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Gespräche aus dem Totenreich

Recht raten gefällt den Königen; und wer aufrichtig redet, wird geliebt. Des Königs Grimm ist ein Bote des Todes; aber ein weiser Mann wird ihn versöhnen.

Die Bibel

Der König wollte verreisen. Die jährliche Landfahrt war abgesagt. König Friedrich Wilhelm I. von Preußen wollte zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Er wollte ihn von Angesicht zu Angesicht sehen. Denn die Herrscher Europas starben hin, und Herr Friedrich Wilhelm selbst war zu frühe von verzehrenden Leiden gezeichnet. Er wollte sie sehen, deren Antlitz ihm verhüllt war durch Episteln und Traktate. Briefe und Pakte waren dem König von Preußen zum schweren und wirren Schicksal geworden; darüber verlangte er stärker und stärker die Menschen zu finden. Er hätte reisen mögen viele Wochen lang, nur um die Herrscher Europas zu sehen und mit ihnen zu reden, wie ein Mann mit seinem Freunde spricht und mit seinem Feinde sich mißt. Niemals hatte er gewußt, wer unter der Last des nämlichen Amtes in Wahrheit sein Freund und sein Feind war. Immer stellten sich die Schriften und die Räte zwischen die Fürsten.

Es hatte etwas Leuchtendes, das jeden Argwohn hätte vertreiben müssen, wie er um die Fürstenfreundschaften kämpfte. Noch dreimal, weil es ungewiß und schwierig wurde zwischen Sachsen und Brandenburg, Polen und Preußen, war er heimlich beim König Augustus gewesen.

»Ich wäre auch zu Fuße herübergekommen, wenn es anders nicht gegangen wäre, mit Ihnen unter vier Augen zu reden«, hatte der Bruder Friedrich Wilhelm zum Bruder August gesagt und ihm geschworen, er verlasse sich mehr auf sein Königswort als sein Papier.

Den König von Preußen ergriff es sehr tief, daß der Bruder Augustus nun zu den Göttern hingegangen war, in deren himmlische Gewänder er sich gar so gern hüllte. Der Wettiner war der einzige Fürst unter den Großen des Erdteiles gewesen, dem er nach Zar Peters Tode, nur über die Breite des Tisches hinweg, hatte zutrinken dürfen; und solche Nähe war Herrn Friedrich Wilhelm eine Notwendigkeit. Seht, der Bruder Augustus war tot; es war an der Zeit, sich aufzumachen und zum Kaiser zu gehen!

Der Kaiser war mehr denn sie alle. Viermal hatte Friedrich Wilhelm die Träger der Kaiserkrone wechseln sehen: Väter, Söhne und Brüder gaben sie einander. Aber immer war über den Trägern der Krone der Eine gewesen: ›Der Kaiser‹. Und davor verblaßte dem Brandenburger der Hochmut all der schwachen Erben einer altbegründeten Macht. Niemand verstand die Kaiserfahrt des Brandenburgers, am wenigsten der Kaiser selbst. Niemand ahnte den eigentlichen Zweck der Reise; und sie war auch ohne Zweck: war Sinn-Bild; eine Pilgerfahrt der Treue – voller Leidens.

Der kaiserliche General Graf Seckendorff sah eine letzte Möglichkeit gegeben, noch einmal seine schwankend gewordene Stellung am Wiener und Berliner Hofe zu festigen. Seit dem Hochzeitsmorgen von Salzdahlum war eine bittere Unsicherheit über Seckendorffs Leben gekommen: es war ihm nicht gelungen, die Paare vor dem Traualtar in letzter Stunde auszuwechseln. Er habe aber noch zwei, drei Pfeile im Köcher, rühmte sich Seckendorff vor seinem Hofe. Schließlich hatte ihm ja auch Grumbkow, der alte Mitverschworene, ausdrücklich, noch einmal aus allerjüngster Zeit bestätigt, daß man es in seinem Herrn und König nach wie vor mit einem Fürsten zu tun habe, der bei viel Geist und Verschlagenheit in gewissen Augenblicken sich zu anderen Zeiten in gewisse deutschtümelnde Ideen verrenne, von denen ihn auch der Teufel nicht abbringe.

Und angesichts der immer unerträglicheren Spannung zwischen Habsburg und Bourbon trug nun Habsburgs alter Wächter Prinz Eugen ein großes Verlangen, einen »so patriotischen und rechtschaffenen Herrn von höchst rühmlicher Standhaftigkeit in allen Fragen des Reiches« wie den Brandenburger bei dem Kaiser zu sehen.

Österreich war zerrüttet von Unterschleifen, Bedrückungen, Erpressungen, Bauernaufständen; die Kassen waren leer; die Gelder für Jagden des Hofes und Karnevalslotterien vergeudet, an denen selbst die heitere Kaiserin nicht unschuldig war. Und Hunderttausende waren für die Beeinflussung der Papstwahl in Rom hinausgeworfen. Der Kaiser aber nahm widerspruchslos und teilnahmslos alles nur noch zur Kenntnis. Er war von vielem Mißgeschick gebeugt und in den Geschäften noch lässiger als sonst. Unzählige wichtige Sachen schliefen Jahr und Tag auf seinem Schreibtisch; und wenn ihn noch etwas zu beleben vermochte, so war es das Seewesen und der Kommerz. Doch schenkte der Kaiser der Frage, ob man den König in Preußen oder den Kurfürsten von Brandenburg empfangen solle, einige Beachtung. Der eine verfügte über ein Heer von fünfundachtzigtausend Mann, der andere hielt nur ein Reichskontingent von zehn-, allenfalls vierzehntausend bereit. Der Kaiser aber war ein Fürstenkongreß in einer Person, der nur etwas über hunderttausend Mann hatte, um Belgrad gegen den Türken, Mailand gegen den König von Sardinien, Neapel gegen den König von Spanien und Brüssel gegen den König von Frankreich zu verteidigen. Er, der Herrscher über eine Monarchie, die sich von Ostende bis Belgrad, von Breslau bis Palermo erstreckte als ein Völkergemisch und blendendes Mosaik voller tausendfältiger Verlockungen und Gefahren, besaß im Glanze unzähliger Scheintitel keinen Sohn und Erben – und die Thronfolge der Tochter war noch von keinem als dem Brandenburger anerkannt.

Aber hatte es nicht immer wieder einmal ein »österreichisches Mirakel« gegeben? War nicht gerade jetzt der Augenblick in vielen greifbaren Anzeichen gekommen, daß sich die alten Prophezeiungen über das Haus Habsburg zu erfüllen begannen, Und da sollte sich einem roi sergeant der ganze Glanz des Kaiserhofes erschließen?

Der Kaiser gedachte selbst zu verreisen; und unterwegs mochte man einander begegnen. Das fand man schließlich als Ausweg. Und die Kaiserin sollte den Kaiser begleiten. Darin lag eine List; es würde alles so familiär sein. In ihrer Eigenschaft als Schwester der Frau Herzogin von Braunschweig-Bevern würde die Kaiserin den Brandenburger begrüßen, der Freundschaft mit der Nichte wegen.

Aber die Herzen leben ihr eigenes Leben. Die Kaiserin freute sich wirklich darauf, den Schwiegervater ihrer Lieblingsnichte Elisabeth Christine kennenzulernen; das ganze Haus Braunschweig war ja für ihn entflammt!

 

Das Zeremoniell – erdacht, um zu täuschen, zu betrügen, zu verwirren – war bis ins letzte ausgeklügelt. Zwischen Chladrup und Clumitz sollten die Fürstlichkeiten sich zufällig begegnen. Der Zufall lag im Zeremoniell bereits fest. In Clumitz war das Lustschloß und der Marstall der Kaiserin; der Kaiser hatte hier keinen Besitz. König Friedrich Wilhelm war eher da. Seine leichten Wagen, sein kleines Gefolge fuhren schneller als der schwere, goldene Troß der kaiserlichen Karossen. Die Kaiserin traf vor dem Kaiser ein. Sie speiste mit dem König allein. Der gewann sie von der ersten Stunde an lieb um all ihrer Güte und Scherzhaftigkeit willen; und er bewunderte die Tapferkeit und Ergebung, mit der sie ihr schweres Brustleiden trug. Aber was dieses Mahl allein mit ihr zu bedeuten hatte, wußte er nur zu genau. Längst hatte er die Art seiner Begrüßung durchschaut. Dem Dessauer und ihm war ja in Hannover schon gar zu viel Ähnliches widerfahren. Doch schwieg er hier wie dort darüber. Er begehrte, so »curieux« er war, nicht Kaiserstadt und ihren Hof zu sehen. Er wollte vor ›Dem Kaiser‹ stehen, Auge in Auge gesenkt. Anders fand ein großes Rätsel seines Lebens keine Lösung.

Am Ende des Soupers fand der Kaiser sich ein, durch festgelegten Zufall verspätet. Er reichte dem Kurfürsten von Brandenburg die linke Hand. Blitzschnell nahm der König von Preußen es wahr. Er spielte den, zu dem sie ihn gestempelt hatten, weil er die petits-maîtres-bonmots verabscheute: den Einfältigen, Derben, Unberechenbaren. Der Kurfürst von Brandenburg umarmte den Erzherzog von Österreich und Kurfürsten von Böhmen sehr rasch, sehr herzlich, sehr fest, beide Arme um ihn schlingend: was sollte da des Kaisers linke Hand?

So saß nun ›Der König von Preußen‹ mit ›Dem Kaiser‹ am Tisch. Karl VI. war abgespannt, müde, beunruhigt, pomphaft, schmächtig und geziert. Auch seine vertrauteste Umgebung fand, »er passiere wieder einmal für einen Herrn, der von unergründlichem Gemüt sei und der zu unserer Zeit wie auch sonst in der Kunst, zu simulieren und dissimulieren, keinen über sich habe«.

Friedrich Wilhelm lachte mit der lieben Tante Elisabeth seiner Frau Schwiegertochter.

 

Die Reisesuiten trennten sich, um sich in Prag »durch Zufall« wieder zu begegnen. Allgemein war Weisung ausgegeben, die Fürstlichkeiten hielten sich inkognito auf Privatreisen auf. König Friedrich Wilhelm dankte den kaiserlichen Herren, die es ihm eröffneten, daß man seiner Ablehnung jeglichen Zeremoniells derart verständnisvoll entgegenkomme. Es machte ihm bereits Vergnügen, jetzt jeder neuen List im voraus zu begegnen. Er nahm inkognito an einer Hohen Messe teil. Er besichtigte inkognito nach dem Gottesdienste Leichnam und Zunge des heiligen Nepomuk, wie er ja überhaupt alle Sehenswürdigkeiten auf Reisen ebenso planmäßig wie eilig zu studieren pflegte. Er sah inkognito die Räume des Schlosses. Der Kaiser kam inkognito von ungefähr dazu – Herr Friedrich Wilhelm wandte sich, sobald die Höflichkeit es erlaubte, mit großem Blicke dem Prinzen Eugen zu. Der stand düster, alt und kränklich vor ihm, umdunkelt von den Schatten seines einstigen Ruhmes oder von den Flügeln der Boten des Todes. Mehr denn als der Sieger in den schweren Schlachten für Habsburg schien er wie ein greiser, zwergenhafter Hüter alter Königsgräber. Vor dem Brandenburger bemühte er sich, sein schlechtes Gedächtnis zu verbergen; denn der entsann sich im Augenblick gleich wieder jeder Einzelheit ihres gemeinsamen flandrischen Feldzuges. Eugenio von Savoyen rang darum, sich auch seine Krankheit nicht anmerken zu lassen. Doch sein Husten war schrecklich. Dabei klagte er über Herrn Friedrich Wilhelms Gesundheitszerrüttung.

»Eure Majestät rauchen zu viel!«

Der König versprach, dem Prinzen Eugen zuliebe, das Tagesquantum seiner Pfeifen etwas einzuschränken.

Ach, man wünschte dem Brandenburger in Wien ja wirklich noch ein langes Leben. Man war ja im Grunde zufrieden mit ihm und glaubte, solange dieser König lebte, in Brandenburg-Preußen weiterhin mit Schmeichelei und Spionage auszukommen. Aber der junge Herr Sohn hatte freilich »weitausgreifende Ideen«.

Die Begegnung mit Eugen war das erste, was den König auf seiner Reise bewegte. Das andere alles war lächerlich, Es ließ sich für den Kaiser nämlich leider nicht umgehen, daß auch er ein Diner gab. Die Reihenfolge, in der man den Speisesaal zu betreten hatte, und die Wahl des Platzes schienen ein kaum zu meisterndes Problem darzustellen. Man hatte eigens Türen brechen lassen, damit verschiedene Persönlichkeiten gleichen Ranges und gleicher Geburt ganz im selben Augenblick zu erscheinen vermöchten.

Da König Friedrich Wilhelm sich soeben in einem Vorzimmer mit der Kaiserin ganz ausgezeichnet über die auffallende Herzensverwandtschaft ihrer geliebten Maria Theresia und seiner geliebten Elisabeth Christine unterhalten hatte, blieb er mit der Kaiserin in heiterem Gespräch und spazierte, sie am Arme führend, mit ihr durch die Tür der Kaiserin; und die für ihn selbst in die Wand gestemmte, purpurverhängte Luke blieb unbenutzt. Man ging nicht gleich zu Tisch, sondern rauschte und wogte um die inmitten verfallender Säle errichteten goldenen und gläsernen Bauten, welche die Tafeln sein sollten. Der König hatte Zeit genug, sich davon zu überzeugen, daß der ihm zugedachte Platz seiner Würde nicht entsprach. Da kehrte er den Spieß flugs um. Mit einem General und Grafen plaudernd, zog er sich einen Stuhl heran, lebhaft sprechend, nichts beachtend – und auf einmal saß er zu aller Entsetzen ganz untenan bei den Generalen und Grafen. Einige Blicke auf den Raum, in dem man speiste, und wenige Worte mit dem selbstgewählten Tischgefährten brachten dem Herrn die Meinung bei, die er nachher auch dem Dessauer Freunde mitteilte: »Pauverte unter die kleinen Leutte, große Richesse unter graven, das gehet, außerlativus gradus. der keisser wohnt Povre und Misera schleckt, indessen hat die Povtre un air de grandeur qui inspire das ein großer Herr da wohnet.« Immer, wenn der Herr aus großem Hause in ihm durchbrach, verfiel der roi sergeant wieder ins Französisch des väterlichen Hofes. Der Kaiser, fand er, wohne arm wie ein Maler.

Nach der Tafel sprach auch der Kaiser mit ihm von Maria Theresia. Das entscheidende Kolloquium über die Anerkennung der weiblichen Erbfolge und die Gattenwahl der Kaisertochter sollte beginnen. Alle Diplomaten umstanden ganz zufällig die Herrscher. König Friedrich Wilhelm sagte dies und das von Freude und Kummer über die Töchter. Karl VI. war verzweifelt. Aber längst war bei dem Kurfürsten von Brandenburg die Entscheidung für die Treue gegen Habsburg gefallen, für die Treue gegen das kaiserliche Haus – über Karl VI. hinweg, nichtachtend alles, was der ihm antat. Der Brandenburger hatte nur die eine Bedingung zu stellen und diese nur für das Reich und nicht für sich selbst: nämlich, er wolle durch Maria Theresiens Ehe keinen französischen, spanischen oder italienischen Kaiser, sondern einen von deutscher Nation, von österreichischem Blute, und für den und dessen Haus streiten, solange Preußen und Brandenburg den Namen behielten. Dies erklärte er für seinen recht altdeutschen, patriotischen Willen und war entschlossen, bei den deutschen Fürsten für Franz von Lothringen zu werben, der schon in Wien als künftiger Gemahl der Kaisertochter erzogen war.

Der Wiener Hof verstand die Tiefe dieses Wortes nicht: auch Preußen gelobte sich dem Reich!

Und als ›Der König von Preußen‹ bei ›Dem Kaiser‹ zu Gaste weilte, begriff Karl VI. die Größe dieser Stunde nicht.

Abends fand der König auf dem Nachttisch seines prunküberladenen, sonst aber sehr malpropren Schlafzimmers das übliche Gastgeschenk. Wieder hatte man die Kaiserin vorgeschoben. Sie hatte ihm einen Tabakskasten dediziert, den er gleich ausschütten sollte. Unter dem Tabak lag, entzückend ausgedacht, wie man meinte, ein Brief der Kaiserin, von ferne und leichthin die Jülich-Bergische Erbschaft des Königs berührend, jene ihm bitter nötige Erbschaft, auf die er »vor Gott und Menschen ein Recht besaß«. Der König ersah aus diesem Briefe nur eins: der Kaiser verfügte nicht über die bei ihm deponierten aber tausend Gulden, die es dem Brandenburger auszuzahlen galt, wenn er zu diesem seinem Erbe gelangte. Sie waren vielleicht für Bestechungsgelder in Berlin verwendet. – In Brandenburg mußte um alles gerungen sein, auch um rechtmäßige Erbschaften; nichts fiel Brandenburg zu!

Der König von Preußen und Kurfürst von Brandenburg war aber nicht mehr gewillt, sich die Erbschaft im »Englischen Kontertanz«, dem wilden, bunten Reigen der Allianzangebote, bald von Österreich, bald von Frankreich, bald von England und den Generalstaaten garantieren oder verweigern zu lassen. Er war zu der Meinung gelangt – Geist und Verschlagenheit in gewissen Augenblicken gestand man ihm ja jetzt zu –, hier handele es sich darum, ob fremde Mächte mit inneren. Fragen des Reiches ihre Rivalitäten ausgleichen und ihre brüchigen Beziehungen kitten durften oder nicht; ob ferner das Haus Österreich die Kaiserliche Autorität und das Oberrichterliche Amt nach Belieben verleugnen oder mißbrauchen könne, sich den Dank und die Hilfe fremder Mächte zu gewinnen!

Ah, wie hatte man die freundlichen Zeilen der heiteren Kaiserin in dem Tabakskastenbrief eben ausgewertet! Zornig seufzte König Friedrich Wilhelm auf. Ihn, ihn wollte man als vertragsbrüchig hinstellen, ihn, der über jeden nicht strikt einhaltbaren Punkt eines Traktates noch immer in ein hitziges Fieber verfallen war. – Es war, als wolle man ihn glauben machen, Weiß sei Schwarz und Schwarz sei Weiß. Nur dies sah er klar, daß er leer ausgehen und der geheime Vertrag nicht beobachtet werden sollte. Man wollte nach der Lehre Machiavellis nicht halbwegs böse sein, sondern ganz und gar! Österreich nahm auf ihn nicht mehr Rücksicht »als auf einen Fürsten von Zipfel-Zerbst«. Das war der eigentliche Inhalt der freundliehen Zeilen von der Hand der heiteren Kaiserin: Inhalt, den sie nichtsahnend schrieb. –

Der König stopfte sich von dem umgeschütteten Tabak noch eine Pfeife zur Beschwichtigung, benützte das Briefchen als Fidibus, schlug den Kastendeckel heftig zu und besiegelte damit den Entschluß, ebenso zufällig wie inkognito wieder heimwärts zu reisen, obwohl es drückend heiß war für die weite Fahrt. Aber der Aufbruch eilte ihm. Jedem Bedienten fünfundzwanzig Dukaten Trinkgeld, jedem Postmeister hundert – und dann schnell heim, schnell heim, schnell heim! Für solchen Flikflak durfte keine Stunde mehr verloren werden! Der Brandenburger schied in der Ahnung, daß diese Zusammenkunft das Grab der Freundschaft mit dem Kaiser werden werde. Er konnte nur ein einziges Ergebnis seiner großen Kaiserfahrt verzeichnen: aus der Umgebung des Prinzen Eugen hatte der König in seinen Gesprächen nach der Tafel den jungen Prager Augustinermönch Arnold von Dabeslav zum evangelischen Glauben bekehrt und ihm versprochen, ihn in seine Dienste zu nehmen. Er müßte sich nur theologisch vervollkommnen.

Der Kaiser war zum Schluß ganz außerordentlich zufrieden mit sich. Wie die Geheimberichte verzeichneten, schmeichelte er sich sehr, »daß die Negoziation gelingen werde, weshalb er dem König mit einer phlegmatischen ernsthaften Politesse etwas weisgemacht hat, welches neben der Veneration, die der König vor ihm hat, seinen Effekt getan hat«.

Aber der Effekt blieb aus.

Seckendorff, der biedere Pächter, General und Protestant, bangte als erster darum: denn keiner würde büßen müssen wie er. Er kannte die verlorenen Posten, die Wien für Leute seinesgleichen in einem, seiner vielen Kriege bereithielt; er wußte, wie sie einen Gestürzten in den unabwendbaren militärischen Mißerfolg trieben, um ihn danach abstrafen und sich seiner entledigen zu können.

»Als Seckendorff und Grumbkow, die für Wien den diplomatischen Hintergrund dieser zufälligen Fürstenkonferenz zu arrangieren hatten, voneinander Abschied nahmen, ahnten sie seine Endgültigkeit.

