Rechenmeisters lagen? Oder was war es, das sie nicht zur Stille kommen ließ?

Wahrscheinlich, dachte Creutz im Entschlummern, wandelt auch der König noch schlaflos durch sein Zimmer. Woher soll er denn die vierzigtausend Taler nehmen, die er so dringend braucht, wenn er nicht auf meinen Vorschlag eingeht, sie vom Adel einzuziehen?

In all seinen Vorschlägen für neue Sparmaßnahmen gedachte der arme Mann Creutz den Schlag gegen den Adel zu führen, auch wenn es nur um vierzigtausend Taler ging; und die bisherige steuerliche Bevorzugung des Adels gab ihm ein Recht vor dem König. Alle seine Wege durch den Sumpf der Schulden und den Sand der Fehlbeträge hatten für Creutz, nur dieses eine Ziel, die glücklicheren Reichen, die dem Elend und der Niedrigkeit Enthobenen einzuengen, weil ihm kein Mittel gegeben war, sie in die Tiefe hinabzustoßen, aus der er kam und aus der er sich so schwer emporrang. Noch stieg er nicht auf zu den Beneideten. Da schien ihm gut, sich das adlige Fräulein zu verpflichten, durch die Wagnitz die Gepflogenheiten des Adels kennenzulernen und, ohne je ein Herrenhaus auf dem Lande oder ein Stadtpalais betreten zu haben, darin Bescheid zu wissen, als wäre er der neuen Polizeiausreiter einer, vor denen jede Tür sich öffnen mußte. Ein junges Fräulein von Adel, das Ordnung für seine zerrütteten Finanzen und Erträge seiner verwahrlosten Güter ersehnte, mußte auf diesen König doch immerhin einigen Eindruck zu machen vermögen. Welche Herzlichkeit war es doch neulich, als das Fräulein beim König vorgelassen wurde und das Inkognito des jungen Obristen aus der Amtsstube sich lüftete!

Creutz brauchte das Fräulein von Wagnitz gegen den Adel und – gegen den König. Der König war ihm zu gewiß in seiner Lauterkeit, zu sicher in allen seinen Wegen. Die Mühen des Amtes rieben diesen König nicht auf, die Ordnung seines Lebens reichte bis ins Haus oder sie kam sogar von seinem Hause her. Überall um ihn war Wahrheit und Klarheit. Unter diesem König war kein Plus zu machen! Der Herr, begehrte sein Rechenmeister auf, sollte sich nicht die grünen Ärmelhüllen von ihm leihen und wie ein Schreiber auf dem Schemel neben ihm sitzen! Ohne Frage stand der junge Rat Creutz am Anfang einer großen Laufbahn: er hatte durch die Staatsgeschäfte schlaflose Nächte. Herr von Grumbkow hatte sie bis heute noch nicht, obwohl die Neuen ihm mehr und mehr zu schaffen machten.

 

Gundling war vortrefflicher Laune. Zugegeben, der König hatte ihn noch nicht geholt. Aber, nicht wahr, der König hatte ja jetzt solche Differenzen mit dem Adel! Da mußte man sich schon geduldig zeigen. Gundling rechnete es dem Polterhansen hoch an, daß er indes Bänke und Stühle nageln und flicken und die langen Tische der Wirtsstube abhobeln ließ. Ganz gewiß, es geschah nur ihm zu Ehren! Bleuset wußte, wen er unter seinem Dache barg! Er ließ die Schenke richten, damit sie keine Schande sei für den, der bald in blankem Golde würde zahlen können – ganz abgesehen davon, daß er ihm schon sehr verpflichtet war. Denn Professor Gundling füllte Polterhansen Bleusets Schenke. Die Soldaten trauten sich schon gar nicht mehr herein, und das war gut; denn einer Schenke galt es als Unglück und Schande, wenn Soldaten kamen. Bürger und Handwerksgesell, jeder, der auf sich hielt, stand auf, wenn der Soldat sich an den Tisch setzte. Beim Polterhansen hatte sich alles geändert. Professor Gundling herrschte in der Wirtsstube.

Seitdem es so war, lehnte Bleuset nun den ganzen Tag hinterm Schanktisch, gestützt an den Schrank mit all den tönernen und zinnernen Krügen und Kannen aus Holzlatten, welche der Böttcher mit einem weißen Holzring zu umklammern pflegte. Bleuset hielt sich einen Gehilfen. Er schenkte nicht mehr an die Gäste aus. Er verdiente sich auch kaum noch seinen Namen Polterhansen. Und dennoch war in seiner Schenke mehr Gelächter denn je. Die Späße um die Dämmerung, den Abend und die Wende zur Nacht kannte Bleuset bis zum Überdruß und war nur froh, selbst nichts mehr beitragen zu müssen als dann und wann einen derben Zwischenruf und da und dort eine Anzüglichkeit. Oho, er war gestiegen im Ansehen seiner Gäste und dachte nicht mehr daran, hinter seinem Schanktisch jemals noch hervorzukommen. Reinlich gekleidet war der Polterhansen jetzt; er trug ein sauberes, derbes Leinenhemd mit weiten Ärmeln, dazu die schönste farbige Weste und einen runden, glatten Hut; den nahm er den ganzen Tag nicht mehr ab, und er stand ihm gut zum braunen Schnauzbart und den blauen Augen.

Der Schanktisch selber war ein Staat geworden. Die Becher und Humpen waren nun immer geputzt und standen in blitzenden Reihen; am schönsten aber war darüber das Leuchten und Funkeln, das Flattern und Kreischen und Pfeifen! In goldenen Gitterbauern und Käfigen von buntbemaltem Holz zwitscherten und hüpften sie droben, die Amseln und Zeisige, die zahmen Elstern und gar ein plappernder, schillernder, herrlich gefiederter Papagei. Und zwischen den Vogelbauern, an der Stange unterm Deckenbalken, dufteten die Bünde getrockneten Baldrians, Kamille, Schlüsselblume und Johanniskraut. Es war kein schlechter Handel, wenn ein Vogelhändler von der Großen Pomeranzenbrücke zu hoch in der Kreide stand!

Manchmal trat der Polterhansen einen Schritt hervor, lehnte sich auf den Schanktisch und reichte den Vögeln ein Stück Brot oder Zucker empor und schaute dann mit blanken Augen zwischen den Flaschen und Kannen hindurch auf die Gäste. Mochten sie lärmen, mochten sie zechen, die Tische begießen, die Streu auf dem Boden besudeln – er hatte nichts mehr damit zu schaffen. Er hörte die Zecher nicht mehr. Die Späße, die Professor Gundling machte, lockten beim Polterhansen kein Lächeln mehr hervor. Aber früh, wenn er an seinen Platz trat und die Vögel über sich fütterte, wenn Gundling auf der Ofenbank sich reckte und die Tischler pochten und feilten und sägten, Gundling sich endlich zu ihm setzte und Dinge erzählte, die dem Troß der Gäste nie bestimmt sein konnten – da war es gut, die Ohren aufzuhalten. »Der König wird sich den Kopf einrennen«, sagte Gundling heute, »der König achtet die alten Rechte des Adels nicht mehr oder er scheint sie nicht genügend zu kennen. Aber Professor Gundling, Präsident des Oberheroldamtes und Professor der Ritterakademie, weiß Bescheid. Er könnte den König besser beraten als der junge Rat Creutz. Der haßt das Volk und den Adel. Damals, als er Rat Creutz zu sich holte, hat der König es noch gut gemeint mit all dem armen Volk. Aber nun heißt es nur arbeiten, und Geld bekommt der einfache Mann nicht zu sehen! Will sich denn nun der König durchaus zu der Erbitterung des Volkes auch noch die Feindschaft des Adels aufladen? Der König geht den Weg der anderen Fürsten! Er drückt das Volk, er streitet mit dem Adel und sammelt alle seinem Volke schuldige Liebe und Fürsorge nur auf ein einziges schönes, junges Fräulein –«

Hör nur, mein grüner Zeisig! dachte Bleuset. Sprich es nur nach, mein bunter Papagei – da, nimm den Zuckerwürfel!

Gundlings Zeitung gab nicht mehr nur Berichte vom Gewesenen. Sie prophezeite auch das Kommende. Es sollte Streit mit dem Adel geben.

Als der Adel dann nach Berlin hereinkam, ging es hoch her in all den vornehmen Gasthöfen, und namentlich bei Koch. Der Wirt mußte schleunigst seine öden Kammern droben als manierliche Appartements herrichten lassen, und das Appartement war in diesen Tagen nicht unter zwei Talern und das bescheidenste Menü nicht unter sechzehn Groschen.

Es war ein ungeheures Leben im Hotel. Aber das war das einzige, was noch an die frühere Zeit gemahnte. Sonst war alles anders geworden. Unter dem alten König kam man im Winter, um Neujahr, zum Karneval nach Berlin. Jetzt geschah es spät im Vorfrühling, und man stellte sich nur ein, um sein Geld für unerfreuliche Dinge auszuwerfen und mit Seiner Majestät einen harten Strauß auszufechten. Man zweifelte nicht, weswegen Majestät die Landstände, und zwar die Abgeordneten des havelländischen Kreistages, in die alte Hauptstadt lud. In den Wochen zuvor waren auf den Schlössern, Gütern und Herrschaften zu viele Kontrolleure seiner Rechenkammer eingedrungen, einer Kammer, die einem Manne ohne Namen, von niedrigem Stand und geringer Geburt unterstellt war. Diesseits und jenseits der Elbe und Oder traten die Deputierten von Prälaten, Grafen, Herren, Ritterschaft und Städten zusammen und stellten Forderungen auf, die nicht erfüllbar waren, und legten Verwahrungen ein, denen nicht Gehör gegeben werden konnte. Der Adel aus der Priegnitz war ein wenig geneigter zum Entgegenkommen, aber die Bernstorff, Bismarck, Schulenburg und Alvensleben wandten sich gar bis an den Reichshofrat – gegen ihren König.

Gundling, der große Kenner der Historien, Pandekten, Chroniken und Dokumente, sah eine weite Vergangenheit wiedergekehrt: Ritter lehnten sich gegen den Herrscher auf, der ihre Freiheit anzutasten wagte. Ritter stritten gegen die Städte, denen der Herr – in notabene verfehlten Spekulationen – allein noch seine Gunst zu schenken schien. Gundling sprach nur noch von der Burg statt vom Schloß, von den Zünften statt der Manufakturen, von Lanzen statt Degen und sagte Lager für Gasthof. Und wo ein heller Kopf war unter all den jungen Pferdeknechten, da gingen Gundlings Reden weiter zu dem würdigen Kutscher und von ihm zum wichtigtuerischen Kammerdiener, und durch ihn erfuhren es Freiherr und Graf. Es dauerte nicht lange, da kehrten auch die vom Landadel in Bleusets Schenke ein, hielten die Nasen fest zu und sperrten die Ohren weit auf. Gundling begrüßte die vornehmen Herren erfreut hier in Sparta. Das letztemal habe man einander in Athen gesprochen, und es sei noch gar nicht abzusehen, wo man sich das nächste Mal begegnen werde.

 

Der Marschall der kurmärkischen Landstände, Achim von Schulenburg, war zu männlichen Wesens, als daß er, auch wenn er zum Hofe befohlen war, seiner Toilette lange Zeit gewidmet hätte. Aber bevor er die weiße Perücke aufsetzte, pflegte er sein dichtes, dunkelblondes Haar – schon trug es einen grauen Schimmer – sehr sorgsam durchzukämmen, während die anderen Herren sich das meist leichter machten. Dann legte er eine schmale, schwarze Binde über sein erloschenes Auge, das er verloren hatte, als er den Kronprinzen Friedrich Wilhelm vor dem Hirsche schützte; und endlich zog er sorgsam den Seitenscheitel der Perücke so tief, daß die rote Narbe von Stralsund auf seiner Stirn verdeckt war.

