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Die Hütte Gottes bei den Menschen

Fromm sein und wahrhaftig sein behütet den König, und sein Thron besteht durch Frömmigkeit.

Die Bibel

Für Dienstag war alles vorbereitet.

Der Tag war dem des Regierungsantritts nicht unähnlich. Der König befand sich allein in seinem Arbeitskabinett. Im Vorsaal warteten zwölf Herren, die höchsten Beamten des Staates; nun befanden sich unter ihnen schon fünf Bürgerliche, die »Kläffer« geschimpft. So war es auch bei der Generalrechenkammer; so verhielt es sich auch beim Kammergericht. Vergeblich waren alle Vorstellungen bei dem König, nur Männer von Stande und anerkanntem Verdienst für seine hohen Posten zu verwenden. König Friedrich Wilhelm hatte immer nur die Antwort: »Das versteht ihr nicht, ich weiß aus Erfahrung, daß Leute von Stand und Verdienst nicht zu den Geschäften taugen. Sie brüsten sich mit ihrem point d'honneur, wenn sie meinen Befehlen nicht gehorchen wollen.«

Mit einem Schriftstück in Händen trat König Friedrich Wilhelm aus seinem Schreibzimmer. Er blieb stehen wie die Herberufenen. Seine Augen schienen übernächtig, aber Haltung, Gesten, Stimme, Sprache wirkten lebhafter denn je.

»Man soll mir künftig nicht mehr zu gefallen suchen auf Kosten des Landes und der Untertanen«, begann der Herr so bedeutsam, als leite er mit dem Worte »künftig« einen neuen Abschnitt seiner Regierungszeit ein. »Hole der Teufel lieber meine zeitliche Wohlfahrt, als daß so viele Leute Bettler werden und ich reich! Wer dem König von Preußen in Zukunft weiter dienen will, soll nicht auf des Königs und des Landes – denn diese sind eins – Kosten Profit machen wollen. Er soll der Ehre und Pflicht seines Amtes dienen. Wenn alle, die da unablässig rivalisieren und mit Schikanen gegeneinander regieren, das Generalfinanzdirektorium, das Generalkriegskommissariat und die Generaldomänenkammer, sich erst einmal den blühenden Zustand des Landes und der Untertanen zum Zweck und Ziel gesetzt haben und auf die Erreichung dieses Zieles alle Sinne und Gedanken richten – dann werden sie alle Hände voll zu tun haben; und wenn sie sich zu amüsieren wünschen, so werden sie es nicht mehr nötig haben, mit Prozessen gegeneinander zu Felde zu ziehen und aus meinem Beutel Advokaten gegen mich zu halten. Aber die Juristen, die armen Teufel, werden bei dieser neuen Verfassung so inutil werden wie das fünfte Rad am Wagen.«

Die Herren von Creutz und Grumbkow blickten sich flüchtig an; auch zuckten sie, nur für einander bemerkbar, ein wenig die Achseln. Das Wort »Verfassung« gab zu denken. Der König, der sich so bestimmt auszudrücken pflegte, dürfte gerade bei dieser Rede, die allmählich das Gepräge einer großen Proklamation gewann, nicht nur so allgemein einen künftigen, besseren Zustand im Sinne gehabt haben.

Der König hielt das dicke Bündel groß und dicht beschriebener Bogen während seiner Ansprache fest in beiden Händen, als gehe eine Kraft davon aus und als sei alles Augenmerk nur darauf gerichtet. Grumbkow suchte den König fest ins Auge zu fassen und die eigene Erregung und Betroffenheit zu verbergen.

»Majestät – es bedarf zum besseren Verständnis Ihrer Absichten noch einiger Erklärungen. Unsere Überraschung ist zu groß; Zweck und Anlaß sind uns unbekannt; nur daß wir spüren, Majestät haben uns zu einem nicht gewöhnlichen Ereignis herbeordert.«

Am König war jetzt ein flüchtiges Lächeln zu bemerken.

»Wenn Sie damit meinen, Herr Minister, daß ich mir erst allen Ärger von der Seele sprechen soll, der mich zu meinem heutigen Schritt veranlaßt hat – ich wäre nur zu gern dazu bereit. Aber ich darf nicht Stunden damit hinbringen und kann aus mehr als tausend Exempeln nur die remarquabelsten herausgreifen: Die übergeordneten Stellen haben mich mit allen Mitteln im unklaren zu halten gesucht, mir nur das Beste und Schönste gemeldet. Die Einzelkammern hatten hohe Schulden. Also haben sie mir wollen weismachen, als ob ich reicher wäre, als ich bin – ergo Wind und Flatterie. Denn ein wahres Plus ist nichts anderes als eine Vermehrung der Staatseinkünfte ohne Schaden und Nachteil der Privateigentümer. Die Kriegskasse gehört ja niemand anders als dem König von Preußen, die Domänenkasse desgleichen. Ich hoffe auch, daß ich allein derselbige bin und keinen Vormund oder Koadjutor nötig habe. Ich will nicht annehmen, daß man verlangt, es solle mit mir wie mit dem Kaiser gehen; der darf nicht mehr sagen, als seine Kollegien haben wollen. Und wie es diesen gefällt, muß der Kaiser unrecht haben. Das werde ich niemals leiden, sondern weisen, daß ich selbst regieren will.

Sie aber bezahle ich dafür, daß Sie ernsthaft arbeiten sollen. Wiederum dürfen Sie versichert sein, daß die alten Zeiten vorüber sind, wo meine Diener durch Verleumdung ins Unglück gestürzt und ungehört verurteilt wurden. Ich höre stets jeden. Wenn aber das Geringste unter meinen Dienern passiert, so werde ich sie vor ein Kriegsgericht stellen und nach den Kriegsartikeln über sie erkennen lassen. Ich habe Kommando bei der Armee und soll nicht Kommando haben bei zehntausend Blackisten? Wenn ich einem Offizier etwas befehle, so wird gehorcht. Was wollen jene hier voraushaben? Fünfzigtausend Soldaten richten mehr aus als hunderttausend Minister –.«

In dieser Art nun ging das Sündenregister noch weiter. Es gelte der Maschine die Einrichtung zu geben, daß sie in seiner Hand sei und bleibe, so sicher wie ein gutdressiertes Regiment seinem Obersten. Niemand wußte, worauf es hinauslief. Bald aber gab der König nur zu deutlich an, wer in jedem Falle die Verantwortung trug; und da er Minister und Räte beim Namen nannte, nahm seine Mahnung den Charakter einer sehr deutlichen Drohung an. Wieso sprach aber der Herr von all den mißlichen Verhältnissen, als wären sie Vergangenheit? Was hatte sich geändert? Was stand bevor? Ein neuer Strich durch den Etat, ein Ministersturz? Und wirklich, in einer einzigen Wendung dekretierte der Herr die Auflösung der zivilen und militärischen Behörden. »Denn es ist unmöglich«, schloß der König die drohende Einleitung ab, »daß dieses Konfusionswerk weiter zu bestehen vermag, ohne mir und meinen Landen und Untertanen den äußersten Schaden und Ruin auf den Hals zu ziehen.«

Und damit übergab er dem ältesten Minister, Ilgen, das Bündel Papiere, das bis dahin nur wie ein Konzept seiner Rede erschienen war, und ersuchte ihn, hier sogleich die Instruktion für seine neue Gründung zu verlesen. Als verlange der Augenblick doch eine Art von Zeremoniell, nahm der alte Ilgen Aufstellung unter dem Bilde des Königs. Und mit der Verlesung schon der ersten Zeilen war es klar, daß der König in seinem abgeschiedenen Jagdhaus nicht neue Verwaltungsvorschriften entworfen hatte, sondern eine Verfassungsurkunde schuf, das Grundgesetz einer Monarchie. Er wollte sein Land regieren, wie ein Gutsbesitzer seinen Hof Verwaltet, nur daß ihm statt der Anzahl von einigen Morgen aber tausend von Quadratmeilen anvertraut waren und daß es statt der Scheunen und Ställe Städte und Dörfer zu bauen gab.

Wie er alle Kammer-, Dominial- und Schatullgüter in einem einzigen Verwaltungsdirektorium zusammengefaßt hatte, wollte er es nun mit allen Zweigen des Staatswesens im ganzen Lande halten, denn die Zahl der Ämter war zu groß, die Zuständigkeiten blieben umstritten, der Mittelpunkt fehlte. Jenes neue, wohlgeordnete Staatswesen aber sollte sich über die Zufälligkeit in der Anwendung menschlicher Kräfte und die Schwankungen der Natur erheben.

Von nun an gab es für die Mark, für Preußen, für Cleve, Pommern, Magdeburg, für König Friedrich Wilhelms ganzes junges Reich nur noch die eine Regierung: das eine Generaldirektorium zu Berlin, in seinem Hause, seinem Schloß – das eine Generaldirektorium in zwei einander völlig gleichgestellten Abteilungen; der einen oblagen die Angelegenheiten des Heeres, die äußere Politik und die Justiz; der anderen unterstanden die Finanzen und allgemeinen inneren Landessachen. Die Provinzen erhielten die entsprechenden Verwaltungs-, Vollstreckungs- und Vermittlungsämter.

Der Kampf um Vortritt und Vorrecht war zu Ende. Alle waren sie ausführende Organe unter dem Vorsitz des Königs, Departementsdirektoren unter ihrem Generaldirektor. Er nannte sich den ersten Diener seines Staates. Ein Gesetz schuf mit einem einzigen Schlage den einheitlich durchgebildeten Beamtenstaat. Fünfunddreißig Kapitel, zweihundertsiebenundneunzig Paragraphen aus der Feder des Königs wiesen dem höchsten Kollegium wie dem letzten Polizeibüttel, Torschreiber, Pack- und Kranknechte der königlichen Manufakturen ihre Funktionen an, und zwar derart genau, als hätte der König Jahr und Tag die Arbeit jedes seiner Diener geleistet.

Er hatte sie alle bei ihrer Arbeit gesehen: die Pächter auf den Krongütern, die Handwerker in ihrer Werkstatt, die Faktoren in den Lagereien, die Räte in den Sitzungssälen. Ihm war nur zu bekannt, daß alle widerstrebten und murrten, von denen Anstrengungen verlangt wurden, und daß ihm nur da völlig gehorcht wurde, wo er selbst anwesend war. Jeder einzelne Satz redete allein die Sprache des Königs; niemand zweifelte, daß jeder einzige Gedanke nur seinem Kopf entsprungen und von seiner Hand zu Papier gebracht sein konnte.

Der König hatte sich während der Vorlesung gesetzt. Er beobachtete die Hörenden. Noch, das spürte er besorgt, hatte keiner begriffen, daß diese harte Stunde für die Zwölf die höchste Auszeichnung bedeutete; daß sie trotz aller ihrer Schwächen, Mängel und Verfehlungen die einzigen Erprobten waren, vor denen er all dies Schwere aussprechen durfte – daß sie sein erstes Generaldirektorium bilden würden.

Einige Male hätte der König einen Einwurf machen mögen, wollte er begründen, überzeugen, werben, so befehlend auch die Form der Instruktion gehalten war. Aber er schwieg bis zum Ende.

Fünfunddreißig Kapitel, zweihundertsiebenundneunzig Paragraphen wurden von den Herren stehend angehört. Aber die Mühe war gering, so kurz, so knapp war jeder Abschnitt, jeder Satz. Solche Sprache war neu. Das waren nicht Verfügungen. Aus jeder Zeile wehte heißer Atem. –

»Die Kommissariatspräsidenten in den Provinzen müssen die Städte ihres Kommissariats so kennen, wie Wir es im Heer verlangen; nämlich: jeder Kapitän Unserer Armee muß um seine Kompanie so Bescheid wissen, daß ihm all und jeder dazugehöriger Soldaten innerliche und äußerliche Qualitäten vollkommen bekannt sein müssen. Der Vorgesetzte haftet für den Untergebenen; das Generaldirektorium haftet kollegialisch.«

Wirklich, war es schon der Schlußsatz?

Der König erhob sich. Noch einmal hatte er ein hartes Wort zu sagen. Aber der Groll war seinem Herzen wieder fern. Er war allein voll Stolz und Ruhe, dieses Werk vollbracht zu haben. Er wußte, es war zur Grundlage tauglich; es konnte durchaus von Bestand sein.

Er sprach sehr ruhig. Und im Gegensatz zu seiner Gepflogenheit, jeden einzeln anzublicken, sah er, die Lehne seines Stuhles haltend, vor sich nieder.

»Vielleicht werden die Herren mir sagen, das Ganze sei nicht möglich. Ich habe so viele Jahre lang Geduld wie von einer anderen Welt bewiesen. Jetzt werde ich noch ein halbes Jahr Geduld haben, daß erst einmal alles en train ist. Sie aber sollen die Köpfe darein stecken; und ich befehle Ihnen hiermit ernstlich, es sonder Räsonieren möglich zu machen. Denn ich bin nach den Prinzipien verfahren, die ich durch die Experienz und nicht aus Büchern gelernt habe. Sie alle aber berufe ich in mein Generaldirektorium. Ich gedenke Sie noch hier zu vereidigen. Doch weiß ich, daß jeder Eid auch Besinnung verlangt.«

Diese Worte verband er mit einer grüßenden Geste und verschwand in seinem Arbeitskabinett. Die Instruktion blieb bei den Herren. Die allgemeine Betroffenheit und Ratlosigkeit zu überwinden, bat Grumbkow, noch einen Blick in das Schriftstück werfen zu dürfen. Gleich steckten noch andere die Köpfe hinein, und nach wenigen Augenblicken waren sie alle über dem Manuskript vereint und kamen so am besten über die betretene Stimmung hinweg.

»Dies ist ein Lehrbuch der Regierungskunst«, sagte Herr von Grumbkow nachdenklich; und hätte es der König gehört, er würde es lebhaft bekräftigt haben. Genau dies hatte er gemeint: ein Lehrbuch für die Erziehung des neuen Staatsbeamten und Staatsbürgers; genau dies wollte er: Verordnung und Lehre. Es war aber mehr, war Gesetz und Weisheit.

Die Herren blätterten und blätterten. War es echte Beteiligung? War es Neugier, Ungewißheit, Sorge? Oder wollten sie den Eid verzögern, die Stellungnahme der anderen abwarten? Alles das war richtig. Alles das galt.

Meinungen tauschten sie vorsichtigerweise nicht aus. Sie stellten nur fest. Die Departements waren nicht mehr nach Geschäften, sondern nach Provinzen eingeteilt: Preußen, Pommern, Neumark, Kurmark, die Restprovinzen. Für jedes Departement war in der Woche ein besonderer Sitzungstag vorgesehen, aber alle mußten sie auf ihm vertreten sein. Entscheidungen fielen durch Abstimmung. Bei Stimmengleichheit entschied der König.

Clevische, märkische, pommersche, preußische Untertanen sollten gleichberechtigt und nur nach dem Gesichtspunkt ihrer Eignung für den Staatsdienst angestellt werden; aber so dringlich der Herr es sich auch angelegen sein ließ, in den verantwortlichen Stellen nur seine eingeborenen Untertanen zu wissen, durften es nun wiederum in Cleve keine Clever, in Magdeburg nicht Magdeburger, in Pommern keine Pommern sein. Er entwurzelte die Beamten aus ihrer Heimatprovinz; er nahm sie aus dem engeren Vaterlande fort, um sie in dem größeren aufgehen zu lassen, dem Dienste des Königs von Preußen. Alles Private im öffentlichen Dienst war abzustreifen und so gut wie zu vernichten. Fortan erfolgte jede Ernennung auf Vorschlag des jeweiligen Ressortministers, der Vorschlagende aber mußte für den von ihm Empfohlenen einstehen. Und um auch jede Anbiederung zu vermeiden, sollten nun auch noch immer wieder häufige Versetzungen stattfinden.

Sämtliche Naturalienbezüge wurden beseitigt, weil sich bei ihnen gar so leicht Bestechung einschlich. Wer mehrere Ämter besaß, mußte auch mehrere Eide schwören. Die weiten, findigen Gewissen wurden eingekreist. Aller Nebenerwerb sollte fallen. War er unbedingt nötig, so hatte er auf gänzlich anderem Gebiete als dem des Hauptberufes zu liegen; zum Exempel: kein Forstbeamter sollte Holzhandel treiben; Akzisebeamte durften keinesfalls die von ihnen konfiszierte Ware erwerben, höchstens verderbliche Lebensmittel von geringer Quantität zum Tagespreise.