In all diesen Tagen hatte Grumbkow sich von seinem Herrn ferngehalten, als müsse er es vor ihm verbergen, welches Gericht über ihn selbst sich hier abspielte. Er war zum Kaiser gekommen, dem er in Brandenburg diente gegen den eigenen Herrn. Es war wie eine Erfüllung seines Lebens gewesen, daß ihn der Herr voraus zum Kaiser schickte. Es hatte sein ganzes Wesen durchglüht und erschüttert wie noch niemals etwas zuvor. Er sollte vor dem Kaiser stehen, sollte hoch erhoben werden über alle Gefangenen in der armen Galeere Brandenburg, in der ihm nichts geblieben war an Hoffnung als der heimliche Dienst für den glanzvollsten Hof des Reiches, das Kaiserhaus in Wien. Prag sollte ihm die Stunde bringen, die alles ausglich, erfüllte, belohnte und begründete!

Auch Grumbkow, wie sein Herr, wollte ›Den Kaiser‹ von Angesicht zu Angesicht sehen. Auch er, auf seine Weise, hatte ›Den Kaiser‹ nicht erblickt. Karl VI. hatte den pommerschen Junker übersehen, den wichtigtuerischen Minister eines etwas schwierig zu behandelnden ketzerischen, martialischen Kurfürstentumes. Sehr wohl, ein gewisser Herr von Grumbkow hatte ihm einige Gefälligkeiten geleistet, so wie eben überall Spione für Wien am Werke waren. Dafür war er bezahlt. Inzwischen waren seine Dienste überholt, erledigt, überflüssig. Der letzte Diplomatencoup war ihm ja doch nicht gelungen.

Grumbkow, der hochgereckte Alte, der jahrelanges Siechtum verbarg, um über den von Krankheiten zerquälten Herrn zu triumphieren, war über den wenigen Tagen dieser Reise zu dem achtzigjährigen Greis geworden, der er war. Er sah sein künftiges Schicksal, aber nicht die einstige Schuld. Er würde betteln müssen bis zum letzten Tage, betteln um das arme Stückchen Glanz und Macht, ohne das er nicht zu sein vermochte. Er würde sich bemühen müssen jede Stunde seines späten Lebens, die Gunst der Fürsten nicht zu verlieren, deren er – zu Wien und Berlin – so viele wechseln und die er, ehe sie einander ablösten, manchmal so umfaßlich sich wandeln sah. Er würde zum drittenmal die aufgehende Sonne anbeten müssen. Und wie, wenn Sohn und Vater einig blieben und der Sohn einst an denen Rache nahm, die ihn und seinen Vater leiden ließen, und sich vor einem grauen Haupt nicht scheute – das nicht in Ehren grau geworden war?

Ein Leben, das nur Glanz und Macht als einzigen Wert erkannte, begann in Angst zu zerrinnen. Minister von Grumbkow fing an, über die herkömmliche Unlauterkeit der Politik zu klagen. –

 

Als von Karlsbad aus die Stafette in Baireuth eintraf, der König werde auf der Rückreise Station bei seiner Tochter machen, beschloß die Frau Erbprinzessin, so elend sie sich fühlte, auf der Stelle aufzustehen und selber alles für die Ankunft ihres Vaters vorzubereiten. Kaum hielt sie sich auf den Füßen. Es war der unglückseligste Moment, in dem der König kommen konnte. Ihre Müdigkeit war grenzenlos. Verarmt, verbittert, enttäuscht und gedemütigt, aufgerieben von den Leiden nach ihrer schweren Niederkunft, würde sie vor ihren Vater treten müssen. All ihr Geld war verbraucht, weil sie versucht hatte, die Baireuthischen Residenten am Reichstag zu Regensburg und an den wichtigsten Höfen durchzuhalten, damit die Markgrafschaft nicht in völlige Bedeutungslosigkeit herabsänke; ihr Schmuck war schon lange beliehen. Aber sie nahm den harten Kampf nur auf dem Gebiet der Repräsentation auf und überwachte nicht die baireuthischen Gelder ihres Vaters. Lange, lange schon hielt sowohl am königlichen wie am markgräflichen Hofe nur die gemeinsame Erniedrigung die jungen Gatten zusammen. Ungnade war ihnen überall gewiß, in Monbijou und auch in Baireuth, wo das junge Paar vom alten Markgrafen schon völlig ausgeplündert war. Und da es aus Berlin nicht genügend Apanage einheimste für die, welche mit vom Gold des Preußenkönigs leben wollten, fand der Markgraf, seine Kinder hätten ihm nun nichts mehr zu bieten, und ließ es sie an jedem Tage von neuem entgelten und spüren, was er von geizigen Königstöchtern hielt. Feinde über Feinde, Verleumder über Verleumder würden zwischen ihr und ihrem Vater stehen – und der gefährlichste Gegner war der benachbarte Hof der Ansbacher Schwester! Unablässig trachtete der Schwager von Ansbach danach, seine Gemahlin – von ihm vernachlässigt und hintergangen, während sie ihn namenlos liebte – als die bevorzugte unter allen Töchtern des Königs und insbesondere als reicher dotiert denn die Baireutherin hinzustellen; denn das brachte guten Kredit. Er ließ seine etwas geizige Frau vom Gelde ihres Vaters ein verschwenderisches Leben führen, und gedankenlos nahm sie es für Liebe ihres Gatten und wandelte ihr Wesen – einst war sie die Feindin von Monbijou gewesen – ganz zu Leichtsinn und Gleichgültigkeit hin. Die Baireutherin, verzweifelt über den Verfall ihrer Finanzen, begann indes als geizig verschrien zu werden. Vorgestern erst, aus heiterem Himmel, war die offene Herausforderung durch Ansbach erfolgt. Mit einem Gefolge von hundert Herren und Damen, groß aufgemacht mit frisch geborgtem Gelde, hatten Schwager und Schwester sich zu überraschender Visite angesagt. Schnell richtete Wilhelmine von Baireuth die kleine Eremitage her, die sie sich als Gartenschlößchen erbaute, weil nirgends im Palais des alten Markgrafen Raum für die preußische Königstochter war, außer in einem engen, lichtlosen Appartement mit uralten, zerschlissenen Tapeten und morschen, schlecht vergoldeten Möbeln. Aber was sollten angesichts so zahlreichen Besuches der Saal, die beiden kleinen Zimmer, die acht Zellen ihrer Eremitage!

Ihren Gatten – schwach vor ihr, schwach vor dem markgräflichen Vater, schwach und am nachsichtigsten gegen sich selbst – quartierte sie mit seinem Vetter und seinem Bruder einfach in der Meierei ein. Aber die kommen wollten, waren hundert! Sie schickte Botschaft nach Ansbach; sie bat um Einschränkung des Gefolges. Da war endlich für Ansbach der Anlaß gefunden, offenen Streit mit der ältesten Tochter des Königs von Preußen zu suchen, von der man nicht wollte, daß sie hier im Lande etwas gelte. Unschwesterliches Verhalten, unfürstliche Ungastlichkeit, das waren die Vorwürfe, die man erhob. Ewiger Bruch und Meidung des baireuthischen Bodens, so lautete die Drohung. Und indessen rollte die Kalesche des Königs schon aufs Baireuthische zu!

Was sie Wilhelmine anzutun suchten, war so lächerlich. Aber sie hatte erfahren, daß jede Nichtigkeit ihres Lebens sich immer zur Tragödie wendete. – Der König würde kommen, er, der so darauf drang, daß gute Nachbarschaft und Freundschaft zwischen seinen Töchtern im Reich, in den alten Markgrafschaften des Brandenburgischen Hauses bestand; er, der heute schon ihr grämliches, schwaches Töchterchen dem Sohne der Ansbacher Schwester zugesprochen wissen wollte!

Er würde sie tadeln; er würde sie mit Vorwürfen überhäufen, sie bloßstellen und, ohne Aufenthalt bei ihr zu nehmen, verlassen! Dann würde sie völlig verstoßen sein in Baireuth. Das Letzte, was noch einen Halt für ihren gebrochenen Stolz zu bedeuten vermochte, die Stütze an dem königlichen Vater, würde ihr genommen sein!

Sie sandte Botschaft um Botschaft an den Schwiegervater in sein großes Schloß, der König müsse bei ihm wohnen. Aber dazu mußte sie dem Schwiegervater zu verstehen geben, die Möbel in den Zimmern, die der König bewohnen sollte, dürften unmöglich in dem alten Zustand bleiben, vom Holzwurm zernagt, von Motten zerfressen, starrend von billiger Vergoldung und von Schmutz! Auch das, auch das trug wieder tödliche Feindschaft mit dem Markgrafen ein! Nirgends war Geld für den Empfang ihres Vaters. Er mußte rasen über den Mangel an Aufmerksamkeit.

Da, in der Verwirrung durch so viele Ängste, kam Wilhelmine zum erstenmal zu Bewußtsein, wie vielleicht gar niemand auf der Welt leichter zu versöhnen und gut zu stimmen war als der Vater. Sie gedachte ihm die Zimmer einzurichten, wie er sie von Potsdam her gewöhnt war. Sie ließ zerfetzte Tapeten von den Wänden reißen und ihm zwei Stuben flüchtig übertünchen; sie ersetzte zerschlissene Seidensessel durch Eichenstühle aus dem Gutshaus; sie stellte ihm große Holzmulden mit Wasser hin statt der zerbeulten Silberkännchen und -näpfchen; sie räumte eine Kammer gar als Tabagie ein, nur mit dem rohen Tisch, zwölf Schemeln aus Tannenholz, sechs zinnernen Leuchtern und zwei Gazetten, die sich bei einem der Minister fanden, und einer Landkarte, die der Hofprediger aus der Zeit besaß, in der er als Prinzenerzieher gereist war.

 

Als der König dies alles sah, zog er die Tochter voller Rührung an sich; Sie hatte sich nach seiner Art gerichtet! Sie hatte über ihn nachgedacht! Sie hatte nach seiner Lebensweise gefragt und schämte sich nicht seiner Rauheit! Sie prahlte nicht mit seiner Königswürde vor dem kleinen Hofe! Der König war so glücklich über sein Kind. Es gab wohl keine Artigkeit, die er seiner Tochter nicht erwiesen hätte. Nicht er ließ sich von ihr am Abend bis an seine Kammer geleiten, sondern er führte sie am Arm in ihr Appartement. Diener umstanden sie beide mit hocherhobenen Leuchtern. Da erst erkannten Vater und Tochter einander: Wilhelmine sah die tiefe Zermürbtheit seines Gesichtes, die dunklen Gruben um die Augenhöhlen. Und der Blick des Königs ruhte lange auf den frühen Falten in dem schmalen Antlitz der Prinzessin, auf den blauen Schatten um ihre Lider und Schläfen.

»Schlafe wohl, mein Kind«, sagte er leise, als hätte er ihr ein Geheimnis zu verraten, »schlaf wohl, mein liebes Kind – du hast dich sehr für mich angestrengt.«

Wilhelmine neigte sich herab und küßte ihm die Hand. Aber dann, als wären ihre Diener nicht zugegen, drückte sie zwei-, dreimal ihre Lippen auf seine Rechte, bedeckte beide Hände des Vaters mit Küssen und streichelte sie; und König Friedrich Wilhelm war es einen Augenblick, als habe ihr Gesicht ganz fest in seinen Händen gelegen; als wolle sie für diese ganze Nacht des Wiedersehens in seinen Händen ausruhen.

 

Es war so tröstlich für die Frau Prinzessin, am Arme des Vaters durch den Park zu gehen. Frühzeitig schon hatte sie ihn abgeholt, um ihm alle Spaziergänge zu zeigen. Er fand sie sämtlich allerliebst, besonders die Wege um ihre kleine Einsiedelei. Dazwischen erzählte er ihr wiederholt, wie freundlich die Kaiserin von ihr gesprochen habe, daß sie ihr ein kostbares Brillantenbukett senden wolle und daß Wilhelmine ihr bald schreiben müsse.

Das Ansbacher Zerwürfnis behandelte der König nur als Bagatelle. Er fand es ärgerlich, daß man ihr solch dummen Streich zu spielen suchte; noch ärgerlicher, daß sie es hier überhaupt nur mit Leuten ohne allen Verstand zu tun hatte. Das Urteil über den Ansbacher Schwiegersohn – namentlich, nun er durch den Tod seines Vaters Markgraf geworden war – lautete hart.

»Er bildet sich ein, von meinen Darlehen in Ansbach nun Ludwig XIV. spielen zu dürfen. Er kümmert sich nur um seine Vögel und Pferde, will immerzu woanders leben, nur nicht in seiner Residenz, und möglichst nicht sparen und regieren. Ich mußte ihm für dieses Jahr alle Abzahlungen erlassen. Der Markgraf hält nicht Wort. Er verquackelt alles an Pferde und Komödien, die zu gar nichts nütze sind. Dein Schwiegervater und mein Schwiegersohn von Ansbach«, schloß der König, »sind Narren, die ins Tollhaus gehören. Gegen den Alten will ich höflich sein, aber dem Jüngeren und deiner Schwester werde ich begegnen, wie sie es verdienen.«

Und sogleich schickte er eine Stafette hinüber, die den Schwiegersohn und die Tochter nach Baireuth berief, damit er ihnen den Kopf waschen und die Sache nebst einigem anderen, das nach Regelung verlangte, ein für alle Male beiliegen könne.

Bei Tische, nach dem Spaziergang, war die Frau Erbprinzessin derart erschöpft, daß Schwindel und Ohnmacht sie überkamen. Man brachte sie auf ihr Zimmer. Der König aß nicht mehr weiter; es war auch keine Unterhaltung mehr mit ihm zu führen; er geriet in die quälendste Unruhe, es könne seiner Tochter etwas geschehen. Sie sei so bleich gewesen wie der Tod.

Nach der Tafel schickte er sofort einen Kurier nach seinem Leibarzt. Als Wilhelmine wieder zu sich kam, saß der König schon lange an ihrem Bett. Das sanfte Fräulein von Sonsfeld, ihre einstige Erzieherin, die sie nun als Hofmeisterin begleitet hatte, wollte sich sogleich entfernen. Aber der König meinte, sie habe soviel Schweres gemeinsam mit ihnen durchlebt, daß sie sehr wohl bei ihren Gesprächen zugegen sein dürfe. Auch wies er ihr gleich einen Stuhl ganz nahe neben ihm an, doch erbat er sich dafür das Einverständnis der Prinzessin. Dann fragte er die Tochter nach allem, was ihr nun wohl bisher in Baireuth widerfuhr.

Wilhelmine flatterte das Herz. Wie sollte sie es über ihre immer mehr von Bitterkeit verschlossenen Lippen bringen, daß ihr nichts mehr gehörte, gar nichts – auch nicht die eine arme, beseligende Lüge, sie wäre geliebt und sie hätte geliebt. Was galten angesichts dessen die armseligen, schmählichen Gerüchte um die Mätresse des Gatten. – Da hatte sie abgelenkt, peinliche Situationen in ein anderes, harmloses Licht gerückt; da war sie all den taktlosen Reden und emsigen Zusteckereien noch immer meisterhaft begegnet, obwohl sie die erste gewesen war, die darum wußte. Furchtbar war allein dies eine: die Gewißheit zu haben, daß sie selbst nie liebte, weder den Gatten in seiner schwächlichen Güte – noch den Bruder. Er war ihr nur der kommende König gewesen. – Ah, ihre Eremitage, die dem Vater so gefiel, war wahrhaft Eremitage und kein schwärmerisches, modisches Spiel! So brach es in den Sekunden zögernden Schweigens leidenschaftlich in ihr hervor. Sie war allein. Sie war sehr frühe am Ende des Irdischen – doch ohne daß das Licht des Himmels nun ihre Einsamkeit zu beglänzen begann. Sie brauchte nichts mehr als die Zuflucht, die sie verbarg. Dies hier war Eremitage – so wahr Schloß Wusterhausen, die Diebsburg am Styx, eine war! Und zum erstenmal begann sie die Einsamkeit des Schloßherrn von Wusterhausen zu ahnen und die Schwere des väterlichen Blutes auch in sich selbst zu fühlen. Der Vater mahnte sie, zu sprechen. Da verschleierte die Tochter den großen Jammer ihres Lebens durch Geständnisse über all die kleinen Jämmerlichkeiten. Und als sie gut von ihrem Mann zu sprechen suchte, streichelte sie der Vater und lächelte ein wenig schmerzlich. Ach, auch die sanfte, gute Sophie von Schwedt beschwichtigte ihn ja, gegen sie betrage sich ihr Mann wie ein Engel. –

»Es tut mir recht leid, liebe Tochter«, sprach der König, als sie nun endete, »daß man dich soviel plagt. Obwohl du mir nichts davon schriebst, weiß ich doch genau, daß du davon krank bist.«

Und die Prinzessin spürte, was ihr noch nahezu unmöglich schien: der Vater hatte in ihren Briefen wirklich ihr Leben begleitet, ja, erwogen, sie wieder zu sich zu nehmen oder ihr in Erlangen eine eigene Residenz zu errichten; ein Plan, der auch heute noch keineswegs beiseite gelegt schien!

Der Herr war mit seiner Tochter so völlig befaßt, daß er des Enkelkindes fast vergaß. Doch beriet er Wilhelmine, wie sie ihre Kleine recht vernünftig ernähren könne und daß sie ihr nur ja nicht so viel zu essen geben dürfe wie Sanssouci in Braunschweig ihrem Kleinen!

Nach wenigen Stunden fuhr der Ansbacher Hof vor. Wilhelmine hatte ihr Bett verlassen, um der Abendtafel beizuwohnen. Der König empfing die Ansbacher kalt. Am nächsten Morgen, als er dann allein mit der Ansbacher Tochter sprach, begegnete er ihr aber doch nicht, wie sie es verdiente. Gewiß, seine alte Ike war schwerer, war kräftiger, war gesünder als Wilhelmine. Aber gerade darum ergriff es ihn doppelt, wie schmal und kindlich ihr Gesicht erschien; wie scheu, beunruhigt und ernst der Ausdruck ihrer Augen geworden war; wie ratlos und vereinsamt sie neben dem Gemahl und inmitten ihres Hofes wirkte. Es hieß, daß man in Ansbach ihre Post kontrolliere. Und es stand fest, daß Markgraf, Markgräfin und der kleine Erbprinz nur einmal, nämlich für einen Geburtstag des Markgrafen, drei ganze Tage beieinander weilten. –

Der Vater litt um seine Töchter. Sein königlicher Plan der Tochterehen bedeutete drei bittere Frauengeschicke. So begann er milder, als er es sich vorgenommen hatte, zu seiner alten, rauhen Ike zu sprechen, und wieder war er, der so unbeholfen Briefe schrieb, von einer seltsam fließenden, lebendigen Beredsamkeit, der auch eine Zartheit des Ausdrucks nicht mangelte.

»Du hast bisher immer allen widersprochen und alle gemieden und warst nur deinem Manne gegenüber fügsam. Du bist die einzige Frau, von der ich fordern möchte, daß sie sich gegen ihren Mann stellt. Es ist an der Zeit, daß du mit allen anderen endlich ein gutes Auskommen findest und dafür deinem Manne zu widersprechen vermagst.«

Er war nicht mehr geneigt, den Schwiegersohn zu schonen. Auch schien ihm der nicht mehr sein vergnügtes, jungenhaftes, rundes Gesicht zu haben; ja, er wirkte krank, so sehr war er abgemagert. Er war nur noch unreif und gar nicht mehr jugendlich. Dem König ging es um Ansbach-Brandenburg, um den Enkelsohn und seine Tochter, die am falschen Orte trotzig und am falschen Orte ohne allen Stolz und Halt war, widerspruchsvoll in allen Zügen ihres Wesens und gegen sich selbst nicht fähig zu der Schroffheit, die sie allen anderen gegenüber besaß.

Aber die Schroffheit, die er nun von ihr verlangte, bedeutete den schwersten Schritt, zu dem eine Frau je gezwungen werden kann: sie sollte wissen, daß sie nicht geliebt wurde, wo sie selber bis zur Demut liebte. Noch war ihr zweites Kind nicht geboren. Der König hatte aber bemerkt, was zwischen einer der Baireuther Damen und seinem Schwiegersohn von Ansbach vor sich ging. Und ihm war kein Zweifel, daß die stille, verständige Tochter in Schwedt die gleichen Leiden durchlitt, auch wenn in der Tragödie des Herzens und des Goldes Schwedt noch nicht so hoffnungslos verloren war wie Ansbach und Baireuth. Aber der König wußte nun seit Jahr und Tag, daß der junge Markgraf von Schwedt alle herrliche Verwegenheit des dessauischen Blutes, alle Kühnheit des Oheims und der Mutter zwar in sich trug: aber seine Kühnheit war ohne Ernst; und die Verwegenheit wagte nicht das Schwere und verzettelte sich im Geringen. Die Zucht, die Treue, die Beharrlichkeit einer Markgräfin Philipp und eines Fürsten Leopold fehlten. Ehe und Fürstenamt nahm er zu leicht. Und alle Mühe, alle Sanftheit Sophie Dorothea Marias hatte ihn von seinen Fehlern noch nicht zu heilen vermocht.