Der König tat den Junkern alle Ehre an. Er empfing sie im Rittersaal. Auch war es sein fester Entschluß, fürstlich zu handeln, wenn schon der Handel mit dem Adel unumgänglich war; wo er fordern mußte, hielt er schon die Gegengabe bereit; er und der Adel mußten mit der neuen Not untereinander fertig werden; das Volk war zu schonen. Er unterbreitete seinen Vorschlag sehr kurz. Er wollte die absurd gewordene Stellung der Ritterpferde, ein Vierzigtalerpferd pro Jahr für jede Herrschaft, umwandeln in eine Barabgabe von der gleichen Höhe. Ein wenig Sparsamkeit der Lebensführung, um die er überhaupt ganz allgemein ersuchen mußte, konnte den kleinen Ausfall leicht ersetzen. Der König fügte noch hinzu, es sei bisher der Ehrgeiz der Adelssitze gewesen, den alten Hof nachzuahmen. Aber der Hof habe ein falsches Beispiel gegeben, welches zwar leicht und angenehm, jedoch nicht ohne Verhängnis zu befolgen gewesen sei.

»Möchte doch«, schloß er, »jeder Herrensitz ein Königreich im kleinen werden: an festem Gefüge der Administration, im klaren Abwägen der Kalkulationen, im Freimachen von fremden Lasten, in der Wahrung des Überkommenen, in der fürstlichen Erfüllung aller Verpflichtungen, in der Fürsorge für alles Anvertraute.«

Mehr war es nicht. Aber der Adel sah alle Rechte bedroht, wenn er dem König die Umwandlung auch nur eines einzigen Paktes gewährte. Der König blickte prüfend umher. Die Junker umstanden ihn mit eisigem Schweigen, Schulenburg, der jedem Wort des Königs recht gab und von den Standesgenossen und dem eigenen Geschlechte mehr und mehr sich abwandte zum König hin, verriet mit keiner Miene die eigene Bereitschaft. Er stand als Landmarschall der kurmärkischen Stände hier und hatte nur im Auftrag der Junker zu sprechen.

Der König hielt es für ratsam, noch nicht von allem zu sagen, was ihm am Herzen lag. Weite und wichtige Teile der Rede, die er sich zurechtgelegt hatte, übersprang er. Es war besser, jetzt die Gegenleistung zu erwähnen. Denn mancher alte Herr von großem Namen stand hier vor ihm, mancher, der sich nur schwer an gar so neue Gedankengänge würde gewöhnen können. Aber er vermochte vor sich selber die Enttäuschung nicht zu leugnen, daß keiner der Gleichaltrigen und Jüngeren ihn zustimmend anblickte.

Ein zweites Mal hob König Friedrich Wilhelm an, und man spürte, daß er diese Rede sorgfältig vorbereitet hatte: »Ein Teil Ihrer Besitzungen sind Lehen der Krone. Wenn der Letzte des belehnten Mannesstammes stirbt, fällt solches Lehen zurück an die Krone. Es ist aber für alle Sprossen alter und fruchtbarer Geschlechter eine Unmöglichkeit, nur ihre eigene Lebenszeit zu bedenken. Vor unserem Auge muß stets auch der Letzte stehen, der unser Erbe von uns verlangt und unsere Bemühungen dafür vollendet. Wie wird er sie vollenden können, wenn er weiß, daß sein Tod jahrhundertealten Besitz, jahrhundertealte Leistung seines Geschlechtes der Krone ausliefern muß, die von einer Fülle ungeduldiger Anwärter bestürmt wird, diese in das freigewordene Lehen einzusetzen? Ich bin entschlossen, dem letzten Erben das Recht zu verleihen, durch Schenkung oder Testament frei zu verfügen unter den Zweigen seines Geschlechtes. Zwar erbt dann nicht mehr Mann vom Mannesstamm, wohl aber kann es ein Tochtersohn sein, der Blut vom gleichen Blute ist und Geist von dem Geiste, den ein Geschlecht sich als Gesinnung bildete. Ich merke sehr wohl, daß meine Gedanken jetzt noch nicht imstande sind, Ihre Aufmerksamkeit und Anteilnahme zu finden. Ich nehme sehr wohl wahr, daß Sie mir Ihren Entscheid noch vorzuenthalten gewillt sind. Ich dränge Sie in dieser Stunde nicht. Doch eine Frist muß ich setzen. Ich bitte den Herrn Landmarschall, mir morgen um die gleiche Stunde Ihre Antwort zu übermitteln.«

Der König verneigte sich gegen alle und reichte Schulenburg für sie die Hand. Dann verließ er augenblicks den Saal. Er wußte die Antwort im voraus.

Fast in allen Adelskarossen, die von der Schloßfreiheit her die Stadt durcheilten, wurden die gleichen Gespräche geführt. Der König wolle Bargeld auf den Tisch und gebe dafür windige Versprechungen auf eine recht ungewisse Zukunft. Vor allem aber suche er eine Bresche zu schlagen in den Wall der alten Adelsrechte.

Dann machte man seinem Ärger über das veränderte Berlin Luft. Redouten, Empfänge, Bälle, Oper und Komödie wurden in der Hauptstadt nicht mehr geboten. Man war auf den Verkehr in den Stadthäusern wohlhabender Standesgenossen angewiesen, und Gundlings Wort machte schnell im Adel die Runde: Das letztemal habe man sich in Athen gesehen; nun sei man sich in Sparta begegnet.

Die Herren Markgrafen, die Oheime des Königs, schlossen sich ebenso eng wie heimlich an die Adelsopposition an, mehr aus Angst denn aus Kampflust; denn sie waren im Grunde gütig, lebhaft, unbedacht und schwach, doch keine Rebellen. Die Herren Markgrafen waren alt geworden. Die wenigen Jahre seit dem Tode des Bruders König hatten genügt, sie dem Verlöschen nahe zu bringen. Bedrückt und betreten schlichen die ältlichen, welken Männlein umher. Sie konnten, ein Leben hindurch nicht darauf vorbereitet, auch nach der großen Wiederherstellung ihrer zerrütteten Vermögen das Sparen nun nicht mehr lernen. Kinder waren sie geblieben, die man mit einem Taler glücklich machte und mit der Entziehung eines Leckerbissens schreckte. Am meisten bangten sie sich vor dem Wort des Königs, er wolle »den Markgrafen den Rat Creutz rekommandieren, ihre Hofhaltung auf einen anderen Fuß zu regulieren und besser einzurichten«.

Und da der ganze Adel ebenfalls seine Hofhaltung auf einen anderen Fuß regulieren sollte, bekämpften die Landstände und das Geblüt gemeinsam den König.

Die Ernsteren unter ihnen versammelten sich um den Landmarschall von Schulenburg oder suchten den Rest des Tages über, ihm brieflich diese Meinung oder jene mitzuteilen. Während des ganzen Diners im Kochschen Hotel, wo Schulenburg abgestiegen war, häuften sich die Briefe für den Landmarschall im Vorsaal auf mächtigen Tabletts an. Ein Lakai aus der Stadt löste den anderen ab. Auch Zofen kamen, die Briefe sorgsam wie die anderen, die sie meistens auszutragen hatten, in ihr Brusttuch drückend. Und einer der gepuderten Jungen in der rotweiß gestreiften Seidenweste des Kochschen Hotels eilte wohl fast alle Viertelstunden die Treppen zu den Kammern des Wirtes empor, ihm zu melden, wessen Livree man soeben sichtete und welch ein großer Mann der Herr Landmarschall sein müsse.

Wirt Koch war diesen Tag sehr ungeduldig. Nun hatte er sich einmal dazu entschlossen, drunten im eigenen Gasthof zu erscheinen – warum dann gerade solcher Aufenthalt an derart wichtigem Tage? Ach, wenn man es schon einmal mit anderen Leuten als dem eigenen Personal zu tun hatte! Koch war aus seinen Kissen hervorgekrochen, hatte sich zwischen der Wirrnis der Tische hindurchgemüht und stand nun in der Kammer seiner Tochter bei den vielen Spiegeln. Ein Schneider und sein Geselle waren lebhaft damit beschäftigt, den kränklichen Alten einigermaßen ansehnlich herzurichten mit einem prächtigen Rock, der jedoch durchaus nicht fertig werden wollte. Auch ein Perückenmacher trieb sich in der Kammer herum, wühlte in seinen runden Schachteln und eckigen Kästchen, zupfte und bürstete und verstreute sehr viel Puder, bis endlich der rechte Lockenschmuck stattlich und sicher auf dem kahlen Kopf des Wirtes prangte. Wirklich, es war eine ganz wunderhübsche Perücke; und Wirt, Perückenmacher, Schneider und Geselle waren sich einig, daß sie wohl imstande sein müßte, sogar noch einmal Seine Majestät für diese würdige und schöne Mode zurückzugewinnen.

Draußen im Gang klopfte die Demoiselle Tochter schon ungeduldig an die Tür; sie wollte endlich wieder in ihren Alkoven. Auch sie hatte Schneiderin und Putzfräulein bei sich. Heute abend sollte sie zum erstenmal vor all den fremden Herrschaften singen, drunten in der bunten Salle-à-terre. Und Madame Buccalossi, fest entschlossen, ihre Schulden bei dem Gastwirt einzulösen, hatte endlich eingewilligt, sie auf dem Cembalo zu begleiten. Aber sie selber würde nicht singen. Dies nicht.

 

So absonderlich der Einfall war – die Öde, die in Berlin jetzt herrschte, bedingte ihn und gab ihm recht. Jegliche Zerstreuung war willkommen, und besonders mit der Musik stand es so schlimm in der Hauptstadt, daß der sächsische Gesandte sich zu seinen Gesellschaften stets eine Dreißig-Mann-Kapelle aus Dresden kommen lassen mußte. Niemand mißachtete daher das kleine Divertissement. Wirt Koch schritt, von Verbeugung in Verbeugung sinkend, ernsten Gesichtes durch die Räume seines Gasthofs. Er hatte an Kerzen nicht gespart, und von der Salle-à-terre in ihrer üppigen Wandmalerei konnte der stolze Wirt behaupten, daß ihre Kronleuchter kleinen Lichtkaskaden in einem märchenhaften Garten glichen. In einer Nische war ein Cembalo aufgestellt, darauf präludierte bereits Madame Buccalossi, der mancher Graf und Freiherr, staunend und sein Mitleid verbergend, eine leichte Verneigung nicht vorenthielt.

Die Frauen am Cembalo erschienen vielen als ein schönes Bild: die sinnende Frau in dem verbleichenden Flittertüll ihrer glanzvollen Jahre und die Tochter des Wirtes, bescheiden, ohne hochfrisierte Perücke im blonden Gelock, das zu den blanken, braunen Augen vielleicht von allem Schmuck der schönste war, zumal das Mädchen weder Ring noch Kette trug, sondern nur den weiten, den ersehnten ersten Reifrock von duftigem Florette mit weichen, blassen Seidenschleifen besteckt hatte. In dem Gesang des Mädchens aber war trotz all seiner Befangenheit etwas von der Seligkeit, einen Schimmer des Traumes verwirklicht zu sehen, die Fremden alle wären seine Gäste und der Gasthof sein Palais.

Aber der Blick der Herren wurde immer wieder abgelenkt durch eine junge, vornehme Dame, die dem Cembalo am nächsten saß und mit wannen Blicken das junge Mädchen betrachtete. In ihrer Kleidung hatte jene Schöne willkürlich die Sitte durchbrochen und war ohne Kopfschmuck und Perücke in ihren schwarzen Locken erschienen. Ihre Diamanten, die zu dem dunklen Haar den herrlichsten Gegensatz schufen, erkannte man als äußerst edel und wertvoll; ihr Reifrock war von silbergrauem Samt, der Überwurf von mattem, rosa Gros de Naples. Im weichen Kerzenglanze waren ihre grauen Augen sehr groß und sehr schimmernd. Von dieser Dame nun ging flüsternd die Rede, sie sei die junge Adlige aus Preußisch-Litauen, deren Angelegenheiten der König mit gar so persönlicher Beteiligung in die eigenen Hände genommen habe. Der Landmarschall von Schulenburg hörte es mit Entsetzen, wie in leisem Gespräche hinter seinem Rücken das fürchterliche Wort fiel: die Mätresse des Königs.