Der Herr empfahl dem neuen Direktorium, die Kammern und Kommissariate zu überwachen, zu inspizieren und ihnen nie aufs Wort zu glauben. Er schärfte den Departementschefs ein, sich Spione zu halten, ja, jeder Rat sollte seine eigenen haben und sie sich unter den Leuten jedes Standes auswählen: Pächter, Bürger und Bauern. Auf diese Weise würde man teils falsche, teils auch wahre Nachrichten erhalten und bei vernünftiger Beurteilung Wahres und Falsches wohl unterscheiden, auch wo es um Minutissima ging. Alle Berichte aber waren zu prüfen, ob auch nicht menschliche Affekten und Intrigen unterliefen.

Die Instruktionen der höheren Behörden mußten streng geheimgehalten werden, »ohnerachtet sie an und für sich auf aller Räson und Billigkeit beruhen. Aber es könnte doch diese und jene ungleich angesehen werden«.

Hohe Titel zu führen, Bezüge zu empfangen, doch auf seinen Gütern oder auf Reisen zu leben, war nicht mehr möglich. Die höheren Beamten, ein völliges Novum, hatten an dem Ort ihrer Amtstätigkeit zu leben, dem mancher bisher Monat um Monat ferngeblieben war. Der Urlaub war genau geregelt, der Plan der Dienstreisen festgelegt. Es sollten nicht zuviel Mitglieder eines Kollegiums auf einmal weggeschickt werden. Dienstreisen außerhalb des Dienstbezirkes – Sonderfahrten »jener schlechten, miserablen Räte, so nur Diätenräte sind« – waren untersagt.

Die Geschäfte sollten »collegialiter«, nicht aber wie bisher in den Häusern »traktiert« werden. Auch in der Provinz war genaue Kontrolle über die Beteiligung an den Sitzungen durchzuführen.

Kabinettsangelegenheiten hatten in vierundzwanzig Stunden erledigt zu werden. Das stand einzig da.

Als er die letzte Seite umwendete, lächelte Grumbkow ein wenig. Dem von seinem Sekretär geschriebenen, schön gehefteten Schriftstück hatte der König nun doch noch viele Blätter in letzter Stunde hinzugefügt, Notizen in riesigen und klobigen Lettern, ohne Linien und Zeilen – als Letztes die Bemerkung: »Die Herren werden wohl mein Sentiment verstehen, da es doch nicht cirl und ottographisch geschrieben ist; sie sollen es aufs Reine bringen und keine Pungks vergessen und mir wieder schicken.«

Creutz stand versonnen. Er würde nicht aus Preußen gehen; der Entschluß war gefaßt. Alle Kassen des Reiches, das allein sah er aus den Artikeln, waren in seine und des Königs Hand gegeben. Er begriff seinen Aufstieg, auch wenn er ihn vielleicht mit dem Verlust eines prächtigen Titels würde bezahlen müssen. Er stand schon zu hoch, um noch um seinen Rang zu zittern, er, der einst den Tod im Wasser suchte, weil er die Erniedrigung eines armen Mannes nicht ertrug. Ob es die neue Verfassung anging oder die alte Not des Ostlandes betraf – alles war ihm nur Anlaß, mit der Zahl zu triumphieren, ihr das Leben zu unterwerfen, Preußen zum Rechenexempel zu machen. Hatte ein anderer den Herrn durch Gedanken verwundet und wehrlos gemacht – er wollte ihn mit der Ziffer beherrschen.

»Der König erwartet uns«, sprach Grumbkow, der den Stummen und Sinnenden beobachtet hatte, und reichte Ilgen die Instruktion zurück. Der öffnete selber die Tür, denn Diener durften heute nicht zugegen sein, und führte die Minister und neuernannten Departementschefs zum König. Der Herr sprach ihnen den Eid vor.

Die Zwölf legten ihre Rechte in die Hand des Herrn. Fünf unter ihnen waren Bürger. Europa würde wiederum zu reden haben.

Nachher, als alles wieder lockerer und leichter wurde nach solch ernster Stunde, sagte König Friedrich Wilhelm zu Grumbkow, die Leistung bedenkend und die Ferne und Fremdheit des Herzens um des Verdienstes willen überbrückend: »Ihr allein habt Eure Sache immer gut gemacht. Euer Kollegium diente mir immer gut, und die anderen, die es noch gut machen, beschränken sich darauf, Euch nachzuahmen. Aber die Machtstellung eines Premierministers kann es in Preußen nicht mehr geben.«

»Dafür werde ich in der unmittelbaren Nähe Eurer Majestät arbeiten dürfen«, antwortete der Große, Dunkle, Satte seinem jungen Herrn. Aber es war nur die Artigkeit eines Höflings. Der König wußte, wie allein er war.

Die anderen fanden sich nicht so rasch in einen gewandten oder gar leichteren Ton zurück. Noch einmal war ihnen ihr jugendlicher Herr als der Wilde, Harte, Ungestüme begegnet. Das wirkte noch nach, zumal es in einem Augenblick erfolgte, in dem man ihn tatenlos, bedrückt und gedemütigt glaubte.

Keiner bemerkte, daß König Friedrich Wilhelm, als er sie mit freundlichem Worte und höflicher Neigung des Hauptes entließ, ein verfallenes Antlitz hatte.

 

In aller Heimlichkeit schien der Herr nun endgültig unter die ihm verhaßten Schreiber gegangen zu sein. Die Eintragungen, die er in dem »Minutenbuch« seines Königsdienstes vornehmen ließ, genügten ihm nicht mehr. Begann er gar, der neuen Mode folgend, seine Memoiren aufzuzeichnen? Denn was er jetzt, nach der großen Konferenz mit den Ministern, niederschrieb, war nicht Edikt, Mandat, Reskript und Instruktion wie sonst; es war auch kein Brief, etwa für den Freund in Dessau bestimmt.

Unter dem Übermaße eines ungeheuren Eindrucks fand der König nur die eine Möglichkeit einer Befreiung; er schrieb ein Tagebuch von einer Seite.

Vergessen war die Gründung des Generaldirektoriums; kein Wort mehr von ihr. Nichts erfüllte ihn als das Gefühl seiner Ohnmacht, daß aller Wille zur Ordnung an den Grenzen der fremden Reiche zerbrach, daß er in der trüben, papierenen Sturmflut, die über Europa hinging, mitgerissen wurde; daß er eingespannt war in das Netz der Verträge, die nichts als Krankheit, Lüge, Wirrsal bargen. Sie quälten ihn zu Tode damit, er müsse neue Traktate schließen, um das durch Clement in Europa ausgesäte Mißtrauen wieder aus der Welt zu schaffen. Er litt an der Lüge Europas, als sei sie seine alleinige, ureigenste Schuld.

»Wollte Gott«, das war der Anfang seines Tagebuches, das er über diese Zeilen nie mehr fortführen sollte, »ich hätte nicht versprochen, den Traktat zu schließen; es ist ein böser Geist, der mich regiert hat; jetzt werden wir stürzen; das ist, was meine falschen Freunde wollen. Möchte mich Gott von dieser bösen Welt nehmen, ehe ich signieren muß; es ist hier auf Erden nichts als Falschheit und Betrug; ich werde erklären, daß ich den Mantel auf zwei Schultern tragen muß. Ich werde Gott bitten, mir beizustehen, wenn ich eine Rolle spielen muß, die sonderbar ist; aber ich spiele sie ungern, denn es ist nicht für einen honetten Mann; ich signiere den Vertrag, aber ich halte ihn nicht und werde dann, wenn ich die Maske abwerfe, der ganzen Welt sagen, was die falschen Freunde mit mir vorhaben. Ich bin noch zu jung; ich verstehe es nicht. Aber ich werde signieren mit der Feder, und das Herze wird wie der Teufel falsch sein und nichts halten, was gegen bestehende Verträge ist. Es muß so sein, ich werde dadurch klug werden und werde die fourberien decouvrieren ... Ich werde ein Clement werden, ein Spion, die falschen Freunde wollen es ja haben. Gott sei Dank, daß mir Gott den Verstand gegeben hat.«

Dieses Schriftstück befahl er im Archiv zu verwahren, »den Nachkommen zur Lehre, sich zu hüten, solche Freunde anzunehmen und meinen schlimmen, gottlosen Maximen in diesem Traktat zu folgen, sondern die Freunde, die man einmal hat, beizubehalten und die falschen Freunde abzuweisen; deswegen ermahne ich meine Nachkommen, noch eine stärkere Armee zu halten als ich; darauf ich leben und sterben werde.«

Er sah sich auf dem Wege, um der Politik willen etwas zu tun, was anderen als höchste politische Meisterschaft galt, ihm aber tiefste Verworfenheit bedeutete. Doch gab er den Gedanken, über die nachts durchwachten Stunden hinaus, keinen Raum mehr. Er arbeitete mit der Regelmäßigkeit des Pendelschlages; er wandte sich auch wieder der Familie zu, die Jahr um Jahr so schmerzlich fernblieb.

Er fand die Zeit, mit seiner Frau und den beiden ältesten Kindern den nächsten Geburtstag der Prinzessin Wilhelmine sehr festlich in Charlottenburg zu feiern. Dieses Schloß schien wieder mehr in Aufnahme zu kommen. Der König gab hier seiner Tochter ihren ersten Ball.

Über das Geschenk des Vaters war sie ein wenig enttäuscht. Der König hatte sie mit Poinçons, Schmuckhaarnadeln von unechten Steinen, bedacht. Die Prinzessin hatte sie sogleich besichtigt, die Mama besucht und ihr gesagt, daß Papa ihr etwas überreiche, das nicht echt scheine. Danach hatte sie die gleiche Klage noch einmal mit vieler Betrübnis bei ihrer neuen Hofmeisterin angebracht und hinzugefügt, sie wisse wohl, daß ihr Papa nicht viel weggebe; sie müsse nun die Poinçons wohl einmal in die Haare stecken, wolle aber hoffen, daß der König auf bessere Gedanken kommen und ihr echte Juwelen schenken werde.

Einen reichlichen Monat später galt es den Geburtstag Seiner Majestät zu begehen. Das Königspaar verlebte diesen Tag bereits im Jagdschloß Wusterhausen, das man eigentlich erst drei Wochen später, im September, zu beziehen pflegte.

Prinzessin Wilhelmine, von Charlottenburg noch ganz berauscht, arrangierte eigenmächtig ein Gartenfest für die kleinen Geschwister im Park Monbijou. Der König vernahm es mit Unwillen, daß seine älteste Tochter ihm zu Ehren schon Feste gab. Das war zuviel Selbständigkeit, zu große Verschwendungssucht, zu verfrühtes Repräsentationsgelüst.

Der König selbst empfing nur einige vertraute Gratulanten wie die Minister und Räte des Generaldirektoriums. Man merkte, wie er bei jeder Begegnung mit ihnen noch von dieser neuen Gründung erfüllt war. Denn selbst bei der Begrüßung und dem Dank für ihre Glückwünsche bemerkte er, als handle es sich nicht um eine Geburtstagsvisite, sondern eine Sitzung: »Wie die Herren das letztemal bei mir gewesen, haben wir etwas hart miteinander gesprochen, weil es die Materie so mit sich brachte. Sie werden dennoch auch gestehen müssen: wenn Sie mir räsonable Vorstellungen gemacht haben, bin ich auch räsonabel gewesen und habe mich gerne finden lassen.«

Danach ließ König Friedrich Wilhelm zum erstenmal wieder den zurückgerufenen Gundling vor sich kommen. Es geschah, von beiden Seiten, ohne Besonderheit. Gundling trat sicher und in seiner alten Weise auf. Von seinem Geburtstagsangebinde machte er ein ziemliches Wesen; endlich könne er dem König – und eben dies sei seine Gabe – einen wahrhaft schweigsamen Mann als Geheimsekretär für neue, geheime Schreibarbeit auf Schloß Schönebeck benennen: Thulmeier aus der Gasse hinter der Spreegassenbrücke; der sei ihm noch aus Bleusets Schenke wohlbekannt. Und er erzählte von jenen Diensten, die der Schweigsame dem armen Volke leistete, und meinte, es sei besser, er diene dem König.

Und wahrhaftig nahm der König es ernst auf; es sei ein großer Mangel an Schweigern im Lande, der größte Mangel von allen; was an Fertigkeit im Schreiben fehle, werde er ihn lehren lassen. Thulmeier wurde noch nach Wusterhausen befohlen. Der Herr wartete gar nicht erst ab, bis er selbst nach Berlin zurückkehrte.

Sodann erkundigte sich der König, was Gundling während seiner Abwesenheit von Berlin wohl Neues gehört oder gesehen habe.

»Das Allerneuste aus dem letzten Halbjahrtausend vor Christi Geburt«, fiel der Professor auf der Stelle ein. »Es war da ein junger Prinz in einem armen Lande; der brachte den Goldmacher seines Vaters an den Galgen. Der gleiche Prinz, als er dann König war, verfiel aber selber einem großen Zauberer, der von Schloß zu Schloß reiste; und daß er ihm verfiel, geschah nur, weil der Gaukler nicht mit falschem Golde, sondern mit Gedanken seine Zauberkünste trieb. Und es hätte leicht geschehen können, daß er den Zauberer zum obersten seiner Räte erhob, denn der mächtige, junge König, der vor gar nichts Angst empfand, hatte eine große Furcht vor der Macht der Gedanken –«

Der König unterbrach nicht nur; er gebot der Unterredung ein Ende; er sprach: »Ihr seid doch mutiger als ich dachte, Gundling«, entließ den Professor und blieb für den Rest des Geburtstagsmorgens bei der Arbeit.

Über Mittag hielt er sich mit dem kleinen Kreis seiner Gäste und mit der Königin im Hirschsaal auf. Man war allgemein erfreut, daß nicht wie sonst im Schloßhofe unter den Bäumen oder unter dem Baldachin des Türkischen Zeltes gespeist wurde. Denn bei solcher Hitze, wie sie gegenwärtig herrschte, war der Schatten der Bäume eine geringe Linderung. Die Kühle des alten Gemäuers war eine Wohltat, ja, Notwendigkeit. Zum größten Befremden aller Wusterhausener ließ der König am Spätnachmittag sein eigenes Zimmer plötzlich heizen. Das Feuer loderte groß im Kamin. Der König im blauen Rock saß dicht davor. Man sah sich an; man wagte nichts zu bemerken; die Königin zog sich zurück. Gegen Abend behauptete der König, es komme von draußen doch kälter herein, als ein Mensch es sich von solch schönem Sommerabend denken könne. So ließ er noch die Fenster schließen. Es erregte aber nicht mehr soviel Aufsehen, weil die Berliner Herren schon nach der Residenz zurückgefahren waren und der König den Befehl nur seinem Kastellan gab; sonst war niemand zugegen.

Aber als am nächsten Tage Prinzessin Wilhelmine aus Berlin eintraf, fand auch sie den Papa, am Kaminfeuer schreibend, bei geschlossenen Fenstern.

»Ich muß das Reißen haben«, meinte der Vater; so schmerzte ihn der Kopf. Er vermochte vor Schmerzen den Nacken kaum zu bewegen; wie wunde Stränge lief es den Rücken herab, zog sich über die Schenkel, die Beine, zerschnitt noch die Fesseln. Als er sich nach der Begrüßung seiner ältesten Tochter – übrigens bekam sie nur sehr geringe und milde Vorwürfe wegen des Festes in Monbijou zu hören – wieder an seine Schreibarbeit setzte, glitt ihm die Feder immer wieder aus. Erst fielen die Zeilen, als zöge einer den König am Ärmel, immer tiefer zur äußersten Ecke der Seite; dann war das Unglück geschehen mit verschobenem Blatt, vergossener Tinte; der Kopf sank vornüber.

Der König schrak auf, als wäre er aus plötzlichem Einschlafen geweckt. Was mochte alles das mit »Reißen« zu tun haben – die große, große Mattigkeit vor allem, die schreckliche Benommenheit. – Mehrmals setzte er zum Schreiben an, legte die Feder hin und lief im Zimmer auf und ab, maßlos unruhig an Stühlen und Tischen herumrückend. Sekretäre ließ er nicht kommen. Er wollte keine Beobachter haben, wie schwer die Arbeit ihm fiel und wie ihn seine Schmerzen außer Fassung brachten. Nein, niemand durfte Einblick haben, wie erschüttert, wie erschöpft er war.

Und wenn nun die Jagden begannen? Der König wußte sehr genau, daß er den Eindruck des Frischen, Planenden, Beherrschenden nicht mehr aufrechtzuerhalten vermochte. Und was hing für das Land davon ab!

 

In der Umgebung der Königin – auf Wusterhausen war sie niederdrückend klein – erregte es außerordentliches Aufsehen, daß der König die Bitte aussprach, Prinzessin Wilhelmine möge ihre Aufgaben in seinem Zimmer erledigen. Das erschien der Königin zwar sehr sonderbar, doch ungefährlich, ja, es versprach ihr manchen lohnenden Einblick. Wie sollte sie erraten, daß der König die Einsamkeit nicht mehr aushalten, die Gegenwart von Zeugen seiner Schwäche aber nicht ertragen konnte.