 

Sonderbar war die Einkehr des Königs an dem Baireuther Hofe vom ersten bis zum letzten Tage. Es gab keinen Ball und keinen Empfang des Adels aus der Gegend. Es wurde auch nicht konzertiert, und Ausfahrten fanden nicht statt. Auch machten sich die Fürstlichkeiten keine Komplimente, was immerhin beim Kaiser in Prag noch geschehen war. Nur der alte Markgraf behauptete von sich selber: »Nein, ich habe mir nichts vorzuwerfen, mein Volk kann mich einmal wie einen Vater beweinen.«

Das ließ manchen Rückschluß auf die Gespräche zu, die in Baireuth zwischen den beiden Vätern geführt wurden. König Friedrich Wilhelm ließ nämlich mit großem Eifer und noch größerer Geduld alle baireuthischen Kassenbelege und Wirtschaftsbücher zusammenholen – was keineswegs einfach war –, setzte sich mit all den Akten und Papieren allein zum alten Herrn Markgrafen, übersah dessen Grämlichkeit, Dünkel, Unlust und Pomphaftigkeit und befragte ihn über den Zustand des Landes und die Verwendung des in Brandenburg-Baireuth investierten Kapitals ›Des Königs von Preußen‹. Der Markgraf, der sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte, dachte immer nur: Er gibt wohl kein Geld mehr! und antwortete sehr zweideutig und doppelsinnig. Was sollte nur aus Schloß Himmelskron werden, das gerade für die gestrenge Mätresse umgebaut wurde! Wenn der König doch schon aufhören wollte! Dies allein dachte er. Aber der König endete nicht. Die letzten Worte seiner richterlichen Rede waren: »Denn mir sind meine Kinder lieb, Herr Markgraf.«

Wie sollte der Markgraf von Baireuth in seinen Sorgen um Schloß Himmelskron das eine und das andere verstehen! Am unverständlichsten war ihm jedoch, daß es dann doch noch Geld gab, sehr viel Geld sogar, achthunderttausend Taler. Da kam auch schnell ein entfernter Vetter König Friedrich Wilhelms von Sigmaringen herübergereist und kassierte hunderttausend Taler ein, nur weil er Fürst von Hohenzollern hieß. Denn überall, wo Brandenburg und Hohenzollern war, bestand das Gesetz ›Des Königs von Preußen‹: Der Sand muß blühen und der Sumpf soll Ähren tragen.

 

Nach der Rückkehr unterhielten sie den Herrn mit einer überaus lustigen Geschichte. Dr. David Faßmann, den er erst kürzlich in seinen Archiven angestellt hatte, hatte sich inzwischen zu einem grimmigen Gegner Gundlings entwickelt. Er hatte ihm viele wissenschaftliche Fehler in seinen wenigen Arbeiten nachgewiesen; darüber kam es zu Beleidigungen, und endlich provozierte Dr. Faßmann ein Duell. Was war Professor von Gundling nun ängstlich! Und dann geschah das Furchtbare: Faßmann schoß Gundlings Perücke in Brand! Jammernd warf sich Gundling auf die Erde, wand sich verzweifelt und schrie noch erbärmlich, als seine ganze Perücke nur noch ein Häufchen glimmenden Ziegenhaares, er selbst aber zu seinem größten Erstaunen noch wohlbehalten und nur ein bißchen berußt war.

Nun fand man, es wäre hübsch und viel erzählt und der König könne sich jetzt wirklich zum Lohn ausschütten vor Lachen. Über solche Späße lachte er doch immer. Aber der Herr verzog keine Miene.

»Es ist an der Zeit«, sagte er und meinte mehr als nur die Stunde des Aufbruchs in der Tabaksrunde; er zog sich zurück und bestellte noch für diesen Abend Professor von Gundling zu sich.

»Was macht Sein Buch vom Leben Friedrich Wilhelms, des Großen Kurfürsten, Gundling; Sein ›Leben und Taten Friedrichs I., Kurfürsten zu Brandenburg‹; Sein ›Pommerscher Atlas‹ und die ›Geographische Beschreibung der Kurmark Brandenburg‹ – ein wertvoller Plan, wie mir scheint?«

So fragte der König gleich, als Gundling eintrat. Gundling verstand ihn nicht. Er starrte ihn mit verglasten Augen an und wischte den kalten Schweiß seiner schmutzigen Hände in den befleckten Prunkrock. Allmählich erst begann er die Antwort zusammenzustammeln. Nein, nein, er könnte nicht forschen und schreiben, wenn sie ihn so maßlos reizten – wenn man ihn mit neuen Günstlingen umgäbe; vierhundert Taler zahle Majestät dem Scharlatan von Archivar Dr. Faßmann – vierhundert Taler, für die er, er, er, Präsident, Professor, Freiherr von Gundling Seiner Majestät bessere Arbeiten in den Archiven zu leisten wüßte.

Er hatte sich mit Faßmann auch gebissen und geschlagen. Auch das kam durch das Geschwätz des Betrunkenen heraus. Der König entließ ihn für heute mit unfreundlichen Worten. Er war des einzigen seiner Bilder überdrüssig, das Verneinung war. Seit er von Gundling die Historie von unabänderlichem Königsrechte und stellvertretender Sühne vernahm, ertrug er aus Gundlings Munde keine Narrheit mehr.

 

Später empfing er noch Dr. Faßmann. »Was hält Er von Gundling?«

Was er von Gundling halte? Faßmanns Augen blitzten. Ah, als er ihn zum erstenmal zu Gesicht bekommen habe in seinem schwarzen Samthabit mit all den roten Aufschlägen und dem wackelnden Lockenhaupt – für eine Pagode habe er ihn gehalten oder für den Gesandten vom Kaiser von Fez und Marokko.

»Ich will keine munteren Repliken«, schnitt der König ihm gelangweilt und gereizt die Rede ab. Und dann fuhr er mit Heftigkeit fort: »Begreift Er denn gar nicht, daß es seine Gründe hat, wenn ich mir einen armen Schlucker wie Ihn aus einem Winkel im Erzgebirge herhole – einen wie Ihn, der ein Abenteurerleben am Rande der gelehrten Welt gelebt hat und niemand etwas taugt?«

»Ich habe berühmte Bücher geschrieben«, wendete Faßmann, scheu und blaß und zu Tode erschrocken, mit aufgehobenen Händen ein.

»Welche Bücher?« begehrte König Friedrich Wilhelm zu wissen.

»Zum ersten«, begann ihm der Doktor Faßmann listig aufzuzählen, »wäre ›Der gelehrte Narr‹!« Das ging gegen Gundling. Und in vertrautem Kreise vorgelesen, hatte das bissige Werk schon sehr viel Spaß bereitet.

Der König murmelte nur verächtlich etwas vor sich hin. Da zählte der Herr Doktor weiter auf: Sodann ›Der reisende Chinese‹, Majestät.«

»Was ist das?«

»Ein Vergleich der Länder Europas, Königliche Majestät; Europa, gesehen durch die geschlitzten Augen eines Sohnes der Sonne –«

»Das kann Er mir schicken. Und noch?«

»Mein berühmtes Opus, Königliche Majestät: ›Gespräche aus dem Totenreich‹.«

»Und bitte –?« forderte ihn der König auf, nur weiter fortzufahren; denn nun hatte er Interesse genommen.

»Die ›Gespräche aus dem Totenreich‹ – eine Phantasie, Majestät, eine Satire, eine Utopie im Stile des Lukian: die Toten unterhalten sich, die Jungen und die Alten, die Hohen und die Geringen; sie disputieren über das Unvollbrachte und Versäumte. Und ob einer früh gestorben ist oder spät – das Maß des Unvollbrachten und Versäumten ist immer das gleiche, gemessen an dem, was jedem bestimmt war. Da gehen sie alle, endlich vor einander gleich, zufrieden zur ewigen Ruhe ein.«

Der König schritt nicht mehr im Zimmer auf und ab. Er stand still, die Hände auf seinen Schreibtisch gestützt.

»Ihr seid der neue Gundling«, sagte er. Und alle Wunden, die ihm je Gedanken bohrten, brachen wieder unerträglich schmerzend auf.

 

Vor dem Schlafengehen malte der König nach langer Pause wieder einmal ein Bild. Ewersmann, umdüstert und wortkarg geworden, löste und mischte ihm heute statt des Bombardiers Fuhrmann schweigsam die eingetrockneten Farben. Nur mit Grognonne, der erblindeten Bärin, sprach Ewersmann manchmal lange, wenn keiner ihn zu belauschen vermochte.

Der König, den Pinsel schon in der Rechten, saß versonnen vor der Staffelei. Antlitz um Antlitz zog an ihm vorüber: alle die Gundlings; wer waren sie; was wollten sie in seinem Leben?! Warum hatte er sich nicht mit den Narren begnügt, wie alle Höfe sie nach heiterem und altem Brauch besaßen? Oder aber, wenn ihm ihr Geschwätz nun durchaus einmal als Tagdieberei und Frevel an der Zeit eines Königs erschien – warum umgab er sich dann nicht mit Weisen, Hochgelehrten, wie sie anderen Fürsten zur schönsten Ehre gereichten? Waren nicht stolze Namen unter den Kalendermachern in der Akademie des ersten Königs von Preußen gewesen? Ach, der Witz der Narren war besudelt. Ach, die Weisheit der Gelehrten war erstarrt und nur noch einem alten Götterkult vergleichbar –. Er wollte nicht die Narren. Er wollte nicht die Professoren. Mit Narrenprofessoren setzte er sich an den Tisch der Tabaksrunde. Narrenprofessoren waren sie, die er seine Lustigen Räte nannte. Von den Professoren in ihnen wollte er die Tiefsinnigkeit, von den Narren in ihnen das Quecksilbrige, das stets den Augenblick umspielte. Und ihrer aller Haupt und Erstling war Gundling gewesen – um seiner historischen Parallelen willen.

Da begann der König nun Gundling zu malen, den er in der Tabagie fortan nicht mehr zu sehen wünschte. Ihn, der ihn so tief verwundete, überwand er im Bilde und riß sich von der letzten Verneinung. Er malte ihn einsam am Tische, so in Gedanken versunken, daß ihm die Pfeife in der Hand erkaltet war. Eine Äffin, geschmückt mit Schleifenputz, Haube und Brusttuch, rauchte ihm die neue Pfeife an. Und Hasen, die Tiere der Feigheit, hüpften mit Täßchen herbei, damit er sich durch bitteren, starken Kaffee ermuntere. Aber der am Tische sann und sann. Sein Haupt war vom Kammerherrenhut und vom Gelehrtenbarett entblößt; auch die mächtige Ziegenhaarperücke war geschwunden, vielleicht als Asche verweht, wie unlängst im Duell mit Faßmann. – Und alle Leiden der zergrübelten Stirn, deren Höhe nun erst offenbar ward, wurden bloßgelegt.

Es war aber ein fremder Zug in Gundlings Gesicht. Aus den gesenkten, schweren Augen blickte noch ein anderer: David Faßmann. Oder war es auch das unstete Flackern im Auge des Lustigen Rates Graben vom Stein, das da hindurchschien? Was anders war auch er als ein Narrenprofessor: er, der Skribent, einem Tiroler Kloster entsprungen; Feldprediger in Seckendorffs Regiment; Mönchshasser, Märchendichter und Astrolog? Auch er war in dem Bilde, das keines Menschen Namen tragen sollte und lediglich hieß: Ein Lustiger Rat.

 

Gundling hat es dann nicht mehr gesehen. Er starb am Tage nach der Vollendung des Bildes in dem Zimmer, das ihm der König im Schloß mit Büchern, Atlanten und Karten als Studienraum eingerichtet hatte. Dort hockte er nachmittags tot im Sessel, die Stirn sehr wächsern und ohne Perücke.

Der König sah sich den Toten nicht an. Doch wollte er wissen, von welcher Art sein Gehirn sei. Er ließ drei Ärzte seiner Anatomie von Berlin nach Potsdam kommen und den Leichnam zur Sektion in das Witwenhaus der Lakaienfrauen schaffen.

Danach stellte sich die sonderbare Tatsache heraus, daß König Friedrich Wilhelm schon seit zehn Jahren einen überaus seltsamen Sarg für Gundling bereithielt: ein Faß, mit einem weißen Kreuz bemalt.

Das Entsetzen der Geistlichkeit war unbeschreiblich; sie warnte den König, er gehe zu weit. Aber der Herr beharrte auf dem Bilde, dem ungeheuerlichsten und grüblerischsten, das er je schuf. Das Kreuz blieb auf dem Faß gemalt, das den Toten umschloß.

Draußen vor der Stadt, hinter dem Marlygarten, in der Bornstedter Kirche ließ der Herr die Gruft für Gundling mauern. Die Fremden kamen von weither zur Leichenschau. Die Hofnarren der auswärtigen Höfe trugen zwanzig Ellen lange Flore und endlose Trauerschleppen. In ihrer Mitte tappte die Bärin des Königs hinter dem Fasse her. Die Bärin Grognonne hatten sie einmal, ehe ein unbekannter Frevler die quälerische Untat an ihr beging, sie zu blenden, dem Professor eine Nacht ins Bett gelegt, und trunken hatte er bei ihr seinen Rausch ausgeschlafen.

Den Bibeltext für Gundlings Trauerrede hatte der König selbst gewählt: »Es ist besser einem Bären begegnen, dem die Jungen geraubt sind, denn einem Narren in seiner Narrheit. Die Lippen des Narren bringen Zank, und sein Mund ringt nach Schlägen. Der Mund des Narren schadet ihm selbst, und seine Lippen fangen seine eigene Seele.«

Die Leichenpredigt hatte der weltliche Dr. Faßmann zu halten; und er war erblaßt, als ihm der König die Auslegung solchen Bibelwortes auftrug. Noch am Beisetzungstage empfing der König, und zwar in Gundlings bisheriger Studierstube auf dem Schloß, Dr. David Faßmann. Er erhielt Professor Gundlings Titel und Gehalt zugesprochen; doch geschah das Unfaßliche, daß dieser Sold nicht ein einziges Mal zur Auszahlung gelangte; noch in der nämlichen Nacht floh Faßmann aufs Sächsische zu. Es währte nicht lange, da hörte der König, der Doktor schreibe drüben in Dresden ein neues »Gespräch aus dem Totenreich«. Darin philosophierte der tote Gundling mit ihm aus dem Jenseits.

 

Von dem neuen Narrenprofessor verlassen, vernahm der Herr von einem, der ihm der Seltsamste von allen schien. Ein Magister an des Königs Augustus Universität zu Leipzig, der ohne sonderlichen Erfolg philosophierte, historische und geographische Vorlesungen hielt, ein bärenstarker, kleiner Mann, Jakob Salomon Morgenstern mit Namen, hatte vor allen Dekanen, Professoren, Magistern und Studenten seiner Alma mater öffentlich erklärt, Wissenschaft treibe man am besten nach der Art des Königs von Preußen: bei Tabakspfeife und Bierkrug, im Zeitungskolleg, die Fragen und Ereignisse des Tages erörternd, die Parallelen der Historie suchend und die neusten Landkarten vor Augen! Und also hielt er nun eine reich besuchte Tabagie für Studenten, über Politik und Wirtschaft debattierend. Zwischen Tabakskolleg und Tabakskolleg aber entwarf er, da die Mengen Bieres ihm nichts anzuhaben vermochten, eine staatspolitische Kompilation für die neue Kaiserin von Rußland, eine Schrift, die derart mächtig in die Staatsgeschäfte eingriff, daß die junge Zarin ihn sofort nach Rußland einlud und ihm ein Lehramt am Moskauer Gymnasium antrug.

Nun war er auf der Reise nach Rußland begriffen und nahm, der guten preußischen Straßen wegen, die Route über Potsdam. Da ließ ihn der König durch die Torwache bitten, in seinem Schlosse kurze Einkehr zu halten. Und Magister Morgenstern kam. Der Reisepaß nach Moskau verfiel. Die vorbestellten Posten des Magisters wurden abgefunden. Aber was hieß das noch: Magister! Königlich Preußischer Hofrat war er indessen, fünfhundert Taler Gehalt füllten fürs erste die Taschen seines neuen Rockes mit blanken Münzen, den besten Europas.

Als erstes trug der König ihm auf, ein feierliches Akademisches Requiem für Jakob Gundling zu halten, den verstorbenen Präsidenten der Akademie der Wissenschaften, die über dem Kalendermachen seinen Tod ganz übersehen zu haben schien. Und ohne erst nachzudenken, hatte der König für solches Requiem mit gelehrter Disputation sofort die Universität Frankfurt an der Oder ausersehen; denn nirgends war solcher Dünkel und derartiges Gezänk zu finden wie hier. Der Herr gab selbst das Thema des Kolloquiums: »Der Wert der Narrheit.« Dem Hofrat Jakob Salomon Morgenstern wurde ein seladongrüner Rock und eine Allongeperücke zu seiner Antrittsrede angefertigt. Endlich gab der König noch bekannt, er werde selbst beim Frankfurter Disput zugegen sein. Alle Dinge und Zustände, die er verspotten wollte, sollten einmal zur Sprache gebracht werden. Noch einmal –; es war, als würde nach dem Narrenrequiem, das ein heimliches Gericht über die Lebendigen war, etwas völlig Neues beginnen. Es war der Abschied von der Verneinung, nachdem auch der im Fasse dem am Kreuze übergeben war!

 

Er kam mit seinen jungen Söhnen, mit Hulla, dem Sanften; mit Heinrich, dem Grübler von acht Jahren; mit dem kleinen dicken Ferdinand, der endlich einmal weit mit dem Kutschwagen fahren wollte; außerdem hatte der kleine Kerl in den Ställen gehört, der Papa wolle auf seiner Reise den Frankfurter Pferdemarkt besuchen; und auf Pferden saß Ferdinand nun einmal für sein junges Leben gern; ja, in allen »männlichen Inklinationen« schien dieser späte Sohn, Das Kind der Schmerzen, der Knabe zu sein, den sich der Vater unter seinen Söhnen mehr denn zwanzig Jahre lang vergeblich ersehnte.

Das, was das Entzücken des kleinen Ferdinand bedeutete, der Rundgang des Königs auf dem Pferdemarkt, machte nun aber bei den Frankfurter Professoren das Maß der Empörung erst voll. Die einen meldeten sich krank. Die anderen erklärten, sie müßten zu wichtigen Forschungen verreisen. Aber der König ersuchte sie, Krankheit und Forschung bis nach dem Disput zu verschieben. Der Professor Moser kam gar um seine Entlassung ein. Der König sprach selber mit ihm.

»Was ist es denn? Jeder Mensch hat seinen Narren. Einer hat den geistigen Hochmutsnarren. Einer hat wieder einen anderen Narren. Ich habe den Soldatennarren. Es ist ja nur erlaubter Spaß und Scherz.«

Aber es schien sich allen mitzuteilen, daß es um Tieferes ging, als selbst der Herr, der alles immer nur im Bilde durchlebte, sich bewußt zu machen vermochte. So saß nun der König in dem Kreise der Gelehrten unter den beiden Kathedern, auf denen seine Narrenprofessoren über »vernünftige Gedanken von der Narrheit und den Narren«, die Klassifikation der Narren – unter Auslassung der Hofnarren – und die Grundsätze zur Bestimmung der Narrheit in achtunddreißig Paragraphen referierten und korreferierten, bis endlich der neue Hofrat Jakob Salomon Morgenstern das Mittelpult bestieg, um das Fazit der Debatten – und das Fazit von Gundlings Leben zu ziehen, damit nicht in Vergessenheit geriet, daß dieser dialektische Streit zugleich ein Requiem war, das ein König sich für seinen toten Narren erdachte. De mortuis nihil nisi bene. – »Bis auf das Eine«, rief Morgenstern in das Auditorium und dem König ins Gesicht, »das für immer ein Flecken auf dem Professorenornat des verewigten Präsidenten bleiben wird: er in seinem Kampfe gegen Norm und Regel hätte sich nicht in einer entscheidenden Stunde zum Diener der zünftigen Professoren machen dürfen, die einander die verstaubte Luft ihrer Studierstuben nicht gönnen. Er hätte nicht der Sklave seines Bruders, des Hallenser Professors, werden und dessen wissenschaftlichen Intrigen seinen Beistand leihen sollen. Kurzum, er hätte es besser gelassen, einen Christian von Wolff bei dem König von Preußen zu verleumden. Denn die Weisheit eines Wolff diente dem Leben, so wie ein König den Dienst eines Gelehrten nur immer zu begehren vermag. Und niemals hat der König von Preußen erfahren, daß er einen verjagte, um den er hätte werben müssen wie um seinen schönsten, größten Kerl.«

 

König Friedrich Wilhelm blätterte kaum noch einmal in den Fetzen Gundlingscher Exzerpte. Auch des »Reisenden Chinesen« war er überdrüssig; und Dr. Faßmanns neuestes »Gespräch aus dem Totenreich«, darin der geflüchtete Faßmann mit dem toten Gundling disputierte, war zwar vom König angekauft worden, aber es lag unberührt in seinem Arbeitszimmer. Abend für Abend zog König Friedrich Wilhelm sich allein zurück und las in Wolffens Schriften, drei Stunden lang ununterbrochen. Er hatte sich Gottscheds deutschen Auszug verschafft, das Exzerpt jenes berühmten Gottsched, der von Königsberg nach Leipzig gegangen war, weil er seiner bedeutenden Körperlänge wegen den preußischen Werbern in die Augen gefallen war. Vergeblich suchte der König von diesem Zeitpunkt seiner neuen Lektüre an, den Professor Gottsched der Universität Leipzig wieder abspenstig zu machen. Und um den Professor von Wolff begann der roi sergeant nun gar zu werben, wie er noch nie um einen langen Kerl geworben hatte. Wolff war der Geheimratstitel angetragen; die Bedingungen für seine Rückkehr sollte er selber stellen. So forderte nun ›Der König von Preußen‹ vom roi sergeant auch dies, daß neben den Scheunen und den Meiereien, den Kirchen und den Deichen regulierter Flüsse, den Manufakturen und den Fabriken auch Lehr- und Forschungsstätten auf seiner armen Erde emporwüchsen!