Ganz gewiß, es war seltsam und befremdend gewesen, was man in Berlin schon allgemein von der Fürsorge des Königs für das Fräulein von Wagnitz erzählte, aber er hatte den Gedanken, der an jedem anderen Hofe nahelag, weit von sich gewiesen. Zum mindesten erschien es doch auch seltsam, daß der König seine Mätresse in einem Gasthof wohnen ließ und sie nur über Rechnungen, Briefe und Kassenbücher gebeugt empfing. Wie konnte dieses Wort sich laut hervorgetrauen, das Wort, unter dem der Landmarschall um dieses strengen Königs willen bitter litt?! Er wollte aufspringen, ohne Rücksicht auf das rührende und süße, auf eine schöne Weise fast ein wenig atemlose Singen des jungen Mädchens; er wollte sich umwenden, die Herren, die hinter ihm sich unterhielten, gleich zur Rede zu stellen –. Aber dann wurde ja alles nur noch schlimmer, nur lauter, nur häßlicher; der Skandal war unvermeidlich, die Gewißheit herausgefordert –!

Wer zuerst das Wort Mätresse aussprach, wußte niemand; und keiner war der erste und der letzte. Ein Edelmann war es nicht, suchte der Landmarschall sich zu beschwichtigen.

Ein schmaler, großer Mann war es gewesen, sehr einfach gekleidet und ein wenig düster, ein bürgerlicher junger Rat, der für einen Augenblick an den Stufen zur Salle-à-terre gestanden hatte; der hatte das Wort, das Verhängnis nicht gescheut. Die um ihn wußten es nicht, daß von dem gleichen Manne auch die verhaßten neuen Kontrolleure kamen, genannt die Fiskale. Der Feind blieb unerkannt.

 

Sie sprachen sich für einen Augenblick im Zimmer der Wagnitz. Sie, die nach der Meinung des Rates in seine Amtsstube betteln kam, bewohnte in dem teuren Hotel ein Appartement, wo er nur eine Kammer hatte. In solchen Gegensätzen und Klüften schienen fast eherne Gesetze zu walten; er war nicht bereit, sich ihnen auf die Dauer zu beugen. Auch daraus lernte er hassen.

»Sie haben gehört, was man von mir gesagt hat?« fragte die junge Baronin sofort, und Creutz sagte: »Ja.«

Er sah sie ruhig an. Er nahm wahr, daß ihre Aufregung voller Erwartung war; die geraden, dunklen Striche unter ihren Augen schienen Zeichen mehr der Ungeduld als Abspannung. Das Fräulein stand am Tisch, und seine Hände mit den riesigen Diamanten hielten die Tischkante ohne eine Regung.

»Ich müßte Sie um Ihren Beistand bitten, da ich Sie nun am besten hier kenne, und meine Standesgenossen mich beleidigt haben.«

»Aber –?« fragte Creutz und blickte auf ihr Haar, den Amorbogen ihrer Lippen und den Faltenwurf ihres Kleides; auch in der späten Nacht war sie von strahlender Frische, als habe sie soeben erst die Salle-à-terre betreten; keine Locke hatte sich gelöst, kein Stäubchen Puder und kein Flecklein Schminke war verwischt, keine Falte ihres Überwurfes zerdrückt.

Eine Sekunde nur hatten die langen Wimpern wie dunkle Schatten sich niedergesenkt und ruhten auf der zarten Rundung der Wangen. Dann schlug das Fräulein von Wagnitz die grauen Augen weit auf, und in den Sternen war ein Ring von schwarzem Achat.

»Ich möchte werden, was man mich nennt, Rat Creutz. Und ich weiß, daß nichts Leichtes vor mir liegt. Ich habe den König nun kennengelernt – und auch Sie.«

»Sie sind sehr ehrlich, Madame«, hatte Creutz nur zu bemerken, »aber nur so kann man miteinander rechnen.«

»Sie sind blasser als ich«, meinte die Wagnitz lächelnd und beobachtete sich in dem kleinen Spiegel, der am Pfeiler zu Seiten des Tisches hing.

Creutz blieb sehr ruhig. »Es ist weniger um der Kühnheit Ihrer Unternehmungen willen, Madame, als eine Betroffenheit über die erschreckende Übereinstimmung Ihrer und meiner Entwürfe.«

Die Wagnitz sah noch immer in den Spiegel.

In wenigen Minuten schlossen sie eine Art von Kontrakt. Die Verpflichtungen für die Wagnitz waren folgende: den König aus ihrer ausgezeichneten Kenntnis und bitteren Erfahrung heraus gegen den Adel zu beeinflussen, Mißtrauen zu säen gegen den Staats- und Kriegsminister von Grumbkow und die Königin in nichts zu reizen, damit die jähe, hochfahrende Art Ihrer Majestät zu ihrer Sanftmut in möglichst unvorteilhaften Gegensatz trete. Das Fräulein hatte sich zu fügen, wenn die nächsten Schritte es erforderten, daß es den Platz einer Hofdame erhielt, endlich aber dem Rat eine junge Dame aus dem Adel als Gattin zuzuführen, mit gutem Namen, aber getrost ohne Geld; denn die Abhängigkeit der Gattin von dem bürgerlichen Gemahl würde der Ehe nur zuträglich sein; er hoffte zuversichtlich, binnen kurzem über erhebliche Summen zu verfügen. Der letzte Wunsch des Rates war, das Fräulein möchte den König möglichst häufig und lange nach dem Ostlande ziehen.

Dafür glaubte er nun viel für sie tun zu können, in der Art, wie er den Kampf des Fräuleins gegen seine Schulden vor dem Herrn hinstellte.

Die Wagnitz nickte nur kurz, wenn Creutz ihr jede neue Forderung nannte. Mit der Linken hielt sie das Brillantmedaillon, das an einem knappen Perlenbande ihren zartdurchbluteten Hals schmückte. Sie war vom Tisch hinweggetreten, sie beruhte nur noch mit den Fingerspitzen ihrer Rechten seine äußerste Kante. Sie war daran, sich in ihre Garderobe zurückzuziehen, hörte aber noch nachdenklich zu und sagte mehrmals leise: »Ja.«

Daß sie den König wirklich liebte, sagte sie nicht. Und darum hatte sie nicht das Gefühl, sich vor Rat Creutz zuviel vergeben zu haben. An mancher harten, häßlichen Notwendigkeit kam man auf so kühnem Wege nicht vorbei. Wäre der König der Oberst, als der er ihr begegnete, es wäre leichter, meinte das Fräulein einen Augenblick. Aber schon sah es ein, daß das Hindernis seiner Ehe bei dem Oberst und dem König gleich unüberwindbar schien.

 

Der König hatte sich nicht schlafen gelegt; er wanderte ruhelos auf und ab.

Wenn die Schreie verstummten, war es ja doch am schlimmsten –. Kamen Schritte? Meldete man ihm schon –? Oder etwas Schreckliches –? Wenn der Feldzug ihr nun doch geschadet hatte –?

Das Kind des Krieges war im Kommen. Die Ungeduld war groß, das Warten hart. Er wanderte. Er hockte müde auf dem Stuhl neben seiner holländischen Kommode, wo er sonst niemals zu sitzen pflegte. Im Zimmer wurde es kühl. Weil der Frühling heraufkam, hatte man nur noch wenig eingeheizt.

Nur in den Zimmern der Königin flackerte das Feuer in den Kaminen noch hoch; noch viele Male in dieser Nacht wurden frische Scheite eingeworfen; und auf Schemeln, nahe dem Feuer, waren Kinderhemdchen und Windeln ausgebreitet, die angewärmt werden sollten. Das Kind kam schwer zur Welt.

Es lief einer die Treppe hinunter, am Gang vor den Zimmern des Königs entlang; es half ihm wenig, daß er sich mühte, leise aufzutreten. Die Schritte hallten im nächtlichen Schloß, Stufen und Dielen knarrten. Der König hatte angstvoll gelauscht. Nun griff er zum Leuchter und stürzte hinaus; er eilte den Schritten nach, aber er rief nicht, um die Gebärende nicht zu erschrecken.

Der Diener war eingeholt. Auf den Anruf des Königs gab er nur die Antwort: »Zu den Kanonen!« Da stand der König still. Er faltete die Hände über seinem Herzen. Das Kind des Feldzuges war geboren, der zweite Sohn! Sie bestellten schon die Salven! Er eilte nicht zur Gattin, nicht zum neuen Kinde. Er stand ganz still, die hundert Salven zu erwarten.

Aber es wurden nur dreimal sechs Kanonen gelöst. Dann begann schon das Geläut der Glocken.

Wäre es ein Sohn gewesen, die Salven von sechzig Kanonen dröhnten noch über der nächtlichen Stadt.

Friedrich Wilhelm ging zur Gemahlin, plötzlich erschöpft vom langen Wachen und Harren dieser Nacht und im Herzen sehr traurig. Ach, ein einziger Sohn war ein bedrohter Besitz und tiefe Besorgnis für das Haupt des Geschlechtes.

Aber es war eine große Innigkeit in ihm, als er die Gattin umarmte und in der Nacht das Geläut der Glocken in der Wochenstube um sie war. Das Kind schrie sehr leise.

»O Majestät«, hauchte die Wöchnerin und schloß die Augen wie in großem Schmerz.

Der König sprach nur: »Töchter müssen sein, die Söhne zu gebären. Ich freue mich der neuen Tochter.«

Es waren nur sechs Kanonen gelöst. Aber die Glocken schwangen voll und schwer und dunkel, und vor den Glocken war kein Unterschied, ob Königstochter oder Königssohn in einem Schlosse dieser Erde eingekehrt war. Sie sangen nur von dem Menschenkind, das begonnen hatte, zu leben.

 

In den Stadthäusern des Adels, in den Gasthöfen und Schenken waren Kanonenschlag und Glockenläuten ein Zeichen zum Aufbruch. In den Sälen unterbrach man den Tanz, man öffnete die Fenster und man hob die Gläser; man tat wie anteilnehmend und erfreut. Aber die Gesellschaften waren nun aufgelöst, Sänfte um Sänfte wurde durch die Nacht getragen; und weil man aus den Schenken auf die Straßen stürzte, waren auch die Zechereien gestört, und durch die Gassen um die Schenken torkelten Betrunkene. Auch die jungen Herren, die noch spät vom Kochschen Gasthof zu Bleusets Schenke aufgebrochen waren, standen nun wieder von Gundlings Tische auf.

Vergrämt und benommen vom Schwatzen und Trinken blieb Gundling noch sitzen. Nun erst kam Polterhansen Bleuset, eine Kanne in der Rechten, hinter dem Schanktisch hervor in seinem schönen, runden Hut und seiner sauberen, bunten Weste. Ihm folgte ein Mann. Der war bis dahin verborgen geblieben hinter all den Vogelbauern, Humpen und Krügen.

Bleuset schenkte dem Expräsidenten noch einen Becher bis zum Rande ein, spät in der Nacht, am Ende allen Zechens. Hatte Gundling seine Sache heute so vortrefflich gemacht, daß es besonderen Lohn verlangte? Nun, dem fremden Manne, der mit Bleuset an seinen Tisch getreten war, hatte er zum mindesten kein Lächeln abgelockt. Düster und traurig stand er vor ihm, die Hände in den Ärmeln verschränkt und stumm. Bleuset setzte sich neben Gundling; er rüttelte ihn an der Schulter, er zog ihn trotz Schweiß- und Branntweingeruches nahe an sich heran und sprach herrisch und erregt auf ihn ein. Er müsse dem Freund dort einen Brief aufsetzen, noch zu dieser Stunde.