Zwischen der Königin, der Hofmeisterin Léti und der Kammerfrau Ramen wurde viel darüber geredet, daß nun die Prinzeß tagsüber in die Zimmer des Königs übersiedeln sollte. Der Prinzessin wurde noch von Mama und Gouvernante klargemacht, welch bedeutsamen Akt dies darstelle. Jeden Abend müsse sie genau berichten, was von früh bis spät beim König geschehe.

Schon vor sieben Uhr früh richtete die Ramen das Kind mit den unechten Poinçons vom Geburtstag, mit Spitzentuch und Schleifen zurecht. Der König übersah das alles. Früh um sieben saß er schon am offenen Feuer, aber nicht so adrett gekleidet wie sonst.

»Es drückt mich alles«, entschuldigte er sich vor der Tochter, »es beengt mich.«

Dann kritzelte er an seinen Schriften. Statt zu stöhnen, hustete er manchmal – sehr häufig; und ganz ängstlich sah er auf die kleine Tochter, ob die auch nichts von unterdrücktem Stöhnen merkte.

Für Wilhelmine war auf einem erhöhten Fenstertritt ein Arbeitstischchen hergerichtet. Dort lernte sie eifrig, namentlich die fremden Sprachen, für die hohen englischen Verwandten und die unbekannten Königreiche, deren eines sie einmal, so behauptete Mama, selbst als Königin beherrschen würde.

Ihre Mahlzeit kam aufs Zimmer. Der müde, frierende Mann konnte nicht mehr eine Stunde allein sein. Bei Tische quälte er das Kind, es müsse mehr von allem essen; er lobte es, wie gewandt es mit Messern und Gabeln hantiere; ob das Fritzchen in den Tischmanieren auch so firm sei?

»Frierst du auch?«

Die Fragen überstürzten sich; dann wieder tiefes, langes Schweigen. Der König sah gedankenverloren ins Feuer. Die Bären tappten. Die Adler an den Ketten schleppten ihre Kugeln. Das Kind verging vor Hitze und Langeweile.

Erst abends gegen zehn Uhr sagte der Vater seiner kleinen Tochter gute Nacht, küßte sie auf die Stirn, bedankte sich, nannte sie auch sein braves Kind und dachte mit keiner Silbe daran, daß er sie als Gefangene hielt. Er vermochte nicht mehr allein zu bleiben.

Jetzt endlich, so spät, flog Wilhelmine ihrer Mutter an den Hals. Dann erschrak sie, verneigte sich und küßte der Königin die Hand. Nun erst umschlang die Mutter ihr Kind. Mama und die Léti unterbrachen ihre ewigen Patiencen. Die Damen unterzogen Wilhelmine einem Kreuzverhör. Aber die Prinzessin hatte ihnen nichts zu sagen. Daraufhin galt sie als politisch verschlagen, aber begabt. Bezüglich ihres Gatten kam die Königin zu der Meinung, er habe das kalte Fieber. Alle Anzeichen sprächen dafür. Nach großen inneren Erregungen habe sie selbst es auch schon oft gehabt. Die Léti versicherte es von sich desgleichen. Die Ramen, die im Nebenzimmer bei geöffneter Tür sehr emsig stickte, von der Königin befragt, kannte nur Ziegenpeter. Manchmal tat sie wunderbar dumm.

Immerhin fand man den König so schonungsbedürftig, daß man die neueste Botschaft aus Berlin zu verschweigen beschloß. Die zweite Prinzessin, des Vaters »Ike«, und Prinz Carl Ludwig Wilhelm waren krank. Das war eine Kinderstubenangelegenheit, schien nur eine leichte Ruhr. Die Damen redeten überaus verständig davon.

Wilhelmine gestand, sie sei ebenfalls krank; vielleicht sei es von dem Kaminfeuer, den geschlossenen Fenstern –.

»Sie haben uns bereits berichtet«, unterbrach Mama sehr kühl. »Nehmen Sie Ihr eigenes Befinden nicht zu wichtig. Dagegen dürften Sie sich auf die Verpflichtungen einer späteren Königin mit größerem Ernste vorbereiten. Es wird noch einmal mehr von Ihnen verlangt werden. Und im übrigen«, schloß Mama nun erheblich gereizt, »könnten Sie mir jetzt zum erstenmal endlich einen der feierlich versprochenen Dienste leisten. Der König gewährt Ihnen die Gnade, Sie den ganzen Tag an seine Seite zu ziehen. Ich lasse Ihnen die Güte widerfahren, daß ich Sie freigebe. Zeigen Sie sich also dankbarer und melden Sie mir künftig mit etwas größerer Frische, was bei Ihrem Vater vorgeht.«

Die Gouvernante und die Kammerfrau hatten ein tiefes Verständnis für die Gereiztheit Ihrer Majestät. Es mußte bitter schwer sein, nach so großem politischem Erfolge, wie die Haltung der Königin gegenüber Clement ihn bedeutete, nicht im Mittelpunkte höfischen und diplomatischen Getriebes zu stehen, sondern in die Einsamkeit von Wusterhausen verbannt zu sein. Die Léti versicherte es Ihrer Majestät mit sehr gewandten Worten; die Königin lächelte bescheiden und mischte ihre Karten von neuem. Prinzessin Wilhelmine, sehr beschämt und blaß, bat, sich verabschieden zu dürfen. Entlassen, stürzte sie sogleich in den nächtlichen Garten, der Notdurft halber; sie hatte Qualen auszustehen.

Am nächsten Tage schickte man sie nach Berlin zurück. Die Königin, welche nur gesunde, heitere Menschen um sich sehen wollte, pflegte Krankheiten ablehnend, ja geringschätzig zu behandeln. Aber sie fand natürlich gut, Wilhelmine fortbringen zu lassen. In Berlin hatten die Kinder ihren ständigen Arzt; auf Wusterhausen war eine Pflege ohne große Unbequemlichkeiten kaum durchführbar.

Da die Prinzessin fehlte, kam der König zu Tisch.

 

Nachts klopfte ein Meldereiter am Tor. Die Bärin trottete heran; die Hofhunde bellten; die Adler, von dem Schein der Stallaternen geweckt, rollten ihre Kugeln an den Ketten hin und her. Der Bote kam von der alten Madame de Montbail, die das Zimmer der beiden kranken Kleinen seit Tagen nicht mehr verließ.

Die Kutsche mit Prinzessin Wilhelmine und der Ramen, welche sie begleitete, und der Reiter der Montbail hatten sich gekreuzt. Am Abend lieferten sie die fiebernde, dauernd sich erbrechende, Blut und Schleim von sich sondernde Wilhelmine der alten Montbail aus. In der Stunde zuvor war Prinz Carl Ludwig Wilhelm gestorben.

Als der Bote mit der Todesbotschaft auf dem Jagdschloß einritt, war der König als letzter noch wach. Er wanderte, schon in Schlafrock und Nachthemd, im Arbeitszimmer neben seiner schmalen Kammer auf und ab. Nun griff er zum Licht, ging selbst bis zur Treppe, winkte und bedeutete, recht leise zu sein, damit man die Königin nicht störe, und ließ den Boten zu sich kommen.

Auch als er nun wußte, was der ihm brachte, ließ er die Gattin nicht rufen. Mochte die eine Nacht ihr noch gegeben sein, in der sie ihr Unglück nicht ahnte.

Es schien, als müsse der Herr jetzt unaufhörlich sprechen. Dazwischen verlangte er neue Scheite fürs Feuer. Der Reiter flüsterte dem Diener zu, es sei so unerträglich schwül, daß sicher ein Gewitter aufziehen werde. Der König wollte den Armstuhl erst hierhin, dann dorthin gerückt, die Fenster geöffnet, die Fenster geschlossen haben. Er bettelte fast um jede Einzelheit vom Tode des Sohnes, vom völlig unerwarteten Tode. Der König hatte trockene, spröde Lippen. Immerzu war sein Mund wie zu tiefem Atemholen geöffnet. Er sah sehr unruhig vom Diener zum Reiter, vom Reiter zum Diener. Aber Ewersmann behauptete bei sich, er blicke sie beide nicht an.

Seiner Frau begegnete er zuerst, als sie am Morgen die Treppe zum Hirschsaal herunterkam. Der König stand drunten, zur Seite des Geländers. Er hielt den Kopf gesenkt und sah erst allmählich mit einem langen Blicke zu ihr auf. Es lag doch viel Anklage darin.

Die Königin war durch die Ramen schon von allem unterrichtet.

»Ich habe nichts gewußt«, sagte der König.

Die Königin zerpreßte ihren Spitzenschal zwischen den Händen; sie blieb stehen. »Wir wollten Sie verschonen. Kinderkrankheiten –« Sie würgte an dem Wort und begann nun zu weinen. Das nahm dem König die Fassung. Er eilte die Treppe hinauf, die Stufen ihr entgegen; er wollte sie in seine Arme schließen. Sie stand unbewegt, sah an ihm vorbei, sah ins Leere.

»Meine Söhne«, hauchte die Königin, »immer wieder die Söhne –.«

Stets von neuem machte sie den Irrtum seiner Liebe möglich.

Plötzlich wurde sie sehr unruhig. Sie stieß die Léti, die sie zum König geleitet hatte, beinahe zur Seite und faßte die Hände des Gatten.

»Sie müssen sofort nach Berlin schicken, alle Ärzte benachrichtigen – wenn dem Kronprinzen etwas geschieht!«

Der blasse Mann sah von ihr weg. »Das Fritzchen ist gesund. Aber die Töchter –. Wilhelmine, Ike –«

Er stützte sich auf das Geländer. Aber da er sogleich fürchtete, daß man es bemerken könne, begründete er es rasch dadurch, daß er hinunterrief, man möge die Wagen nach Berlin einspannen.

Die Königin, sehr ernst, sehr still, fragte: »Welche Anordnungen gedenken Sie für die Trauerfeierlichkeiten zu geben, in Anbetracht der Krankheit der Prinzessinnen?«

Er wandte sich wieder ganz zu ihr hin, gebannt von dem Wunder ihrer Fassung. »Du bedenkst alles –. Ich werde einige Zeilen voraussenden«, fügte er nach kurzem Schweigen hinzu und verschwand in dem Hirschsaal. Er schrieb aber nicht. Er verkroch sich in den großen Lehnstuhl, saß seitlich in ihn gekrümmt; ihn fror bitterlich. Und das Gefühl von Schwere und von Schwindel wuchs und machte ihn benommen wie ein Traum. Ach, er, er wollte der Herr sein strahlender Legionen von Giganten; er, er, der Vater einer Schar von starken Söhnen! Nun würden sie kommen, ihn zu verklagen. Nun würden sie nahen, die drei dürftigen Männlein, trippelnd und sehr schwächlich: in Kronen und in Hermelin die beiden ersten Söhne; im roten, langen Seidenkleidchen, die dünnen, braunen Haare etwas feucht auf schmaler, wächserner Stirn – so wie er ihn zuletzt in einem Gang des Schlosses vor den Zimmern der Schwestern sah – Carl Ludwig Wilhelm. Niemals hatten sie einen Kosenamen für den sanften, ernsten Kleinen gefunden; immer trug er den langen, vollen, feierlichen Namen.

Nun würde er kommen, mit den Brüdern in den Kronen: wächsern, das Haar feucht vom Schweiß des Sterbens, die grauen Augen geschlossen –.

 

Die Trauerfeier in Berlin fand an einem späten Abend in der Schloßkapelle statt. Nur die Prinzen und Prinzessinnen vom Geblüte und die höchsten Würdenträger waren geladen. Es war sehr warm in dem von violettem Samte und schwarzem Flor so dicht verhängten Gewölbe; zudem war auch die Fülle der Kandelaber und Fackeln sehr groß.

Während der Beileidsbezeigungen, Gesänge, Ein- und Aussegnungen dachte der König nur an seinen Sohn Friedrich. Schmal und blaß, erschüttert, erregt und zu dieser Stunde völlig übermüdet stand der Prinz am Sarg des Bruders vor der Ehrenwache. Der König hätte ihn an der Hand nehmen wollen, mit ihm wegzugehen und all dies trübe Feiern hier sich selbst zu überlassen. Nach der Beisetzung empfing die Königin noch in ihren Räumen. Zur frühen Nacht, kaum daß die Trauergäste sich entfernten, wurden König und Königin an Wilhelmines Bett gerufen.

Die Léti, die Ramen, die alte Madame de Montbail, Doktoren und Kinderfrauen für die Pflege umstanden das Bett. Gelbsucht und Fleckfieber waren erkannt. Die Eltern scheuten die Ansteckung nicht, in dieser Stunde tat es auch die Königin nicht. Die Verzweiflung der Eltern schien ohne Grenzen. Wilhelmine lag teilnahmslos.

»Sie werden alle sterben« stöhnte König Friedrich Wilhelm, »es ist wieder da, daß alle meine Kinder sterben.«

Die alte Montbail sah sehr ernst auf Wilhelmine. Sie hatte an den Wiegen und Sterbebetten zu vieler Hohenzollernkinder gestanden.

»Das ist nicht der Tod, Majestät«, sprach sie erfahren.

Als Wilhelmine wieder reden konnte, kam der König gleich zu ihr. Aus Freude, sie einer so großen Gefahr entronnen zu sehen, befahl er ihr, eine Gnade von ihm zu erbitten.

Es mußte der Prinzessin schon viel besser gehen, denn wie der Blitz fuhr es ihr nur so heraus, man möchte sie fortan wie eine erwachsene Person behandeln und ihr auch die Kleider geben, die dazu gehörten. Der König sagte auf der Stelle ja und lächelte zum ersten Male wieder. Die Königin, als sie von dieser Szene am Krankenbett Wilhelmines erfuhr, soll böse gewesen sein.

Erst nach Wochen war Wilhelmine genesen. Sie legte den Kinderrock ab und trat in einem neuen Kleid und Mantel, Geschenken des Vaters aus seinen Manufakturen, vor die Königin.

Die musterte sie kühl.

»Das ist ja ein artiges, kleines Figürchen – es sieht wie ein Tropfen Wasser dem anderen einer Zwergin ähnlich.«

Danach schalt sie ihre Tochter tüchtig aus, daß sie sich an den Vater gewendet habe, um eine Gnade zu fordern.

Was gingen einen König seine Töchter an.

Fritz, wenn er in diesen Tagen seinen Vater sah, verneigte sich tief und wich ihm rasch und ängstlich aus.

So starr sah der Vater auf den letzten Sohn.

Endlich hieß es, König Friedrich Wilhelm werde wieder reisen. Dem Herrn war nur für wenige Wochen Zeit gelassen, am Schreibtisch zu sitzen und Verhandlungen zu führen. Nur für wenige Wochen durfte es so scheinen, als könne sich das Leben eines Königs immerhin in äußerer Ruhe im Arbeitszimmer, in Sitzungssälen und Amtsstuben abspielen. Er reiste wieder und wieder, um endlich zu erkennen, daß seine Landfahrt überhaupt nur im Dreijahresturnus zu bewältigen war. Er rechnete, was die Heilung seines wunden Landes anging, in Siebenjahres- und, was den eigenen Arbeitsplan betraf, nun in Dreijahresplänen. Das Cito! Cito! begann zu verstummen.

 

Aus England waren Bilder eingetroffen. Pesne, vom König selber an den Hof nach London entsandt, war heimgekehrt mit seinem Schatz, den der König nach dem Tode des Söhnleins zum Trost für seine Gattin hergebracht wissen wollte: den Porträts des Königs von England und Kurfürsten von Hannover, des Prinzen von Wales und Kurprinzen von Hannover, der Frau Kur- und Kronprinzessin und ihrer beiden Kinder.

Der König, vor der Abreise zu den Regimentern bereits in Staubmantel und Stiefeletten, nahm an der Besichtigung noch teil.

Er, der seine Künstler verjagte, schien einem Pesne auf rätselhafte Weise wohlzuwollen; die Freudigkeit, mit der ein Pesne am Werke war, hielt den König seltsam stark bei dem zartesten aller Künstler, die je im blassen Licht der Mark Brandenburg in sanften Farbenspielen schwelgten. Einen Pesne aber band die Hoffnung an Berlin, hier der Erste statt in Paris der Zweite zu sein.

Dem König schien es Schmerzen zu bereiten, wenn er sich zu den Bildern beugte. Auch war es fast, als sei ihm ein wenig schwindlig, wenn er weiterging zum nächsten Porträt. Vielleicht trank er heimlich, seit er die Tabagie fast gar nicht mehr besuchte. – Der Hof nahm es schon lange an.