Als der König in Wolffs Werken zu lesen begann – überaus zähe sie sich aneignend, überaus rasch sie erfassend – und vornehmlich, als er zur »Weltweisheit« gelangte, schwand aus seinem Sprachschatz jegliche der schimpfenden Redensarten wie Blackscheißer, Federfuchser, Windmacher im Hinblick auf die Gelehrten. Er wollte »Wolffs« um sich haben, nicht mehr »Gundlings«. Dazu bedurfte es aber vor allem der Rückkehr des einen! Der Herr las nicht nur selbst in Wolffens Schriften; er ließ objektiv prüfen. Er fand die Wolffsche Lehre bis dahin falsch ausgelegt, den großen Gelehrten entstellt, verleumdet und verraten. Was mußte aber der, den er vertrieben hatte, für ein Mensch gewesen sein, daß er, von Halle verjagt, nicht dem genehmen, ehrenvollen Ruf nach Leipzig gefolgt war, sondern weit fort nach Marburg ging, um die Hallenser Studenten nicht nach sich zu ziehen und Preußen arm an akademischem Nachwuchs zu machen!

Professor von Wolff antwortete würdig und freundlich; doch wollte er Marburgs Fakultät und dem Landgrafen von Hessen dankbar bleiben. Er lehnte die Rückberufung ab. Der König wollte selbst die hessische Approbation zur Dienstentlassung nachsuchen. Aber er vermochte bei Wolff nichts durchzusetzen, was einer Undankbarkeit nahegekommen wäre, und mußte sich damit bescheiden, den neuen Zweiten Teil von Wolffens »Allgemeiner Praktischer Philosophie« gewidmet zu erhalten. Und so tief er auch von der Absage getroffen war, so sehr beeindruckte ihn doch wiederum die Widmung eines philosophischen Werkes aus solcher Feder!

Von nun an zitierte König Friedrich Wilhelm es oft. Er nahm die Sprache dieses Philosophen mit ungeheurer Behendigkeit auf; denn er war sich selbst in Wolffs Gedanken und Sprache begegnet. Er pflegte von jetzt an seine Pläne, Ansichten, Entwürfe häufig »a particulari ad universale« zu entwickeln.

In seinen Taten war er immer diesen Weg gegangen.

 

Es kam so weit, daß die junge Frau Erbprinzeß von Braunschweig-Bevern, Philippine Charlotte Sanssouci, ihrem Vater eine besondere Freude damit zu machen suchte und auch wirklich bereitete, indem sie ihm einen französischen Auszug aus Professor Wolffs »Weltweisheit« verfertigte – gerade sie, die holde, weiche, die heitere Närrin, die der Philosophie am allerfernsten stand. Als sie die schwierige Arbeit für den philosophischen Papa beendet hatte, kam sie nun selbst ins Grübeln, und zwar darüber, warum der Vater wohl gerade sie immer so ängstlich von seinen Narren ferngehalten habe, als sei sie ihm zarter und empfindsamer als all seine anderen Kinder erschienen und als habe er sie vor solchen Eindrücken bewahren müssen. Warum erfüllte sie es nur mit solcher Freude, daß ein Äon der Weisheit in Preußen angebrochen war? Spürte sie die größere Ruhe, die gelassenere Freudigkeit des Vaters? Sie nahm Anteil, wie einst Wilhelmine Anteil nahm an allen Eroberungen des Bruders in den weiten, unsichtbaren Reichen! Aber auch, wo es dem Geiste galt, war es ihr Herz, das alles mit solcher Wärme ergriff. Nun sandte sie dem Vater gar noch einen schönen Stich, den Kopf des Philosophen Demokrit, damit der Papa wieder eines seiner Porträts danach malen könne.

Der König nannte es überaus aufmerksam und versicherte ihr immer wieder, welch wichtige Dienste dieser kleine, handliche Traktat ihm täglich leiste und wie gern er sich mit dem feinen Kopf des weisen Demokrit befasse, der die Seelenruhe als das höchste Gut hinstellte.

Aber auch der gelehrte König lernte noch immer nicht den Namen seiner lieben Stadt Potsdam schreiben; noch immer war sie ihm in allen seinen handgeschriebenen Briefen Potsda, Botsdam, Botsda.

Doch war sein Wesen nun von einer neuen Ordnung erfaßt, die ihm bis dahin versagt geblieben war. All die Ordnung seines Leibes und Lebens war lange, lange Zeit hindurch nur ein Schutzmantel über der furchtbaren Aufgewühltheit seines Herzens und dem Aufruhr seiner Leidenschaften gewesen: denn auch sein Glaube war voller Ungestümes, ein ständiges Überwältigtwerden des Sünders von Gott, unablässige Erschütterung und Ergriffenheit dessen, den Gott sucht.

Das Studium der Philosophie, so bemerkte man staunend, hatte wenigstens zeitweilig eine äußerst wohltätige Wirkung auf den Herrn. Die Ausbrüche seiner üblen Laune und seines blinden Zornes wurden seltener und wesentlich milder. Der König beklagte sich jetzt manchmal lebhaft, daß er erst so spät diese Studien begonnen habe. Er war nicht mehr von den Gedanken verwundet; er begann sie zu lieben. Aber das da umzulernen und umzuwerten begann, war wieder sein armes, glühendes Herz.

Unverzüglich knüpfte er nun Verbindungen mit allen Professoren an, die Morgenstern ihm als Gewinn für Preußen bezeichnete. Die Berliner Akademie, jenes unfertige, künstliche Gebilde, das er vom Vater her noch immer beibehalten hatte, übersah vorerst noch den Willen des Königs zur Versöhnlichkeit. Aber der König ließ sich nicht beirren. Er erteilte den Gelehrten festgelegte Forschungsaufträge, nachdem er ihnen fünf dünne Bändchen Miszellaneen zwanzig Jahre hindurch hatte abringen müssen. Er schenkte der Akademie dreihundert seltene Naturalien und dreitausend kostbar gebundene wissenschaftliche Werke aus den Arbeitsgebieten der Medizin, Physik, Mathematik und Astronomie. Er ermahnte die Weisen seines Vaters lediglich, fleißiger als bisher zu arbeiten, damit der Zweck erreicht werde, um welches willen sie eigentlich gestiftet worden.

Er nannte den Akademikern den Seidenbau; er regte den völlig neuartigen Versuch botanischer Lehrgärten für die Schulen vor den Stadtmauern Potsdams und Berlins an. Er verhieß Stipendien für Forschungsreisen nach Holland, England und Frankreich, damit eine medizinisch-physikalische Klasse und eine wissenschaftliche Chemie begründet werden könne. Er wollte die Akademie zur Avantgarde der Hochschulen erheben.

Die Frankfurter Universität lehnte es indessen schon ab, der neuen Narrendisputation, wie man die Konferenzen über die Reformvorschläge des Königs nannte, überhaupt nur Beachtung zu schenken.

Aber in Halle fand der König drei Gelehrte, die seit Jahr und Tag darum trauerten, daß Christian von Wolff und König Friedrich Wilhelm so grausam und listig getrennt worden waren, indem man aus Wolffs Werken – um die Zeit der Kronprinzenflucht – ableitete, Desertion wäre Fatum! Die horchten nun auf, als der Herr eine so völlig neue Sprache zu reden begann. Sie hatten auf den Augenblick gewartet, in dem sie mit ihm sprechen durften über das, was sie stärker und stärker zu beschäftigen anfing: nämlich, daß ihnen in den Maßnahmen des gelehrtenfeindlichen Königs immer wieder etwas begegnet war, das man System und Methode nennen mußte und das darum der Wissenschaft gehörte. Auch mußten darum eines Tages der schaffende König und die sinnenden, ordnenden und begründenden Denker zueinander gelangen. Und nun war der Tag! Der König, der einst die Federfuchser, Blackscheißer und Windmacher verfemte und beschimpfte, hatte Abbitte leisten wollen bei dem einen, den er zu Unrecht verbannte und danach als großen Gelehrten anerkennen mußte. Da fanden sich drei Männer zu ihm, welche ganz vom Geiste jenes Christian von Wolff waren, an ihrer Spitze der Rechtsgelehrte Cocceji. Die teilten dem Herrn als das Ergebnis ihrer Forschungen mit, er habe erwiesen, daß der Deutsche imstande sei, eigene Formen seines Lebens hervorzubringen: in Recht, Verwaltung, Wirtschaft, Heereswesen! Preußens Justiz zum Exempel sei auf dem Wege, die erste Europas zu werden!

Der König war sehr beglückt. Die erstarrten und umdunkelten Götterhaine antikischer Gelehrsamkeit, die fremd und tot in seinem Lande lagen wie Inseln des Totenreiches, begannen sich in fruchtbare Felder zu verwandeln! Die Wissenschaft fing an zu leben! Die Männer der Studierstube und des Kollegsaals hatten es gelernt, zu sehen, wie sich rings um die Stadt ihrer Alma mater die Felder schwer von Ähren wiegten, wo früher nur dürftiges Weideland sich hinzog! Sie hatten es sehen gelernt, so wie er wiederum zu »vernünftigem Denken« gelangt war!

Halle begann über solche Begegnung eines Königs mit seinen Gelehrten zu der ersten Universität im ganzen Reiche sich zu entwickeln. Der König hatte die Böcke von den Schafen geschieden und die Spreu vom Weizen gesondert. Er hatte zu Halle, wo sich einst siebenhundert Studenten gegen seine Werber erhoben, die Stätte der Weisheit aufgerichtet. Alle, die den neuen Willen begriffen – Juristen, Theologen, Philosophen –, wurden nach Halle berufen, die Fakultäten von Grund aus zu reformieren. Frankfurt aber blieb die Alma mater der Narrendisputation, das geistige Totenreich, in das der König alle verbannte, die nicht an die Zukunft des Begonnenen glaubten und ihn und seine Helfer mit Pamphlets überschütteten. Auch Halle und Frankfurt waren in ein Bild verwandelt.

Des Königs leichter Wagen rollte nun Wochen hindurch nicht mehr allein durch die Dörfer und Handwerkerstädte, hielt nicht mehr nur an den Fabriken und Baugerüsten oder wenn ihm eine Braut, in preußischen Kattun gekleidet, begegnete. Ein ums andere Mal ließ der Herr die Pferde für eine rasche Fahrt nach Halle bestellen. Ein ums andere Mal trafen fremde Professoren im Potsdamer Schlosse ein. Der König war von Forschern, Dozenten, Experimentatoren umgeben wie früher nur von Offizieren, Pastoren, Baumeistern, Kammerdirektoren und allenfalls Ärzten. Er konnte den Zusammenhang zwischen dem Wirken des Staatsmannes und den Studien der Gelehrten gar nicht mehr eng genug gestaltet wissen. Er schlug eine neue Gattung von Lehrstühlen vor. Er plädierte ganz ungemein lebhaft dafür, fragte doch aber sehr bedacht und bescheiden erst nach den Möglichkeiten, ob man an den Universitäten eine Art Studium für Ingenieure und Mechaniker versuchsweise einführen könne und ob es durchführbar sei, eine eigene Wissenschaft vom Erdreich zu begründen. Der Professor, dem er als erstem seine Pläne, das System eines königlichen Dienstes an Sand und Sumpf entwickelte, konnte den Kollegen nur versichern, der König habe nicht einem Professor eine Audienz erteilt; vielmehr habe der König einem, der noch alles lernen müsse, selber ein Collegium oeconomicum, camerale et politicum gehalten, ihm sein künftiges großes Buch gewiesen und derart hervorragend doziert, daß man sich nur wünschen müsse, in den für die neue Wissenschaft bestimmten Kollegs in des Königs Weise fortfahren zu können. Zum erstenmal waren Maßnahmen der Wirtschaft nach ihrer politischen, juristischen, technischen Seite dargestellt. Aus jedem Satze leuchtete die Tat eines Mannes, der einmal brüsk behauptet hatte: »Wenn Wirte ein Gut im Werte von dreißig- bis vierzigtausend Taler haben, solches dreißig bis vierzig Jahre besitzen und nicht zwei gleichwertige Güter dazu verdienen, so sind sie schlechte Wirte gewesen.«

Es war die selbstgewählte Aufgabe der preußischen Wissenschaft geworden, die Behauptungen des Königs von Preußen aus seinen Leistungen zu beweisen.

Der König aber gab Kompendien als Richtschnur für die Kollegs heraus; er prüfte und billigte weiter selbst den Lehrplan. Die Studenten hatten sich jetzt am Ende jeder Vorlesung in Listen einzutragen. Das Examenswesen wurde vereinfacht und verschärft in einem; und viele wichtige Berufe, die zu leichthin gehandhabt worden wären, wurden nun der Staatsprüfung unterworfen.

Bei so gesteigerten Anforderungen auf den Universitäten, vor allem im Hinblick auf die neuen, mechanischen und ökonomisch-politischen Disziplinen, meinte der Herr, müsse man nun aber die künftigen Studenten beizeiten an die neue Art ihres Studiums gewöhnen. Und probeweise wünschte er, der große Schul- und Baumeister in einem, bereits eine mathematisch-mechanisch-ökonomische Realschule für Knaben einzurichten. Weil er aber in allen Stücken des Bildes bedurfte, ließ er seinen kleinen Ferdinand, der noch nicht einmal zu den Kadetten zählte, heute schon immatrikulieren. Seine Söhne sollten unter den Studenten sein, die Studenten unter seinen Söhnen. Es war, als sei nun zu des Königs Rock ein Doktorhut gekommen.

Die Bevölkerung aber wollte der Herr über den engen Zusammenhang belehren, der fortan zwischen dem Bauern auf seinem Hofe und dem Professor für »Cameralia und Oeconomica« an der Alma mater zu Halle, zwischen dem Handwerker im kleinsten Marktflecken und dem Ingenieur-Mechanikus auf seinem ersten Lehrstuhl bestehen sollte. Und so gründete er, der erbitterte Feind der üblen Gazetten, die er beim Regierungsantritt vorgefunden und sehr bald verboten hatte, ein Intelligenzblatt. Auch Handwerker und Bauern, durch seine Schulen gegangen, sollten imstande sein, es zu lesen.

Im Augenblick war es fertig und erschien auch regelmäßig. Von heute auf morgen hatte der König einen Minister und einen Geheimrat von ihren alten Posten zu der neuen Zeitung abberufen, ihnen sein Projekt erläutert und sie sofort an die ungewohnte Arbeit geschickt, für die er sie nun einmal geeignet und die er ihrem bisherigen Amte für durchaus ebenbürtig hielt. In solcher Art war schon manche Berufung beim Preußenkönig erfolgt, und kaum eine brauchte zurückgenommen zu werden. Die letzten Subventionsempfänger der Akademie aber sollten ihm eine Beilage zum Berliner Intelligenzblatt schaffen, einen Anhang für die Leser, die höhere Ansprüche stellten; einen Historisch-Geographischen Kalender mit wissenschaftlichen Artikeln und einen Bataillenkalender über die Händel der Welt. Der Herr nahm Pläne auf, wie er sie noch vom großen Leibniz vorfand. Und endlich war die Akademie der Wissenschaften nun imstande, sich selber zu erhalten.

Nur ganz im Anfang wurden die Zeitungen vom König auf eigene Kosten bestritten, wie so mancher Versuch vordem auch. Wieder war zum Beginn der Herr sein eigener Unternehmer, Werber und Garant. Aber dann hatten die Magistrate und Gerichte alle Verkäufe und Verpachtungen, alle Geld- und Hypothekensachen, Steckbriefe sowie den wöchentlichen Getreidepreis in den Intelligenzzettel einzurücken. Gastwirte und Weinhändler wie Geistliche waren verpflichtet, die Zeitung zu halten, die letzteren zum halben Preise. Ferner beschloß der König, eine Annoncenexpedition einzurichten, das Königliche Adreßkomptoir genannt. An dieses hatten die Postämter die aus den Provinzen einlaufenden Anzeigen einzuschicken, und der Professorenkönig war sehr stolz, als auch der Buchhandel die ersten Werke aus dem Bereich der neuen preußischen Wissenschaften anmeldete: Bücher, die nur zu bald sechs Auflagen erleben sollten!

 

Die beiden alten Plusmacher, der König und Creutz, saßen beieinander und sprachen über ihren Kassenbüchern von all dem Neuen in Preußen. Sie verstanden einander nicht mehr. Der einstige Regimentsschreiber, der später hochberühmte Präsident der Generalrechenkammer, der oberste aller gefürchteten Generalfiskale, wollte es nicht mehr begreifen lernen, daß sich ein Plus auch durch gelehrte Vorlesungen erzielen ließ, auf sehr viel weitere Sicht ein sehr viel größeres Plus. Er stritt und zeterte um all das gute Gold, das der König für derart ungewisse Versuche auszuwerfen bereit war, für Versuche, die in offenem Widersprach zu stehen schienen zu allem, was der König je verbot, verfügte, unternahm.

Der König und sein Rechenmeister trugen aber auch noch einen ganz privaten Kampf miteinander aus: bitteren Streit um Menschen und Gold.

Wegen der Mesalliance seines Sohnes hatte Creutz die Kinder des Verstorbenen für unehelich erklären lassen und die Witwe mit fünfzigtausend Talern abgefunden, wie lange zuvor auch schon die Mätresse des Sohnes. Er wollte alle seine Mittel für seine Tochter einsetzen, der sich glanzvolle Heiraten und große Namen boten. Es war, als gäbe es nur diesen einen Widerspruch in Creutz; als vermöchte er nur für dieses eine ungezählte Dukaten sinnlos auszuwerfen: das Elend und die Schande seiner Jugend mit dem Glanze eines großen Namens aus altem Geschlechte zu überstrahlen.

Das Fräulein von Creutz war dem kursächsischen Geheimrat Graf Lynar hinter dem Rücken Seiner Majestät versprochen worden. Der König wollte aber nicht, daß jenes reichste Mädchen seines Landes – viel reicher, als seine eigenen Töchter es waren – jemals mit all seinen Schätzen aus den Grenzen seines Landes ginge und das nur um des Hochmutes willen. Er wollte es zur Gattin für seinen Generaladjutanten von Hacke; beiden war dann wohl unvergleichlich besser gedient, dem Adjutanten wie dem Fräulein von Creutz.

Creutz bot dem jungen Herrn von Hacke zwanzigtausend Taler Abfindung, wenn er als Freier zurückträte. Er rechnete und eiferte mit dem König. Er griff ihn maßlos an. Er vergaß sich in dem, was er sagte. Der König müsse es ihm danken, rief er, daß endlich wieder einmal einer auf der Würde des Ranges und Namens bestünde, nachdem unter der adligen Jugend so tiefe Verwahrlosung eingerissen wäre und die Mesalliancen in Preußen Mode würden.

Das berührte eine wunde Stelle und zielte auf ein Gesetz, das der König erlassen hatte, ohne je darüber zu sprechen. Seht, da war sie: die Macht des königlichen Beispieles, das so leicht zum »Lehrer der Sünde« werden konnte – auch, wo seine Absicht denkbar fern davon war! Sie hatten im Lande die Heiraten seiner Kinder mißverstanden. Junge Herren aus großem Hause fühlten sich frei von den Verpflichtungen ihres Geblütes. Etwas Wildes, Zügelloses war hervorgebrochen. Verrufene Bierschenkerstöchter und Schlimmere sahen plötzlich eine neue Weise, auch im strengen Lande Preußen so etwas Ähnliches zu werden wie die großen Mätressen in Paris und Dresden, von denen die Kutscher vornehmer Herren manchmal in den Schenken der Väter erzählten. In Preußen mußte solcher Aufstieg nur am Altar beginnen; aber um so besser war es ja; um so mehr lohnte es.

Und wirklich wurden sofort um die Hochzeiten der königlichen Kinder die Mesalliancen Mode in Preußen. Der König hatte den Zusammenhang sehr rasch erkannt, sich mit niemand beraten und auf der Stelle das Heiratsgesetz für den Adel erlassen, gerichtet »gegen allzu ungleiche und zum Teil schändliche Mariagen des Adels mit solchen, welche zuvor in offenbarer Schande lebten. Doch sind die Töchter aller bürgerlichen Beamten, der graduierten Personen et cetera ausgenommen. Auch andere unberüchtigte Mädchen dürfen von Adligen geheiratet werden, wenn die drei nächsten Anverwandten des Adligen zustimmen oder der Konsens von der Regierung erteilt ist.«

Der König trug sehr schwer daran, daß alles, was Wert, was Wachstum, was Ordnung war im Leben, unmittelbar von seinem Widerspiel begleitet wurde. Er litt in dieser Stunde am allermeisten darunter, daß der erste, den er neben sich zum Plusmacher erwählte, sein Gegenspieler geworden war. Was half es heute dem armen Manne Creutz aus der Gasse, daß er einmal das Volk gekannt hatte wie kein anderer sonst und daß sein junger Herr ihn darum zu sich rief und so hoch über seinesgleichen erhob?! Creutz hatte des Volkes vergessen, des eigenen Elends und der Not der anderen. Noch füllte er die Kassen des Königs; aber er wollte die Gelder eisern verwahren; er tötete das Gold; er begrub es; es sollte sich nicht mehr in Leben verwandeln. Im Grunde war er nun wieder arm wie zu Beginn.