»Muß er sich bei der Liebsten erst mit einer Epistel anmelden?« krähte Gundling, aber Bleuset schüttelte ihn nur an den Schultern und redete wieder ernst und heftig in den Bezechten hinein. Er wußte, in solcher Benommenheit half bei Gundling nur noch neuer starker Trunk. Auch zeigte er ihm Geld. Als er die Münzen in seinen Taschen versteckt hatte, in allerlei Fetzen und Unrat, war Gundling wieder aufmerksam und klar. Die drei Männer hockten um den Tisch, ums letzte Licht. Verqualmt und dunkel lag die Stube. Nun hatte Gundling alles gehört und begriffen. Er wühlte mit den langen, schmutzigen Nägeln in seiner Perücke; er sah auf Bleuset, der jetzt schwieg, und auf den Fremden, der noch nicht geredet hatte; er murmelte: »Es ist sehr schlimm.« Dann verlangte er Feder und Tinte und Papier. Erst glitt der Federkiel dem Professor noch aus, dann schrieb er bedächtiger und lesbar und ganz in der einst am Schreibtische gewohnten Haltung. Die beiden Männer folgten mit den Blicken eifrig seiner Hand. Ja, es war gut; der Betrunkene schrieb recht; oh, es war sehr, sehr gut, das Bittgesuch an Seine Majestät. Sorgsam verpackte der Fremde das Schreiben in ein Tuch. Er ging eilig weg; auch dankte er nicht. Bleuset aber legte noch einmal Geld vor Gundling hin und bemerkte leichthin, das könne noch manchmal vorkommen, daß er solchen Dienst von ihm verlange und ihn dafür sogleich in bar bezahle.

Gundling wog das Geld in einer Hand. »So wenig ist der Kopf eines Menschen wert – sowohl mein denkendes Haupt wie die Haupteslänge, die einer zuviel hat.« Er nickte langsam viele Male. »Ja, ja«, sprach er dabei, »im allgemeinen fürchtet man sich nur davor, einen Kopf kürzer gemacht zu werden. Aber unter dem König von Preußen bedeutet es eine mindestens ebenso große Gefahr, einen Kopf zu lang geraten zu sein.«

Der schweigsame Fremde war erst kürzlich von Bleusets Bruder zurückgekommen. Der hielt sich verborgen an der Grenze zwischen Brandenburg und Sachsen. Seit der König den Befehl ausgab, ihm große und schöne Männer zu werben, waren die preußischen Werber hinter dem jungen Bleuset her. Den kannten alle Werber in Berlin; der war schön und vergnügt und in des Bruders Schenke der windigste Hund von allen gewesen, über den man noch mehr hatte lachen müssen als über den Polterhansen selbst. Dreimal hatten ihn die Werber schon so weit gehabt, die Formel, die ihn für immer band, gültig mit dem Federkiel zu unterzeichnen. Dreimal war er ihnen ausgebrochen, weil er nichts so liebte wie die Freiheit. Nun machten sie im Kessel Jagd auf ihn, und der Polterhansen mußte krumme Wege gehen, wenn er dem Bruder Geld schicken und Kunde von ihm haben wollte. Er liebte den Kleinen – der den Werbern ein begehrter Riese war – von Herzen; denn die Brüder waren frühe Waisen geworden und ohne andere Geschwister; und der Bruder sang doch gar so schön und war auch den ganzen Tag von ganzer Seele lustig und hatte niemals des Polterhansen Groll gegen die Zecher im Herzen. Um Geld zu schicken und um Nachricht einzuholen, brauchte Wirt Bleuset einen schweigsamen Gehilfen. Der Fremde war der stillste von allen, die er kannte. Er schwieg nicht, um gewichtig und geheimnisvoll zu erscheinen; er war auch nicht lauernd oder bedrohlich; er schwieg aus Traurigkeit, und solches Schweigen schien dem einstigen Marktschreier Polterhansen allein als das rechte; der Stille hatte die Einsicht erlernt, daß das meiste Unglück der Menschen herkommt vom unzeitigen und maßlosen Reden. Nun lebte er von seiner Einsicht. Denn die, welche sich selbst und andere ins Unglück geredet hatten, brauchten den Schweiger zum Helfer. Er war so beladen mit Geheimnissen und Schweigegelübden, daß allmählich er selbst als der Geheimnisvollste erschien. Sie nannten ihn auch nur, obwohl sie ihn meist lange kannten, den Fremden, den Stillen oder den Stummen. Sie gingen ihm aus dem Wege und kamen ihm nur nahe, wenn Not und Schuld zu groß geworden waren und der Henker drohte. So fürchterlich und unentbehrlich wird einer, der begriffen hat, daß die Menschen sich ins Unglück reden, und der in solchem Wissen schweigen lernte. Dies aber sagte er jedem, der es mit ihm zu schaffen hatte, daß er Thulmeier hieße und hinter der Spreegassenbrücke wohne. Sein Weg zum Schloß, die Bittschriften abzuliefern, war nicht weit.

 

König Friedrich Wilhelm und der Landmarschall von Schulenburg waren beide übernächtig, als sie sich zu ihrer großen Aussprache gegenübersaßen. Solche Freiheit, bei ihm zu sitzen, gewährte der König den Partnern seiner Gespräche. Aber da sie rüstige Männer waren, sollte ihre Müdigkeit der rechten Gründlichkeit bei der Erörterung des heiklen Themas keinen Abbruch tun. Nur wenige Worte waren der Begrüßung gewidmet. Der Landmarschall brachte seine Glückwünsche dar zur Geburt der kleinen Prinzessin, und der Herr bemerkte freundlich, es sei zu hoffen, daß der Herr Landmarschall es nicht ausnützen werde, wenn auch ein König so wenige Stunden nach der Geburt eines Kindes in neuer Vaterfreude weicher gestimmt sei. Doch möge der Landmarschall auch wiederum keinerlei Rücksicht walten lassen.

Schulenburg zog sein Konzept hervor, aber er warf kaum einen Blick hinein. Jedes harte Wort, das er nun reden sollte, war aus der Nacht mit Schmerzen in sein Herz gebrannt. Der Adel, hatte er dem Herrn zu sagen, fühle sich schlechter gestellt als die Bauern, deren privaten Verbrauch man nicht so streng kontrolliere. Zudem erfolge solche Beaufsichtigung durch Persönlichkeiten von weit geringerem Range, was Bauern nicht so leicht widerfahren könne. Dieser Umstand offenbare zugleich die einseitige Bevorzugung, die Majestät dem Bürgertum angedeihen lasse, da bürgerliche Lebensweise allein noch richtunggebend scheine und ein noch sehr wenig bewährter, gar zu jäh betriebener Gewerbefleiß heute höher im Wert stünde als alle alten Tugenden und Leistungen des Adels. Die Folgerungen, die sich aus einer bedingungslosen Unterwerfung unter das System einer neuen Besteuerung ergeben könnten, seien nicht abzusehen; desgleichen nicht die Weiterungen, die man aus einem stummen Einwilligen in einen so grundlegenden Rechtsakt zu gewärtigen habe, wie die Aufhebung der Kronlehen ihn darstelle. Scheinbare Vorteile umschlössen die größten Gefahren; künftig würden alle seit langem eingetragenen Anwärter auf ein freiwerdendes Lehen leer ausgehen; auch könne der nächste Schritt durchaus auf die Aufhebung der Lehnbarkeit der Bauern abzielen, wodurch nicht die Krone, sondern allein der Adel getroffen würde. Eine unverkennbar bauernfreundliche Haltung Seiner Majestät lege diese Sorge immerhin nahe.

Der König stand auf. Die Röte war ihm nun doch bis in die Schläfen gestiegen. »Ich habe nicht mehr zu antworten, Herr Landmarschall«, sprach er, »ich habe nur noch zu handeln. Aber ich werde es überlegt tun. Ich werde zuvor die Domänen der Krone, die Güter des Adels, das Land der Bauern bereisen und meine Entschlüsse nicht aus der Bitterkeit dieses Augenblicks heraus fassen. Ich werde selber Landfahrt halten und dann bestimmen, was dem Lande gut ist. Sie wenden sich gegen meine Fiskale – ich werde sie bestätigen nach eigener Kenntnisnahme. Man wirft mir nur aus Torheit und Böswilligkeit vor, ich stünde unter bürgerlichem Einfluß. Aber hier ist kein Kabinett als der Kopf des Königs und sind keine anderen Räte als seine eigenen Ideen.«

Dann, die Person vom Amte trennend und die Audienz beendend, redete der König den Landmarschall, der sich mit ihm erhoben hatte und düsteren Gesichtes vor ihm stand, »Mein lieber Schulenburg« an und geleitete ihn selbst bis an die Tür. Als käme er vom Hundertsten ins Tausendste, meinte er plötzlich: »Weiß Er denn nicht, mein lieber Schulenburg, daß ich die Perücken nicht leiden kann?«

Und behutsam, wie es zu den Worten solchen Tadels gar nicht paßte, hob er dem Landmarschall die Perücke vom Kopf. Da löste sich die schwarze Binde über dem erloschenen Auge. Und die Wunde in der Stirn, die lange, tiefe Narbe von Stralsund, lag bloß. Friedrich Wilhelm lächelte in großem Ernst: »Ich weiß, daß Sie Offizier des Königs und Landmarschall der kurmärkischen Landstände in einem sein müssen. Ich weiß auch, wie schwer das ist: dem König treu dienen, heißt heute den Adel gegen sich haben. Auch der König von Preußen und der Kurfürst von Brandenburg dürfen nicht immer miteinander gehen. Und im übrigen glaube ich, daß es leichter für mich war, mit Schulenburg Stralsund einzunehmen, als die Dörfer und Herrschaften meines eigenen Landes mit ihm für mich zu gewinnen.«

 

Unter den Bittgesuchen, die der König anschließend durchsah, war eines, dessen Sprache schien sehr neu und eigentümlich. Dem Gesuche nachzugeben war unmöglich. Aber der König wollte den Mann vor Augen bekommen, der das Bittgesuch aufgesetzt hatte und derart seltsame Worte fand von Tod und Leben und den Königen der Erde, die den Tod verhängen dürfen und das Leben hüten müssen.

Es sollten sofort Nachforschungen angestellt werden. Der Schreiber meldete sich in kurzem selbst. Sehr bald stand, verwahrlost, notdürftig gekämmt, mit roten, blinzelnden Augen, Gundling vor dem König.

Der König bestellte ihm seine Schneider, und der Diener Ewersmann sollte für Gundling in einem großen Zuber gleich ein Bad bereiten lassen. Bei Tische aß der König wenig. Er erklärte den Herren seiner Umgebung, daß es nicht mehr die Sache des Adels betreffe, wenn er, was sie entschuldigen möchten, im Augenblick ein wenig abgelenkt sei.

So kam Gundling an den preußischen Hof, er, der ein gar sonderbares Wissen aus vornehmem Gasthof und anrüchiger Schenke in sich trug. Einst hatte er sie dem König als die Spiegel eines Landes bezeichnet, in welche ein König nur zu blicken braucht, um weise zu sein wie die Wirte.

Der König selber – doch ein Jahr ging hin – spielte zum ersten Male den glanzvollen Wirt. Eine der vielen Töchter eines der Herren Markgrafen feierte Hochzeit.

Der Erbprinz von Württemberg holte sie in sein Land; das erweckte so viel Hoffnung für die Zukunft der übrigen armen Prinzessinnen vom Geblüte, daß der König als Familienoberhaupt eine nicht unerhebliche Mitgift flüssig machte und eine Hochzeitsfeier richten ließ, die der Kusine eines Königs würdig war. Von Geheimrat Creutz – ihm, dem unermüdlichen; unerbittlichen Melder der Not und unnachsichtigen Späher in den Kassen, hatte das Jahr diesen Titel gebracht – waren finanzielle Wunder vollbracht worden.

