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Heerschau und Landfahrt

Wo ein König viel Volks hat, das ist seine Herrlichkeit; wo aber wenig Volks ist, das macht einen Herrn blöde.

Die Bibel

Seit vier Uhr morgens saß der König am Schreibtisch, jeden Tag jetzt, seit der Gast und Freund wieder ostwärts gereist war. Er trug bereits die Uniform zum Exerzieren, aber er schützte ihre Aufschläge durch grüne Leinenhüllen, wie der arme Mann Creutz sie trug, lange ehe der König ihn in den Adelsstand erhob, um vor den Junkern die leidenschaftlich bestrittene Autorität des bürgerlichen Geheimrates, seines unersetzlichen Sparers, zu erhöhen. Der Fürst von Anhalt-Dessau, wenn er des Plusmachers gedachte, bangte für den König; der Ministergeneral Grumbkow in seiner nicht minder leidenschaftlichen Auflehnung gegen Creutz sorgte sich freilich um sich selbst.

Der König hatte – auch, wie einst der junge Rat Creutz – eine große grüne Schürze umgebunden. Auf seinem Arbeitsplatze herrschte peinliche Ordnung. Vom Schreibtisch und dem Holzschemel davor hatte man schon um die erste Dämmerung den Staub wischen müssen. Das Zimmer war schmucklos und nüchtern; doch helle Vorhänge aus den neuen preußischen Kattunen vor den Fenstern, die fast wie Türen bis zum Fußboden reichten, machten es freundlich; und die wenigen Möbel waren gute Arbeit, wenn auch nur von Fichtenholz.

Die beiden Kerzen auf dem Schreibtisch waren niedergebrannt. Der Herbstmorgen war immer klarer geworden. Ein durchsonnter Septembertag voller Kühle, Glanz und Weite kam herauf. Die zu früh entlaubten Linden gaben den Blick auf die Ufer der Havel und eine sanfte, waldige Anhöhe jenseits des Flusses frei.

Der König tat den letzten Federzug. Er dachte nicht mehr an die Arbeit, die er eben abschloß. Er dachte an Koeppen. Nun, nach Jahr und Tag, hatte die Nacht von Stralsund ihn doch noch hingenommen. Nur einmal noch hatte der König den Treuen und Kühnen nach dem Krieg im Norden gesehen: fiebernd, frierend und hustend. Hohe Ehren waren dem vor Stralsund ernannten und geadelten Generaladjutanten von Koeppen noch von seinem Herrn beschieden gewesen; die höchste aber war, daß er zum Burggrafen von Stettin erhoben wurde und die Hafenstadt betreuen sollte, die sein nächtlicher Weg durchs winterliche Meer für Brandenburg erobert hatte.

Am vergangenen Abend, sehr spät, hatte die Nachricht von Koeppens Tode den König erreicht. In der dringenden Arbeit des frühen Morgens hatte er der Erinnerung an den Getreuen nicht länger hingegeben sein wollen. Als er nun das Geschriebene überflog, erkannte er, daß er in dieser seiner neuen Dienstvorschrift für die Offiziere einen Nachruf für den Toten niedergeschrieben hatte. Er hatte das Bild seines besten Soldaten nachgezeichnet, obwohl der ein kleiner, wunderlicher und unansehnlicher Herr gewesen war. Da war der König zufrieden mit seinem Entwurf; da bekannte er sich zu jeglichem Wort, das seine Feder aufgezeichnet hatte:

»Um folgende Eigenschaften hat der Offizier sich zu bemühen: Gottesfurcht, Klugheit, Herzhaftigkeit, Verachtung des Todes, Nüchternheit, Wachsamkeit, Geduld, innerliches Vergnügen und Zufriedenheit mit sich selber, unveränderliche Treue gegen seinen Herrn, vollkommenen Gehorsam, Respekt gegen die Vorgesetzten, Aufmerksamkeit. Er soll danach trachten, sich Falkenaugen und leise Ohren anzulegen, auch nichts zu vergessen, was man einmal gesehen und gehört. Er braucht Feindschaft und Haß gegen die Weichheit und schnöden Lüste, aber Begierde, Ruhm und Ehre zu erlangen. Er darf kein Räsoneur sein, muß seinen Dienst und seine Schuldigkeit ohne Fehler verrichten, Wissenschaften besitzen oder sich bestreben, deren zu erlangen. Fähnrich und Feldmarschall stehen als des Königs Offiziere in der Ehre völlig gleich.« Und diese Ehre war von ihm neu aufzurichten.