Das alles hielt der größere Plusmacher, der König, ihm vor: er, dessen Gold im Lande und im Leben strömte und üppigerer Reichtum werden sollte, als Münzen im Kasten es je zu sein vermögen.

Es war etwas Gefährliches in den Gesten und Reden des Präsidenten, wenn er die Kontobücher und die Kassenschränke vor dem König zu verwahren suchte. Er war wie ein Gundling geworden, nur daß er den Herrn nicht mit Gedanken verwundete, sondern daß seine Waffe die Zahl war. Das Ostland nannte er des Königs Schuldbuch, das Einwanderungspatent für die Salzburger den uneinlösbaren Wechsel des Herrn.

Einmal zog er, alle Ehrfurcht vergessend, mitten im Eifern und Rechnen den König ans Fenster. Wortlos blickte der König hinaus; doch blieb er an dem Fenster stehen und wich nicht zurück.

Böhmische Exulanten zogen wieder ein, wie es nun schon seit Tagen geschah, kaum daß erst die zwölfhundert armen Leute des Abtes von Berchtesgaden durch die Stadt gepilgert waren. Als die böhmischen Prediger noch mit dem König von Preußen verhandelten und um die gleiche Gnade baten, wie sie den Salzburgern widerfuhr, waren sie schon in Scharen auf der Wanderung begriffen: unruhige Geister und aufs elendeste verarmt. Zu zweien, wie in einer Prozession, stolperten sie daher, jedes Paar einen Schubkarren mit all seiner armseligen Habe vor sich herstoßend. Fünfhundert waren es zuerst gewesen; aber seit Tagen schon strömten hundert und aber hundert solch unglückseliger Bettler nach. Bald waren einige Tausend auf der Wallfahrt nach Preußen, arm und zerrissen, und die Kinder manchmal nackt. Und unter die Elenden mengte sich viel schlimmes Weibsvolk aus der Schenke, die der Dicken Schneider Schwester unterhielt, dort, wo einst des Polterhansen Bleuset lustige Wirtsstube gewesen war: freche Berlinerinnen, die Almosen für sich selber einzuheimsen suchten. Hart fuhren des Königs Fiskale dazwischen.

Der König hatte selber schon den Spott der Berliner über den Aufzug der Bettler zu fürchten begonnen. Es mochte wohl schwer sein, es mochte wohl viel Geduld von ihm verlangen, sie fleißig und ehrenhaft zu machen, sie abzubringen von dem leidenschaftlichen Streit, in dem sie alles des Teufels und des Mammons Kinder schimpften, was nicht nackt und unstet wie sie über Gottes Erde flüchtete. Seht, auch hier ist das Widerspiel, dachte der fromme Schutzherr des Salzburger Hirtenvolkes. Der König hatte sich weit in das Fenster gelehnt. Da stieß er an das Gitter. Jetzt erst nahm er wahr, daß um den Präsidenten der Generalrechenkammer nur noch Gitter waren.

»Ja«, sagte Creutz fast flüsternd, »auch vor den Fenstern meines eigenen Hauses sind Gitter, überall Gitter – und Eisenbalken hinter allen Türen – und geheime Schlösser vor den Kasten, den Truhen: Schlösser, die niemand zu öffnen weiß als ich –.«

Der König blickte ihn befremdet an. Creutz stand gegen einen Geldschrank gelehnt. Er breitete die Arme vor die Schranktür. Er sprach hastig und scheu, halb drohend, halb verängstigt.

»In diesen Schrank darf niemand, niemand, niemand – auch nicht Eure Majestät.«

Da begann König Friedrich Wilhelm seine Ärzte auf den Präsidenten der Generalrechenkammer aufmerksam zu machen. Aber es war zu spät. Als es ihnen gelang, Zutritt bei Creutz zu erhalten, fanden sie ihn in einer Kammer hockend, die linke Hälfte des Gesichtes gelähmt, die ganze linke Seite beinahe unbeweglich; auch sprach er unverständlich und wirr. In der Rechten hielt er einen Beutel mit Gold.

»Ich kann Menschen kaufen – ich kann Menschen kaufen – viel billiger als der König – viel, viel billiger«, rief er stammelnd.

Ein Weibsbild hatte sich zwischen zwei mächtige Kassetten geflüchtet. Auf den mit Ketten und Schnüren umflochtenen Eisentruhen mit dem Golde standen Gläser und Flaschen umher.

Die Ärzte fragten das Gesinde, seit wann es mit dem Herrn von Creutz so gekommen sei. Aber die Mägde und der Diener sagten alle nur: »Es mußte so geschehen, weil er uns hungern ließ. Es ist die Strafe Gottes.«

Die wichtigsten Kassenbücher überprüfte König Friedrich Wilhelm nach Creutzens Tode selbst. Auch ließ er sich den Geldschrank öffnen, vor den sich Creutz in jener letzten Unterredung so geängstigt stellte.

In Creutzens Unterschlagungen – es ging um Gelder, die ihm von privater, meist ausländischer Seite zu Spekulationen anvertraut waren – gab König Friedrich Wilhelm nur insoweit Einblick, als er es begründen mußte, daß er einen Teil der gewaltigen Hinterlassenschaft des Präsidenten der Generalrechenkammer einbehielt. Unter den Papieren des Plusmachers fand der König auch die zwanzig Jahre hindurch gesammelten Unterlagen gegen Grumbkow. Die Großen des Königs hatten einander alle gehaßt. Und die meisten haßten auch ihn.

 

Früher pflegte der Herr nach dem Tode eines Großen und vor der Berufung eines neuen Mannes auf so wichtigen Posten eingehende Erörterungen in der Tabagie einzuleiten. Aber nun schien er sich von seiner gelehrten Raucherrunde etwas völlig anderes zu erwarten, und eine neue Epoche des Tabakkollegiums war angebrochen, seit unter den politischen holländischen, französischen, englischen und österreichischen Gazetten nun in dem weißgetünchten, landkartenbedeckten Saal der Tabagie auch die neue gelehrte Zeitung des Königs ausgehängt wurde.

Es war nicht mehr so, daß staatspolitische Debatten und Bibelworte mit Zoten und Wachstubenflüchen wechselten. Und vorüber war auch jenes kurze Zwischenspiel, daß der König, als die Narrheiten mit Gundling zu Grabe getragen waren, junge Bären und Affen als Menschen anziehen und sie die menschliche Tragikomödie aufführen ließ wie die Künstler und Schriftsteller des Mittelalters. Er war ja ein großer Historikus und Philosoph geworden – und der alte Bildermacher geblieben! Gab es in der Tabagie noch Spott und Scherz, so galt er allein – den kinderlosen Gatten. Blank und friedlich, wie ein ausgedienter Offizier in seiner blauen Uniform, saß der dicke, kluge König über die gelehrten Aufsätze seines Historisch-Geographischen Kalenders gebeugt, oder er diskutierte mit den Professoren die Frage, die ihn seit Jahr und Tag immer leidenschaftlicher bewegte, ob es möglich wäre, ein neues, blühendes, starkes, kluges Menschengeschlecht heranzubilden. Noch immer mußten die Frauen seiner Riesengrenadiere, wenn ein besonders großes, kräftiges Kind geboren war, sobald es das Wetter nur irgend erlaubte, mit ihrem Götterkinde zu dem Bettelkönig kommen, und sei es auch von weither, und selbstverständlich auf königliche Kosten, weil es ja seine »curiosité« verlangte und es ihm stets »pressierte«. Aber auch jene entgegengesetzte Möglichkeit begann ihn stärker und stärker zu beschäftigen, ob es eines Tages zu dem Amte eines Königs auch gehören könnte, verlorenes, entartetes Leben zu vernichten. – Wie sollte er es ganz durchdenken, er, der beim Unterschreiben von Todesurteilen als so »skrupuleux« bekannt war? Aber der Gedanke, die Fortpflanzung der Abnormen durch Vernichtung gleich nach der Geburt – etwa durch Hungertod – zu verhindern, tauchte nun bei ihm auf. Die Geburt eines Kindes mit einem tierähnlichen Kopfe war der Anlaß. Es kam sogar zu Verhandlungen mit den Fakultäten. Die Opposition, die sich zu Worte meldete, wollte noch einmal auf einen Hexenprozeß gegen die unglückliche Mutter der Mißgeburt hinaus, obwohl die Hexenpfähle ausgerissen waren und die Folterwerkzeuge seit des Abenteurers Clement Marter in eisernen Truhen verwahrt lagen; denn hundertfach war jener unheilvolle Tag widerrufen, an dem sie noch einmal in entsetzlichem Irrtum hervorgeholt worden waren; es gab drei, manche sagten vier Namen, die vor dem König nie erwähnt werden durften.

Ach, wann wollten es die Richter durch die neuen Rechtsgelehrten endlich lernen, niemand mehr »wegen Bündnisses mit dem Teufel mit dem Tode zu bestrafen«, sondern »wegen der Ungewißheit der Sache lieber die mögliche Verstandesverrückung in Betracht zu ziehen«, des Königs neue Medizinprofessoren zu befragen und an lebenslängliche Unterbringung der Unglücklichen zu denken?! Der König war weniger zornig als bedrückt.

»Patience, Professores«, sagte er im Kreise seiner Gelehrten, »Patience, Patience – aber Patience ist das schwerste.«

Auch während der Tafel wurde jetzt aus der Zeitung vorgelesen. Dem Platze des Königs gegenüber war für Professor Morgenstern ein Pult errichtet; dort las er dem König und den Tischgenossen vor und kommentierte die Berichte der Journale, und der König, der recht schwerhörig zu werden begann, neigte sich oft über den Tisch zu ihm vor, damit ihm ja nichts entginge. Da er bei Vortrag und Vorlesung die Zwischenbemerkungen liebte wie kaum ein anderer Monarch, unterbrach der König sehr häufig mit Fragen, hielt ein Thema fest und eröffnete damit die Debatte. Namentlich tat er es im Tabakskollegium, das aus einem engen, geheimen Staatsrat von Zechern und Politikern immer mehr zu einem wirklichen Tabakskolleg geworden war, einem Privatissimum des Professorenkönigs, und darum nun auch in Flugschriften fremder Höfe als der Schwanenritterorden verspottet wurde. Es währte aber nur sehr wenige Wochen, daß die Ritter vom Schwanenorden über dem Intelligenzkalender die Fragen einer weiten Menschheitszukunft mit dem Preußenkönig erörtern durften. Nur zu bald blätterten seine Professoren, statt weiter solch löbliche und friedliche Diskussionen zu führen, mit den Generalen gespannt in dem Bataillenkalender der Berliner Zeitung, der von den Welthändeln Meldung brachte.

Der Herr hielt sich wieder mehr an die fremden Gazetten.

Da saß auch der Dessauer mit seiner kalten Pfeife wieder mit am Biertisch; das Rauchen hatte er auch dem Freunde zuliebe bis zu diesem Tage nicht gelernt. Nun hatte sich in solch akademischer Runde von Professoren und Generalen auch der Trinkspruch auf des Königs alten Kriegsmechanikus gewandelt.

»Vivat Doctor Leopoldus!« rief der Herr. Aber seine Blicke waren ohne allen frohen Glanz.

 

Es war an der Zeit, daß die Freunde sich wieder sprachen. Sie waren ja zum Glück nur einen Posttag weit voneinander entfernt. Der König hatte den Fürsten zu sich gerufen: »Die stahsfaxa ist so brulgieret das keiner mehr weiß wer kohch oder Kellner ist.«

Um den König von Preußen schien alles am meisten »brulgieret«. Er hatte etwas getan, das Europa aus den Angeln zu heben schien.

Er hatte in dem nach Augusts des Starken Tode allseitig mächtig geschürten Polnischen Erbfolgestreit weder wettinisch noch habsburgisch noch bourbonisch Partei ergriffen; er hatte aber einem flüchtigen Fürsten, einem herumgehetzten alten Mann eine Zuflucht gegeben; der hieß Stanislaus Leszczynski. Nach seinen Rechten auf die Krone Polens fragte er nicht. Er wollte nur nicht, daß ein alter König flüchtig sei auf Erden. Er duldete nicht, daß ein König ohne Rast und Ziel in Verkleidung umherfuhr, auf Almosen an geheimen Orten wartete und in einem Tedeum schon als Toter beklagt ward. Herr Friedrich Wilhelm war noch der gleiche, der einst sein Leibregiment vor den Batterien der Verbündeten aufmarschieren ließ, um den geschlagenen Schwedenkönig auf seiner winterlichen Meeresflucht zu schützen. Abend für Abend blieben nun die beiden Könige beinander, rauchten, wandelnd oder sitzend, zwanzig und auch dreißig Pfeifen, hüllten sich in undurchdringliche Tabakswolken und sprachen viel von der Vergangenheit. Und darüber, daß die beiden Könige miteinander qualmten, ging Europa in Flammen auf: denn Stanislaus Leszczynski war der Vater der Königin von Frankreich, und also drohte Polen, »das immer wallende Meer«, den Erdteil mit einer Sturmflut zu überbrausen. Die ganze Verworrenheit und Verderbtheit Europas wurde wieder offenbar. Habsburg, Bourbon und Farnese rangen miteinander um den polnischen Thron. Der Wiener Hof, bei einer immer trostloseren Lage des Kaiserhauses, suchte den Infanten Don Emanuel von Portugal als polnischen Kronprätendenten durchzusetzen. Dem Preußenkönig wurden die unerhörtesten Auslieferungsbedingungen gestellt. Man wollte ihn mit einem schönen Regiment für seinen Gast abfinden.

Der alte Kriegsmechanikus und Doktor Leopoldus fand in diesen Tagen, der Freund und König rede Arges. Er wollte, nachdem Stanislaus in Sicherheit gebracht war, seine Macht nicht gebrauchen, so hundertfach er auch herausgefordert war!

 

Die Freunde hatten harte Tage hinter sich. Der Dessauer kämpfte für die Waffenerhebung: zwanzig Jahre kämpfte er darum und tat es namentlich nun, wo der Wiener Hof Seckendorff endgültig abberufen hatte, um die Änderung seines Kurses deutlicher zu dokumentieren, der russische Gesandte samt seiner Familie in der gleichen Woche abgereist war und der dänische ihm folgte. Der Krieg mußte sein. Die Zeichen ließen sich nicht mehr mißverstehen. Sachsen und Schweden zogen Truppen zusammen, Rußland und Österreich verbündeten sich. Von vornherein hieß der kommende Krieg »Der Generalkrieg«. So umfassend war er gedacht. –

»Ja«, sagte der König und nickte und hielt den schweren Blick fest auf den Dessauer geheftet; er sprach fast feierlich, »der Krieg muß sein: der Krieg, in dem der König von Preußen zu Felde zieht gegen den Kurfürsten von Brandenburg, der König von England den Kurfürsten von Hannover belagert, der König von Dänemark sich selbst als Landgrafen von Hessen gefangennimmt; der Krieg, in dem der letzte Habsburger den Deutschen Kaiser an seine Feinde verkauft. Es ist so weit gediehen. Zwanzig Jahre sehe ich dieser Stunde entgegen. Der Kaiser, das ganze Reich mag nun tun, was es nicht lassen kann. Der Teufel mit ihnen. Ich verlasse mich auf meinen unüberwindlichen großen Alliierten. Auf die Gerechtigkeit meiner Sache wird es ankommen, ob ich einen Krieg beginne oder nicht.«

Er hat die schwarze Melancholie, dachte der Dessauer, es ist wieder über ihn gekommen. Was könnte ich noch sagen. Er wird immer wieder an dem Recht, zu handeln, zweifeln. Was hilft es, daß er behauptet, er liebe auf Erden nichts so wie den Krieg, und die Füße juckten ihm, wenn er untätig blieb? Die Mittel des Krieges, die Waffen und Fahnen und ihre Träger, liebt er mehr als den Krieg. –

Fürst Leopold wußte, daß der roi Sergeant nur zu Felde zog auf Gottes Befehl: gezwungen, gestoßen, überwältigt von Gott. Aller Krieg, auch wo es nur um Silberflotten ging, war ihm nur Glaubenskrieg gewesen und würde es bleiben! Dann freilich, wenn es um das Reich Gottes ging, würde er nicht nach dem Schicksal seines Landes fragen und des tiefen Risses durch das Reich nicht achten, von dem er seit Jahr und Tag wußte: er muß kommen! Dann freilich würde er aufbrechen mit den vierzehntausend Mann des Kurfürsten von Brandenburg und den fünfundachtzigtausend Götterhelden des Königs von Preußen.

Auf diese Stunde hatte der große Feldherr gewartet, zwanzig Jahre hindurch, seit er zu dem kriegerischsten aller jungen Fürsten kam. Damals wußte er noch nicht, was es bedeutete, daß der auch der frömmste König war. – Zwanzig Jahre hindurch bat ihn nun schon der König, er solle doch häufiger mit ihm zur Kirche gehen.

Der Dessauer stritt nicht mit dem königlichen Freund. Er haderte mit Gott.

 

Seinen alten Kriegsmechanikus zur Seite, durchschritt der König seine Soldatenstadt als der Generalinspekteur und Generalkontrolleur der preußischen Armee – und Rector magnificus der Alma mater militaris.

Der Kronprinz nannte Potsdam die Universität für Offiziere, und immer wieder sandte er Majore und Kapitäne von Ruppin hinüber, die letzten Neuerungen im Reglement an der Quelle aller militärischen Weisheit selbst zu studieren.

Immer vollendeter, glanzvoller, in gar nichts mehr zu übertreffen war das Exerzitium der Göttersöhne vor dem Königsschloß unter dem bleichen, kühlen, nördlichen Himmel der Mark Brandenburg geworden. Man nannte sie die Satelliten. Man verglich sie mit den Äthiopiern, die als das schönste, größte und stärkste Volk der Alten Welt galten und Bogen besessen haben sollten, die niemand sonst zu spannen vermochte.

Ernst und gemessen, feierlich und steif, im blauen Rock mit langem Degen kommandierten die Offiziere, die einst mit dem roi sergeant das Heer errichtet und herangebildet hatten. Alle ihre Handlungen, auch Gruß und Mahlzeit und Gespräch, verrichteten sie wie im Dienst. An den Abenden lasen sie, der neuesten Weisung ihres König-Obristen folgend, meist in der Kriegsgeschichte des Polybius oder in der Männergeschichte des Plutarch. Eine große Würde lag über dem Kriegerstaat. Sie ergriff das Leben seiner Helden immer tiefer: das Leben jener, die, zu Helden erzogen, ihr Heldentum noch nicht bewähren konnten.

Die meisten Grenadiere lebten wie Studenten auf der hohen Schule, beschäftigten sich mit Büchern und Zeichnungen, und ein ehemaliger Reiter vom Papsteinschen Regiment, entlassener Schulrektor aus dem Braunschweigischen, war um seiner Soldatenbibliothek willen vom König zum Geheimrat gemacht worden.

Den Kadetten war aufgetragen, die Historie »von hundert Jahren« zu studieren. Aber auch die Rekruten mußten fleißig lernen und den Schulstunden der Knaben im Waisenhause beiwohnen. Und von allem, was er verlangte, behauptete der Herr, es müsse ein sehr dummer Mensch sein, wer es nicht verstehen könne.

Der König kämpfte um die Würde seiner Krieger bis ins geringste. Grenadiere, die jemals in der Trunkenheit Händel anfingen, waren doppelt streng zu bestrafen. Und auf den Wachen war es untersagt, daß auch nur ein Trunk Wasser, geschweige denn Bier, Wein noch Tabak gegeben wurde. Wer sich aber in der Stadt der immerwährenden Hochzeit an einer Frau verging, hatte das härteste Gericht zu erwarten. Wen wollte es nun noch wundernehmen, daß die früher so militärfeindlichen Städte – allen voran Berlin, das einst so auf sein Freihäuserrecht pochte – darum einkamen, Garnisonen zu ihnen zu legen? Von Jahr zu Jahr waren die kleinen, sonnengelben Häuser all der Grenadiere in den blauen Röcken, roten Westen, behaglicher, gediegener und wohlhabender geworden und immer ertragreicher und begehrter ihre Soldatenbrauereien und Handlungen. Dem Unteroffizier Pflug gehörte bereits eine ganze eigene Straße samt ihren wirtlichen Schenken und schmalen, hellen Läden, darin die Grenadiere nach dem Dienste alles kaufen gingen, was das Exerzitium erforderte: Haarwachs und Puder, Zopfband, Kreide und was zur »Propretät« noch sonst erforderlich war. Der Kapitän von Einsiedel aber führte jetzt in seinem behäbigen und noblen Hause nahe dem Schlosse eine Material- und Italienerwarenhandlung nebst Apotheke.