Vor dem Bildnis der Frau Prinzessin von Wales, der ansbach-brandenburgischen Kusine, auf deren zarten Schultern gar so hohe Anwartschaften ruhten, verweilte König Friedrich Wilhelm nicht länger als vor den anderen Gemälden. Er prüfte es in Eile mit der gleichen Sorgfalt, die er auch den anderen angedeihen ließ. Die Damen der Königin beobachteten den Herrn nicht einmal sonderlich aufmerksam. So völlig war es vergessen, daß die Ansbacher Brandenburgerin seine erste, seine einzige Liebe war. So vorbildlich stand die Ehe des preußischen Königspaares vor aller Augen, ein Wunder an den Höfen Europas. Die Verträge waren gut. Die Königin von Preußen war die Geliebte des Königs von Preußen, war die geliebte Mutter seiner Kinder, der toten und der lebenden, der von Gott gegebenen und der von Gott genommenen. Nicht einmal der Königin kam der Gedanke, daß ihr Gatte nun zum ersten Male seit dem Abschied vor Jahren die Züge der Geliebten wiedersah. Ihm selber war es nicht bewußt, so liebte er die Fruchtbarkeit der eigenen Frau: so dankte er es ihr, daß sie Bild und Beispiel einer gottesfürchtigen Ehe möglich werden ließ in einer Welt des Lasters, des Verfalls und der Schwäche. Mochte Gott auch seine Söhne mit dem frühen Tode zeichnen: den einen hatte er gelassen, den einen hatte er zur Erstgeburt erhoben. Die selbstgewählte Erstgeburt schlug er nicht mehr. Die Verheißung bestand. Und in dieser Frau waren vielleicht noch viele Söhne gewährt.

Prüfend und kennerisch war der Herr im Reisemantel über Pesnes allerschönstes Gemälde geneigt. In seinem Herzen betete er für den Sohn – so hemmungslos vor Gott sich werfend, daß selbst die Klage und die Trauer um den jüngst verlorenen Kleinen vor dem Aufschrei seines Herzens wie gedämpft und ferne war.

Die Frau in dem Bilde vor ihm blickte, schmal und jung, in eine große Weite, und ihr suchender Blick hatte dennoch sein festes und klares Ziel. Sie trug nicht Purpur und Krone wie der Gatte und des Gatten Vater. Ihr Gartenkleid schien fast zu spinnwebfein für die flüchtigen und kühlen Sommer über dem nördlichen Meer. Sehr licht, sehr zart, sehr ernst und klar waren ihre Züge. Alles Laster um sie hatte sie nicht berührt; alle Verschwendung ihrer Umwelt hatte sie nicht verführt. All das Nichtstun um sie ließ sie noch nicht müde werden. Der Mund, vielleicht, erschien ein wenig bitter; und ihre Hände, die im Schoße lagen, wirkten leer; auch war der kühle Hauch einer harten Entschlossenheit um ihre Stirn; vielleicht aber war es nur der Meereswind, der sie umwehte.

Sie hat sich viel vom Meister Pesne erzählen lassen, während er sie malte – mehr als es sonst die Art der Frau Prinzessin von Wales war. Sie hat auch diese Frage nicht gescheut, ob der König von Preußen immer noch so schön sei. Alle Fragen, sonst in Einsamkeit verschwiegen und beherrscht, waren jetzt ein Schimmer über ihrem Bild geworden.

Der König wandte sich von diesem letzten Gemälde ab, nicht anders als von denen zuvor. Er ging der Königin nach. Es war für ihn nicht ohne Mühe, ihr so rasch zu folgen, wie sie ihm voranschritt. Wie lächerlich er sich vorkam. Er war jünger als sie. Aber bitter fühlte er sich als ein Greis vor ihr, der Herrlichen, Starken, Verheißenden und Unerschöpflichen!

Er wußte nicht, daß so, wie er, nur verfiel, wen das Übermaß seiner Lebendigkeit bis auf den letzten Atem erschöpfte.

Er wußte nicht, daß so wie sie, kühn, unverwelklich, ungebrochen, nur blieb, wer so tot und kalt in seinem Herzen war, daß Schauer des Lebens, die seligen und die angstvollen, es nie rascher schlagen zu lassen vermochten.

Dies alles wußte König Friedrich Wilhelm nicht.

Als der König wieder neben der Gemahlin stand, sagte er etwas leise und stockend: »Nun ist es Zeit. Ich muß nun zu den Regimentern.«

Darauf zog er seinen Reisemantel wieder straff um die Schultern, winkte mit dem Hut in der Hand und ging von ihr. Aber als der König den Hut in der Rechten schwenkte und dem Treppenhaus zuschritt, war es wie die Geste und das Tasten eines, der völlig abwesend ist mit seinen Gedanken oder auch von Schmerzen und von Müdigkeit benommen. Betroffen blickte Pesne ihm nach; er, der sich doch immerhin auf Gesichter verstand, bemerkte, wie gequält der Ausdruck des Herrn war. Nein, er hätte ihn so nicht malen mögen. Pesne liebte die heiteren Gesichter; und wenn auf dieser Erde die Heiterkeit nicht immer und nicht allenthalben aufzuspüren war, zum mindesten das Ebenmaß. Dieses einst blanke, leuchtende Antlitz des Königs aber war zu aufgewühlt.

An der letzten Türe wandte der Herr sich hastig um.

»Ich habe nicht von dir Abschied genommen, Fiekchen«, rief er zurück, eilte auf die Königin zu, nahm ihr Gesicht in beide Hände und küßte ihre Wangen. Sie, die gerade von dem hohen Ruhm des Welfenhauses in Britannien kündete, war von so vertraulicher Anrede nicht sehr angenehm berührt. Als bäte sie ihre Umgebung um Entschuldigung, blickte sie, etwas verlegen lächelnd, alle an. Der König sah nur, daß der Mund, den er küßte, lächelte – er sah es zum ersten Male wieder seit Carl Ludwig Wilhelms Tod. Da schossen ihm die Tränen in die Augen. Neuerdings war er so unbeherrscht.

 

Seit der König die neue Verfassung, all die Verfügungen und Durchführungsbestimmungen mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln bekanntgemacht hatte – von den Kanzeln; durch Räte, die das Land bereisten; durch umfangreiche Briefschaften und neuerdings endlich auch durch Druck, pro Dorf zwei Exemplare mindestens –, wußte der höchste Kommissar wie der kleinste Kanzlist im äußersten Winkel der Mark Brandenburg und des Königreichs Preußen, wie all das Neue zu verstehen sei. Es gab keine Ausflucht mehr. So gründlich, so deutlich hatte der König nun selber alles erläutert. Alle vierzehn Tage forderte der König Berichte solcher Art an, wie er sie selbst als Muster entwarf und versandte: »Zum Exempel: In Preußen ist ein guter Winter und starker Frost. Es kommt viel Zufuhr und Bestand an Lebensmitteln nach den Städten. Das Holz zu dem neuen Anbau wird stark aus den Waldungen angefahren. Der Bau gehet gut von statten. Man verspricht sich eine sehr reiche Ernte. Die Kommerzien, Schifffahrten und Manufakturen beginnen zu florieren. Diese Stadt und jenes Dorf ist abgebrannt. Die Noblesse mildert unter der Hand, den Generalhufenschoß zu werfen. Gegen dieses oder jenes Edikt wird stark gearbeitet. Dieser oder jener Edelmann opponiert gegen den Lehenskanonem. Dieses oder jenes Regiment kauft Fourage aus den benachbarten fremden Landen. Die Kammer wird ihre Quartale richtig bezahlen oder sie wird es darin fehlen lassen, aber doch so gültige Gründe dafür anzuführen haben, welche Seine Königliche Majestät, vermöge der Instruktionen, werden anerkennen müssen. Oder: es wird nötig sein, der Kammer scharf auf den Pelz zu gehen, daß sie bezahlt. Die Kammer ist sehr fleißig. Das Kommissariat auch. Die Königlichen Verordnungen und was in der Instruktion enthalten ist, wird befolgt oder nicht. In der und der Stadt sind zwanzig neue Häuser aufgebauet.«

Kurz und deutlich wünschte der Herr die Berichte gefaßt, »die Sache, worauf es ankommt, in wenig Worten und nerveus vorgestellt«. Weh dem, der nun, da der König selbst die Muster aufgesetzt hatte, noch in gewundenen Amtsstil und die gewohnte undurchsichtige Umständlichkeit verfiel, mit der man doch nur Zeit gewinnen wollte, Trägheit und Säumigkeit zu verbrämen.

Aus diesen Nachrichten nun sollte jede Woche ein kurzer Auszug für den König ausgefertigt werden. Je höher die Behörden standen, desto häufiger verlangte er Rapport. Das Generaldirektorium aber hatte dem König jeden Abend ein Protokoll über die Tagessitzung vorzulegen, und der Herr las es am nächsten Morgen, denn er duldete nicht, daß irgendeine Entscheidung, die etwas Neues enthielt, ohne seine Genehmigung getroffen wurde.

Wille und Geist des Königs beherrschten nun alles. Er selber weilte zur Truppenrevue in Brandenburg und Havelberg. Das Generaldirektorium erledigte nach seinem Plan seine Arbeit, als wäre der Generaldirektor zugegen. Das Residenzschloß war zur Herzkammer des Landes geworden. Schöne Räume, ehedem mit kostbaren Damasten bespannt, waren zum Versammlungszimmer mit seiner Geheimkanzlei und seinem Konferenzkabinett und zu Archiven der Kriegs- und Domänenkammer bestimmt. In anderen Sälen hatte sich das Forst- und Bergwerksdepartement niedergelassen. Zwei Geschosse eines Flügels reichten nicht mehr aus; ein drittes und viertes wurden noch für die Registraturen benötigt, und der König gab ohne Bedenken Säle mit bunten Marmorsäulen und Goldledertapeten, die über den Türen goldene Vasen hatten, dafür her. Er glaubte Berlin nicht besser ersetzen zu können, was er ihm durch seine Liebe zu Potsdam entzog, als daß er die neue Behörde im alten Schloß der Brandenburger ließ. Der Sinn so weiten Planens schien ihm nun erst erfüllt. Auch die leerstehenden Hofmeisterinnenappartements waren bereits mit Beschlag belegt. Zur schnelleren Verbindung zwischen seinen eigenen Zimmern und den Räumlichkeiten des Generaldirektoriums hatte der König durch das Portal an der großen Doppeltreppe einen hölzernen Quergang ziehen und eine Wendeltreppe aufführen lassen. In diesem Hause war nicht eine Stunde mehr zu verlieren. Eilverbindungen taten not, damit nur ja keine Verzögerung entstünde. Es war ein Schloß voll arbeitender Beamter und zeichnender Ingenieure statt konversierender Höflinge. Und die Männer, die am verantwortlichsten für sein Land zu arbeiten hatten, wünschte der König von nun an immer um sich zu haben. Er wollte mit Freunden regieren, jener wunderliche König, der sich in seinem Staat das Amt eines Generaldirektors erdachte und sich in seiner Armee nicht über den Oberstenrang, den er von seinem Vater erhielt, hinaus aus eigener Machtvollkommenheit zu befördern wagte. Der Generaldirektor brauchte die Subdirektoren zu Freunden und Hausgefährten und die Oberoffiziere zu Kameraden. Es war, als ertrüge er die Größe seiner Würde nicht; und in dem, was die anderen Hausbackenheit nannten, offenbarte sich am stärksten die ganze Weite seines Herzens und seiner Gedanken. Allmählich sprachen sie von ihm meist nur noch als dem Chef. Nur Fernerstehende sagten manchmal noch Rex.

Für die Zeit seiner Abwesenheit hatte der Chef genaue Arbeitspläne für sein Generaldirektorium ausgegeben. Den Tag seiner Beamten benötigte der König von sieben Uhr ab. Alles stand in diesem Plan verzeichnet. Das Pensum war verteilt; der Tag war gegliedert; Werk und Stunden nahmen ihren klaren Lauf. Nicht ein Zettel sollte übrig bleiben. Auf einer einzigen Sitzung des Generaldirektoriums kamen zweiundzwanzig bis sechsundneunzig Nummern zur Erledigung.

Die vom König entworfene Platzanordnung war bereits zur Selbstverständlichkeit geworden. Auf der einen Seite saßen die dirigierenden Minister, auf der anderen ihre Räte. Da man länger als bis zwei Uhr nachmittags versammelt bleiben mußte – denn die auf der Tagesordnung angesetzte Zuführung des pommerschen Ernteüberschusses nach den Notgebieten des Ostens bereitete nicht geringe Schwierigkeiten –, kam eine weitere Neuerung zur Geltung. Die Herren spürten, daß sie in des Königs Hause amtierten. An alles war gedacht. Für alles war vom Wirt und Meister gesorgt. Täglich um elf Uhr ließ der Küchenmeister durch den Kanzleidiener anfragen, ob er Anstalt zur Tafel machen solle oder nicht. Schlag zwei Uhr wurden »vier gute und wohlzubereitete Essen, eben als wenn für Seine Majestät selbst angerichtet würde, nebst Bier und Wein« nach oben gebracht. Zur Aufwartung mußte jedoch ein einziger Lakai genügen, damit das Sitzungszimmer nicht mit Dienerschaft angefüllt würde. Denn die Besprechungen durften keine Unterbrechung erfahren. Damit nun dieser eine zugelassene Lakai die Bedienung auch wirklich bewältigen könne, hatte Majestät schon angeordnet, daß jedem Mitglied seines Generaldirektoriums gleich vier silberne Teller – welche bisher das Vorrecht allein der Königin waren – für sämtliche Gänge nebst einem Glas für Bier und einem Glas für Wein hingestellt werden sollten. Auch mußte schon ein großer Korb zur Hand sein, in den das unreine Geschirr sofort abgestellt werden konnte. Außerdem verlangte der König, daß man in zwei Schichten speise; auch das war ganz genau vom Herrn fixiert, »wie die Halbscheid der anwesenden Chefs und Membrorum essen, die andere Halbscheid aber arbeiten könne, damit der Dienst rechtschaffen, fleißig und getreulich befördert werde«.

Gegen halb fünf Uhr, so nahm man an, würde das letzte Aktenstück erledigt sein; und da man eine derart lange Dienstzeit noch nicht gewöhnt war, begehrte man es sehr. Jedoch kurz vor vier Uhr wurde die Sitzung des Generaldirektoriums unterbrochen. Ein Diener, sonderbarerweise von der alten Madame de Montbail gesandt, verschaffte sich reichlich wichtigtuerisch und dringlich Zutritt und Gehör in der Konferenz. Dann aber hörten alle ihn in tiefstem Schweigen an.

Der König lag im Sterben.

Hundert Fragen brachen nun los. Aber jede weitere Nachricht fehlte. Frau von Montbail hatte nur ein paar flüchtige Zeilen erhalten, daß sie die Königin auf eine äußerst eilige Reise zum König vorbereiten müsse; der König sei in Brandenburg schwer erkrankt und in bedrohlichem Zustand nach Havelberg weitergefahren. Man redete von unsichtbaren Pocken und kaltem Fieber; jedoch der König sollte erklärt haben, auf unsichtbare und kalte Sachen gebe er nicht viel. Aber dennoch hatte er die Benachrichtigung gerade der alten Madame de Montbail gewünscht.

Niemand als sie und die Königin wurden zu ihm gerufen.

Vergeblich harrte das Generaldirektorium auf eine Weisung des Chefs. Es schien aber seine endgültige Order schon erhalten zu haben. Umsonst blieb man am Sitzungstisch zusammen. Für Grumbkow war das Warten voller tiefer Bitterkeit. Aber das Schauspiel des vergeblich Harrenden zu geben, vermied er mit altem Geschick. Er gedachte, die Königin der Teilnahme des Generaldirektoriums zu versichern und ihrer aller Wünsche für den König auszusprechen; er ließ sich bei der Königin melden. Aber sie kam ihm schon an der Empore vor ihren Zimmern entgegen und schritt die mächtige, auf ionischen Säulen ruhende Treppe herab, die sie überhaupt mit Vorliebe benützte. Die Königin war schon auf dem Weg zum Wagen; sie trug eines ihrer schönsten Kleider, die für die Trauer um den Jüngsten angefertigt worden waren, schwarzen Samt mit breiten Hermelinbesätzen, neumodische, sehr weite und lange französische Ärmel mit mächtigen Stulpen, ebenfalls von Hermelin, und dazu ein paar ihrer berühmtesten Perlen. Ihre Toilette durfte nicht zu reisemäßig sein. Denn es konnte geschehen, daß sie schon an eine Totenbahre trat. Die Ramen trug den Wagenmantel nach. Sonst folgte nur noch die Montbail.