Bei dieser Hochzeit fiel es nun auf, daß von den hohen Herren und ihren Damen die neue Hofdame der Königin, das Fräulein von Wagnitz, mit so auffallender Aufmerksamkeit behandelt wurde, daß die Höflichkeit, die man der Königin schuldig war, darunter litt. Erst während all der Feierlichkeiten erfuhr Königin Sophie Dorothea von den Gerüchten, die über das Fräulein von Wagnitz im Umlauf waren. Bis dahin hatte die Ramen durch Creutz die Anweisung erhalten, keinerlei Geschwätz über die neue Hofdame an Ihre Majestät heranzulassen; und da der arme Mann Creutz, schon allen sichtbar, daran war, gemäß ihren Prophezeiungen sein Glück zu machen, gehorchte die Ramen ihm bedingungslos.

Doch nun drangen in wenigen Stunden die Andeutungen, Mißdeutungen, Vermutungen und Behauptungen bis in die letzten Winkel des hochzeitlichen Schlosses. Damit hatte es begonnen: das Fräulein von Wagnitz war mit einem Federfächer, einem Silberschleier und einer kostbaren persischen Schleppe auf der Hochzeit erschienen, eben genau den gleichen drei so unerschwinglich teuren Dingen, die ein persischer Händler vor wenigen Tagen Ihrer Majestät vorlegte und die der König ihr verweigert hatte. Damit hatte es begonnen, und in knappen Stunden war alles geschehen – fast bis zum Sturze des Geheimrat Creutz, der ein soviel großzügigerer Kunde bei persischen Händlern geworden war als der König.

Im Weißen Saal war Tanz. In den kleineren Prunkräumen richteten die Lakaien die Spieltische und Konfitürenschalen. Im Arbeitszimmer König Friedrich Wilhelms stand die Tür nicht still. Dorthin hatte er sich mit der Gattin zurückgezogen; das Fräulein von Wagnitz, sofort zu ihnen berufen, folgte, nach ihm Geheimrat Creutz. Dann, der Vertuschung halber, begab die Königin sich wieder zu den Gästen; das Fräulein von Wagnitz wurde ersucht; im Vorzimmer zu warten; Creutz und der König blieben allein. Aus Widersprüchen und Übereinstimmungen gewann der König ziemlich rasch ein klares Bild. Als der König, kaum daß all das Elende zu seinen Ohren drang, noch auf dem Feste für die Ehre des Fräulein von Wagnitz einzutreten entschlossen war, hatten Creutz und die Wagnitz ihre Schlacht verloren, denn sie begütigten, beschönigten und schwächten ab; sie hinderten den König daran. Da war für ihn kein Zweifel mehr: das Fräulein von Wagnitz hatte längst von allen Gerüchten gewußt, Konflikte zwischen Königin und König kommen sehen und auf die entstehende Verwirrung ihre vermessenen Hoffnungen gegründet.

Der König hatte nur noch spöttisch zu bemerken, daß diesmal des Geheimrat Creutz Berechnungen auffällig schlecht gestimmt hätten.

Das Fräulein von Wagnitz erschien nicht mehr im Weißen Saal, und Ihre Majestät übersah geflissentlich die Lücke im Kreise ihrer Hofdamen. Jeden aber, der in den folgenden Tagen vor dem Herrn eine Äußerung über die Affäre bei der württembergischen Hochzeit fallen ließ, fuhr der König Friedrich Wilhelm an: »Nehme Er sich in acht, daß Er nicht mehr spricht, als Er verantworten und beweisen kann.«

Die ungewohnten Vorgänge um seinen Hof erfüllten ihn mit einer tiefen Bitterkeit, die alles durchströmte, was ihm in diesen Tagen in die Hand kam, selbst noch sein hartes, neues Bordellgesetz, an dessen Rand er schrieb: »Wo sie alle Bordells in Berlin stören wollen, so müssen sie alle Häuser stören, die in der ganzen Stadt sind, und müssen bei dem Schlosse anfangen, das ist das größte Bordell.«

In dieser Ausfertigung schickte er das Schriftstück Creutz zu. Der Hof war um die Sensation eines Skandals gebracht, der endlich denen anderer Höfe ebenbürtig gewesen wäre, nämlich, daß der König und sein Günstling, die beiden Plusmacher, sich in eine Mätresse teilten.

Dennoch wurden Schmähbriefe an den Schloßtoren, den Kirchenportalen, an den Brücken und allen öffentlichen Gebäuden angeschlagen. Das Volk der Gasse, enttäuscht, daß der emporgestiegene arme Mann Creutz seinesgleichen ganz vergaß, brach in offenen Haß aus. Aber Gundling entnahm den Pamphlets und Pasquillen, daß auch die Majestäten nicht sonderlich beliebt seien und der verarmte, hochfahrende Adel in Art eines Fräulein von Wagnitz schon gar nicht. Gundling schob alle Schuld auf die Akademie, die den gelehrten Kalender und alle Erd- und Sonnensysteme schon wieder einmal von Grund auf verwirrte.

Der König, der die Schmähschriften durch einen Unteroffizier entfernen ließ, auf Kopie und genaue Lektüre jedoch verzichtete, hörte Gundlings Aphorismen diesmal nicht sonderlich aufmerksam zu, denn er dachte: Meine Frau hat es nicht einen Augenblick geglaubt – liebste Königin! Und: Darum also blieb der Fürst von Anhalt meinem Hofe gar so lange fern – bester Freund!

Zudem hatte König Friedrich Wilhelm zu bedenken, wie emsig der Staats- und Kriegsminister von Grumbkow sich bemühte, die Aussöhnung seines Herrn mit Creutz als unmöglich hinzustellen. Aber der König hielt die Macht über die Alten und Neuen in Händen und ließ sich hinter seinem Rücken getrost einen zweiten Zar Peter schimpfen.

 

Der Zar war auf der Fahrt nach Berlin. Wirklich, war denn ein Jahr darüber vergangen, daß die Kuriere zwischen den Höfen der beiden Herrscher hin und her jagten, Termin und Ort und Dauer der Zusammenkunft zu vereinbaren? Der Zar begehrte diese sehr, nachdem er das Wort gesprochen hatte, er wolle den Mann sehen, der im Nordischen Kriege so gut verstand, Verträge aufzusetzen und durchzusetzen. Von Charlottenburg aus sollte nun der Einzug des Zarenpaares in Berlin erfolgen, und die Königin vermochte es nicht zu verhindern, daß der Zarin, der einstigen Soldatenfrau, derartige Ehre zuteil werden sollte. Offensichtlich aber wurde der Groll der Königin erst dann, als der absonderliche Wunsch des Zaren verlautete, zu Schiffe in der Preußenhauptstadt eintreffen zu dürfen. Für solche Landung eines Hofes kam nur Monbijou in Frage. Die Königin als Tochter des Königs von England wollte nicht die ehemalige Magd an den Stufen ihres eigenen Schlosses in geschmückter Barke landen sehen. Doch schmeichelte es ihr, daß sie der König so beharrlich bat, keine politischen Verwicklungen heraufzubeschwören. Bedenklich war der Königin nur, daß die Briefe aus England nicht rechtzeitig eingetroffen waren; sie hatte Vater und Bruder und Schwägerin um Verhaltungsmaßregeln gebeten, da sie dem Feingefühl des Gatten in Sachen solcher Staatsempfänge nicht vertraute.

Am Park von Charlottenburg, an der Brücke über die Spree, hatten der Zar und die Zarin das Lustschiff bestiegen, das sie nach Schloß Monbijou bringen sollte. Das Zarenpaar befand sich auf dem Bug der Jacht. Zar Peter trug seinen hochgeschlossenen Jagdrock, den Hirschfänger am Gürtel. In den Händen hielt er ein Sprachrohr, um bei der Landung in der Preußenhauptstadt den stummen Ruderern und flinken Segelknechten selber zu befehlen. Immer reisten die Schiffsleute mit ihm, und wo man dem Zaren eine Barke oder auch nur den einfachsten Kahn bot, war er sogleich sein eigener Kapitän und, was seinen Anzug und die Unrast seiner Fahrt betraf, ein wilder Jäger auf den Strömen. Die Zarin saß auf einem Taburett zur Seite ihres hohen Gatten. Sie sah zu den Segeln auf: die wurden eingezogen, denn man war am Ziel. Sie blickte zu den Ruderknechten hin: die hielten die Stangen hoch über das Wasser, regungslos, in ungebrochener Linie; das Wasser tropfte von den Ruderstangen, und die Knechte sangen, als hätte keine Mühe sie erschöpft. Die Zarin schaute endlich nach dem Ufer: die glänzende, weiße Terrasse zwischen dem Fluß und dem Park hatte sich mit den Kavalieren und Damen des Hofes von Monbijou gefüllt. Allen voran stand der König von Preußen in seiner blauen Uniform und winkte. Das lichte, kleine Schloß der Königin war umweht von farbigen Bannern.

Der Zar rief durch sein Sprachrohr einen Gruß, als stieße er ins Hifthorn. Da stürmten seine Hunde übers Deck und umkreisten die Zarin. Am Ufer stellten sich nun schon die Königskinder auf: Kronprinz Friedrich und Prinzessin Wilhelmine. Eine Kinderfrau hielt sogar die kleine Friederike Luise auf dem Arm, und die Kleinen sollten den russischen Gästen winken wie der Vater.

Einen Herzschlag lang senkte die Zarin die Lider. Dann hob auch sie den Arm, ließ ihren Schleier flattern und lächelte. Nun warfen sie auch schon die Taue ans Ufer, und Grenadiere fingen sie auf, sie um die Pfähle zu schlingen. Auf die höchste Stufe der Terrasse trat die Königin von Preußen, im Kreise aller ihrer Damen. Sehr stolz war die Königin, und das Festkonzert der fünfzig kleinen Mohren, welche ein Nelkenrondell mit ihrer Janitscharenmusik umwoben, schien sie ein wenig zu indignieren, weil es nicht nur dem Zaren, sondern auch der einstigen Magd und Soldatenfrau galt.

Als Katharina Alexejewna aus der Barke stieg, war ein leises Klingeln um sie, fast wie ein sehr sanftes Läuten. Denn ihr weites, blaßgrünes Kleid, das zobelverbrämte, war mit kleinen Heiligenbildern behängt, über und über.

König Friedrich Wilhelm reichte ihr den Arm, aber als er sie die Stufen zu der Königin emporführte, löste die Zarin sich – kaum, daß er es spürte – von seiner Rechten, blieb auf der zweiten Stufe stehen und sank in eine tiefe Verneigung; auch hielt sie den Kopf, wie demütig, gesenkt. Sie war so tief vor Preußens Königin geneigt, daß diese ihr die Hand nicht hätte reichen können, auch wenn es ihr Wille gewesen wäre; und er war es nicht. Sie blickte über Katharina Alexejewna hinweg auf den Fluß, den Garten, die Jacht und fand kein Wort des Willkommens. Die Zarin schien ihr von Schmutz und Silber zu starren.

Zar Peter legte seinen Arm um Friedrich Wilhelms Schulter. »Hier will ich bleiben«, rief er, und schon stürmten seine riesigen Hunde durch den behüteten Park der Königin von Preußen.

Katharina Alexejewna, noch immer das Knie auf die Treppe geneigt, sah auf die Kinder der Königin. Nach der kleinen Tochter auf dem Arm der Kinderfrau breitete sie mit sanftem Lächeln beide Hände aus. Aber das kleine Mädchen fürchtete sich vor den dunklen Augen und der braunen Haut; auch hatte die Bediente für einen derart unerwarteten Zwischenfall keinerlei Anweisung erhalten. Kronprinz Friedrich und Prinzessin Wilhelmine machten der Zarin aus der Ferne ihre artige Reverenz. Da ließ Katharina Alexejewna ihre Arme wieder sinken. Zur Königin hinblickend, schlug sie ihre ernsten, braunen Augen zu unwahrscheinlicher Größe auf.

»Ich habe meinen Sohn verloren«, sagte sie leise, als wüßte die Mutter vor der Mutter in der Stunde der Begrüßung gar kein anderes Wort. Beide hatten sie in diesem Frühling und Sommer einen Sohn geboren.