Die Grenadiere der Prätorianergarde, die gepflegten, angesehenen, reich dotierten Herren, ließen sich für ein gutes Trinkgeld ihre Gewehre und Patronentaschen von kräftigen Knaben bis zum Exerzierplatz tragen, damit kein Fältchen die herrliche Straffheit ihrer Uniformen entstelle, kein Stäubchen Puder von der sorgsam modellierten Frisur falle und der hohe Silberhelm sich nicht verrücke. Die wohlhabenden, ihrer Zukunft völlig gewissen »söhnnen Kerrels« des Königs nahmen es dem Herrn fast übel, daß er neuerdings verbot, Bittschriften durch seine Grenadiere zu überreichen. Die Herren hatten den Bürgern für solche Dienste bis zu zweihundert Talern liquidiert; denn sie konnten sich ja rühmen, daß der König mit ihnen in langen Gesprächen durch die Straßen ging und daß sie in seinem Zimmer häufig ein Glas oder gar eine Bouteille Wein trinken durften, namentlich, wenn sie ihm neue, interessante Ankömmlinge in Potsdam melden konnten –.

Das Heer war Schönheit, Wohlstand, Ebenmaß, war vollendete Reife. Und überreif war draußen die Welt; reif zum Gerichte war die Welt, in der nur noch die Geheimverträge, die chiffrierten Diplomatendepeschen die Geschicke der Throne und Länder bestimmten und mit Klauseln und doppelten Auslegungsmöglichkeiten alles Menschenrecht, selbst alle gutwillige Menschenmacht ins Widerspiel verkehrten. Gegenwärtig arrangierten sie gerade den Polenkonflikt auf eine neue Weise. Meuchelmord galt mehr als offener Kampf. In solchen Tagen der Verlorenheit des Erdteils und der Vollendung seines Kriegerstaates hatte der König von Preußen die schwerste und tiefste Einsicht erlangt, zu der ein Soldaten-König je gelangen kann. Er wußte: auch diese Ernte – das reife Heer, der überreife Erdteil – verlangte wie jede andere danach, eingebracht zu werden zu der rechten Stunde. Ein reifes Feld, das Heer, stand ungeerntet; ein überreifes, der Erdteil, moderte hin. Im Lande Preußen war die Friedlichkeit so völlig, daß die Großen des Königs Minister und Generale in einem sein konnten.

Was der König dann zu seinem Generalissimus sagte, war wie ein unendlich schwer abgerungenes Bekenntnis: »Ich bin zu beklagen, daß meine bravsten Leute so alt werden und daß kein Krieg kommen wird. Die Regimenter sind nur noch mit Offizieren versehen, die nie Krieg gesehen haben und keine Idee vom Kriege mehr haben. Ich weiß: der große, falsche Friede ist mein ganzes Unglück.«

Aber da begannen in seine Worte hinein die Glocken den Mittag einzuläuten – die Glocken von den Kirchen jeglichen Glaubens, die er alle baute: calvinistisch und lutherisch, römisch und griechisch. Das Glockenspiel der Soldatenkirche sang wie mit gläsernen Harfen den Lobgesang. Potsdams Havelfischer, die Seidenweber aus Lyon, die Riesen aus dem Kaukasus, die Büchsenmacher aus Lüttich, die Schweizer Uhrmacher, die Mohren, die Brüsseler Spitzenklöpplerinnen, die Bauleute aus Amsterdam gingen in den lichten Häusern der Königsstadt an die Tische, die der fromme König ihnen deckte und über denen er Jahr um Jahr und oft Tag um Tag zu dieser Stunde das Tischgebet sprach. Er wußte um das Wesen der Macht und die Notwendigkeit, sie zu gebrauchen; er wußte um das Gesetz jeglicher Reife, auch einer Reife der Waffen. Aber er vermochte nur, sich im Gebet vor Gott zu beugen und um Frieden zu flehen für alles, was ihm anvertraut war unter der Verheißung: »Ich will zu deiner Obrigkeit den Frieden machen und zu deinen Vögten die Gerechtigkeit.«

 

»Wir beginnen das zwanzigste Jahr des Friedens«, so leitete der »Merkur« seine Neujahrsbetrachtungen ein, »seit Jahrhunderten hat die Christenheit nicht so lange Frieden gehabt; nur durch Kunst und trotz der Umstände ist der Krieg gemieden, und es ist ein Wunder, daß er im verflossenen Jahr nicht entbrannt ist. Wird es auch in diesem gelingen?«

Ein französisches Journal begrüßte das neue Jahr noch niedergedrückterer Stimmung; es schrieb von einem »esprit de guerre à la plus grande partie de l'Europe« und bemerkte, dieser Zustand sei schlimmer als offener Krieg.

Da gingen die Armeen Frankreichs über den Rhein. Bourbon nahm seine große Überlieferung wieder auf. Die alten Heerführer des Sonnenkönigs rangen sich noch einmal mächtig empor. Noch wollte Wien es nicht glauben. Da war Kehl schon von den Franzosen eingenommen. Der Krieg war unwiderruflich da.

Eben noch hatte der Kaiser mit dem König von Preußen darüber verhandelt, ob ihm der nicht acht Millionen Gulden leihen wolle. Aber der reiche Preußenkönig erklärte sehr kühl, seine Finanzen wären nicht in so gutem Zustande. Daraufhin verbreitete der Wiener Hof, das Tresorieren in Berlin trage Schuld daran, daß sich im Reiche kein Geld mehr beschaffen lasse – und begann bereits eine neues Geschäft mit dem König anzubahnen. Der Kaiser wünschte plötzlich herzlichst, »das alte, vertraute Verhältnis wiederherzustellen, wozu die Konjunkturen wohl Anlaß und Mittel geben würden«.

Vergessen, völlig vergessen sollte es sein, daß Kaiser Karl in Prag nur den Kurfürsten von Brandenburg empfing. Plötzlich stand der König von Preußen, der Herr der Fünfundachtzigtausend, hoch in Gunst.

Frankreich versuchte, den Preußenkönig durch eine List von dem Beistand für den Kaiser abzuhalten. Es ließ ihm erklären, Frankreich könne dem Kaiser, ohne das Reich zu verletzen, in Freiburg und Breisach beikommen. Aber der Kurfürst von Brandenburg brauchte sich seine Haltung nicht zu überlegen. »Wer mein Haupt anpackt, der packt mich selbst an; und das müßte ein schlechter Kerl sein, der sein Haupt verlassen wollte; ich werde ihm gewiß mit meiner ganzen Force beistehen.« Das war seine Antwort an Frankreich. Dem Kaiser aber ließ er bedeuten, daß nicht alle Fürsten im Reiche so dächten. »Was ich einmal gesagt habe, dabei bleibe ich«, bestätigte der Herr, »für Kaiser und Reich; nach Italien marschiere ich nicht; wohl aber nach der Elbe, Weser, Drawe, Rhein und Donau mit 52 Bataillonen, 102 Eskadronen, 4 Eskadronen Husaren.«

Schon gab der Kurfürst von Brandenburg Marschbefehl für die vierzehntausend Mann seines Reichsheeres; da zeigte der König von Preußen noch einmal Bereitschaft, ein halbes Hunderttausend für den Notfall einzusetzen; nur müsse er die eine Zusicherung dafür erhalten, daß er bei diesem ersten Aufbruch eines so großen Teiles seines Riesenheeres für die Sache des Reiches nun auch den Oberbefehl über die Reichsarmee übertragen bekäme. Er wollte selber seine Truppen führen: doch nicht als Obrist, der er bei ›Dem König von Preußen‹ heute noch war –.

In Wien hatte man die Herablassung, anzunehmen, der König werde sogar seine ganze Armee zum Kriege gegen Frankreich stellen; – und dann, aber nur dann, werde man sich eine Ehre daraus machen, sich unter Seiner Majestät Kommando zu begeben, ließ man dem Brandenburger aus den Kreisen des Prinzen Eugen bestellen. Das Riesenheer war zwar verlockend. Aber den roi Sergeant als Oberbefehlshaber belächelte man nur. Und so wurde denn des Preußenkönigs Angebot vom Kaiser stolz zurückgewiesen. Wien fürchtete aber vor allem – das Übergewicht solcher Truppen!

Der König von Preußen nahm es zur Kenntnis. Der Kurfürst von Brandenburg stellte pflichtgemäß fünf Regimenter Infanterie, fünf Regimenter Kavallerie. Aber auch bei diesen wollte er sein, samt seinem ältesten Sohne, aller Verbitterung durch Wien nicht achtend, auch wenn nun österreichische Generale seine Truppen führten.

Der Oberst Friedrich Wilhelm und der Oberst Fritz wußten beide, daß sie sich noch einmal neu begegnen sollten. In den Gedanken des Königs war jetzt für gar nichts anderes mehr Raum. Er ging mit Friedrieb, unter fremde Fürsten, fremde Heerführer. Seit dem Prunklager von Mühlberg war es nicht geschehen: und nun war Krieg! Sein alter Kriegsmechanikus, der Dessauer, schloß sich mit seinen Prinzen als Geleit an. Nun diente schon sein fünfter Sohn in Preußens Heer, und der König hatte den Fünfzehnjährigen bei einer glänzenden Revue zum Oberstleutnant ernannt. Die österreichischen Generale sollten ihr Kommando unter strengen Augen zu führen haben.

»Mein Heer kann geschlagen werden, aber es bleibt in Ordre«, sagte der roi Sergeant und Rector magnificus der Alma mater militaris.

 

Im Lager bestaunten sie Brandenburgs Heer. Auch die anderen Kurfürsten hatten ihre Zehn- und Vierzehntausend geschickt, gewiß; aber das war wildes Söldnervolk, das auf Abenteuer und Beute hoffte; jeder Mann war wie ein Esel bebündelt: Flaschen, Taschen, Habersack, Kessel, Hacken, Flinten – fünfmal war alles kreuzweise über der Brust zusammengeschnürt, das Branzfläschchen nicht zu vergessen; so stolperten sie johlend einher. Und bei den Reitern waren verwegene, aufgeklappte Lederhüte, wilde Reitermäntel und Lederkoller noch immer nicht geschwunden. Am schlimmsten aber stand es um die kaiserliche Armee, da die alten, guten Regimenter in Italien lagen und die neuen, lose und bunt zusammengewürfelt, unfähig im Schießen waren. Die Generale hatten noch nie eine Schlacht gesehen. Mißbräuche, Unordnung, Sittenlosigkeit machten sich breit. Unterschlagungen, Begünstigungen, Durchstechereien waren die Regel. Um Versorgung und Transporte war es aufs elendste bestellt. Österreichs Armee, furchtbar zerrüttet und zusammengeschmolzen, mußte erst wieder mühevoll in schlagfertigen Zustand versetzt werden.

Mitten durch das buntscheckige, wirre, laute Lagervolk marschierten feierlich und stumm die Regimenter des roi sergeant: in fleckenlosen, gelben Lederhosen; die waren faltenlos und straff wie Haut; in gediegenen, knappen, blauen Röcken, weißen Gamaschen, silbernen Helmen, das Neue Testament mit beigehefteten Gebeten und Gesängen im Tornister, die neukonstruierten preußischen Handgranaten aus Pulver und Holz, zwölf Stück für den Mann, wie einen Zierat am Gürtel: Kohorten, wie man sie seit Römertagen nicht sah!

Die Pferde der weißen Reiterei waren ebenmäßig und schön wie die Grenadiere des Königs. »Riesenpferde«, meinte man, »die wahren Elefanten eines Hannibal.« Die Brandenburger hatten Maßrollen für ihre Pferde, als wären die auch Lange Kerls – schöne Kerls! Aus braunen, weißen, schwarzen Fellen stieg Dampf, wie wenn Gewölk um Götterrosse weht, Götterrosse für ein Götterheer, prall und glänzend, riesig, strahlend und von übermäßiger Kraft! Aus des Königs Gestüten im Ostland waren sie gekommen; denn auch in diesem Stück hatte er das Werk der Ordensritter wieder aufgenommen und erkannt, daß Zuchtland, Weideland, Reitland ihm gegeben war. Jedem Pferde hatte er einen Morgen Wiese und einen Morgen Weide zugeteilt, Züchter, Pfleger, Zureiter aus aller Welt herbeigerufen, den kranken Tieren eigene Lazarette gebaut. Und so schien es mit des Königs und des Dessauers, der beiden leidenschaftlichen Reiter, bekannter Ablehnung und Geringschätzung der Reiterei nicht gar so schlimm bestellt, obwohl sie beide der Meinung sein sollten, der Wert der Reiterei sei ganz vom Zufall abhängig; nie könne man mit Gewißheit auf sie rechnen.

Auf stabilen Wagen, blank wie Staatskarossen, wurden den Regimentern Decken nachgefahren. Auch hatten die Brandenburger eine neue Art von Schiffen, Pontons, um über den Rhein zu setzen wie auf Brücken. Sie requirierten nicht beim Bauern und Bürger. Sie wurden aus rollenden Magazinen verpflegt. Zum guten Sold gab es noch Fleisch und Brot. Sie kamen mit Feldbäckerei, Feldpolizei und Feldpost in den Krieg. Und ehe noch ein Schuß gefallen, ehe noch ein Tropfen Blut geflossen war, wurden bei den Brandenburgern lichte, saubere Lazarette errichtet. In der Heimat war bereits des Königs Schloß Glienicke, dessen Park zu Kohlgärten und Maulbeerplantagen diente, zu Quarantäne und Grenadierlazarett für die abzutransportierenden Verwundeten umgebaut. Dort arbeiteten auch die alten Invaliden der vergangenen Kriege in den Schloßgärten, aber der König hatte angeordnet, keine feste Tagesarbeit von ihnen zu fordern, sondern sie sollten nur soviel arbeiten, als sie konnten. Manchmal glaubte man ebensoviel Doktoren und Feldprediger wie Offiziere bei den Regimentern des roi sergeant zu sehen, und auch seine Leibärzte und Medizinprofessoren trugen nun als die Betreuer seines Militärsanitätswesens hohe militärische Titel: da war der Leibarzt Dr. Eller als der Generalstabsarzt und Dr. Holzendorff als der Generalchirurg der Armee.

Aber als der Wunder größtes erschien den Söldnern all der fremden Herren wohl doch, mit welcher Genauigkeit und Pünktlichkeit die Zahlung der Löhnung durch die Generalkriegskasse erfolgte. Auch waren die Kosten eines ganzen Feldzuges »nebst Mobilmachung« von König Friedrich Wilhelm bis in die letzte Möglichkeit, die sich ereignen konnte, veranschlagt! Endlich durfte man nun auch die hochbezahlten Leistungen der Brandenburger bestaunen. Im Gleichschritt dröhnten sie über die Erde, die noch von keinem Feinde streitig gemacht wurde. Im Gleichtakt grollten ihre blinkenden Trommeln die stummen Befehle über das Schlachtfeld, das sonst noch nicht von kriegerischem Lärm erbebte. Im Gleichmaß richteten sie die Kanonen und Gewehre und die dreiläufigen Bockflinten aus der Waffenfabrik des roi sergeant – wahre Kriegsmaschinen, die den Mann verdreifachten – ins leere Gewölk, das noch kein Pulverrauch schwärzte. Ernst, wach und gehorsam hielten die Brandenburger ihr Reglement geheim wie eine Ordensregel. Das war ihnen eingeschärft »bei dem Verlust von Ehre, Reputation, Leib, Leben«.

Wenn die brandenburgisch-preußischen Fahnen in ihren feierlichen Farben und mit ihren sakralen Inschriften vorübergetragen wurden, so wurden sie gegrüßt wie einst die römischen Adler: selbst der König stand in Ehrfurcht baren Hauptes.

Als nun der Kriegsherr der Brandenburger unter ihnen weilte, sagten all die fremden Offiziere staunend zueinander, er gehe mit den Generalen, Obristen, Majoren und Kapitänen um, als wäre er ihr Kamerad; und über den Subalternoffizieren wache der König wie ein Vater.

Er kam, wie er seit der Rückkehr aus dem Nordischen Kriege stets gekleidet ging; die kupfernen, vergoldeten Knöpfe seines Oberstenrockes streng geschlossen; die strohfarbene Weste mit einem einfachen Goldbesatz eingefaßt; die Beinkleider von einfachem Tuche bei kaltem, von Leinen bei warmem Wetter. Die weißen Stiefeletten hatten kleine, kupferne Knöpfe. Die Schuhe waren stark und dauerhaft, mit hohen Absätzen und viereckig geschnitten. Um den Hutrand zog sich eine schmale, goldene Schnur; ein kleiner Knopf, ohne Schleife, hielt sie zusammen. Auch befand sich an dem Hut noch ein Kordon von Goldfaden, von dem zwei kleine Goldquasten herunterhingen. Der Handgriff seines Degens war von Silberdraht und vergoldetem Kupfer, die Klinge breit, lang und schwer. Ihr Gehänge von Elenhaut wurde mit Kreide angestrichen.

Der Dessauer, der Feldmarschall, der nicht von seiner Linken ging, obwohl es für sie beide nichts zu kommandieren gab, hielt sich in seiner Kleidung wie einer seiner gemeinen Soldaten. Zum Rock von blauem Tuch trug er graue Beinkleider und eine Weste von grober Leinwand, und die Brust war weit offen. Der greise Eugen erkannte ihn erst gar nicht, gerade weil Fürst Leopold, unfaßlich, immer noch der alte war. Dann vergnügte sich der greise Zwerg gar sehr mit seinem alten »Bullenbeißer«, von dem er durch die Politik der Kabinette ein Leben lang getrennt worden war.

Kaum, daß der König-Obrist mit seinem Kriegsmechanikus nun mitten unter seinen Offizieren und Soldaten war, erließ er ein neues Heeresgesetz: »Wenn sich in den Occasionen des Feldzuges Unteroffiziere, sie seien von Adel oder nicht, wirklich distinguieren, so sollen die Commandeure ihrer Regimenter solches Seiner Majestät berichten, auch bei vorfallenden Avancements auf sie reflektieren und dazu vorschlagen. »Und grundsätzlich sollten nun Unteroffiziere nach zwölfjähriger Dienstzeit zu Offizieren befördert werden können.

 

An achtzig Generale des Reichsheeres hatten sich, fern vom Lager, rings auf all den Herrensitzen und Schlössern einquartiert. König Friedrich Wilhelm wollte nicht einmal in einem Dorfwirtshaus logieren. Mit Lagerstätte, Kost und Reisegerät hielt er es noch immer wie der Doktor Leopoldus. Er kampierte in einem Zelte bei seinen Truppen. Bei Anbruch des Tages besichtigte er das Lager und durchschritt die Verpflegungsmagazine; und immer hatte er den Sohn an seiner Seite. Der Kurprinz von Brandenburg – als Kronprinz von Preußen war er ja nicht anwesend – erhielt im Lager sein eigenes Reglement. Er hatte sich »von allem und jedem, so zu dem Dienst gehöret, wohl und akkurat zu informieren, und zwar nicht nur allein von dem großen Dienste, sondern auch von dem ganzen Detail; zu sagen, daß er wisse, wie die Schuhe der Musketiere sein sollen; wie lange ein Soldat solche tragen kann; desgleichen von allen anderen Kleinigkeiten, so zu den Soldaten gehören, und so ferner bis zu den hundertpfündigen Kanonen, auch endlich bis zu dem großen Dienst und bis zu des Generalissimi Dispositiones.«

Friedrich erhielt das neue Reglement gleichzeitig mit seiner Ernennung zum Generalmajor. So deutlich wollte der Vater bekunden, daß der Befehl, sich um die Kleinigkeiten zu bekümmern, fern von jeder Herabsetzung war.

Der Auskultator von Küstrin, Friedrich von Hohenzollern, war seinem König und Vater noch in dem Stempel, begegnet, der jedem Sack voll Gerstensaat bei den Kähnen am Oderufer aufgedrückt wurde.

Der Generalmajor Friedrich von Hohenzollern sah seinen König und Vater noch in jedem blankgeputzten Knopf am blauen Rock des letzten Grenadiers. Er kam von einem Lagerrundgang mit dem Vater in das Zelt zurück; überwältigt warf er einige Zeilen auf ein Briefpapier, das offen auf seinem Tische lag; denn er hatte zuvor einen Brief an den gefeierten und verfemten Dichterphilosophen des Feindes begonnen, Voltaire, den er vom Lager aus zu sehen begehrte: Voltaire – und französische Truppen.

»Wie Gott nach Spinoza in der Natur, so ist mein Vater im Heer und Staat. Alles was er tut, geschieht im Hinblick auf das Gesamtbild seiner Politik, er strebt nach höchster Vervollkommung der Teile, um das Ganze zu vervollkommnen.« So schrieb der Prinz aus dem Lager über die Grenze, alle seine diplomatischen Korrespondenzen von einst beiseite fegend! Er griff mit kühner Lust den Vorwurf auf, der preußische Soldat sei zur Maschine gemacht.

»Ja, zur Maschine«, wiederholte Friedrich, »aber zur Maschine aus Gründen der Physik, der Poetik und der Philosophie und vor allem – der Taktik!«

Es war noch keine Schlacht in diesem Kriege gewesen; aber der Kurfürst von Brandenburg hatte seinen schwersten, größten Sieg errungen: einen Sieg für ›Den König von Preußen‹!