Denn das wußte der Herr: es waren neue Menschen zu schaffen. Seine Offiziere waren Junker, willkürlich, hochmütig und verwildert in verzettelten Kriegen unter wechselnden Fahnen und im Solde aus den Kassen gar zu verschiedener Fürsten. Es sollte kein Edelmann mehr sein Land verlassen, sofern er sich nicht zuvor schriftlich verpflichtete, in keines anderen Landes Dienste zu treten. Und kein Edelmann des Auslands sollte ihm selbst zum Offizier vorgeschlagen werden, der nicht einen Revers unterzeichnete, niemals aus den Diensten des Königs zu gehen, sondern »ewig« zu dienen.

Bisher hatten sich die Obersten der Regimenter ihre Offiziere selber ausgesucht und die Offiziere wiederum die Mannschaft zur Ausbeutungsquelle gemacht. Für die Ausbildung war der Drillmeister da; alles war ein übler Handel. Dem Bürger- und Bauernsohn war in Preußen zu dienen ein Unglück, im übrigen Deutschland Dienst zu nehmen eine Scham, und schlechte Diener wurden zur Strafe in die preußische Armee gesteckt. Von nun an wurden alle Offiziere vom König von Preußen ernannt, und ihnen und aller seiner Mannschaft wollte er ein treuer Meister sein, der des Drillmeisters allmählich entbehren zu dürfen wünschte.

Er selber wollte tagtäglich den neuen Dienst seiner Offiziere tun und zu jeder Stunde den gleichen Rock tragen wie sie, vom blauen Tuche, das sie in seinen neuen Manufakturen das Königstuch nannten. Als wäre eine Uniform wie der Ornat eines Ordens, so dachte der Herr von des Königs Rock, seinem eigenen Kleid. Und darum stand auch in den Kriegsartikeln für die Mannschaft als das oberste Gebot: »Welcher Soldat den allerheiligsten Namen Gottes durch Beschwörung der Waffen, Festmachen oder andere dergleichen verbotene Teufelskünste und Zaubereien mißbraucht, Gottes Majestät, Eigenschaften, Verdienst und Sakrament oder heiliges geoffenbartes Wort lästert, schmäht oder schändet, hat nach göttlichen und weltlichen Gesetzen sein Leben verloren.«

 

Von der Langen Brücke her marschierten die Grenadiere heran und nahmen Aufstellung auf dem Exerzierplatz vor dem Schloß, genau als die elfte Stunde begann. Noch hallte kein Glockenschlag über König Friedrich Wilhelms neuer Stadt, noch ragte kein Turm aus ihren Gerüsten empor. Aber der Beginn der elften Stunde war für alle in der neuen Stadt bezeichnet. Das Regiment des Königs marschierte auf! Schon bogen die Querpfeifer, die Mohren, zwischen Schloß und Havel ein!

Der König hatte von seinem Schlaf- und Arbeitskabinett aus einen besonderen Zugang zum Exerzierplatz. Von der Fahnenkammer, die vor seinen drei Privaträumen lag, führte eine kleine Geländertreppe mit schmalem, goldenem Gitter zur früheren Orangerie, die nun der königliche Marstall war, hinunter. König Friedrich Wilhelm stand an ihrer Brüstung und hielt prüfende Ausschau.

Die neuen blauen Röcke saßen prall, die weißen Hosen und die roten Westen schlossen straff an und gaben gute Figur; die weißen Stiefeletten waren ohne Flecken und Fehler, die Lederriemen über Brust und Schultern glänzten, und die steilen Spitzen der Helme blinkten in funkelnder Reihe.

Die Männer waren gut gewachsen, groß und stark und geschmeidig und einander so völlig gleich, daß man über ihren Köpfen mit dem Degen einen schnurgeraden Strich hätte ziehen können. Bart um Bart war wie mit dem gleichen Pinselzug gemalt, Zopf um Zopf wie mit demselben Scherenschnitt gestutzt, mit dem gleichen Griffe fest gewickelt und adrett in ein Täschchen von schwarzer Seide gesteckt. Kein Unterschied war, als daß in der Kehrtwendung eine blonde, braune oder schwarze Haarsträhne zwischen Helm und Seidentasche hervorlugte, und keine Verschiedenheit, als daß in der Frontstellung schwarze, braune, blaue oder graue Augen dem Rechts- und Linkskommando der Offiziere und der Korporale folgten.