In der Halle, in der die beiden weiten Treppen vom Flügel des Königs und der Königin her mündeten, erfolgte die Verabschiedung von Friedrich. Er kam der Königin entgegen, ließ seine Herren weit hinter sich und eilte zur Mama.

Die fühlte ihr Herz und ihre Hände zittern. Doch verwies sie ihn. Er dürfe nicht eilen, sie zu umarmen.

»Bewahren Sie die größte Fassung und Gemessenheit, mein Sohn. Das Schwerste – und Größte für Sie – kann mit jedem Augenblick geschehen sein. Bereiten Sie sich darauf vor.«

»Ich kann nicht mit zu Papa?«

Niemals waren die Augen des Knaben so groß, seine Wangen so blaß gewesen. Er war dem Weinen sehr nahe, obwohl er seinen Degen an der Seite spürte und ein Kapitän war.

»Der König hat Sie nicht berufen.« Die Mutter reichte ihm die Hand; sie sah ihn an mit schmerzlich hochgezogenen Brauen; dann winkte sie ihren Damen ernst und feierlich zurück.

In seinem Zimmer warf der Kronprinz sich über den Schreibtisch und weinte – weinte, wie nur sehr verlassene Knaben weinen können. Er hatte den kleinen Bruder verloren; er sollte den Vater verlieren; und niemand war im Schloß für ihn da.

Doch: Wilhelmine.

Wilhelmine war wieder völlig gesund und ohne ihre ständige Aufsicht.

An diesem Abend saßen sie zum ersten Male Stunde um Stunde eng umschlungen nebeneinander, weinten wie Kinder und redeten verständig wie Erwachsene, so lange, bis die Léti lärmend ihren Zögling zur Nachtruhe holte und die Offiziere Seiner Königlichen Hoheit mahnend an die Türe klopften. Kaum vermochte Wilhelmine sich von dem Bruder zu reißen. Er war so neu: zum erstenmal ihr Bruder. Doch Mama sagte ihr stets, sie dürfe in dem Bruder nur den künftigen König sehen. Morgen vielleicht war er König. –

Aber dann würde Mama sie alle beherrschen.

Mit diesem schweren Druck im Herzen ließ sie sich von der zeternden Léti zu Bett bringen.

Die Furcht vor der Mutter war noch größer als die Trauer um den Vater. Am größten war die ungeduldige Liebe zu dem einzigen Bruder. Erst an diesem Abend fand sie ihn: schmal und ernst und schön; und so klug.

 

Der kranke König war in die alte Propstei neben dem Havelberger Dom gebracht worden.

Groß und dunkel, gedrungen und gewaltig, ein steiles Gebirge, ein frommes Geklüft aus Wehrturm, Gewölben und Toren, ragte der Dom auf dem Hügel der Insel jenseits der Stadt, die von Elbe und Havel umflossen war. Ärmliches Fachwerk war tief an den Fuß des Domberges gedrückt. Ringsum waren weite, ebene Ufer zweier Flüsse fast wie ohne Grenzen, Maße und Formen; nur manchmal, einem fernen Schiffe gleich, leuchtete ein Streifen blauen Waldes in der Leere. Aber es war nicht mehr jener düstere, undurchdringliche, stets tief beschattete Wald, der den seltsamen Fluß bis an den Markstein des Havelberger Bistums nicht freigab, dann aber jäh von ihm ließ – den seltsamen Fluß: denn wie die Seen hohen Nordlandes und die breiten, mächtigen Ströme des weiten Ostens in einem floß die Havel dahin, unerschöpflicher Anfang und Ausbruch.

Unabsehbar rauschten und ruhten die Wasser; und der Wald verbarg ihr Geheimnis; undurchdringlich, unaufhellbar füllte er den Spiegel der Fluten. Jede Windung wurde zum neuen Wunder und Rätsel: würde sich nun der Fortgang verraten – Strom, See oder Meer?

Es war, als müßten all die Wälder noch zu Bergen wachsen, die Seen sich zu Meeren weiten, der breite Strom ins Uferlose schwellen – da, vor dem Havelberger Glockenhügel, ward er schmal und still und ebenmäßig und rann in gerader Bahn dem Ziele zu. Die Wälder rissen ab; die Seen entschwanden in plötzlicher Biegung des Laufes; ein schmales Band geduldigen, ruhigen Gewässers, verflüchtigte er sich zu Füßen des Domes, kaum daß noch Fischergärten, Fischernachen, zwischen den Weiden aufgespannte Netze, ungefüge, rauhe Stege seinen Ufern eine letzte Schönheit gaben. Im jähen und schweren ersten Ansturm schon verzehrt und erschöpft und versiegt, verrann die Havel in das klare, feste Bett des größeren, gleichmäßig dienstbaren Stromes, der gen Norden strebte. Ein plötzliches Versiegen war es, ein völliges Stillewerden, überklungen von Glocken und von der Wucht der Domesmauern umwehrt. An ihrer Mündung war die Havel nur noch wie ein armer Bach, aufgenommen in das große Gleichmaß und die unversiegliche Geduld.

Der Dom lag auf der freien Hochfläche des Hügels. Sein Turmhaus war wie das Wehrtor einer Burg, aus Feldgestein zu unfaßlicher Breite und Höhe gefügt. Schwere Pfeiler stützten das lange, rote, hochgewölbte Kirchenschiff, umschlossen es ganz und gaben nur die tiefen, schmalen Fenster frei. Wo sie durch ihre spitzen Bögen den weitesten Ausblick zum Tale hin hatten – denn es war in ihnen nur graues Bleiglas eingesetzt, ohne Traum und Dämmer bunter, frommer Malereien – zur Stadt und zur Brücke, zum Zusammenfluß der Elbe und der Havel hin, war zwischen Dom und Propstei, vom Kreuzgang umhütet, der Friedhof der Mönche, ein üppiger Garten aus Rosengesträuch und Fliedergebüsch, aus Linden und aus immergrünem seltenem Rankenwerk, für das nur die ältesten Leute drunten aus der Stadt noch einen Namen, wohl aus des reichen Bischofs Johann Wunderzeiten, wußten.

Über der besonnten Seite dieses Friedhofs zogen die Räume des kranken Königs sich hin: ein schöner Saal auf starken Pfeilern und mit tiefen Fensternischen nach dem Kirchhofsgarten; davor, zur Treppe hin, eine offene Halle, ein Gewölbe aus noch früherer Zeit, mit reichem Zierat einer lichten Sandsteinbrüstung. Die mündete zur einen Seite in den Aufgang, zur anderen auf einen Chor des Domes.

Vor dem Dunkelwerden kam die hohe Frau. Ihre Ankunft in Havelberg war still und doch feierlich, obwohl Königin Sophie Dorothea diesmal ohne Suite reiste und ein Empfang nicht stattfinden konnte. Aber auf der Brücke über die Havel und den Prälatenweg hinauf zu Dom, Propstei und Schlößchen hin reihten sich die Fackelträger. Die Königin berührte gar nicht die Stadt. Dort, wo die Annenkapelle den Aufgang zum Domberg bezeichnet, erschienen Kommandeur und Bürgermeister am Wagenschlag der königlichen Kutsche und stellten es der Königin als besondere Aufmerksamkeit dar, daß kein Empfang durch militärische und zivile Behörden vorbereitet wurde. Auch alles Volk habe man mit Ernst und Eifer dazu angehalten, die Königin ungehemmt ihren Weg an das Krankenbett nehmen zu lassen. Aber der schmale Pfad und die grasüberwachsenen Stufen der groben Treppe zwischen den Gartenmauern waren in aller Eile für die Königin mit Teppichen belegt worden.

Die Ramen trug ihr, tief gebückt, den Hermelin des Rocksaums. Zur Rechten der Königin schritt der Kommandeur, zur Linken der Bürgermeister von Havelberg. Madame de Montbail, welche erst in einigem Abstand folgen durfte, wurde von dem schnell herbeigerufenen Edelmann aus dem verarmten Schlößchen geführt, darin die Königin wohnen sollte.

In alledem war die Königin durch ihren Gatten so gar nicht verwöhnt. Die Fackeln gaben ihrem Domgang Glanz. Die Gärten, schon im Welken, dufteten nach feuchter Erde, nassem Laub. Von der Ebene der beiden Flüsse her stieg Nebel auf in flachen, dichten Wolkenfahnen. Um Dom und Propstei war abermals ein Ring von hoch empor gehaltenen Fackeln. Die großen Leuchter im Kirchenschiff waren angesteckt; ins Treppenhaus der Propstei hatte man Altarleuchter gestellt.

Der Augenblick, in dem sie das Krankenzimmer betrat, war dann leider bei weitem nicht so feierlich und so bewegt, wie Königin Sophie Dorothea ihn sich ausgemalt hatte. Der König saß nämlich im Nachthemd an einem alten Sakristeitische, diktierte dem Geistlichen des Ortes und machte wohl auch für sich selbst Notizen. Ihn gegen Erkältung zu schützen, hatte man den Herrn in seinen großen, blauen Mantel gewickelt; aber der war ihm sehr lästig, und immer wieder suchte er ihn abzustreifen. Nur jetzt zog er ihn fester um sich.

»Ah, meine Frau«, sprach er leise und brach das Diktat ab. Er kümmerte sich auch nicht mehr um den Pastor, die Ärzte und die Herren seiner Begleitung, die alle die Königin zu ihm geleitet hatten. Mit beiden Händen winkte er nur seiner Frau, recht nahe zu ihm zu kommen. Jetzt sah sie erst, wie krank er doch war.

»Ich habe heute noch sehr viel zu tun«, so sagte er und blickte zu ihr auf, wie sie nun so dicht vor ihm stand, »aber morgen werde ich mich ausruhen – ich muß mich nämlich ausruhen –, und dann sollst du den ganzen Tag neben mir sitzen. Du darfst mir nicht böse sein, wenn ich viel schlafe. Aber morgen muß ich ruhen.«

Das klang krank.

Und nun geschah das Kühne, daß man Ihre Majestät auf die Seite zu führen beschloß und sich bemühte, ihr möglichst wenig verletzend klarzumachen, daß sie wieder gehen müsse; der König dürfe im Diktat nun nicht mehr weiter unterbrochen werden; unmöglich könne er zu solcher Anstrengung ein zweites Mal den Ansatz nehmen. Danach bereitete man die Königin schonend darauf vor, es gehe um das Testament, und die Königin von Preußen gab Gelegenheit, ihre Fassung zu bewundern. Unverzüglich ließ sie den Gatten mit dem Geistlichen allein. Schweigend ging sie den Herren in die Halle voran. Alle folgten ehrerbietig, sie in ihr Quartier zu geleiten.

Eine halbe Stunde vor Mitternacht wurde der Königin von dem Geistlichen das Testament gebracht, versiegelt und mit feierlicher Aufschrift versehen.

Die Königin, von der Anstrengung der raschen Reise, dem Ansturm solchen Kummers und dem bangen Warten dieser letzten Stunden nicht mehr im geringsten mitgenommen, begehrte sofort den Gatten zu sprechen, ihm zu danken und die treue Befolgung aller seiner in dem Testament niedergelegten Wünsche zu geloben.

Der König, wurde ihr bedeutet, habe aber mit der Aufsetzung des letzten Willens eine übermenschliche Leistung vollbracht. Der König müsse erst schlafen, ganz fest schlafen. Dann könne Ihre Majestät ihn vielleicht noch einmal sehen.

Was hieß das: noch einmal? Die Königin sprach jedoch die Frage, die ihr ganzes Denken erfüllte, nicht aus. Nichts als ungeheure Spannung war in ihr – nicht Angst; nicht Schmerz; nicht Sorge –. Der Überbringer des königlichen Testamentes ging. Die Königin durchwanderte von neuem ihre drei Havelberger Zimmer. Sie hielt das Testament in Händen. Sie sah die Aufschrift, daß es ihr allein bestimmt, von ihr selbst aber auch nur nach dem Tode ihres Gatten zu eröffnen sei. Der Gedanke durchfuhr sie und ließ auch nicht mehr von ihr ab, daß sie, wie auch über Tod und Leben des Gemahls entschieden war, sich herausreden wolle mit der qualvollen Erregung dieser schmerzensreichen Stunde, in der ihr das Testament des Königs überbracht ward. Hartnäckig gedachte sie zu behaupten, sie habe es erbrochen, ohne – tränenumflorten Blickes – die Zeilen der Aufschrift überhaupt bemerkt zu haben; dann aber habe sie den Inhalt in sich begraben.

Und sie brach das Testament auf. Sie las es im Stehen. Die Ramen trug einen Leuchter herbei. Die Blätter in den Händen der Königin bebten. Auch hörte man ihren Atem.

Sie war zur Regentin des Königreichs Preußen ernannt. Nie, stand verzeichnet, habe sie ihrer Würde etwas vergeben, stets ein beispielhaftes Leben geführt und in allen entscheidenden Fragen, man denke nur an die Clementschen Intrigen, die Interessen des Brandenburgischen Hauses, durch Verschwiegenheit selbst ihrem eigenen Hause gegenüber, gewahrt.

Im übrigen, hieß es, sei für den glatten Ablauf der Geschäfte durch die neue Institution des Generaldirektoriums gesorgt; der Befehl über die Armee sei ihrem Generalissimus, des Fürsten Anhalt-Dessau Liebden, zu belassen.

Die Königin las und las. Immer noch im Mantel, hockte sie jetzt auf dem Bettrand, des Sessels nicht achtend, den die Ramen ihr zuschob. Willig folgte die Ramen ihr mit dem Leuchter.

Der Sieg der Königin war vollkommen. Doch mußte sie schweigen, bis sie die Regentschaft antrat. Es war unerträglich schwer. Sie jammerte und klagte um den König. Dabei ließ sie sich nun endlich von der Kammerfrau entkleiden. Dazwischen gedachte sie in bewegten Worten daran, welch sorgende Gedanken einem König die letzten Stunden erschwerten. Und in solchen Reden verriet sie endlich gar den Inhalt des Testaments; sie sprach ihn nicht im Wortlaut aus; sie befreite nur ihr Herz. Die Ramen war nach kurzem völlig im Bilde. Die Königin rief die Kammerfrau zur Zeugin an, daß sie in ihrem Schmerz und ihrer Verwirrung die Aufschrift übersehen hatte. Die Ramen bezeugte Verwirrung und Schmerz.

Und wieder durchschritt Königin Sophie Dorothea, nun im spitzenreichen Nachthemd und die braunen Locken lose um die Schultern, die drei Räume, aus denen die Familie jenes armen Havelberger Edelmannes für die Bequemlichkeit der Königin geflohen war.

Als nun die Königin ihre nächtliche Wanderung wieder aufnahm, schrieb die Ramen – das Reiseschreibzeug wurde schleunigst von ihr ausgepackt – bei einer kleinen Kerze auf den Knien alles nieder, was sie den vorigen Reden ihrer Herrin entnahm.

Denn sie konnte ja unmöglich wissen, wie in Zukunft die Parteien sich bildeten, verfeindeten, verbündeten; und sie wollte weiter ihr Glück machen. Es war besser, wenn es zwei Ausfertigungen des Testamentes gab, namentlich, wenn König Friedrich Wilhelm leben blieb. Und wenn die Härten des Daseins es jemals verlangten, konnte man dann etwaig Interessierten einen Einblick geben, wie es um Königin Sophie Dorothea im Herzen des Königs bestellt war und was es für sein Königreich bedeutete.

 

Der König war in dieser Nacht nicht mehr eingeschlafen. Unruhevoll und erschöpft und manchmal auch leise stöhnend lag er auf seinem Bett. Aber er wollte allein sein. Ärzte und Bediente mußten in der kleinen Halle warten, die von hohen Mauerbogen nach der Kirche hin durchbrochen war. Von den Kirchenleuchtern drang ein heller Schein herauf, sie sollten die ganze Nacht hindurch brennen; auch auf die Brüstung der Halle waren noch Kerzen gestellt.

Das Domtor blieb unverschlossen. Gesinde, das im Notfall zur Apotheke eilen mußte, hielt sich im Vorraum unter dem Glockenturm bereit und schlug sich dort ein Lager auf. Offiziere kamen in regelmäßigem Wechsel aus der Stadt herauf, sich nach dem Zustand des Kranken zu erkundigen. Vor Propstei und Dom löste die Wache sich mit dem Anbruch jeder dritten Stunde ab. Zwischen dem hohen Holzwerk des Chorgestühls in der Apsis, zu Häupten und Füßen von Bischof Johanns Grabmal, loderten in alten Kupferbecken Kohlenfeuer, denn es galt, für den König des öfteren Tücher zu wärmen, und für die schweren, breiten Becken fand sich im Propsthaus kein Raum. Es war eine seltsame, verhaltene Lebendigkeit in der nächtlichen Kirche.