Es war auch hüben und drüben noch gar kein Gefangener gemacht. Aber dem Soldatenkönig liefen Deserteure aus den fremden Heeren zu! Er, er hatte keine Deserteure mehr – die fremden Söldner drängten zu seinen Regimentern! Sie wußten über den Grenzen, daß bei den Preußen das Spießrutenlaufen um seiner Seltenheit willen ein Schauspiel geworden war!

Einen von den Überläufern brachten sie vor ihn. Zwei hatten ihn wiedererkannt. Der war einmal ein preußischer Untertan gewesen, mächtig belacht und gerühmt in Berlin: ein großer Spaßmacher, der eine lustige, bunte Schenke führte, ehe vom König von Preußen her die große Schwermut auch über sein Leben sank. – Sie riefen ihn gleich bei seinem alten Namen: Polterhansen! Polterhansen!

Still und ernst stand Bleuset vor dem König. Der brauchte nicht erst nachzudenken.

»Sein Bruder war aus Potsdam desertiert. Er mußte durch die Gasse«, sagte der Soldaten-König, der sich jeden Mannes aus seinem Leibregiment entsann. Er sah den Polterhansen mit dem gleichen Ernste an, mit dem Bleuset ihn anblickte. »Und nun desertiert Er in mein Lager?«

»Ich habe in fremden Heeren gedient, seit ich damals außer Landes ging«, sagte Bleuset und hielt dem schweren Blick des Preußenkönigs stand. Hinter fremdem Kriegsvolk, das ihn umringte, lugten zwei verkommene Marketenderinnen, Kuppelweiber und Branntweinschenkerinnen hervor, die es nicht mehr lockte, im Berlin des roi Sergeant eine Schenke zu führen: die Dicke Schneider, die einst in Mannskleidern Huren einfing, und ihre Schwester, die Krätzemutter und Engelmacherin.

»Paßt nur auf«, flüsterten sie höhnisch und neidisch, »der Polterhansen, dessen Bruder durch die Gasse mußte und nicht: mehr lebendig herausfand, wird nun ein Mustergrenadier werden und wie der Unteroffizier Pflug die Gerechtigkeit für eine Schenke erhalten. Wer wettet mit, daß es die eigene alte Schenke ist?!«

 

»Nun ist der Exerzierteufel auch in die Kaiserlichen gefahren«, sagte der Sohn des Brandenburgers. Denn der greise Prinz Eugen ließ noch viel ärger exerzieren als die Brandenburger. Oft war er selbst drei Stunden lang zugegen, und die Kaiserlichen fluchten grausam auf die Brandenburger, die ihnen das eingebrockt hatten. Prinz Eugen lernte vom roi sergeant! Er begann auch dessen Doktrinen als die letzte Weisheit seiner eigenen, schwer erworbenen politischen Erfahrungen zu verkünden: »Ein wohlausgerüstetes Heer von zweihunderttausend Mann ist die beste und einzige Bürgschaft des Friedens.«

Der Kronprinz von Preußen, der hier nur der Kurprinz von Brandenburg sein durfte, war wie berauscht: er weilte als der Erbe des bewundertsten Heeres unter den ältesten Fürsten und größten Marschällen des Reiches! Von den Regimentern des Vaters ging eine wandelnde Kraft aus! Ihm, der immer nur in weiten Reichen leben konnte, hatte sich ein neues Gefilde aufgetan: das Schlachtfeld. Auf dem Potsdamer und Ruppiner Exerzierplatz hatte er, was Heer ist, noch nicht zu erfassen vermocht. Aber im Lager der Reichsarmee, hier, wo das Staatsheer, der Heeresstaat des Vaters die strahlende Aura, der tragende Grund, der starke Kern der wirren, fremden Söldnerhaufen war – hier begriff er das Heer, die Schlachtordnung, die Stärke, die Zucht, die Macht! Nun vernahm der Flötenspieler die Musik der Trommeln, nach der die Krieger seines Vaters ihren Dienst verrichteten ohne ein Wort des Befehls! Alle Wimpel und Fahnen des Lagers wehten ihm Zukunft zu. Alle Bajonette der funkelnden Gewehrpyramiden, wie sie eben nur die Brandenburger stellen konnten, blitzten ihm vom Wetterleuchten des Kommenden.

Er hatte zu viel ohnmächtige, heimliche Briefe geschrieben und zu viel leere, trügerische Antwortschreiben erhalten, als daß er nun nicht wissen mußte, was die Waffen in der Sprache der Fürsten und Völker bedeuteten.

»Tribunale für Könige gibt es nun einmal noch nicht. Deren Streitigkeiten sind nur durch die Waffen zu entscheiden. Souveräne plädieren, die Waffen in der Hand, bis der Gegner gezwungen ist, der Gerechtigkeit ihrer Sache freien Lauf zu lassen. Ein Krieg zum Beispiel, der zur Behauptung verkannter Rechte geführt wird, ist ebenso gerecht wie ein Verteidigungskrieg«, meditierte der so kriegerisch gewordene »Frédéric le pfilosophe« von einst in dem Lagerzelt des neuerdings so gelehrten roi sergeant.

Der Prinz, zu hart, zu belastet erzogen unter dem Angesicht ›Des Königs von Preußen‹, niemals ein Knabe und ein junger Herr aus großem Hause, sondern Gefangener, Amtsschreiber, degradierter Deserteur, wurde sich zum ersten Male der Macht bewußt, die ihm vom Vater bereitet war! Eine tiefe Veränderung ging in ihm vor. Er scherte sich nicht mehr um die jungen Herren mit den ältesten, glanzvollsten Namen. In der kaiserlichen Armee prägte sich ihm als einziger ein simpler Freiherr von Riedesel ein, weil er allein sein Regiment in Ordnung hatte. Die ernsten, schweigsamen Offiziere seines Vaters begann er mit anderen Augen zu sehen.

»Ein stiller Offizier ist nicht dumm«, sagte der gesellige Hohenzollernprinz neuerdings. Er strebte durch »militärische strapats Heroisch zu werden«; ja, er erklärte, wenn er von den Kriegsplänen der Zeit höre, so schlage ihm das Herz wie einem Schauspieler, welcher begierig ist, daß die Reihe an ihn kommt, seine Rolle zu spielen. Briefe von solcher Art schrieb er jetzt hinter dem Rücken des Vaters.

Auf dem Rückweg von einer Rekognoszierung, im Holze bei Philippsburg, hörte er zum erstenmal Kugeln um sich sausen – die wenigen dieses Krieges. Nahe bei seinem Wege zertrümmerten sie Bäume. Seine Begleiter bemerkten, daß ihm die Hand, die das Pferd führte, darum nicht einen Augenblick unsicher wurde.

Die Bewunderung des großen Prinzen Eugen, jene stumme Bewunderung, die aus der Nachahmung überlaut redete, hatte die Wandlung in Friedrich wachgerufen. Die Kaiserlichen staunten ob der Vierzehntausend seines Vaters. Er würde aber einmal der Herr der Fünfundachtzigtausend, ja, wenn das Heer in solchem Mäße weiterwuchs, der Hunderttausend sein! Es ergriff, es durchglühte ihn, wenn er, der Jüngste hier, als der Erbe dieser Macht mit dem Prinzen Eugen an einer Tafel saß. Der war nicht mehr der edle Ritter. Der war nicht mehr der jähe Sieger. Welk, vornübergeneigt, matten Auges, den Blick sehr fern, sehr müde, sehr abgewandt, weilte der greise Diener des Kaiserhauses unter den Fürsten und Fürstensöhnen des Reiches und entsann sich nicht der Väter und Söhne, weil er schon an der Spitze ihrer Ahnen kämpfte. Es schien, als wäre er der uralte Barde des Sieges und nicht mehr der Sieger.

Die Schlachten der Zukunft, hämmerte dem jungen Hohenzollern jeder Schlag des Herzens ein, muß Brandenburg schlagen!

Der Vater, als er ihn in diesen Tagen bei den Truppen traf, küßte ihn. angesichts der Kohorten und sprach im Lager des Reichsheeres die Worte, vor denen Friedrich erbebte: »In dir steckt ein Großer Kurfürst!« Dann wandte er sich zum Dessauer: »Dort steht einer, der mich rächen wird.«

Denn er, der die Menschen immer nur Blick in Blick zu begreifen vermochte, hatte gefühlt: der Sohn sah ihn an mit einem Feuer in den Augen, wie er es noch niemals wahrgenommen hatte, auch nicht im hellsten Blicke seiner besten Offiziere.

In jener Sprache, die in den Linien der Bataillone aufgeschrieben wird, hatte der Sohn den Vater verstanden, so wie ihm kürzlich erst die schweren, reifen Felder des Ostlandes das Lob des Vaters zurauschten, nicht minder brausend als die silberschimmernden Reihen römischer Kohorten! Denn die Überfülle des Kornes aus dem einstigen Notland ging nach Holland und Frankreich, und die Ernten waren so groß gewesen, daß große Kanalbauten abgebrochen werden mußten, weil es an Arbeitern in der Ernte fehlte! Nun hatte der Vater dem Sohne das »Retablissement im vollsten Flor« zeigen dürfen und ihn mit den Gestüten der Götterpferde beschenkt! Das Land hatte zu seinem künftigen König gesprochen, das Land, von dem er einst nicht wußte, »ob es zum Denken geeignet sei«. Und nur sehr zum Scheine schrieb er den Freunden, daß er die Pferde in Bücher seiner Bibliothek verwandeln werde. Auf dieser Reise aber hatte der König viele neue Dörfer nach den Namen seiner Begleiter getauft. –

 

Der Kriegsrat tagte und vertagte. Es wurde belächelt, daß der Kurfürst von Brandenburg noch jeden Tag getreulich und pünktlich zu dem Scheinkonsilium sich einfand und daß er, der doch in seinem Lande als der unnachsichtigste Lehrmeister galt, hier der unersättlichste Schüler war. Gerade mit Rücksicht auf Preußen unternahmen doch die Franzosen weder am mittleren noch am niederen Rhein etwas Ernstliches; sie griffen weder Köln noch Mainz noch Koblenz an! Lediglich Philippsburg kapitulierte. Die Franzosen hatten ein bißchen gesiegt. Man beließ ihnen das Air. Das Geschäftliche wurde ja längst durch die Beauftragten an den Höfen hier und dort geregelt. Die Diplomaten bemaßen ja längst die Dauer des Krieges und vereinbarten die Art, in der er weiter geführt werden sollte. Es schien, als dürfe er nun nicht mehr über Demonstrationen hinausgehen, als sei er, trotz der Marschälle des Sonnenkönigs, nur ein Marionettenspiel der Kabinette mit vielen hochtönenden Manifesten, den Zeichen eines sinkenden Zeitalters. So geschah nicht mehr viel. Pro forma führte man noch das Lagerleben am Rhein. Nach dem Fall von Philippsburg mußte man der Deutschen Nation ganz unbedingt noch das Schauspiel einer ehernen Wacht vermitteln. Aber der Rheinkrieg war ein Krieg ohne Leben und Tod. Die Offiziere der feindlichen Lager machten sich gegenseitig Visiten. Das französische Lager, das auch der junge Brandenburger einmal besuchte, war höfisch elegant; gegenwärtig waren Schuhe mit roten Absätzen Mode. Es war ein Krieg auf der Bühne, ein Schattenspiel, das Spiegelbild eines Feldzuges.

Es geschah überhaupt nichts mehr. Nur im Lager des Reichsheeres ereignete sich noch ein Zwischenfall: der Kurfürst von Brandenburg brach zusammen.

Er hatte, seit es hieß »Krieg über Deutschland!«, in tausend Bildern das ganze Grauen des Generalkrieges durchlebt, den er seit zwanzig Jahren kommen fühlte. Er sah aber nur eine deutsche Festung im Schauspiel kapitulieren und Fürsten komödienhaft Heerlager halten – indes die ungeheure, aufgestaute Spannung Reich und Erdteil weiter bedrohte! Wie sollte sich der Aufruhr seines Herzens beschwichtigen, wie das Übermaß seiner Unruhe Befreiung finden! Er war als kranker Mann ins Zeltlager gekommen, in offener Kalesche, den Apothekenwagen als Geleit. Er hatte bei den Truppen kampiert und nicht auf den Schlössern der Umgebung Hof halten wollen. Nun beschlossen sie, ihn ins Clevische, nach Schloß Moyland, dem Landsitz des holländischen Gesandten in Preußen, zu schaffen. Erst hieß es, es wäre eine ungewöhnlich heftige Magenkolik. Dann wurde es eine Geschwulst in den Armen, den Beinen, den Lippen. Die Beine schwollen bis übers Knie, der Leib war hochrot. Der König glaubte nicht mehr lebend von Moyland nach Potsdam zukommen. Kläglich schafften sie ihn von dem Schauplatz des habsburgisch-bourbonischen Kriegstheaters weg, weil es bei dem unglückseligen Temperament des Herrn unmöglich war, ihn so nahe bei dem Lager zu lassen. Als die Kutschen bestellt werden sollten, gab der König den Auftrag, ihm drüben im geliebten Holland seinen Sarg zu besorgen, einen Sarg von schönem, schwarzgrauem karrarischen Marmor. Den sollten sie von Amsterdam nach Potsdam bringen nebst einem zweiten für die Königin. Der Sarg sollte gleich nach ihm dort sein. Allein, mit seinem Sarge, kehrte der König aus dem Kriege heim. Aber als einziger hatte er in dem Kriege ohne Schlacht einen großen, schweren Sieg errungen: Friedrich, der des Königs Rock einst seinen Sterbekittel nannte, war ein Soldat, sein feurigster Soldat! Als einziger hatte auch der Kurfürst von Brandenburg – kampflos – Gefangene gemacht: seine Regimenter kehrten größer heim, als sie in den Krieg gezogen waren; so viele Söldner fremder Heere waren zu ihm desertiert.

 

Der Sohn blieb weiter bei den Truppen, bei den Fürsten. Der Dessauer benützte die kampflosen Tage, mit Friedrich sechzehn Pläne für die Belagerung und Entsetzung von Festungen auszuarbeiten. Die gedachten sie dem kranken König aus dem Theaterkriege mitzubringen: Entwürfe voller Wirklichkeit und Zukunft.

Der alte Kriegsmechanikus war wahrhaftig zum Doktor Leopoldus geworden, der Rheinkrieg nur noch zur Schule für Friedrich.

Der Kronprinz, so fremd die Art des Fürsten ihm war, mied dennoch all die großen, glänzenden Herren und wurde des Doktor Leopoldus gelehriger Schüler. Auch sah er, wie der Fürst um seinetwillen der eigenen herrlichen Söhne vergaß; und er entsann sich, vernommen zu haben, wie dieser beste aller Väter einmal Fürsprecher bei seinem Vater für ihn war.

Der Alte Schnurrbart, Stiefelettenfürst und Bullenbeißer lehrte den Sohn des roi sergeant die Kriegswissenschaft nach den militärischen Tagesbefehlen des Vaters. Besseres wußte er seinem Unterricht nicht zugrunde zu legen: die Strategie und Taktik der Zukunft war darin enthalten, die Weisheit vom marschbereiten und schlagfertigen Heer eines Landes mit offenen Grenzen.

Hatten auch den Doktor Leopoldus die Gedanken überwältigt? Was war es nur? Er lehrte, statt Schlachten zu schlagen; er, dem die preußische Armee sein wahres Volk war; er, der grausam Strenge, Rauhe, Herrische, Gewaltsame entwarf in Skizzen und Tagesbefehlen eine Feldherrnfibel? Er lehrte aber nicht nur den künftigen König von Preußen den Krieg; er befahl auch vom Feldlager aus in erneuter Aufwallung seiner ungeheuren Lust am Briefeschreiben den Bau einer Kirche zu Wadendorf. Er gedachte seines toten Sohnes und der lebenden und nannte jenes neue Gotteshaus »Fünfbrüderkirche«; und hatte doch vordem sogar die Kirchenchöre nur nach der Weise und dem Takt des Dessauer Marsches gesungen. Am meisten und vor allem aber war die Fünfbrüderkirche ein Geschenk an den todkranken König und Freund.

Als Friedrich von der Heimfahrt seines Vaters mit dem Sarge hörte, faßte ihn ein seltsames Entsetzen. Sollte dies sein Leben sein? Wusterhausen? Küstrin? Der Thron ›Des Königs von Preußen‹?! Und das, nachdem das Wort des Vaters fiel: »In dir steckt ein Großer Kurfürst« und »Dort steht einer, der mich rächen wird –«?!

War in dem Schattenkriege nun doch eine Entscheidung für eine weite Zukunft gefallen? Hatte ein Königssohn die Macht ergriffen, die ihm vom Vater bereitet war?

Der König kam mit seinem Sarge heim. Er schickte sich zum Sterben an. Zweifache Todesbotschaft erwartete ihn. Die Königin von England, die Ansbacher Brandenburgerin, war gestorben. Ihre zehn Kinder waren bei ihr gewesen, aber dennoch starb sie sehr einsam. Müde sah sie ihre Kinder in den letzten Augenblicken an. Der Prinz von Wales war zu schwach und gering, die anderen Söhne und Töchter waren zu unbelastet und zu jung, um zu begreifen, welcher Kampf für die Krone hier zu Ende ging. Das Herz der Königin war lange schon tot. Sie, die sich einem starken Willen nicht zu beugen vermochte, ging daran zugrunde, ihr Frauen- und Königinnenleben darüber verrinnen zu sehen, einen Mann und König glauben zu machen, daß sie und alle sich ihm fügten, während sie ihn leitete.

Der zweite Bote kam vom Ansbacher Hofe. Der kleine Erbprinz war gestorben. Der König verbat sich jegliche Schonung. Er mußte alles wissen. Seine rauhe Ike, vom Gram bis zur Unkenntlichkeit entstellt, litt an Beängstigungen, die manchem den Gedanken an beginnende Geistesumnachtung nahelegten. Der Ansbacher Markgraf, das Knabengesicht, verhetzt durch Seckendorffs Neffen, der die ganze Politik des kleinen Hofes unheilvoll beeinflußte, gab seiner haltlos gewordenen jungen Frau die Schuld am Tode des Sohnes. Er wollte sie nicht mehr sehen und sprechen. Der Hof wurde von ihr ferngehalten. Niedrige Bediente beauftragte er, ihr Beleidigungen zu sagen. Vor Schmerz ließ er gar die Falken und Pferde im Stich und ging aufs Land, sich in den Armen seiner Mätresse über den Tod seines Sohnes zu trösten.

König Friedrich Wilhelm bedachte, wie er einst den Ansbacher Enkel mit der Baireuther Enkelin vermählen zu können hoffte. Aber er sprach jetzt gar nicht mehr von seiner unglücklichen Ike und ihrem toten Kinde. Er sagte nur: »Man ist schon sehr alt – es muß einer nach dem anderen abtappen. Und wenn ich meinen Schlaf nicht wiederbekomme, so werde ich auch gar bald im Reich der Toten spazieren.«

Er war sechsundvierzig Jahre alt.

Das Gottesgericht, das er auch in den Ehen seiner Töchter über sich verhängt sah, raubte ihm den Schlaf, so daß er sterbensmüde wurde. Gottes Wille war nicht zu erkennen. Wie sollten Könige herrschen.

 

In seinen Worten von dem Reich der Toten hatte aber eine große Sehnsucht nach dem Tode mitgeschwungen. Heimgekehrt mit dem Sarge, begann er allstündlich unter dem Angesichte des Todes zu leben. Unablässig blickte nun der Tod auf ihn herab – über die Schulter ›Des Königs von Preußen‹ hinweg. ›Der König von Preußen‹ sah ihn sehr hart an; der Tod blickte milde, als sei er ihm ein Helfer gegen jenen. Es war, als müßte im Anblick des Todes das Leben leichter zu werden beginnen.

»Ich bin bereit, die Welt zu quittieren«, sprach der Herr. »Ein Schiff fährt geschwinder, das andere langsamer; sie kommen doch nach einem Hafen.«

Aber noch erhob sich nicht der milde Wind, der Tod; noch füllte sein linder, starker Atem nicht die Segel, die zu frühe aufgesetzt waren. Und tiefe Nebel hüllten Gottes stillen Hafen noch in weite Fernen ein.

Wie in einer Ungeduld hatte der König nun zum Sarge auch die Gruft bestellt. Nun wollte er doch nicht, wie er auf Schloß Moyland verlangte, in der Erde vergraben sein, so tief als es nur möglich sei und wo immer auch der Tod ihn ereile. Nun begehrte er in der Soldatenkirche zu ruhen, unter der Kanzel. Das Gestein zu der Gruft befahl er unter dem Marmor auszusuchen, der unter König Friedrich zu dem Bau eines Portales aus Italien herbeigeschafft worden war und bis heute noch in tiefen Gruben am Berliner Schlosse aufbewahrt wurde.

Nun werden sie meine Gruft zu mauern beginnen, dachte der Herr, manchmal werde ich zu meinem Trost in meinem Totenreich spazieren können – wenn mich die Füße noch einmal tragen. Der Gedanke an die Gruft war nur ein Trost. Aber das Schloß war ihm sehr kalt und leer geworden. Einige Zimmer waren von Bedienten bewohnt, im Halbstock hauste die Wache – der ganze Mittelflügel jedoch und die Flucht der Familienzimmer in den Seitentrakten lagen verlassen und vom Spätnachmittag an in tiefem Dunkel. Nur im Treppenhaus beleuchteten vier hölzerne Laternen die Stufen zu den Zimmern des Königs, und im Flur von seinen drei Stuben schwelte eine achteckige Laterne von Blech und Glas. Der Wind zog schneidend von der Havel und vom Exerzierplatz her.