Das war nun begriffen, daß niemand den königlichen Obristen zu beachten hatte. Vor seinem Schlosse war zu exerzieren, als wäre er nicht zugegen; in den übrigen Garnisonen aber hatte man den Dienst zu tun, als stünde der König von Preußen selber hinter jedem Korporal und als läge der Feind vor den Toren, als riefe noch in der kommenden Stunde die Schlacht. So lautete der Befehl.

Schützt mir alles, was da entsteht und sich weitet, Grenadiere! klang der Widerhall in König Friedrich Wilhelms Herzen nach.

Zeigt mir, Grenadiere, ob des Dessauers neuer Gleichschritt euch in Fleisch und Blut und Knochen ging, die Herrlichkeit der Ordnung und das Ebenmaß zu vollenden! Gleichschritt, Gleichschritt! Und: rasches Feuern! Geschwindes Laden! Geschlossen anschlagen! Wohl antreten! Wohl ins Feuer sehen! Alles in tiefster Stille!

Nur die Trommeln dürfen reden, nur die Trommeln. Die sind die rechte Sprache der Armee von Landessöhnen und Söldnern, Märkern und Sardiniern, Ungarn und Iren, Holländern und Polen, Studenten, Bauern, Mönchen, Händlern! Zeichen wurden eingeführt, Wirbel, einfach und vielfach, statt der Befehle.

Die Schritte knirschen, das Leder ächzt, Griffe schlagen, Trommeln wirbeln, noch größer wurde Strenge und Stille des Dienstes, noch sicherer und leichter das Waffenwerk von Stunde zu Stunde. Das Feuer der gewaltigen, langen Front ist wie ein Blitz und ein Knall.

Nun, denkt der königliche Obrist, in allen Garnisonen des Königs von Preußen wird es noch nicht so weit sein. Aber dies Regiment hier, täglich vor dem Königsschloß geübt, soll auch das Muster sein, ein Bild der künftigen Armee. Und für ein zweites Regiment zum mindesten kann der König von Preußen getrost die Hand ins Feuer legen: auf der Wiese vor Halle exerziert der Fürst von Anhalt-Dessau, obwohl ein Feldmarschall, zur selben Stunde und im gleichen Reglement! Spottet nur, großer Generalissimus Prinz Eugen, am Hofe des Kaisers! Schimpft uns nur Exerziermeister, verlacht nur die Soldatenspielerei mitten im Frieden! Es ist mein Werk, daß Friede ist. Es soll mein Werk sein, daß Friede bleibt im alten Reich und meinem werdenden Staat! Spottet nur. Es wird, es wird! Tausend Werber sind unterwegs, Tag für Tag, Nacht für Nacht!

»Aber es soll«, so befiehlt das Edikt, »da die Werbungen so schlechterdings nicht gänzlich unterbleiben können, in den jedem Regiment assignierten Stand- und Stabsquartieren auch Garnisonen anders nicht als bei öffentlichem Trommelschlag und gegen Bezahlung des verordneten Handgeldes geworben und also keine andere als freiwillige Werbung fürderhin gestattet und nachgelassen sein.«

Ihr habt nicht falsch gehört: sieben neue Bataillone entstehen, obgleich täglich bei den Regimentern und Kompanien sich Abgang findet! Im Osten und Westen und inmitten des Landes werden Befestigungen und Soldatenstädte aufgebaut: ein neues Memel, ein anderes Magdeburg, ein besseres Wesel! Denn mein menschenarmes Land ist zerrissen, zerstückelt, preisgegeben mit unglückseligen, offenen Grenzen. Die halten den Frieden nur schwer zwischen ihre Schranken gebannt!

Gleichschritt! Gleichschritt! Rasches Feuern! Geschwindes Laden! Geschlossen anschlagen! Wohl antreten! Wohl ins Feuer sehen! Alles in tiefster Stille!

 

Hinter Schloß und Exerzierplatz lärmte die werdende Stadt. Vom Schloß an der südlichen Windung der Havel bis zum Alten Kanal im Norden, der eben geradegelegt und mit neuem Bohlenwerk verschalt war, ragte den ganzen Lauf des Flusses entlang der Wald der Gerüste. Was wollte da noch die Zerstörung der Wasserkünste besagen? War es da noch wie Klagen und Tränen, daß des Sommers noch eine Quelle aus dem hohen Rasen des mittleren Ganges im einstigen Garten, wunderbar entsprungen war?