Um den Kranken herrschte tiefste Stille. Er blieb wirklich allein. Und obwohl das Testament vollendet und versiegelt war, schrieb er weiter – schrieb mit eigener Hand und diktierte nicht mehr. Er schrieb angestrengt, schrieb steil in die Höhe, von rechts nach links; Deutsch, Französisch und Lateinisch war gemischt, lateinische Worte waren mit deutschen Buchstaben geschrieben, deutsche mit lateinischen. Heimlich machte der Herr seine Aufzeichnungen, sobald der Arzt und der Diener ihn verließen, und so blieb trotz allen Spürsinns der Kammerfrau Ramen ein Schriftstück doch wirklich geheim: Friedrich Wilhelms Brief an seinen Sohn, das politische Testament für den blutjungen Thronfolger, das Vermächtnis, das schon weit über die Zeit der mütterlichen Regentschaft hinaussah – Worte des Königs nur für den König. Hätte die Königin von diesem Testament gewußt, es wäre ihr bitter gewesen. Als der König diese Blätter unter Schmerzen schrieb, sah er seltsamerweise nie das Kind vor sich, für das er sie bestimmte, sondern immer nur den fertigen, jungen Mann, der alles von ihm fordern durfte, als hätte von nun an er ihm zu befehlen. Fast war es, als verlöre der König im Schreiben auch noch seinen letzten Sohn. Nur der fremde, junge Herrscher stand vor ihm. Dem legte er Rechenschaft ab. Dem riet er. Dem erklärte er. Den bat er. Dem verhieß er Fluch und Segen.

Manchmal nur, im kurzen, trügerischen Schweigen der Schmerzen, wurde dem König bewußt, daß er all das Schwere und Geheime, das er da schrieb, den weiten Überblick über alle inneren und äußeren Beziehungen und Verhältnisse seines Landes, einem kleinen, zarten Knaben hinterlassen sollte. Dann flössen Worte der Zärtlichkeit in seine hochpolitische Schrift. Dann sprach er auch von sich und ihm.

»Ich fange an in etlichen wenigen Stücken von meinem Lebenslauf zu schreiben. Mit Gott dem Allerhöchsten stehe ich wohl und habe vom zwanzigsten Jahre meines Alters mein ganzes Vertrauen auf Gott feste gesetzet. Also bitte ich meinen lieben Sukzessor, ein reines Leben und einen reinen Wandel zu führen und seinem Lande und seiner Armee mit gutem Exempel voranzugehen. Das ist eines Regenten, und besser zu sagen, Euer Werk. Arbeiten müßt Ihr, so wie ich es beständig getan habe; denn ein Regent, der mit Honneur in der Welt regieren will, muß seine Affären alle selber tun. Also sind die Regenten zur Arbeit erkoren.

Mein lieber Sukzessor, was wird die Welt sagen von der allgemeinen Augmentation der Armee bei Eurer Thronbesteigung – was für eine formidable Puissance Ihr von Euren Feinden seid, deren unser Haus sehr viele hat.

Meine bisherige Domäneneinrichtung hat nichts getaugt. Aber dieses Jahr habe ich das Werk mit Force angegriffen und habe angefangen zu bauen und zu verbessern. Es hat mich sehr viel Mühe gekostet, es so weit zu bringen, wie es jetzt ist; denn es ist ein großer Querstrich gegen die Privilegien des Adels, nach denen der Landesherr vom Adel dependieret; und jetzt dependieret allein alles von mir – dependieret sonder Räson – ist das nicht besser? Eure Affären stehen ja gut. Ihr habt zuviel Verstand, einen faux pas zu tun.

Nun muß ich meinem lieben Sukzessor connaissance geben von allen meinen Provinzen an Ländern und Leuten ...«

Und er schrieb dem Sohn das Buch seines Landes und Volkes, von den Menschen, Äckern und Städten, den Ämtern und den Regimentern; er schrieb von den Nöten, den Mängeln, dem Besitz, von Widerstand und Verstocktheit, von Bereitschaft und Errungenschaft, Wert und Unwert, Möglichkeit und Unabänderlichkeit; er schrieb als einer, der nichts scheute, alles prüfte, in nichts sich belog, nichts verkannte, vergrößerte, verkleinerte und in allem bereit war zu dem Dienst an den Menschen und der Erde, die Gott ihm gab, mit der ihn Gott belud –.

Härter konnte kein König über seine Untertanen richten, glühender kein Herrscher für das Wohl des anvertrauten Landes raten und warnen –.

»Mein lieber Sukzessor muß seine Länder und Provinzen jährlich bereisen, wie ich es getan habe –«

Er entwarf ihm die Charakteristik jedes einzelnen seiner hohen Beamten bis in die letzten, kaum noch faßbaren Züge –.

»Ich versichere euch, daß ich von meinen Beamten wenig Assistenz gehabt habe. – Also habe ich in den verflossenen neun Jahren nicht mehr tun können –«

Er enthüllte vor ihm die ganze Qual, den ganzen Fluch, die ganze Unentrinnbarkeit der europäischen Traktate: »Die Traktate, die ich schließen mußte, sind mein Tod. Und daran bin ich krank geworden. Ich vergebe es als ein Christ. Aber Gott wird meine Partner finden.« Er hämmerte dem Sohn und Erben ein, was einzig und allein der Ausweg sei, den tödlichen Verflechtungen sich zu entziehen: Die Waffe, der Schatz, das Wort Gottes. »Folgt meinem Rat; der ist gut; ich habe alles selber aus der Erfahrung: Wohlstand eines Regenten ist, wenn sein Land gut bevölkert ist. Menschen sind der rechte Reichtum eines Landes. Von jedem Menschen, der in einem ungerechten Kriege geblieben ist, müßt Ihr einmal Rechenschaft geben. Bedenkt, wie scharf Gottes Gericht ist. Lest die Historie, da werdet Ihr sehen, daß die ungerechten Kriege nicht gut abgelaufen sind. Da kann mein lieber Sukzessor sehen die Hand Gottes. Vor Gott Rechenschaft tun, das ist eine harte Sache.«

Unter dem Vorwand steigenden Ruhebedürfnisses hatte der König nach dem Alleinsein verlangt. Aber schreibend brachte er die Nacht hin.

Schmerzen und Mattigkeit, Unruhe und Beängstigung des Herzens waren groß. Aber es war so wohltuend und mehr als alle Menschenreden tröstend, daß er nun so im geheimen nur mit seinem Sohne sprach. Mit jeder Zeile, die der König schrieb, wurde der Sohn ihm älter und älter, wurde ein junger Obrist, ein stämmiger Junker um die zwanzig Jahre, ein Mann im gleichen Alter wie der König – der einzige, zu dem er sprechen durfte, sprechen mußte, nun es an der Zeit war.

Denn die Kräfte des Königs waren erschöpft – überschätzt und vergeudet; oder aber: von Gott selbst versagt. Der »liebe Trux« war ja im Dienste schon des Königs von Preußen aufgerieben und verzehrt, war auf der Höhe der Jahre gestorben: ein Opfer endloser Ritte durch seines Königs Unglücksland, unermüdlicher Ritte und Fahrten im östlichen Winter –. Und was war die Fron beim König von Preußen, gemessen an der Schwere des Dienstes, den der König von Preußen vor seinem größeren Herrn tat!

In dem frühen Zusammenbruch blieb nur die eine Hoffnung: der Sohn. Mit einem Male war er riesengroß für ihn herausgehoben vor allen anderen Menschen, die des Königs Zeit bisher unablässig verlangten; hervorgehoben auch vor den wenigen Helfern, die über der Schwere ihres Amtes zugrunde gingen, wie der »liebe Trux«. Nur die Mutter war noch, die den Sohn zur Reife hingeleiten sollte, die fruchtbarste der Königinnen, die Regentin über eine menschenarme Erde. Die anderen mit ihren Fragen, Forderungen und Verlangen blieben nun fern.

Nichts war mehr da als die Frau und der Sohn.

Er selbst, der Herr, war ausgelöscht.

Was waren die Pläne, die er entwarf, für die er kämpfte? Voranschläge und Berechnungen, die Gott ihm frühe aus der Hand nahm, ohne ihm ein Zeichen zu gewähren, welche er verwerfen, welche er ausführen lassen werde!

Jede Stunde konnte Gott ihn aus dem Werk abrufen. Das war ihm nun deutlich gewiesen.

Aber auch der letzten Stunde mußte der König noch dienen in der Erwartung solchen Rufes.

Das war die Wehmut und die Weisheit des kaum Dreißigjährigen, war eine Fügsamkeit und ein Wissen, die ihm seinen Leib verzehrten, der tausendfach der Fruchtbarkeit seiner armen Erde verschrieben war.

Er ahnte nicht, daß er auch jetzt, von allen Ärzten aufgegeben und sterbend geglaubt, auf dem Lager zwischen Dom und Mönchsfriedhof, schöpferischer war als in den Tagen glühendsten Lebens.

Er hatte kaum auf Schönebeck das Buch geschrieben, wie der Bürger und der Beamte seines Landes heranzubilden sei, da schrieb er, der Verächter aller Federfuchser, in der Havelberger Propstei nun einen großen Nachtrag, einen zweiten Band, nämlich, wie ein König wird.

Jede Zeile quoll von eigener Erfahrung über. Jeder Ausspruch war mit eigenem Leiden, eigener Tat besiegelt.

Nun mochte in den kühlen Domesmauern die frühe Stille über ihn kommen, die er, von Erschöpfung und von Schmerzen aufgerieben, selbst in dieser Stunde noch nicht ganz als sein Geschick begriff. Alles in ihm drängte noch zur Zukunft, und nur dieses war Erleichterung, daß sie vor ihm war als ein Bild, als ein Mensch, als der Sohn, der eine, der ihm noch gelassen war. Nun war der näher noch als der Freund in Dessau, näher noch als die Frau –.

So gab es in der schweren Nacht im Havelberger Dom zweierlei Aufzeichnungen seines letzten Willens: das Testament für die Frau, das Testament für den Sohn. Das erste genügte der Sitte. Es war mit Zärtlichkeit, Achtung und Dankbarkeit geschrieben und durchsetzt von dem großen Irrtum seiner Liebe. Im anderen, das so ernüchtert, so enttäuscht, so voller Zweifel von den Menschen sprach, war der Ruf Gottes laut geworden, der an die Könige der Erde ergeht: den Sumpf in wogendes Feld, den Sand in blühende Gärten und Sünder in Gotteskinder zu verwandeln.

 

Der König glättete die Blätter, er faltete das Bündel sauber zusammen. Noch in der endenden Nacht rief er nach Ewersmann, es zu versiegeln, und nach dem Geistlichen, es zu verwahren.

Er glaubte, nun sei keine Zeit mehr zu verlieren. Ewersmann erschrak sehr, als er in dem Spitzbogengewölbe die Kerzen am Bette des Königs immer noch brennend fand. Fast waren sie schon hingeschmolzen. Der König wurde vom Diener aufs neue gebettet. Die Ärzte wurden wach und sahen nach ihm. Manche waren sehr verschlafen und hatten auf ihrem in der Halle eilig und notdürftig hergerichteten Lager so elend gelegen, daß sie sich nun kaum recken konnten.

Der Leibarzt blieb mit Ewersmann allein beim König. Die anderen schickte er hinaus. Sie sollten ihn am Morgen ablösen. Sie glaubten dem Vorwand sehr gern.

Der König schlief ein. Doch war es kein Schlaf der Genesung. Der König schlief tief, wie benommen. Er stöhnte im Schlaf. Seine Zähne knirschten. Seine Füße zuckten.

Ehe er die Kerze mit einem Lichtschirm verdeckte, sah der Leibarzt noch, wie der Herr im Schlaf verfiel. Harte Schatten setzten sich um seine Augen ab. Die Arme lagen steif und schwer auf die Decke gepreßt; die Adern an den Händen waren sehr geschwollen.

Er wollte eine harte Kur mit ihm versuchen. Das beschloß der Leibarzt des Königs mit sich allein. Er sann über das Mittel.

Um die Dämmerung schickte der Leibarzt den Diener zum Küster. Die Glocken sollten nicht läuten. Der Herr mußte schlafen. So kam der Morgen über Havelberg herauf, und zum ersten Male blieben die Glocken des Domberges stumm. Dadurch blieb der Schlummer auch der Königin ungestört. Sie schlief lange, denn die Nacht war über der Wanderung der Königin durch ihre Räume fast hingegangen. Natürlich war die hohe Frau beim Erwachen sehr erschrocken. Aber die Ramen vermochte sie schon zu beruhigen. Lächelnd beugte sie sich zu der Herrin: »Der König schläft.«

Die Königin zeigte sich sehr glücklich und entlastet, schien aber gar nicht sehr ruhig.

Die nächste Botschaft, die Ewersmann brachte, besagte, daß der Schlummer Seiner Majestät nicht gut sei, gar nicht gut.

Der Leibarzt, von dem Regimentsarzt abgelöst, war selbst zur Apotheke in die Stadt hinuntergegangen und ließ sich wohl an hundert Büchsen reichen. Er sann noch immer über dem Mittel. Denn er kannte die Krankheit noch nicht.

In Havelberg redeten sie den ganzen Morgen davon, daß die Glocken droben heute nicht geläutet hatten und daß der Leibarzt, als er vom Prälatenweg her über die Brücke zur Apotheke hinabkam, keines Menschen Gruß erwiderte und keine Frage beantwortete.

 

Die Leute in den Dörfern an der großen Landstraße über Friesack und Glöwen nach Havelberg hatten es sich entgehen lassen, daß die Königin an ihnen vorübergefahren war. Das größte Ereignis seit Menschengedenken – nun war es dahin. Nun hatte man das Nachsehen und konnte nur darüber reden. Reden, das kann man ja zum Glück noch immer.

Weil man aber vom Leben eines Hofes nun fast gar nichts wußte, kam man gar nicht auf den Gedanken, daß auch in den nächsten Tagen noch reiche Kutschen aus der Hauptstadt folgen könnten. Nach ihnen hielt man nicht erst Ausschau. Aber die Kutschen kamen doch; früh, mittags, gegen Abend; es flitzte und polterte nur so durch die Dörfer. Die Leute gingen nun nicht mehr von den Gartentüren und den Scheunentoren weg. Um die Melkzeit schrien die Kühe vergeblich.

Die erste Kalesche hatte zum galonierten Kutscher auch noch drei Lakeien; einen auf dem Vordersitz, die beiden anderen hintenauf. Im offenen Wagen, ganz von Staub umwölkt, saßen zwei hohe Herren, aber nur der eine von ihnen in prächtigem Reisemantel und Hut.

Die im Dorf zerbrachen sich vergeblich den Kopf und rieten müßig und sehr aufgeregt herum. Später kam ein Junge aus dem Nachbardorf gelaufen. »Das Gespann hat an unserer Schmiede gehalten! Ein Pferd hat seinen linken Hinterhuf verloren! Die Herren sind an unserer Schmiede ausgestiegen! Ein Lakai hat uns gesagt, wer sie waren: Der mächtigste Minister! Und der Alte Dessauer!«

Da wurden sie alle zur Seite getrieben. Mitten durch den Haufen Kinder donnerte die nächste Kutsche, ein hoher, dunkler, etwas altmodischer Kasten. Den geistlichen Herrn hatte niemand gesehen. Der Prediger Roloff lehnte tief im Winkel seines Wagens.

Professor Gundling aber war untröstlich, daß er in seiner großen Aufmachung einen elenden Karren, wie er nicht mit Unrecht sagte, zur Reise nach Havelberg benutzen mußte. Jedoch der erste Sold seines neuen Amtes bei Hofe reichte zur Equipage noch nicht aus.

Wenn das Poltern des Wagens es nicht nahezu unmöglich machte, unterhielten sich Herr von Grumbkow und der Fürst von Anhalt-Dessau, den er selbst herbeigerufen hatte, sehr lebhaft. Seit Grumbkow sich als Gegner Clements so bewährte, war der Fürst viel aufgeschlossener. Unvermeidlich war, daß sie die Frage der Regentschaft berührten. Gehörten sie in den Regentschaftsrat? Welche Vollmachten lagen bei Ihrer Majestät? Der Generalissimus betrachtete den Minister; der war nicht von der Art, die er liebte: zwar war er groß und voll, doch ohne Kraft; zwar waren seine dunklen Augen beherrschend, leuchtend und bedeutend, doch von einem zu schimmernden, feuchten Glanz. Sein Mund war zu weich, zu schön und zu voll. Der Dessauer konnte sich Grumbkow, trotz des hohen militärischen Ranges, den er bekleidete, nie als Offizier vor seinem Regiment vorstellen. Es war kein gutes Zeichen, wenn der Fürst von Anhalt-Dessau dies an einem Mann entdeckte.