Aber Königin Sophie Dorothea sah und hörte Katharina Alexejewna nicht; sie reichte dem Zaren die Hand, von allen Perlen, Diamanten und Saphiren der Welfentochter strahlend.

Noch immer strömten die Gäste die Treppe vom Ufer herauf. Die Barke des Zaren hatte sich schon wieder abgestoßen; neue Schiffe, von Blumenkränzen duftend und umflattert von Wimpeln, legten leise schaukelnd an. Die russischen Gäste wichen auf der Terrasse rechts und links zur Seite und ließen einen breiten Durchgang frei. Denn der letzten Jacht entstieg die Fürstin Galliczin; und der Beichtvater des Zaren, ein Abt, war ihr einziger Begleiter. Ohne den preußischen und russischen Hof auch nur eines Blickes zu würdigen, schritt sie die Stufen empor, mit beiden Händen, welche lang und schmal und edel waren, ihr weites, weißes Kleid ein wenig über die Fußspitzen hebend. Die hochgewölbten Brauen und jede Miene des Gesichtes waren unbewegt, die nachtschwarzen Augen ohne Ausdruck und Ziel; der schöne und bedeutende Mund war tief rot geschminkt und fest geschlossen, das Gesicht nur blaß gepudert; die Haare wurden aus der hohen Stirn und von den schmalen, leicht vertieften Wangen durch einen Kopfputz zurückgehalten, der in sechs mondsichelgleichen Perlenbogen bestand. Von den Enden, in denen die Spitzen dieser Halbmonde unterhalb der Ohren zusammenliefen, hingen Perlenschnüre, zu losem Bündel geknotet, fast bis zu den Schultern herab, und an den Handgelenken der entblößten Arme wiederholten sich die halbmondartigen Perlenbögen noch einmal gleich einer Stulpe. Obwohl die Fürstin von der Reise kam, war sie schneeweiß gekleidet; Schleppe und Kleid waren in ebenmäßigen, längsverlaufenden Linien mit den gleichen blaßgrauen Perlen bestickt. Die Fürstin sah kein Zaren- und kein Königspaar, sie streifte im Vorübergehen mit ihrem Reifrock die fast erstarrende Königin von Preußen, und erst an dem Rondell vor der Mittelgalerie des Schlosses blieb sie stehen und wandte sich langsam und feierlich um, als wolle eine Herrscherin zu ihrem Volke sprechen.

Der Zar hielt sich vor Lachen seine langen Seiten, hustete, räusperte sich, pfiff seinen Hunden, und sofort stimmten alle russischen Kavaliere mit in das Pfeifen ein, und es war ein Spektakel in dem Garten Ihrer Majestät, daß die preußischen Herrschaften nicht mehr wußten wie ihnen geschah. Von allen Seiten jagten die Hunde wieder heran, umkläfften und umstellten die Fürstin. Sie stand wehrlos in der Meute, zitternd vor Furcht; ihre Augen waren geweitet, und die Hände preßte sie gegen die Ohren.

Er solle die Hunde von der falschen Heiligen bekehren, rief dröhnend der Zar dem Abte zu, und der zog zwei Hundepeitschen mit vier langen Riemen unter seiner Kutte hervor, schlug, sie in beiden Händen schwingend und mitten unter die Hunde springend, wie ein Rasender um sich und wirbelte im Kreise umher, daß seine Soutane wie ein fester Reifen um ihn stand –; die Hunde schnappten nach dem Saum des Mönchsgewandes, packten die Fetzen und stoben, manche sich überkugelnd, davon.

Zar Peter mußte sich die Tränen des Lachens aus den Augenwinkeln wischen, sein Hof schrie, jubelte und pfiff, Katharina Alexejewna lächelte ein wenig bedrückt, König Friedrich Wilhelm machte große Augen, die Königin winkte nur ihren Damen und verschwand mit ihnen und den Kindern, die Fürstin Galliczin ließ sich an der steinernen Umfassung des Nelkenbeetes nieder, scheu und traurig, und alle preußischen Kavaliere wußten nicht, ob lachen, tadeln oder stumm verharren. Zum zweiten Male legte der Zar den Arm um des Königs Friedrich Wilhelm Schulter. »Das sind nämlich mein Narr und meine Närrin, Abt Sotof und die Fürstin Galliczin.«

Für den Preußenkönig war es zu viel. Ein Geweihter als Narr und die fürstliche Verschwörerin, einst das Haupt eines Aufstandes, in Perlen und Seide von einer Meute umstellt!

Doch Zar Peter, des Neuen begierig, drängte weiter. An der Auffahrt von Schloß Monbijou warteten bereits die Staatskarossen, um die Fürstlichkeiten und ihre Begleitung nach dem königlichen Schloß zu bringen; denn ein Empfang in dem Palais der Königin war aus begreiflichen Gründen nicht vorgesehen. Noch während der Auffahrt vor Schlüters mächtigem Portal trafen von der Charlottenburger Allee und der Straße Unter den Linden her auch die Kutschen mit der übrigen Reisegesellschaft des hohen Paares ein. Die kleine, reichgeschmückte Flottille war nicht imstande gewesen, den gesamten russischen Hof aufzunehmen. Zwei Stunden hindurch rückte langsam, ja schrittweise Wagen um Wagen über die Brücke an der Schloßfreiheit vor, und die Lakaien hatten unermüdlich die Wagenschläge zu öffnen und zu schließen.

Die ersten Karossen und Kaleschen hatten sie nicht wenig in Erstaunen gesetzt, zwängten sich doch in ihnen fünf und auch sechs Damen, die sofort eifrig und alle zugleich in ihrer rauhen, fremden Sprache auf die Diener einredeten, ihnen Kinder entgegenhielten – schreiende, schmutzige, braune Kinder – und sich dann, von ihrer Last befreit, eiligst und ebenfalls möglichst gleichzeitig aus ihren Kutschen drängten: geputzte, derangierte Damen, gar zu farbenprächtig angezogen, wilde Schleifen und samtene Blumen in den manchmal nicht ganz einwandfreien Perücken. Die zarischen Damen waren so geschminkt, als ob sie mit einer Handvoll Mehl über das Gesicht gefahren wären und mit einem groben Pinsel die Backen rot gefärbt hätten. Als Schönheitspflästerchen hatten sie sich Figuren ins Gesicht geklebt: Bäume, Kutschen, Pferde. Sie suchten sich darin gegenseitig zu übertrumpfen, namentlich sechs aus dem Dienst der Herzogin von Kurland entlassene Fräulein, die jeden Morgen vier Bouteillen Branntwein erhielten, sich den Mund auszuspülen, weshalb sie auch den ganzen Tag sehr guter Laune waren. Alle lachten, zankten, schrien; sämtlich waren sie sehr mißtrauisch und wollten sogleich ihr Gepäck vom Wagendach abgeschnallt haben; und manche der moskowitischen Damen begann noch auf dem Platz vor dem Portal in ihren Koffern zu wühlen, Eßkörbe auszuwickeln und ihren Inhalt zu verspeisen, oder sich um Schachteln und gestickte Reisetaschen zu streiten. Einige hockten sich bei den zehn dorischen Säulen zwischen Hof und Portal auf die breiten Mauersockel nieder, entblößten ihre Brüste und stillten ihre Kinder, andere suchten mit Eile den Ausgang nach den Höfen, und daß es ein Prunkhof war, hemmte sie kaum. Ihre kleinen Jungen hielten sie sogar zwischen Bordstein und Kutschen ab.

Ratlos, entsetzt, allen Verlegenheiten preisgegeben, standen auf der ersten Empore, in der die breiten Treppen zu den Gemächern des Königs und der Königin ineinandermündeten, zwei Kammerherren Seiner Majestät, beauftragt, die zarischen Damen in ihre Gemächer zu führen. Die stießen eine die andere vorwärts, und einige, die der französischen Sprache mächtig waren, wurden von den Freundinnen und Rivalinnen einmütig auf die Kammerherren zugeschoben. Als diese Damen nun begriffen hatten, worum es eigentlich ging, legten sie die Hände an den Mund und schrien laut ins Treppenhaus hinunter, es gebe Betten und Essen!

Während der Verhandlung, denn so mußte man es schon nennen, war der große Zug ins Stocken gekommen. Nun brach er wiederum auf. Diener und Lakaien im Gefolge der Kammerherren konnten gar nicht schnell genug Koffer, Schachteln, Truhen und Beutel aufnehmen; es störte die Russinnen nur wenig; sie griffen selbst nach ihren Gepäckstücken, zerrten die Kinder hinter sich her oder schleppten sie, einfach unter ihren Armen festgeklemmt, mit sich fort. Unübersehbar flutete es an den Kammerherren vorüber. Sie waren bis an die äußerste Brüstung der marmornen Balustrade gedrückt. Dann und wann, fast erstickend, mühten sie sich, um Artigkeit und Fassung zu wahren, vor einer der wilden, braunen Damen die höfliche Frage ab: »Oh, Ihr Kindchen, Madame?«

Dann war es gleich wieder wie ein Stillstand in dem Wogen. Denn jede der Angeredeten, soweit sie Französisch verstanden, knickste artig, dankte der Nachfrage und gab den Bescheid: »Der Zar hat mich beehrt.« Sonst aber nannten sie den Zaren »Väterchen«.

Draußen fuhren indes als letzte Zar Peters hundert Zwerge und Narren vor, von denen einige sich auch während der Reise beim Zaren in Zahnbehandlung befanden; er leistete Außerordentliches auf diesem Gebiet und fand ein ungeheures Vergnügen daran.

 

Der Zar hatte Abt Sotof gebeichtet. Er hatte keine heiße Stunde seiner Nächte verschwiegen; er hatte gebeichtet, daß er oft des Nachts noch unerkannt die fremde Stadt durchstreife; und wenn er auch noch nicht all ihre Merk- und Sehenswürdigkeiten kenne, so doch sicherlich die Betten ihrer hübschesten Mädchen, soweit sie vom Herrn Vater und der Frau Mutter oder der altjüngferlichen Schwester nicht gar zu streng und zimperlich bewacht würden. Aber nun werde er tugendhaft sein und jede Nacht, die ihn noch in Berlin sehe, in ein und demselben Bette seinen Schlaf tun. Es gebe einen Gasthof, darin könne sich auch ein Kaiser und Sultan sehr wohl blicken lassen, einen Gasthof mit seidenbespannten und gemalten Galerien und Sälen, mit Spiegeln und Silbergerät, Lakaien und Köchen. Dort werde er wohnen zur Nacht. Denn der Wirt, ohne Muhme, Frau, Schwägerinnen und Schwestern, habe nur eine Tochter bei sich mit blondem Gelock und den seligsten hellbraunen Augen; die tue gar nichts als singen und sich die Sonne vom Himmel herabwünschen. Wenn sie ihm nur immer singe, beichtete kniend der Zar, so wolle er ihr die Sonne schon holen lassen und was es sonst an unbekannten Gestirnen etwa noch gebe, dazu. Er beichtete auch allen Schabernack, der große Zar mit den heiteren, oft aber vom Jähzorn glühenden, großen grüngrauen Augen, den festen, weißen Zähnen, der wettergebräunten Haut und dem gelockten kurzen Braunhaar. Das sei er, meinte der Zar, dem neuen Freunde Friedrich Wilhelm schuldig, daß er ihm dort helfe, wo er seine Hilfsbedürftigkeit gar nicht ahne, nämlich gegenüber der hochmütigen Frau Gemahlin, die ein wenig gefügiger gemacht werden müsse. Auch Königin Sophie Dorothea aus dem Hause der Welfen würde wohl nichts dagegen zu tun oder auch nur zu reden vermögen – und dies fiel ihr gewiß besonders schwer –, wenn der Zar als Gast für Frau und Gefolge auf all die Prunkzimmer im großen Schloß verzichtete und gerade an dem zierlichen Sommersitz der Königin Gefallen und Freude fand und daselbst zu logieren begehrte? Nun hausten sie in Monbijou mit Damen, Kindern und Hunden!