Wenn die Dämmerung anbrach und der Herr die Sekretäre entließ – denn mit seinem Königswerke hatte er nur an dem einen Tage ausgesetzt, an dem er seine Gruft bestellte –, begehrte er wieder zu malen. Die Ärzte atmeten auf. Denn er hatte wieder in einem Maße gearbeitet, daß sie schon verzweifelten. Nun er wieder malte, ließ sich mit ihm um feste, um begrenzte Stunden kämpfen.

Aber er schien sich sehr damit zu quälen, es müsse etwas versäumt sein: wie ließe Gott ihn sonst in solchen Qualen weiterleben! Durfte denn aber, fragte er sich immer wieder bange, ein König Gott noch anders leben, Gott anders loben als bauend, ordnend, mehrend, gründend?!

Die Müdigkeit für die Nacht aufzuspeichern und solchem Grübeln in den längsten, dunkelsten Stunden zu entrinnen, malte der Herr zu Abend sehr lange. Fast jeden Tag stand nun ein neues Bild zum Trocknen in dem Gang vor seinen Zimmern. Meist war es nichts Eigenes, meist nur eine Kopie, für die er sich die Umrisse gar noch vom subtilen Akademiedirektor Weidemann oder auch nur von seinem biederen Meister Hänßgen zeichnen ließ. Er wollte sich ja nur wachhalten. –

Aber plötzlich schien es, daß er all des Kopierens nur als Übung bedurfte, um desto sicherer und kundiger Eigenes malen zu können: nicht mehr nur Gehöfte und Bauern, Gesinde und Soldaten. Er malte die Eitelkeit und die Weisheit: eine junge Frau im Federhut vor dem Spiegel; einen Greis, über den Globus geneigt, und über der Weltkugel ragte das Kreuz. Auch schien er den Akademiedirektor Weidemann gar nicht nur zum Skizzieren nach Potsdam bestellt zu haben. Vielmehr gab er ihm den Auftrag, ihm für eines seiner Zimmer von tüchtigen Meistern die Porträts aller seiner verstorbenen Generale malen zu lassen. Dieses Zimmer nannte er die Totenkammer. Auch befahl er allen seinen Generalen, die Bilder aller toten Offiziere ihrer Regimenter zu bestellen, als sollte der Anblick eines anderen Heeres ihn umgeben, das jenseits aller Erdenkämpfe war.

Die neuen Gemälde von des Königs Hand draußen im weißgescheuerten, sandbestreuten Gang wurden belächelt wie stets – bis einer las, was seit jüngstem in jedem Gemälde als Signum eingetragen war: Friedrich Wilhelm in tormentis pinxit.

In Qualen gemalt. –

Nun redeten die Ärzte ihm gütlich zu. Er dürfe sich nicht mehr so mit seiner Arbeit mühen, nicht einmal mit dem Malen.

Der König ließ den Pinsel sinken, blickte aber weiter prüfend auf sein neues Bild, während er antwortete: »Könige müssen mehr leiden können als andere Menschen.«

 

Weil er sie immer wieder danach fragte, wann er wohl aufstehen dürfe, hatten die Ärzte den Herrn allmählich darauf vorbereitet, er werde gelegentlich nicht mehr wie früher gehen können.

»Auch mit zwei Krücken nicht?«

Auch mit zwei Krücken nicht.

Der Herr verstand sehr gut. Der Rollstuhl interessierte ihn sogar lebhaft. Er wollte etwas ganz Neues: ein habiles Ding, das er möglichst selbst bedienen könne. Er wollte imstande sein, sich selber fortzubewegen, ohne auf Hilfe angewiesen zu sein – soweit ihm die gichtigen Hände zur Bedienung der Hebel nicht versagten. – So wurde zum Arzt auch noch der Mechanikus bestellt. Der Herr beschrieb ihm seinen Plan. Es würde gehen, meinten der Arzt und der Mechanikus.

Der König dachte sofort wieder weiter. Zum Rollstuhl mußte er nun auch noch eine neue Treppe haben, ohne Stufen, eine Rollbahn, die von seinen Zimmern in den Schloßhof führte. Schon am Nachmittag mußten die Maurer beginnen. Es lenkte den Kranken ab, daß er ihrem Hämmern zuhören konnte; etwas Neues entstand – auch wenn es traurig für ihn war. Es regte ihn sogar dazu an, sich wieder einmal sein altes Drechslerhandwerkszeug vom Zaren bringen zu lassen. Das hielt ihn noch besser wach als malen; das verlangte auch nicht solch feine Hand; die Rechte machte ihm schon viel Beschwer. Nun fertigte er kleine Kästchen aus leichtem, hübschem Holze an. Er hämmerte mit denen draußen um die Wette.

Er ließ sich sagen, der Putz des neuen Treppenhauses trockne nur schlecht. Es war zu bitterkalt. Da begann ihn das Geschrei der Adler in ihrem offenen Zwinger zu beunruhigen. Er ließ sie in den Gang vor seinen Zimmern schaffen. Nun strichen die Adler tief über dem Boden hin und rollten ihre Kugeln an den Ketten gangauf, gangab, gangauf. Wenn sie still geworden waren, wußte der Kranke in seiner Kammer: Nun ist Nacht. Ich kann es wagen, einzuschlafen. Denn die Adler rollten ihre Kugeln, bis die letzte Kerze im Treppenhaus verlöschte.

Aber bevor sie wieder ihre Flügel spreizten, die Köpfe hoben zum krächzenden Ruf und an ihren Ketten zerrten, lag König Friedrich Wilhelm schon lange wieder wach. Es wollte nichts mehr werden mit dem Schlaf. Da mußte oft der letzte seiner Lustigen Räte, den er beibehalten hatte, Graben vom Stein, der Herr Astralikus, gerufen werden, des Königs »Umgestürzte Bibliothek«, einer, in dessen Kopf nur alles Denkbare war – doch denkbar ungeordnet. Der Herr Astralikus mußte ihm über die Dämmerung hinweghelfen mit all seinen Mären von Gespenstern, Kobolden, Bergmännlein und Nachtmahren, Drachenkindern, Irrwischen und Werwölfen, von denen es ihm in den Seen, Pfuhlen, Morasten und Heiden der Mark Brandenburg geisterte. Jedes von den Untieren, das er lebendig oder tot liefern würde, dem Unglauben der aufgeklärten Preußen zu begegnen, sollte ihm von dem König mit sechs Talern bezahlt werden.

Aber der Herr Astralikus war mundfaul geworden, seit im Potsdamer Schlosse die Professoren mit ihren platonischen Gesprächen die Quälerei und Zecherei der Narren abgelöst hatten. Ungnädig, zur halben Nacht geweckt worden zu sein, schlief er in seinem Lehnstuhl an des Königs Bette immer wieder ein; er hatte ja auch noch immer statt Gundlings nun die Verfügung über die Weine des königlichen Kellers.

Der Herr, ihn wachzuhalten mit all seinem wunderlichen Spuk, griff zu der Peitsche, die für seine Hunde auf einem Schemel nahe an seinem Bette lag. Aber in jener Geste, mit der nun der kranke König um die Dämmerung die Peitsche gegen den Sterndeuter und Geisterseher hob, lag selbst etwas Gespenstisches, Unheimliches, Beschwörendes!

Was ließ den Herrn im Morgengrauen von seinem schlummerlosen Bette her so grausam drohen? Wußte er etwa, daß Herr Astralikus, einst Feldprediger in Seckendorffs Regiment, der hämische, heimliche Spion des kaiserlichen Generals in der Tabaksrunde gewesen war? Ins fünfzehnte Jahr erzählte der Herr Astralikus dem König von der Geisterwelt seiner Mark Brandenburg, und manchmal blitzte der heitere Funke Verstandes noch einmal auf, der einst in den schwülstigen, skurrilen und burlesken Reden des ehemaligen Feldpredigers so seltsam zu bestricken vermochte. Aber diese Nacht flüsterte der Herr ihm ernsthafte Dinge zu. Ob es denn gar keine Wege gäbe, Seckendorff zu helfen? Alles Elend der einst groß Gewesenen war dem König völlig unerträglich: auch wenn ihr Sturz fast nur wie eine Sühne war für das, was sie ihm selber angetan hatten. Seckendorffs Unglück war furchtbar. Sechs Monate Ablaß waren jedem verheißen, der zum Tode des ketzerischen Generals und protestantischen Geheimdiplomaten half. Und nach seinem entsetzlichen, unabwendbaren Mißerfolg im Türkenkriege stürmte der Pöbel das Haus, in dem man Seckendorff gefangenhielt, mit den Rufen: »Die Heilige Jungfrau kommandiert selbst unsere Armee und gibt die Parole aus: Seckendorff muß sterben!«

Leben um Leben, das ihn begleitete, sah der Herr nun um sich erlöschen: und ihn ließ Gott in Qualen weiterleben! Was wollte Gott mit jedem neuen Tage?

Am Tage aß der Schlummerlose heißhungrig und gierig vor Erschöpfung. In der Kammer der Jägerburschen sagten sie: »Er ißt und trinkt wie vier. In vierzehn Tagen wird er wieder reiten.«

Dies war zwar nicht der Fall. Doch machte er sich noch einmal vom Rollstuhl frei und schlich auf Krücken umher. Als Grognonne, die blinde Bärin, droben wieder seine Stimme hörte, trat sie mit der Wache ins Gewehr, als vermöchte sie dem Herrn damit eine Freude zu bereiten, und tat es von diesem Morgen an täglich.

Nun, wo er sich vom Bett durch den Gang bis zum Saal zu schleppen vermochte, fand der König, er könne wohl mit dem Exerzieren wieder beginnen. Über die Ratlosigkeit der Ärzte und Offiziere ging er hinweg. Aber das gestand er ihnen zu, er wolle es ja gar nicht übertreiben; er werde sich auch nicht dem Ostwind auf dem Exerzierplatz aussetzen. Es brauche ja auch nicht das ganze Regiment zu sein. –

Eine Abteilung der Leibgarde wurde in den Großen Saal kommandiert. So wollte es der König-Obrist. Es war wie eine heimliche Trauerparade für den Prinzen Eugen. Diesen Tag war die Kunde vom Tode des heldischen Zwerges, des heimlichen Kaisers eingetroffen. Der Schattenkrieg am Rhein war sein letzter Feldzug gewesen: der Schattenkrieg, in dem er nur die Silberhelme der Brandenburger, umweht von Zukunft, leuchten sah als Wirklichkeit. Der König hatte alle Sessel aus dem Saal entfernen lassen. Aber die Spiegel, fest in den Konsolen und Wandpfeilern eingelassen, mußten bleiben. Und dies war schön: die Spiegel vervielfachten die exerzierenden Grenadiere; in strahlenden Reihen marschierten sie aufeinander zu, die Göttersöhne und die Spiegelbilder im bleichen, silbernen Helm.

Der Herr, auf seine Krücken gestützt, ja, fast in ihnen hängend, stand in der Flügeltür. Den Armstuhl, den man ihm hinschob, ließ er unbeachtet. Er war im Dienst. Aber dann war es doch, als schaue er mehr zu, als daß er das Exerzitium leitete. Eine einzige Trommel wirbelte die stummen Befehle durch den Saal. Der Hauch der Männer war wie eine Wolke um ihre Häupter. Die kalten Spiegel wurden vom warmen, lebendigen Atem beschlagen, wurden blind, und die hundertfachen Bilder erloschen. Da winkte der Herr dem Trommler ab. Es sei genug für heute. Aber während er sich durch den lichten, kalten Gang zurückschleppte, horchte er noch den Schritten der Göttersöhne nach, die durch die Säle und das Treppenhaus dröhnten. Die hundertfachen Spiegelbilder sah er lautlos hinter ihnen ziehen, die Eisgruft der Säle mit Schemen erfüllend. Überall war ihm das Bild des Todes.

 

Er redete weder mit den Offizieren noch mit den Ärzten darüber. Er wiederholte einfach solches Exerzitium nicht mehr. Es war zu viel gewesen, mehr noch für die wunde Seele als den siechen Leib. Was dem Leibe Erlösung war, wurde im Gedanken an das Werk harte Erfahrung der Vergänglichkeit, Entbehrlichkeit und Vergeblichkeit. Er gedachte sein neues Exerzitium nicht mehr aufzunehmen.

»Die Laune des Herrn«, so sagte man, »ist rasch verflogen.«

Niemals vermochten sie die Fülle und Tiefe der Bilder zu verstehen, die über seinem Haupt hin wehten wie Wolken; Wolken, die um Gottes Füße ziehen. Der König wollte noch zur Jahreswende zurück nach Berlin. Das Regiment bedürfe jetzt seiner nicht so dringend wie das Generaldirektorium. Dies allein gab er als Begründung an. Diesmal – was noch nie der Fall gewesen war – benützte er eine geschlossene Kutsche, und über der Nachtmütze trug er eine Pelzkappe. Aber vor dem Potsdamer Tor erwartete ihn bereits seine gewohnte offene Kalesche, mit einer Matratze belegt und ganz mit weißen Bärenfellen ausgeschlagen, darin er sich vor den Menschen möglichst verbarg. Als er sich nun in den inneren Schloßhof fahren ließ, damit kein Auflauf entstünde, hatte er eine seltsame Begegnung.

Sie konnten einen Geisteskranken nicht von dem König fernhalten. Der war ein Kandidat der Theologie, den die Berliner schon gut kannten. Er litt an der in Anfällen immer wiederkehrenden Wahnvorstellung, er wäre der König von Preußen; war der Anfall vorüber, so schien er der vernünftigste Mensch von der Welt.

Nun, als er sich gerade wieder in seinem Irrwahn befand, drängte er sich an den Wagen des Königs, und der Herr befahl, ihn reden zu lassen. Der Verrückte erklärte ihm kurzweg, der Herr habe nun lange genug den Thron innegehabt, der ihm nicht zukomme; und es sei an der Zeit, daß er vor dem rechtmäßigen Inhaber zurücktrete.

Ruhig fragte der König: »An wen soll ich denn den Thron abtreten?«

Und der Irre sprach: »Schöne Frage! An mich!«

»Wer ist Er denn?« Der König neigte sich sehr nahe zu dem wirren, schönen jungen Menschen.

»Ich bin der König von Preußen«, sagte der.

Der Herr blieb im Gespräch mit ihm.

»Das ist sonderbar. Er glaubt, Er sei der König von Preußen; und ich glaube es auch zu sein. Weiß Er, was geschehen wird? Einer von uns beiden muß ins Narrenhaus!«

In diesem Augenblick geschah das Unerwartete, ja Erschreckende, daß der Irre wieder zur Besinnung kam. Er sprach ehrerbietig zum König.

»Ich glaube, ich werde in das Narrenhaus kommen. Und ich weiß, welche Wohltat Eure Majestät dem Lande mit Ihrem Haus für melancholische und rasende Leute erwiesen haben. Und wenn Eure Majestät es befehlen, so werde ich mich auf der Stelle dahin begeben, um Eure Majestät der Mühe zu überheben, mich dahin bringen zu lassen –«

»Daran wird Er sehr wohl tun«, sprach der König leise und traurig dem Unglücklichen nach, der sich auch schon entfernte; und vor sich hin flüsterte der Herr: »Ein König, der abdankt.«

Quälend kam es ihm ein, wie man ihn selbst schon oft für wahnsinnig erklärte. Er wollte den Vorfall heiter abtun. Aber es gelang ihm nicht. Ein Schauer überlief ihn: er hatte ein Gespräch geführt mit seinem Schatten, seinem Spiegelbilde und Widerspiel, das ihn jahrelang begleitet hatte und seinen Thron von ihm forderte, ohne daß er bisher darum wußte. Die Welt war nicht mehr wirklich.

Nachdem er die Seinen begrüßte, blieb der Herr den ganzen Abend allein. Wie er es in Potsdam schon seit längerem zu halten pflegte, hatte er sich auch in Berlin gleich eine neue Nachtmütze ins Bettkästchen legen lassen. Die streifte er sich über, sobald er seinen kleinen Muffer abnahm. Denn seine Haare hatten sich zu sehr gelichtet. Das sah ihm zu wirr aus. Das war malpropre. Die weiße Mütze aber war adrett. Er strich die dünnen Haare glatt und fest darunter, ließ sich den Schlafrock anlegen und die Uniform zum Bürsten und Putzen wegtragen. Ewersmann tat allen solchen Dienst – in Potsdam wie in Berlin des Morgens als erster und des Abends als letzter um den König – nur noch im stummen Gespräch mit einer Toten.

Er legte dem Herrn noch die neuen Gazetten aus dem Reich und dem Ausland bereit. Bitter las sie der Herr. Die Beilegung des Polnischen Erbfolgekonfliktes und die Friedenspräliminarien des Rheinkrieges hatte er aus den Zeitungen ersehen müssen. Seit aber auf Grund einer so trefflichen Regelung, daß es statt des alten Rex Poloniae einen neuen König von Neapel gab, die Waffen wieder ruhten, schämte sich der Wiener Hof nicht der kleinlichsten Kränkungen gegenüber dem roi sergeant. Doch waren es Kränkungen, wohlüberlegte, von denen man wußte, daß sie den König schwerer trafen als ein großes, bitteres, offenbares Unrecht. Er allein hatte den Antrag erhoben, Franz von Lothringen als Gemahl der Kaisertochter dereinst zum Römischen König zu erheben; dafür wurde ihm jetzt, als der junge Herzog seine Vermählung mit Maria Theresia vollzog, auch nicht einmal eine einfache Anzeige davon gemacht. Es stand ja in den Zeitungen, und der Preußenkönig war ja ein so eifriger Zeitungsherausgeber geworden! Es würde ihm schon zu Gesichte kommen!

Die Welt ging über ihn hinweg, als wäre er bereits gestorben. Da faltete der Herr die Zeitungen zusammen und legte sie beiseite und griff nach seinen Büchern, die jetzt immer bei ihm lagen. Plötzlich entsann er sich eines frühen Wortes seines Sohnes, das sich ihm so merkwürdig tief eingeprägt hatte und vor dessen schwermutsvollem Sinn er einst erschrocken war: »Man lernt niemals so gut von Menschen als aus Büchern; das unterrichtendste Gespräch ist das mit den Toten, welche nicht aus irgendeiner Rücksicht reden.« –

Hört – Gespräche aus dem Totenreich!

Der König lächelte. Er hatte ja vom Doktor Faßmann, dem Autor der hochberühmten »Gespräche aus dem Totenreich«, kürzlich erst ein neues Werk gesandt bekommen. So hatte es der Doktor nicht vergessen, daß er einmal ausersehen war zu jedem Sold und Titel Gundlings? Damals war er vor dem König geflohen, kaum daß er die Leichenrede für Gundling endete; und im selbstgewählten Exil hatte er als erster geschrieben, wie der tote Gundling vom Totenreiche her ein Gespräch mit ihm führte. Nun aber hatte er in einem neuen Buche – die Taten und Gesetze König Friedrich Wilhelms I. von Preußen aufgezeichnet. Er war vor der Gunst des Königs gewichen und kam von solchem König nicht los!

Den Verkauf dieses Werkes, das ihn sehr lobte, beschloß der Herr zu verbieten. Er wendete sein neues Buch in den gichtigen Händen hin und her. Es ist so wunderlich, dachte der Herr, sehr, sehr wunderlich: der Verfasser der »Gespräche aus dem Totenreich« hat nun mein Leben beschrieben! Es ist, als wäre ich tot – und ich habe doch erst von neuem begonnen, weil eine Versäumnis sein muß! Wie ließe Gott mich sonst in solchen Qualen leben?

Wie hatte doch der Doktor Faßmann gesagt, als er mir zum erstenmal von den »Gesprächen aus dem Totenreich« redete?

»Eine Phantasie, Majestät, eine Satire, eine Utopia im Stile des Lukian«, so hatte der Doktor bramarbasiert, »die Toten unterhalten sich, die Jungen und die Alten, die Hohen und die Geringen. Sie disputieren über das Unvollbrachte und Versäumte. Und ob einer früh gestorben ist oder spät: das Maß des Unvollbrachten und Versäumten ist immer das gleiche, gemessen an dem, was jedem bestimmt war. Da gehen sie alle, endlich voreinander gleich geworden, zur ewigen Ruhe ein.« –

Der Herr schlug das Buch auf, er las von denen, die voreinander gleich, zur Ruhe eingingen. Aber da stand noch etwas, das hatte der Doktor Faßmann ihm damals nicht gesagt:

Einer blieb den anderen allen fern. Einer hatte geschwiegen. Der konnte im Disput nicht mittun. Er hatte gar nichts dergleichen auf Erden erfahren; denn er hatte das Leben genossen. Er wollte sich auch nicht zur ewigen Ruhe legen. Er wollte sich in Ewigkeit erinnern. –

Da las der König nicht mehr weiter. Da grübelte er, das Buch im Schoße, dem Versäumten nach. An Kerzen sparte er nun nicht mehr.


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