Herr von Grumbkow konnte es dem Fürsten nicht so ganz verschweigen, daß er nicht in dem vollen Maße, wie man seit dem Falle Clement annahm, Partei mit der Königin war. Gerade um ihretwillen trüge er, versicherte er der Durchlaucht, manche Sorge um das Land. Das brachte ihn dem Fürsten näher.

In der Frage, ob ein Testament vorhanden sei und was es enthalte, spitzte alle Sorge und Erwägung sich zu.

In Havelberg war ihr erstes, daß der Fürst und der Minister Ihrer Majestät ihre Aufwartung machten. Zur Stunde befand sie sich in der Propstei bei dem Patienten; und während er schlief, schrieb sie Briefe; Briefe nach England und sogar an die verbannte liebste Frau Hofmeisterin, die hübsche, respektlose, indiskrete Blasspiel. Es war genug aus dem zu ersehen, was Königin Sophie Dorothea selbst sich nur als ungefähre Andeutung dachte.

Gerade als die Königin von ihrem Schreibplatz aufsah, öffnete Ewersmann die Tür für den Arzt. Draußen sah sie den Fürsten und Grumbkow; und jedes Bündnis, das mit Grumbkow je einmal gegen Clement geschlossen wurde, war im Augenblick vergessen und verschmäht. Sie wollte die Generalität und die Ministerien, personifiziert in diesen beiden, in einer Stunde, die ihr alle Macht verhieß, nicht auf dieser Schwelle sehen. Sie glaubte gerade der Geschlechter sicher zu sein, die ihr Gemahl die vornehmsten und schlimmsten nannte, nämlich der Schulenburg, Alvensleben und Bismarck mit ihrer hannoverischen Politik. Sie fühlte sich stark genug, einem Fürsten von Anhalt standzuhalten, der es, wie der Gatte und der Zar, immer mit den kleinen Leuten hielt und gegen die großen Herren auftrat. Der Gedanke an seinen Schwedter Neffen und dessen brandenburgisches Erbrecht, wenn Friedrich etwas zustieß, war ihr furchtbar. Ach, ihr, ihr Sohn galt manchem als zu schwach, um seine Großjährigkeit zu erleben!

Aber stärkte nicht der König selber sie, die Regentin, gegen Anhalt und Schwedt? Auch nach den Reichsgesetzen hätte der Schwedter in das Testament als Mitregent eingesetzt werden müssen! Vertraute der Gatte, als er es unterließ, so fest darauf, daß sie nach seinem Tod noch einen Sohn gebären würde?

Königin Sophie Dorothea stützte sich auf ein Testament, dessen Inhalt sie nicht kennen durfte. Sie hielt sich an einen Adel, der Welfenpolitik gegen seinen brandenburgischen Herrn trieb. Sie fieberte vor Stolz, welche Macht ihr vom Gatten zugedacht war; und sie legte sich Rechenschaft darüber ab, für wen und gegen wen sie diese Macht und solches Vertrauen gebrauchte. Sie wollte nur endlich eine wahre Königin und nicht die Frau eines Plusmachers sein, der sich mit »Kläffern« umgab! Heftig legte sie die Feder hin, stand auf, trat vor die beiden Mächtigsten des Staates und schloß hinter sich die Tür zu dem Saal mit dem Kranken.

Mit so stolzer Miene, wie sie sie ihnen gegenüber noch niemals angenommen hatte, erklärte die Königin fast ungezogen, der König lasse sich jetzt nicht sprechen. Der Zustand, in welchem er sich befinde, mache für den Augenblick die Gegenwart der Herren in Havelberg, die sie aber dankbar vermerke, ganz unnötig. Daher würden sie wohl daran tun, wieder nach Berlin zu gehen, um dort alles in Ordnung zu halten, falls es der Vorsehung gefallen sollte, über den König anders zu gebieten.

Der Fürst von Anhalt wollte ihr darauf antworten. Allein die Königin unterbrach ihn und sagte ihm, sie sei so niedergebeugt, daß sie ihn unmöglich anhören könne.

Schrecken und Unruhe ließen Grumbkow nicht einen Augenblick mehr ruhen. Er sah sich von hannövrischem Adel verdrängt. Er eilte zum Kommandeur, er meldete sich bei dem Geistlichen an. Er mußte in Erfahrung bringen, was nur zu erfahren war. Er stürmte davon. Der Fürst – sonst leicht gereizt und hochfahrend – war still. Er ging sehr langsam hinaus. Nun würde er den Freund vielleicht nie mehr sehen.

Draußen, vor der Mauerumhegung des Domes und seiner alten Bäume, auf der freien Höhe über dem Tal der beiden Flüsse war eine steinerne Bank. Dort saß der Generalissimus, als wäre er ein Träumer geworden.

Den schmalen Weg vom Mal der Wundertränen von Wilsnack und der Sankt-Annen-Kapelle her kam der Prediger Roloff herauf.

Der Fürst hielt von Kirche und Pfaffen nicht viel, auch wenn er den Choral »Ein' feste Burg« gern als des Herrgotts Dragonermarsch gelten ließ. Aber der hier war anders. Das wußte er vom Freund, dem König. So sprach er ihn an; er wollte mit einem reden, der zu dem König gehörte; er brauchte einen, zu dem er von dem Freunde sprechen konnte.

»Wird er denn leben? Halten Sie es denn für möglich, daß der König nicht stirbt?« drang der Fürst in den Pastor.

Der antwortete ruhig: »Wenn der Tod nicht nur der Sold der Sünde ist, sondern auch die letzte Erfüllung unseres irdischen Auftrags – dann wird der König noch leben.«

Damit ging er unverzüglich zum König und wurde auch vorgelassen. Der König war erwacht. Er sah den Prediger sehr aufmerksam an und bat die Königin mit freundlichem Wort und äußerst höflicher, wenn auch sehr schwacher Geste, ihn mit dem Geistlichen allein zu lassen. Dann fragte er: »Steht es denn so mit mir, daß Sie von selber kommen?«

»Manches wissen die Ärzte nicht, Majestät, darum bin ich hier.«

Der Pastor hatte nun nicht minder oft als der Leibarzt des Königs an Sterbebetten gestanden. Der vor ihm war kein Sterbender. Es war noch nicht das Stillewerden der Erfüllung. Die erste Stille war es, ohne die kein Schaffender beginnen kann: der Verzicht auf allen Glauben an die eigene Kraft, auf das Vertrauen auf den eigenen Plan; auf Lohn, Verdienst, Vollendung und Bestand; auf die Enthüllung des Sinnes, der nicht erkannt und nur geglaubt sein darf. Die erste Stille war es, in der Gott zu reden beginnt mit dem Menschen. Davon sprach er zu dem Herrn und dachte, als sie nun beide schweigend verharrten: Der König hat sehr viel verloren. Der König hat auf viel verzichtet, sein Wille ist sehr oft gebrochen. Er muß vielleicht die Königin verlieren. Sie ist die Welt, die sein Herz noch ganz umschlossen hält; denn der eine Sohn gehört einem König wohl nie. Er wird leben, um das Herz von dem letzten zu reißen. Er wird leben, um das Äußerste zu vollbringen, das ein König tun muß, den Gott in seine Hände gezeichnet hat, sichtbar vor allen und nur dem Gezeichneten selber verborgen. – Der König brach das Schweigen; er sagte: »Der Arzt soll mir ein neues Mittel geben.«

 

Der Leibarzt hielt das neue Mittel schon bereit. Es hieß Ipecacuanha und war im wesentlichen belanglos.

Der König mußte erst vorbereitet werden, damit er es einnehmen konnte. Darüber verging eine Stunde. In ihr empfing der König den Professor Gundling. Der Herr bestand darauf.

Gundling nahm auf gar nichts Rücksicht. Er vollführte ein fürchterliches Theater.

»Oh, über die zünftige Wissenschaft!« rief er aus. »Ich werde Majestät untersuchen, ich!«

Und er tat, als taste er die schmerzenden Stellen ab.

»Oh, seht, seht, was ich da finde! Dieser schmerzende Strang von Adern – natürlich vom Herzen her! Seine Majestät leiden an verwundeten Gefühlen! Seid alle meine Zeugen! Oh, wo waren eure Augen, meine Herren Kollegen aus der hohen Medizin? Diese Nervenstränge, brennend und entzündet, kommen vom Kopfe her, direkt aus der Mitte der Stirn! Verwundete Gedanken sind es, meine Herren medici, verwundete, zerrissene Gedanken! Seine Majestät der König von Preußen geruhen an etwas völlig Neuartigem zu leiden! Ich mußte kommen, es zu entdecken! Denn es war – und eben dieses weiß nur ich – ein Halbjahrtausend ante Christum natum ein König –«

Der König lächelte.

Gundling sah ängstlich auf des Königs Lächeln, so pomphaft er auch gestikulierte. Es entschied seine Zukunft.

Der Leibarzt, gute Miene machend zu dem bösen Spiel, bemerkte, so unzulänglich wie Kaltes Fieber und Unsichtbare Pocken sei des Geschichtsprofessors neue Diagnose nicht. Man könnte vielleicht Nervenkolik sagen.

Der König nahm Ipecacuanha ein. Er erbrach sich sehr.

»Weg mit den Fetzen der verwundeten Gedanken!« triumphierte Gundling, wenn der König sich erbrach. Dabei überlegte sich der Professor aber schon wieder eine seiner schönen antikischen Parallelen, die er dem König, wenn er nun genas und unterhalten sein wollte, zu erzählen gedachte. Diesmal sollte sie mit einem Worte des Pythagoras anheben: »Jeder Mann muß, um sein Leben gut zu vollenden, vier Dinge vollbracht haben: er muß ein Buch geschrieben, einen Baum gepflanzt, einen Sohn gezeugt und ein Haus erbaut haben.«

Der Herr hatte tausend Bäume gepflanzt und aber hundert Häuser gebaut; er hatte einen Sohn gezeugt und nun gar auch ein Buch geschrieben, wie ein Land zu regieren ist und wie ein König wird.

Aber für einen König schien dies alles nicht genug zu sein. Er mußte mehr vollbringen. Sein Leben war mit alledem noch nicht »gut vollendet«.

Das Ipecacuanha hatte es entschieden.

 

Ohne die Krisis abzuwarten, reiste der Prediger Roloff nach Berlin zurück; für ihn war der Spruch über Tod und Leben des Herrn schon gefällt.

An seinem Wagenschlag erschien noch einmal der Fürst.

»Sie rechnen so fest damit, daß er am Leben bleibt, Hochwürden?«

»Das Wort ›rechnen‹, Durchlaucht, darf für mich nicht vorhanden sein. Dort drüben am Dom liegt einer, der aufgehört hat mit dem Rechnen. Ich nenne das eher Anfang als Ende.«

Dem Fürsten lag noch mehr am Herzen.

»Hochehrwürden – wenn er nun lebt – nicht wahr, man kann doch nicht zu einem kaum genesenen Freunde gehen und ihm sagen: ›Du, hör einmal, ich muß dir die Augen öffnen über deine Frau.‹ Und dann kann man überhaupt gar nichts mitteilen – sie ist, was man edel nennt, ist befähigt, mütterlich, reiner als eine ihresgleichen rings –.«

»Niemand als Gott kann da die Augen öffnen, Gott, dem die Sünder näher sind als die Gerechten. Wir dürfen uns zu diesem Dienst nicht drängen, Durchlaucht. Er könnte sich leicht zum politischen Schachzug verwandeln.«

Die Pferde zogen an.

Der Fürst von Anhalt-Dessau konnte nur noch leise für sich murmeln: »Nicht wahr, das meine ich auch.«

Plötzlich empfand er wieder, als bestünde da ein Zusammenhang, seinen alten, guten Haß gegen Grumbkow. Doch mußte er im Gasthof »Zur Stadt Magdeburg« noch mit ihm logieren. Denn sie hatten gemeinsam beschlossen, so lange in Havelberg zu bleiben, bis man von dem Zustand des Königs etwas Gewisseres zu sagen vermochte.

Grumbkow kam erst spät vom Nachtmahl, das er beim Kommandeur eingenommen hatte. Auf der langen Straße zur Elbe hinunter, zwischen Gasthof und Kommandantur, trat aus den Pfeilern des Zeughauses die Kammerfrau der Königin zu dem Minister.

Ach, wie sie sich ängstige! Wie sie den Beistand Seine Gnaden so nötig brauche! Ahnungen peinigten sie, als wären sie Wirklichkeit! Manchmal müsse sie fremde Dinge niederschreiben, als schrie sie ihr einer ins Ohr – Dinge, die sie selbst gar nicht verstehe! Oh, wie solle sie es nur Seiner Gnaden erklären – was nur damit beginnen!

Sie rief, flüsterte und klagte und drückte Grumbkow das Bündel Zettel in die Hand und flüchtete mit leiser Klage ins Dunkel zurück.

Im Gasthof »Zur Stadt Magdeburg«, einsam beim Wein, las Grumbkow die Abschrift des königlichen Testamentes.

Dann klopfte er an der Kammer des Fürsten. Der saß noch angezogen auf dem Bettrand, den Kopf in die Hände, die Hände auf die Knie gestützt.

»Wir sind nicht im Regentschaftsrat«, flüsterte der Minister, kaum daß er eingetreten war; und nun erzählte er die nächtliche Begegnung und legte zum Beweis dem Fürsten die Abschrift auf die Knie. »Es ist ein Donnerschlag für uns, Durchlaucht! Sehen Sie denn nicht voraus, daß über kurz oder lang die vormundschaftliche Regierung unvermeidlich sein wird – so unmäßig wie der König ist, so wenig wie er auf seine Gesundheit verwendet? Wir müssen die Übermacht der Königin untergraben, den König dazu bringen, sein Testament zu widerrufen.«

Eigenmächtig verbrannte der Fürst die Blätter an der Kerze, ganz nachlässig, vom Bettrand aus. Die Kerze stand auf einem tiefgewölbten Kupferteller; auf den fielen nun Ruß und glimmende Fetzen.

»Das Geschreibsel einer Kammerfrau darf man ja wohl en bagatelle behandeln-.«

Das war alles, was er dem entsetzten Grumbkow sagte.

Dem half die höfische Beherrschung nicht mehr. Er stammelte: »Es ist die wortgetreue Abschrift –«

Der Dessauer lächelte. »Wenn mein Freund mich seine Schriften wissen lassen will, bedarf es keiner Kopien –«

Es sollte nicht leicht sein für den Herrn, wenn er genas. Neue Feindschaft entstand, nun zwischen den Bewährten.

Aber das war ja das Neue: der König erwartete nichts mehr; er rechnete nicht mehr; er baute auf nichts Menschliches mehr. Das eben war die Krankheit – oder die Genesung.

Diese Nacht sollte darüber bestimmen.

 

Tage hindurch waren Morgen, Mittag und Abend über Havelberg nicht eingeläutet worden. Am übernächsten Tage, am Sonntag, durften die Glocken seinetwegen nicht mehr schweigen; so befahl der König. Auch sollte der Gottesdienst wie stets im Dom stattfinden. Man wehrte sich aus allerlei Rücksichten sehr dagegen; aber der König hatte die gereizte Beharrlichkeit des Genesenden ins Treffen zu führen. Die Glocken riefen zu der Stadt hinunter, und über die Brücke zum Prälatenweg hinauf strömten die Menschen. Noch niemals hatte hier ein Kirchgang von solchem Ausmaß stattgefunden. Die Bürger dachten die Königin und Herren des Hofes zu sehen. Die Soldaten wollten am Dessauer vorbeimarschieren. Wie wenn die Bienen in den Wipfeln der blühenden Linden summen, so war es; genauso klangen die Schritte, das Flüstern, das leise Rufen für das Ohr des Königs, der, von dem Domplatz abgeschieden, seine Fenster offenhalten ließ.

Die Glocken verklangen, das Raunen verstummte, die Orgel und die Chöre füllten Dom und Propstei. Der König hörte das Singen. Dann war es ihm auch, als ob er den Hall der heiligen Worte aus der Kirche bis zu seinem Lager hin vernähme. Dabei las er in der Schrift und fand das Gebet: »Eins bitte ich vom Herrn, das hätte ich gerne: daß ich im Hause des Herrn bleiben möge mein Leben lang, zu schauen die schönen Gottesdienste des Herrn und seinen Tempel zu betrachten.