Er dürfte doch bei der Beichte nicht lachen, flüsterte Abt Sotof dem Zaren aus dem Beichtstuhl zu. Diesen Beichtstuhl führte der Zar gleich einer kleinen Sänfte auf allen Reisen mit sich, so auch jetzt, als seine Fahrt durch Holland und durch Preußen ging.

»Du hast recht«, sagte der Zar, »obwohl du nur hören und nicht reden sollst.« Und dann raunte er dem Abte wieder das Ernste durchs geschnitzte Gitterwerk des Beichtstuhls ins Ohr. »Sie foltern Alexej Petrowitsch noch einmal.«

Da zögerte der Abt mit dem Zeichen des Kreuzes und mit der Verheißung der Gnade; denn Alexej Petrowitsch, das Kind der ersten Ehe, war des großen Zaren einziger und schwacher Sohn, seit Katharina Alexejewna ihren Sohn auf der gleichen Fahrt begrub, auf der sie ihn gebar.

Als sie das Zimmer, das ihnen im Preußenschloß zur Kapelle diente, verließen, neigte sich der Zar wie jeden Tag über die Hand seines Abtes und küßte sie. Aber als sie die Schwelle überschritten hatten, versetzte der Zar, ebenfalls wie jeden Tag, seinem Beichtvater einen groben Nasenstüber und herrschte ihn an: »Nun sei wieder lustig, Narr.«

Aber der beklagte sich, er habe keine rechte Unterhaltung hier und beginne, ausgerechnet in dem vielgepriesenen Westen, ganz tiefsinnig zu werden vor Langeweile; und auch Madame Galliczin mangle es sichtlich an guter Gesellschaft. Der Zar gab es dem König weiter; denn er hielt darauf, in allen Stücken und hinab bis zum geringsten Fuhrknecht im Gefolge des Zaren ein Wirt ohne Tadel zu heißen.

Er habe einen, der könne wohl jeden vortrefflich unterhalten, glaubte König Friedrich Wilhelm versprechen zu dürfen. So kam Gundling unter die Narren. Dafür war er am Berliner Hofe der einzige, der binnen kurzem um die Geheimnisse, Vergehen und Qualen der Närrin Elisabeth Feodorowna Galliczin wußte. Der entsetzliche Plan der Fürstin, den Zaren mit Hilfe seines Sohnes, der Popen und des Adels zu stürzen, war aufgedeckt worden, noch ehe der Zarewitsch und die Fürstin nach Neapel zu entkommen vermochten. Der Plan war enthüllt; aber noch immer blieb dem großen Zaren unbekannt, wer Urheber war und wer Werkzeug. Darum erlitt der junge Alexej Petrowitsch die Folter auf Befehl des Vaters und Herrschers.

Die Galliczin aber suchten die Ihren zu retten, indem sie den Zaren beschworen, der unglücklichen Irren, deren Wahnsinn man geheimgehalten habe, dürfe kein Leid geschehen, und keinem Gericht könne die Umnachtete ausgeliefert werden. Von diesem Tage an, Stunde um Stunde, hatte die Fürstin die Wahnsinnige zu spielen, denn der Zar erklärte, sie in Verwahrung halten und von seinen Ärzten und Gelehrten beobachten lassen zu müssen, damit er sein Leben erhalte, sie selbst sich nicht ins Unheil stürze und die Wissenschaft an solcher Armut reicher werde. Niemals, so heftig er auch war und so furchtbar ihn sein Zorn auch mit sich fortriß, sprach es der Zar vor einem Menschen aus, daß er um die Lüge ihres Wahnsinns wußte. Aber Elisabeth Feodorowna Galliczin kannte keinen Zweifel, daß er sich die furchtbarste Strafe ersonnen hatte mit solcher Gnade. Und nun erlebte die Fürstin das Peinigende, daß ihr hier am Hofe des preußischen Königs ein eitel aufgeputzter, kleiner Mann mit mächtiger Perücke zur Unterhaltung beigegeben wurde, dessen wunderliche und geschraubte Redensarten, umständliche Vergleiche und phantastische Abschweifungen eine erschreckende Kenntnis des russischen Aufruhrs verrieten und keinen Zweifel zuließen, daß ihm die offene und geheime Geschichte jeglichen Wappenschildes nicht fremd war. Manchmal dachte die Fürstin vor der sanften Zarin zusammenbrechen zu müssen. Aber dann genügte es ihren Leiden, daß die Soldatenfrau Katharina Alexejewna ihrer Torheit Trost zusprach mit fremden und ungemein lieblichen Worten einer Kindermagd an der Wiege. Und die Gaben, welche ihr die Zarin verhieß, waren Geschenke, wie ein Bauernmädchen sie erträumt, das auf die Tage des Festes von seinem Liebsten mitgenommen wird in die Marktstadt; doch waren auch kleine Heiligenbilder und ein Ikon aus buntem Glas und von gemaltem Holze darunter.

 

Die russischen Herren waren auf des Königs Jagdschloß Wusterhausen eingeladen. Aber auch die Zarin sollte wohlgeduldet sein; denn eben: Katharina Alexejewna war eine Soldatenfrau und kannte Lager und Zelt; und niemals lache sie schöner als am Lagerfeuer, sagte der Zar.

Die Königin von Preußen blieb zurück, durch Krankheit entschuldigt, doch in Wirklichkeit aus Verstimmung und Empörung darüber, daß die Zarin in Schloß Monbijou logierte. Es versöhnte die Königin von Preußen wohl kaum, daß ihre kleine Wilhelmine bei Zar Peter einen so großen Erfolg davongetragen hatte. Das Prinzeßchen hatte die Lektion, die man ihm gegeben, gut auswendig gelernt und sprach mit dem Zaren von seiner Flotte und seinen Eroberungen in einer Weise, daß der große Mann zur Zarin sagte, er gebe eine seiner Provinzen, um solch ein Kind zu haben. Dagegen war es ihm nur belustigend, ja lächerlich, als das Kind sich gegen seine rauhen Küsse wehrte und schrie: »Sie entehren mich!«

Ohne die Gegenwart der Königin, fern dem Hofe und in der einfachen Umwelt von Wusterhausen war Katharina Alexejewna freier, glücklicher und sicherer, als man sie in Berlin bis dahin sah. Nichts gab es hier, was ihr Herz beengte, das gar so leicht von allzu glühender Liebe und zarter Schüchternheit so flatternd und so ängstlich war. Sie ging als Jägerin unter den Männern, und es nahm ihr etwas von ihrer Schwermut, daß nicht die Heiligenbilder um sie läuteten. Auch wirkte sie hier seltsamerweise würdiger, denn ihre höfischen, ihr selber fremden Roben waren immer leicht verwahrlost; aber das neue grüne Jagdkleid war ihr lieb, und sie hielt es gut, und man erkannte erst jetzt, daß die brünette, große, schlanke Frau mit ihrer ebenmäßigen braunen Haut, wie keine Frau hierzulande sie hatte oder begehrte, von eigener Schönheit, Anmut und Würde war. Der König empfand für Katharina Alexejewna großes Wohlwollen, in das sich manchmal tiefes Mitleid mengte, denn es geschah an seiner Tafel nicht selten, daß der Zar seine Frau in ihrer unbefangenen und ungeschickten Rede mit einem »Kopf ab« unterbrach. Dabei zog er mit dem rechten Zeigefinger einen raschen Strich quer über seine Gurgel, und Katharina Alexejewna erschrak jedesmal gar sehr und war viele Stunden wie verstört. Der bange Glaube verließ sie nicht, sie werde auch, wie all ihr Glück, den Tod von seiner Hand oder durch seinen Befehl empfangen. Sie, die Zarin, erhob sich nicht einen Augenblick über die zarischen Damen. Sie war ohne Wehmut und Bitterkeit gegen all die Mütter und nur voller Freundlichkeit gegen des Zaren vierhundert Kinder. Noch vermochte sie es nicht zu fassen, daß der Zar sie zu sich emporhob. Redete aber nun der Zar in Gegenwart aller anderen freundlich mit ihr, so blühte sie auf und lachte fast verwegen, gab schlagfertige Antworten, ja, ließ sich sogar zu einem ausgesprochenen und überaus anmutigen Leichtsinn hinreißen. Doch war es in der Trauer um das Söhnlein nur ein ferner Abglanz ihres einstigen Wesens. Als sie die erste Stadt des Preußenkönigs verlassen hatten, war der Sohn, auf der Reise geboren, in der fremden und von nun an so schmerzlich geliebten Erde zurückgeblieben.

Der König von Preußen tröstete die Zarin oft, er habe zwei Söhne verloren und um das schwache Leben des dritten sich all die ersten Jahre sehr gesorgt; und nun trage der Sohn bereits die erste kleine Montur, und er selber habe ihm neulich erst die Plempe eigenhändig umgehängt. Ach, und ein zweiter Sohn wachse indes schon heran zum Kornett im brüderlichen Knabenregiment. Freilich, zu langen Gesprächen blieb der Zarin und dem König hier auf Wusterhausen keine Zeit. In der ersten Morgenfrühe, kaum daß die Sonne die Wipfel der Linden vor dem Schloß und seine beiden hohen Giebel überstrahlte, blies das Jagdhorn zum Wecken, und die Jägerburschen, die hier allein die Bedienung besorgten, eilten, die Stiefel der Herren unter den Arm geklemmt, von Kammer zu Kammer; alle Zimmer außer dem Hirschsaal im Erdgeschoß waren klein und einfach, so daß man sie nur Kammern nennen konnte. Die Küchenjungen trugen die Eichenbretter mit Terrinen voller Biersuppe, die Schüsseln mit Schinken und Würsten, die Körbe mit mehlbestäubten Broten vom Keller zum Hirschsaal hinauf; im Hofe putzten Burschen die Flinten, die Hunde wurden gefüttert und gestriegelt, und endlich trat als erster der Herren der König im grünen Jagdrock auf die Treppe, nach allem Ausschau zu halten: nach dem Frühstück für die Gäste, nach der Meute, deren hundert Hunde er jeden einzeln kannte, nach dem Wetter, den Pferden, die Fütterung der Bären nicht zu vergessen.

Über Bach und Wald und den eben abgeernteten Feldern zog noch der Nebel. Ins Gras, das feucht vom Tau und nach der zweiten Mahd noch einmal voll emporgewachsen war, fiel, wo ein Birnbaum nahe dem Schlosse gepflanzt war, eine erste Frucht. Der König auf den Stufen vor dem Turmtor hörte den sanften Aufschlag trotz Pferdegewiehers und Hundegebells, und der Gedanke schien ihm nützlich und lieblich, daß sich einmal weite Gärten voller Birnen-, Pflaumen- und Apfelbäume, voller Beerensträucher und Himbeerhecken um seine Schlösser ziehen könnten, um jegliches Gehöft der Bauern und vor den Toren der Städte hin.

Es war um die Mitte des August und sein Geburtstag, und weil erst sein dreißigstes Jahr den Anfang nahm, war der König noch voller Wünsche und gab dem beginnenden Jahr seines Lebens Weisung, Ordnung und Plan. Er kam leicht ins Träumen, der König, der ins große Jahr des Mannes schritt. Aber seine Träume waren nur Befehle an die Wirklichkeit, werdender Entschluß und Hervorbruch festen Willens. Alle seine Träume mündeten in neue Tat. Ihm gab es kein anderes Erwachen. Gesicht und Leib und Hände noch vom Brunnenwasser kühl und das Herz sehr heiß vom frühen Tage und dem neuen Jahr, das angebrochen war mit Hifthornklang und Jägerruf, stand König Friedrich Wilhelm vor dem Jagdschloß seiner Knabenjahre.