Denn er deckt mich in seiner Hütte zur bösen Zeit, er verbirgt mich heimlich in seinem Gezelt und erhöht mich auf einem Felsen; so will ich in seiner Hütte Lob opfern, ich will singen und lobsagen dem Herrn.

Gib mich nicht in den Willen meiner Feinde; denn es stehen falsche Zeugen wider mich und tun mir unrecht ohne Scheu.

Ich glaube aber doch, daß ich sehen werde das Gute des Herrn im Lande der Lebendigen.«

Es war unendlich ruhevoll, genesend, fern dem Thron und der Krone, so nahe dem Altar und dem Kreuz zu liegen, so ruhevoll wie nichts, noch nichts in seinem jungen Königsleben war.

Er lauschte dem frommen Gesang und hörte Gottes Wort wie ein Geheimnis hinter feierlich geschlossenen Türen reden. So nahe war Gottes Haus. Er brauchte sich nur zu erheben und die Halle zu überschreiten, da sah er von der Brüstung in den Dom, auf die Kerzen, das Kreuz und die Beter. Aber noch war er zu matt. Und nur sein Herz füllte sich immer sanfter und schwerer mit den geweihten Klängen und Bildern.

Man müßte die Schlösser der Könige neben die Hütten Gottes bauen, dachte der Herr – er, der vor den sieben dunklen Kirchen Brandenburgs geflohen war.

 

Nach dem Gottesdienst hielt Ihre Majestät Empfang. Denn auch der Adel rings um Havelberg war erschienen, um an den Dankgebeten für die Genesung des Königs in großer Höflichkeit trotz aller Kühle des gegenseitigen Verhältnisses teilzunehmen. Daran hatte König Friedrich Wilhelm nicht gedacht: daß sie in dem Gottesdienst auch dafür dankten. Nun kam es ihm die alte Montbail sagen.

Sie wurde als erste wieder vorgelassen. In den Tagen seiner furchtbaren Schmerzen und Schwächezustände, seit ihrer Ankunft, hatte der Herr sie noch nicht gesehen. Er scherzte: »Nun bin ich ihnen wohl zahm genug, Madame?«

Sie blickte lange auf den Abgezehrten, sehr Verfallenen und lächelte unter Tränen. Dann gab sie ihm Briefe vom Fritzchen. Noch einmal war die Hugenottin die Botin zwischen Vater und Sohn, obwohl der nun den Kriegern übergeben war. Der Prinz und seine Gouverneure, seine erste Gouvernante, die Kriegsveteranen und die Glaubensheldin, wirkten aufs friedlichste und freundlichste miteinander, damit nur ja der Kranke in Havelberg willkommene Botschaft erhielt.

Das Fritzchen ließ dem lieben Papa übermitteln, es lerne jetzt aus dem »Theatrum Europaeum«.

»Ach«, seufzte der König, »aus dem ›Theatrum Europaeum‹ habe soeben auch ich erst gelernt, liebste Montbail –«

Aber die wollte jetzt nur die Briefe des kleinen Prinzen beachtet wissen, denn Fritzchen meldete, die Königin wisse dem lieben Papa ein paar schöne Rekruten nachzuweisen; nur dürfe sie nicht erfahren, daß er es ihm angezeigt habe.

Der Prinz übersandte dem Vater die Liste seiner Kadettenkompanie, dankte für einen neuen Kadetten, den er bekommen hatte, und sprach die Hoffnung aus, der Rekrut werde bald so wachsen, daß er in des Königs berühmtes Bataillon Garde kommen könne.

Auch erstattete er genauen Bericht über seine Kompanie, die überaus gut exerziert und »so gut gefeuert hat, daß es unmöglich besser sein kann«.

Endlich sollte es den kranken, lieben Papa freuen, zu hören, daß sein Sohn einen Hasen erlegt und sein erstes Rebhuhn geschossen habe. Das Fritzlein schrieb mit kindlicher Hand, aber in Ausdrücken, wie ein alter Kapitän sie gebraucht haben würde.

Nur eine Niederschrift war zart und fast ein wenig feierlich gehalten. Die Montbail hatte dem König einen kleinen französischen Aufsatz aufgeschlagen, den der Kronprinz aus eigenem Antrieb verfaßte.

Das dünne Heftchen trug den Titel: »Lebensweise eines Prinzen von hoher Geburt« und begann mit einem Psalm.

»Wenn er nur nicht der einzige wäre«, flüsterte traurig der König, obwohl er eben noch sehr glücklich lächelte.

Da beugte sich die alte Montbail über ihren einstigen Zögling, bedenkenlos mit aller höfischen Sitte brechend.

»Die Königin hat mich beauftragt, es Eurer Majestät zu übermitteln; sie glaubt an eine neue Schwangerschaft.«

Der König schloß die Augen, so, als käme die tiefe Müdigkeit der vergangenen Tage wieder über ihn. Als er mitten im harten Richten stand; als die Diebe aus seinem Schloß, der Kastellan und der Schlosser, am Galgen hingen; als zur Nacht das Volk sich vom Richtplatz verlief und Clement kam und ihm den nahen Untergang verkündete – da hatte er fern von allen Sehnsüchten des Blutes und fern von allen Schrecken des Gerichtes das Kind, das neue Leben, angesichts der Vernichtung und des Unterganges begehrt. Unter den geschlossenen Augenlidern tropften große Tränen über seine Wangen in die Kissen. Aber nun lächelte der König wieder. »Ich bin noch immer recht anfällig«, entschuldigte sich der Herr. Und weil er sich schämte, ließ er die Augen fest zugepreßt. Die alte Montbail konnte keinen Blick von dem geliebten Zögling wenden. Sie dachte: Ein Mann braucht sich der Tränen nicht zu schämen. Es kommt nur darauf an, aus welchen Tiefen des Herzens sie strömen.

Er schlief und schlief, und sie hielt alle Frager von ihm fern, selbst Ihre Majestät, die eine so große Gewalt über Geist und Willen des Gemahls zu haben glaubte. Aber sie besaß nur sein Herz.

 

Der König war wieder in Berlin. Man merkte es am vielen Köpfeschütteln. Nein, war das ein Herr! So viele Einfälle hatte die Krankheit ihm eingejagt, daß er niemand mehr zur Ruhe kommen ließ. Jetzt, auf einmal, als alles gut und vorbei war, konnte er gar nicht genug von seinem schweren Anfall reden; nicht etwa, was sein Befinden anging; das war es nicht. Aber er hatte in die Mängel der medizinischen Wissenschaft einen tiefen Einblick gewonnen. Der Leibarzt, der ihm Ipecacuanha gegen die »Nervenkolik« eingegeben hatte, war jetzt sein ständiger Tischnachbar bei der Tafel. Aus diesen Gesprächen, aus den unmittelbaren Eindrücken der eigenen Krankheit erwuchs die neue Gesundheits-Gesetzgebung. Unverzüglich wurde ein Sanitäts-Rat gebildet, zumal die Pest in Ungarn und in Siebenbürgen wütete und jeden Tag in Preußisch-Litauen eingeschleppt werden konnte. Das neue Medizinal-Kollegium hing vom König unmittelbar ab und wurde je nach Bedarf in den verschiedenen Landesteilen eingesetzt. Ein Ober-Sanitäts-Kollegium war die verwaltende Zentralbehörde; Provinzial-Sanitäts-Kollegien in den Hauptprovinzen hatten den Auftrag, den Gesundheitszustand der Bevölkerung zu überwachen. Strengste, ununterbrochene Aufsicht wurde vom König auch für die Ausbildung der jungen Ärzte gefordert. Es sollte keine Feldscherer, marktschreierische Heilkünstler, ungelehrte Heilgehilfen und ärztliche Handwerker mehr geben; nur noch chirurgische Ärzte sollten zugelassen sein, auch für die Armee. Die Not mit den Ärzten im Lande Preußen war so arg geworden, daß der Herr gar selber einmal einen Doktor Eisenbart durch eine Art ehrenvollen Steckbriefes zu einem kranken Offizier hatte rufen lassen müssen. Die Charité sollte man ihm mit Operations- und Entbindungssälen zu einem Musterkrankenhaus des ganzen Landes machen.

Ein Theatrum Anatomicum war schon begründet, der Plan des alten Königs von dem Sohne finanziert und verbessert. Die Kadaver aller Gehenkten und Enthaupteten wurden hier eingeliefert; die Leichname der Soldaten auch. Die chirurgischen Ärzte hatten zwangsweise im Theatrum Anatomicum zu erscheinen. Wurden Frauenleichen aus dem Spandauer Spinnhaus zerschnitten, so waren die Hebammen herbeizuholen, auch wenn sich ihre Nachbarinnen in der Gasse noch so vor den Leichenschänderinnen grauten.

Schon drang die Kunde zu dem König, daß die Wehmütter gar kläglich barmten, das hieße ja ein großes Kindersterben als Strafe des Himmels heraufzubeschwören, wenn man sich so an den Toten vergriff! Der Herr möge in sich gehen – er, dem die Kinder im deutlichen Gottesurteil so dahinschwanden. Schon wurde auch dem König hinterbracht, daß der erste Professor seiner Anatomie, ein frommer Mann, in Wahnsinn verfiel. In seinen Phantasien rang er mit den Leichen, die er sezierte. Das fand der König grausig und traurig. Aber Sektion mußte sein. Davon ging er nicht ab. Er wies auf die Einbalsamierung der Fürsten hin; da gehe ja auch ein grimmiges Zerschneiden voran. –

Er hatte verstanden, daß in seiner schweren Krankheit und in der Kunde von der Schwangerschaft der Gattin die Worte »Tod« und »Geburt« mit neuer Klarheit und Schwere zu ihm gesprochen worden waren.

Er wollte die Toten zerschnitten und zerstückelt haben, damit er das Leben leichter gewönne und besser erhielte. Er kämpfte unnachgiebig um den neuen Plan. Gott ließ ihn leben, dem Lebendigen zu dienen. Er glaubte, er werde »das Gute des Herrn sehen im Lande der Lebendigen«.

Er hatte den Havelberger Psalm nicht vergessen.

 

Es gewann den Anschein, als wäre der König für alle seine Untertanen krank gewesen, als hätte er alle ihre Leiden und ihr Alter bedacht. In einem noch nie dagewesenen Maße beschloß er, für die Alten und Kranken zu sorgen. Seine Apotheke aus Silber und Glas wurde bedeutend erweitert, ausgebaut und reich dotiert; dafür hatte sie Medikamente für den Hofstaat bis zum letzten Küchenjungen, die Riesengarde, das Kadettenkorps, die fünf Berliner Regimenter, die Invaliden, für Lazarette und Krankenhäuser und vor allem für alle Verlassenen, Verarmten und Vertriebenen zu liefern. Offiziere und Beamte erhielten die Medikamente für das halbe Geld; den Minderbemittelten wurden sie unentgeltlich zugeteilt. Man begann, den neuen Fonds die Kranken-Kasse zu nennen.

Auch Tod und Trauer bedachte der König in der Erinnerung an die Havelberger Krankheit oft. Alles war ihm nur Antrieb zur Tat. Er, der die Friedhöfe in den Städten eingestampft hatte, verfügte: Trauer darf höchstens auf das erste halbe Jahr des allergrößten Schmerzes ausgedehnt werden. Bei jeder Art von Trauerfall muß es ganz einheitlich gehalten sein. – Witwen der im Staatsdienst tätig Gewesenen sollten künftig Pensionen beziehen. Wenn sie sich wieder verheirateten, war es aber besser. Die Waisen aber brauchten am meisten Fürsorge: ein Vaterhaus, ein großes, lichtes, warmes Haus mit Essen und Trinken, Kleidung, Lehre, Leitung, Gebet und Gesang!

Da fuhr der König wieder nach Potsdam. Er ließ die Steine der abgetragenen alten Marienkirche auf dem Harlungerberg bei Brandenburg nach Potsdam bringen; den Goldschatz aus dem Morgenlande hatte man vergeblich unter ihren Trümmern in all dem armen Sande gesucht. Er wählte Baumeister, Lehrer und Hauswalter, Knechte und Mägde, gab Gärten und Weiden, Tafeln und Schieferstifte und Bücher, Strümpfe und Schuhe und Bibeln. Er schenkte gar die große Uhr vom Turme seines eigenen Schlosses. Es schien, als wäre er allen Witwen und Waisen gestorben und als würde das Vermächtnis ausgeteilt. So zitterte die Nähe des Todes in ihm nach. Dieses Bild, gestorben zu sein, trug er im Herzen. Danach handelte er. So tastete er sich zurück in Leben und Tat.

 

Als sie die Erde für das Grundgemäuer des Waisenhauses ausgehoben und in hohen Wällen aufgeschichtet hatten, war König Friedrich Wilhelm selbst zugegen, obwohl der Arzt ihn vor der kühlen Witterung warnte. Denn nun ging das Jahr dem Ende zu, und es wurde dunkel über dem Land. Der Erdball hatte sich von der Sonne gekehrt; die Erde verlor allen Glanz, die Luft erfüllte sich mit kaltem Hauch, das späte Laub fiel von den Bäumen, und kahles Geäst zeigte das letzte, starre, bleibende Gesicht der einst wogenden, rauschenden, leuchtenden Wipfel. Es war ein stiller, kühler Tag, fast ganz im Nebel. Nur einzelne Büsche waren noch mit bleichen, überzarten blaßgelben Blättern behängt.

Der Herr ging schweigend vor den Baumeistern her. Es war Feierabend, und sie kehrten mit ihm heim zum Schloß, in dem er ihnen das würdigste Quartier gegeben hatte, denn er hatte sie weit hergeholt und manchen Widerstand besiegen müssen, der sich gegen ein Unternehmen erhob, in dem »in erster Linie Militärpersonen die Einrichtung machen und die Aufsicht führen müßten«. Anderes Werk als Soldatenwerk trauten sie dem Potsdamer nicht zu. Aber wo nur je ein großes Stift für Waisen errichtet worden war, dessen Erbauer sich noch finden ließ, rief der König ihn her. Aus dem Lande war es nur einer: der Stiftsbaumeister Franckes in Halle, jenes August Hermann Francke, dessen Predigt zu Berlin Friedrich Wilhelm einst von Anfang bis Ende stehend angehört hatte: so fühlte er sich als junger Prinz von etwas Neuem, Hohem angeredet.

Den Hallenser, der schon ein sehr alter Mann war, winkte sich der Herr an seine Seite.

Er sollte ihm nun auch eine Kirche bauen.

Der König redete nicht davon, daß er vor Brandenburgs Kirchen geflohen war und eine neue Stadt sich gründete auf Sumpf und Sand, wie einer einen neuen, schweren Pakt abschließt. Nun stand die neue Stadt im Ringe ihrer ersten, festen Mauern.

Der König sagte nur: »Nun will ich eine Kirche bauen.«

Und als hätte er noch seine jähe, rasche Art, als wäre noch das Cito! Cito! ungebrochen in ihm, besprach er auf dem Weg vom Bauplatz des Waisenhauses zum alten Schlosse schon den neuen Plan. Er wollte die Kirche ganz nahe am Schloß, doch lichter als jenes, höher, weiter und klarer.

Als wollte er neu beginnen vor Gottes leuchtendem Antlitz und näher bei Ihm – so war es im Herzen des Königs. Aber das verschwieg er; auch dachte er es nicht; er hatte Genüge am Bilde des Kirchbaus. Er wollte das Kirchtor ganz dicht am Portal seines Schlosses. Es sollte nur noch wie ein einziger Schritt sein durch ein einziges Tor vom Königsschloß zum Gotteshaus, vom Gotteshaus zum Königsschloß.

Sie überquerten die herbstliche Wiese hinter dem Schloß, die Wiese, auf der die erste Kirche seiner neuen Königsstadt Potsdam sich erheben sollte: eine Hütte Gottes bei den Menschen der Mark Brandenburg, ganz nahe dem Hause, in dem er nun unablässig wieder schaffen, rüsten und beginnen wollte gemäß dem neuen Bund mit Gott, der alle Rechnungen der Menschen durchkreuzt, aber auch jenen Schein zerreißt, auf dem die Schuld der Menschenkönige aufgeschrieben steht.

Das Wort, das König Friedrich Wilhelms heißes Herz mit einem Zittern erfüllte, das Wort des zwölfjährigen Jesus im Tempel, blieb unausgesprochen und wie in einem Schauer gemieden, obwohl er doch ein Mann war am Anfang der dreißiger Jahre, und das nannte der Herr eine starke, gute Zeit für einen Mann; aber er sagte es wie einer, der schon sehr tiefen Einblick in alle Schwäche und Vergänglichkeit besaß.

Das Wort, vor dem sein Herz erbebte, war: »Wisset ihr nicht, daß ich sein muß in dem, das meines Vaters ist?«


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