Seine Gäste hatten ihn umringt. Der Freund, der Gast, der Zar ließ ihm Geschenke bringen, während sie draußen schon die Pferde sattelten und die Hunde an die Koppel nahmen. Der Zar hatte zwei Adler herbeischaffen lassen, wie er sie daheim auf seinen Schlössern hielt, mit mächtigen Schwingen, doch die Klauen beschnitten und an schwerer Kette eine eiserne Kugel am Fang. Auch Bären machte Zar Peter dem Preußenkönig zum Geschenk; schon seit zwei Tagen hielt man sie im Nachbardorfe verborgen, zottige, mächtige Bären. Die Zähne waren ihnen ausgebrochen, und die Vorderpfoten hatte man ihnen über der Tatze abgeschnitten, daß sie den neuen Herrn nun nicht zu stürmisch umarmten und sich lieber, was für königliche Bären schicklicher schien, ans aufrechte Gehen gewöhnten. Nur eine Bärin hatte man davor verschont.

Der König hatte zu staunen, zu schauen, zu danken; zu horchen und zu lachen gab es auch. Gundling und Abt Sotof hielten ihre Gratulationsreden, als preußischer Adler flatternd der eine und tappend und schaukelnd als russischer Bär der andere. Der Zar wollte sich ausschütten vor Lachen. Draußen vor der Brücke und am Tor hatten sich Leute aus dem Dorfe angesammelt, ob sie etwas erspähen könnten von dem Geburtstagsfest oder gar von des moskowitischen Mönchsnarren Spaßen. Der hatte zu Berlin und Wusterhausen ein leichtes Spiel; die Einfälle zündeten nur so; Professor Gundling ließ das Wortspiel nicht ermüden und war ein Partner, wie ein Narr ihn selten findet. Es sollte hoch hergehen, wollten der Narr in der Soutane und der verkommene Gelehrte im übermäßig prunkenden Hofratshabit. Die Zarin saß indessen schon zu Pferde, lächelte und wartete und blinzelte in die Sonne. Der Tag wurde klarer, die Sonne stieg, der Nebel war nur noch ein zarter Tau, der Heide, Stoppelfeld und Waldessaum von fernher glänzen ließ.

Sie zerrten die Bären in die Ställe, und die Adler sperrten sie in ihre hohen Käfige. Auf den Füchsen rechts und links der Zarin saßen Zar und König auf; der Zug der Jäger hinter ihnen war lang; gleich an der Brücke setzte man sich in Trab. Staub wirbelte nicht auf. Die Erde war noch feucht.

 

Peter und Friedrich Wilhelm ließen das Treiben sich immer weiter entfernen. Ihre Flinten lehnten an einem Baumstumpf, die beiden Jäger lagerten im Grase. Doch Rast und Ruhe waren fern, ja, Erregung hatte sie ergriffen. Ein paar Worte über die Flinten, die waren der Anfang gewesen. Und da in diesem Augenblick kein Wild in Sicht gewesen war, hatte der König noch bemerkt, er möchte binnen kurzem für das wachsende Heer selbst die Gewehre herstellen lassen; es gehe ihm gar zu viel Geld nach Lüttich zu den vielgerühmten Büchsenmachern.

»Das ist eine Sache«, sagte der Zar, »die läßt sich wohl hören. Wenn Ihr so weit seid, Bruder Friedrich Wilhelm, laßt es mir sagen. Ich könnte ein gutes Stück Geld sparen, wenn die Waffen für meine Armee nur noch den kürzeren Weg von Eurem Lande zu meinem gingen. Selbst kann ich die Fabrikation noch nicht wagen – soweit habe ich meine Völker noch nicht gebracht. Und wenn Ihr mir schon Waffen und Monturen schickt, dann sendet mir die Lehrmeister mit, die meine Truppen weisen, die neuen Flinten zu gebrauchen. Denn ich will dahin kommen, wo Ihr nun schon seid, Bruder Friedrich Wilhelm, obwohl Ihr es kaum leichter hattet als ich.«

Der König blickte den Zaren groß an.

»Und wo bin ich?«

Der lange Peter, der im Waldgras lag, schlug sich auf die Schenkel. »Wißt Ihr es denn nicht?«

Und nun zählte er ihm auf, was er gesehen hatte, seit er in des Preußenkönigs alter Hauptstadt eintraf und den Anfang der neuen Stadt Potsdam gezeigt bekam. Er pries die Betriebsamkeit der Manufakturen, die Einheitlichkeit und Sauberkeit der Uniformen, die Ordnung der Märkte, das Werk, das an den Flüssen und ihrem Bruchland geschah; er lobte das Wunder der gläsernen und silbernen Apotheke, die Übersichtlichkeit der Baupläne, die Pünktlichkeit der Ämter und Kammern und die Zuverlässigkeit der Kassenbücher. Er lobte als einer, der selber um jedes Dorf mit einer öden Steppe ringen, seinen Untertanen die Spindel in die Hand und das Hemd auf den Leib zwingen, sein Volk all seine Liebe und Sorge mit Knuten und mit Ketten lehren mußte.

Der König, neben dem neuen Freunde hingestreckt unter Kiefern und lichtem Spätsommergewölk, wußte nicht, wie ihm in so wunderlichem, unerwartetem Gespräch geschah.

Einer hielt erste Rückschau für ihn; einer, der das Schwere kannte, erteilte ihm das erste Lob, während er nur das Unvollendete, das Widerstrebende, den Mangel, das Versagen und die unablässige Forderung zu sehen vermochte!

Er hat dem Zaren auch nur so geantwortet: daß alles sehr schwer, unvollkommen und dürftig sei. Aber eine Fröhlichkeit, wie er sie bis dahin noch nicht kannte, zog durch sein Herz und sein Denken.

Der König, der den Wald, die Heide, die Jagd und den späten Sommer so liebte, wünschte um diese Stunde seines Geburtstages nichts sehnlicher, als fern von alledem im Tuchmagazin in der Alten Hofburg zu stehen und von den Regalen und aus den Schränken dem neuen, dem ersten Käufer vorlegen zu lassen, was er da an Ballen – »Niemand zur Freude und allen zu Leide« sagt das Volk – hatte spinnen, weben und aufhäufen lassen: Blaues Königstuch, glatten und geköperten Flanell, Preßbery und Fries, Serge und Zeugrasch, Prussien, gestreiften und geblümten Kadamank, Casta und Velp. Dies alles wollte der Zar in Zukunft vom König von Preußen beziehen; denn die Holländer und Engländer konnten mit den Preußen nun schon nicht mehr mittun.

Peter hielt sich die Ohren zu, als Friedrich Wilhelm ihm die Eigenart, den Vorzug, die Herstellung und den Preis jeden Stoffes überstürzt und doch so eingehend schilderte und ihn über alle Fragen der Emballage, des Packerlohnes und der Leichterfracht augenblicks unterrichtete. Aber ob denn der Bruder Friedrich Wilhelm nun in allen Fabrikationen seines Landes so sehr genau Bescheid wisse? Das wollte Zar Peter nun doch noch erfahren. Denn Bruder Friedrich Wilhelms Handelsgrundsatz hatte es ihm angetan, »die bonne foie sei die Seele des Commercii, davon müsse das Preußische Comptoir ausgehen; dann werde es in kurzem mehr Kredit haben als alle anderen«.

Er hoffe mit den richtigen Angaben dienen zu können, meinte der königliche Kaufherr, und sein Gedächtnis notierte jede Bestellung, die auf seinen Vortrag erfolgte. Aber der König in ihm bedachte, daß wohl ein Band sein müsse zwischen Potsdam und Petersburg, der neuen Stadt des Zaren. Auch Petersburg, vom vertriebenen, ungeheuerlichen Schlüter erbaut, war aus dem Sumpf ertrotzt und Zeichen eines werdenden Reiches und Gelübde einer Kraft.

Den Zaren und den König verband wohl auch noch mehr als nur die gemeinsame Vorliebe für Holland, für Handwerk und Jagd. –

Aber Zar Peter war reicher.

Beide waren sie fromm. Und beide waren, wie Fürsten sonst kaum, zur Freundschaft geschaffen, die fern und hoch über den Verträgen aller Potentaten steht.

»Bruder Friedrich Wilhelm«, rief der Zar, »wir wollen beide in immerwährendem gutem Verhältnis und in der rechten Harmonie bleiben!«

Solches könnte er fest versprechen, gab König Friedrich Wilhelm zurück; doch er schloß: »Was aber unsere Jungen nach unserem Tode tun werden, das müssen wir geschehen lassen –«

Der Zar sah an ihm vorbei.

»Was das Vertrauen auf die Söhne betrifft, Bruder Friedrich Wilhelm – jeder Mensch schuldet der Welt wohl eine Torheit.«

 

Als die Jägerburschen die Strecke vor dem Schloß auslegten und jeder Jäger den anderen die prächtigen Stücke bezeichnete, die er selber vor der Flinte gehabt hatte, wurde die Schande der beiden hohen Herren erst offenbar. Und dennoch standen sie hochgemut unter den Gästen; auch wollte der Jagdherr von Wusterhausen um jeden Preis nach seinem Brauche Jagdwirt sein; hatte er auch, wie es die Strecke nun unbarmherzig bewies, einen schlechten Tag gehabt, so sollten doch die Gäste es keinesfalls zu spüren bekommen. Er kleidete sich um, streifte die Ärmel seines Hemdes hoch und ließ sich eine große, weiße Schürze bringen. So erschien er im Gewölbe vor der Küche und schnitt sehr reinlich und gewandt die Fische, die er im Netz vom Graben hatte holen lassen. Die Küchenkräuter wusch er selbst, Petersilie und Dill, die den Fisch auf der Schüssel und in der Terrine zu zieren und zu würzen bestimmt waren. Zur Rechten und Linken des königlichen Küchenmeisters standen mächtige Becken mit heißem und mit kaltem Wasser, darin wusch er sich nach jeder Verrichtung am Herde mit Eifer die Hände, und seine weiße Schürze wechselte er mehrmals. Des Waschens war auch kein Ende, als er, sobald der Fisch im Kessel war, selbst den Salat zu bereiten begann mit Essig, Öl und feinen Zwiebeln. Lautlos und emsig, aber auch ein wenig spöttisch hantierten die Küchenjungen und Spülmägde, der Küchengärtner und der Koch um den König und Wirt.

Unter den Linden am Bache, vor dem alten Schloßgemäuer, das jetzt ganz im Licht der Abendsonne lag, rüsteten sie die Tafel, lange Tische von rohem Kiefernholz. Sauberes Leinen aus den neuen königlichen Spinnereien war darüber ausgebreitet, und alles Zinn- und Kupfergerät aus dem Hirschsaal in den Hof geholt. Die Becher brachten sie gleich in ganzen Körben heran und ganz zuletzt gewaltige irdene Krüge mit märkischem Bier und Wein in bauchigen, umflochtenen Flaschen.

Zur Tafel hatte sich der Herr noch einmal umgekleidet; kühl und rein war sein Leib, das Hemd und der neue Jagdrock, sein Haar geordnet, und die Stiefel waren blank. Er war fern von all dem Staub und Schweiß der Gäste. Die späte Sonne und die abendlichen Schatten der Linden spielten auf dem Zinn und Kupfer der jagdlichen Tafel. Nachdem er eigenhändig jedem seine Mahlzeit aufgetan hatte, sprach der Herr sein Gebet sehr feierlich: »Es wartet alles auf dich, daß du ihnen Speise gebest zu seiner Zeit. Wenn du ihnen gibst, so sammeln sie; wenn du deine Hand auftust, so werden sie mit Gut gesättigt.«

Auch die wildesten der russischen Jäger und Zecher schienen diesen Ernst verspürt zu haben; denn mancher schlug ein Kreuz über dem Brot und dem Fisch und dem Wein, und der Zarennarr, der Abt, fügte noch ein besonderes Gebet hinzu, das nur an dieser einen Tafel Geltung haben mochte: »Wohl dir, Land, dessen König edel ist und dessen Fürsten zur rechter Zeit speisen, zur Stärke und nicht zur Lust!«


 << zurück weiter >>