Polternde, knarrende Wagen, verschmutzt und staubumwölkt, trugen die Trümmer der alten Fischerstadt ab. Ächzende Lastfuhren und Bretterkarren, von frischen Latten gezimmert, fuhren die neuen Ziegel heran. Schon bereitete die Beschaffung der ungeheuren Mengen von Baumaterial Schwierigkeiten, und dem verantwortlichen Kommissar drohte Ungnade. Bereits zum zweitenmal in dieser Woche verhandelte er mit dem Magistrat von Potsdam, er möge seine Ziegelscheunen flotter in Betrieb halten. An alle Magistrate der Umgebung waren Reiter mit der gleichen Weisung unterwegs. Auch hatte man reiche Privatleute zu der Sitzung bestellt und wollte sie zum Ziegelbrennen ermuntern. Die Anlage ihres Geldes in einem solchen Unternehmen schien nicht schlecht. Der König zahlte rasch und gut für jedes Tausend Ziegel; nur galt es, sie flink zu beschaffen.

Man wollte es nicht glauben. War es noch immer nicht genug? Waren nicht von der Potsdamer Ratsziegelei und aus der Töpferkule, aus Werder, Beetzow, Glindow, Ferch und Caputh, von Fahrland, Brandenburg, Moegelin und Rathenow endlose Züge von Fuhren mit Ziegel-, Dach- und Flurstein schon seit Wochen unterwegs an jedem Tage? Drängten sich nicht auf der Havel die neuen Kähne, mit doppeltem Boden eigens hergerichtet für gebrannten Rüdersdorfer Kalk und Kalkstein für die Fundamente?

»Nichts ist genug«, sagte der commissarius loci, der im Cito! Cito! des Herrn die Ungnade witterte. Im Januar hatte der König die neuen Bauanweisungen ausgegeben. Nun war es September und der Plan so nahe vor Wintersanbruch noch nicht halb erfüllt!

Ach, was die Ratsherren nicht klug waren! Was sie dem Kommissar nicht alles vorzuhalten wußten! Wenn es dem König an der Unterkunft für seine Grenadiere fehlte, wie konnte er dann den Bürgern ihre Häuser abkaufen, nur um sie abzubrechen und in der Fluchtlinie neu aufzubauen? Müßige und verschwenderische Spielerei! Und warum wurden wohl die Scheunen eingerissen und so weit vor die Stadt verlegt?

Der Kommissar, obwohl selbst ehrlich auf den Herrn ergrimmt, verteidigte die Pläne Seiner Majestät: »Bis zu dieser Grenze der Scheunen ist die neue Stadt schon entworfen. Und was den Abbruch betrifft: nichts Altes darf bleiben, kein Verfall wird geduldet, der Kern der neuen Stadt muß sauber sein, alle wüsten Stellen werden ausgefüllt. Es soll eine helle, große Stadt da sein, wenn endlich auch das Brandenburger und das Nauener Bataillon des einstigen kronprinzlichen Regimentes zum neuen Jahre ihren Einzug halten.«

Einer dünkte sich besonders schlau, als er, über den Sitzungstisch sich zu dem Kommissar vornüberlehnend, bemerkte, wahrscheinlich brauche der Herr sein altes Regiment, damit es ihm gut aufpasse auf die vielen in der Fremde Geworbenen. Wahrscheinlich müsse der Herr darum die hohe Mauer ziehen, damit die Ausländer ihm nicht gleich von seinem Schuttplatz Potsdam wieder desertierten. Aber, he, wer sollte ihm denn überhaupt die neuen Grenadiere hier verpflegen, ihnen Obdach geben, für die Notdurft sorgen; vielleicht die paar armseligen Kleintauer von Potsdam mit ihren mageren Havelhechten?

Das war echter Hochmut des Garnherrn. Und die Garnherren, die vier allmächtigen, hoch angesehenen Teilhaber am Potsdamer Fischgarn, waren es, die als die einzigen Reichen hier, als Großfischer und Ratsverwandte, den Plänen über Potsdam übelwollten und dem König offen widerstrebten. Der Kommissar legte den Finger auf den Mund und flüsterte, ob man denn hier gar nicht mehr an den Zorn des Königs über den Widerstand der Berliner denke; er verriet nun zur Beschwichtigung sogar, was er selbst vor kurzem erst als untrügliche Gewißheit erfuhr: der Herr hatte Kolonisten aus Sachsen, der Pfalz, aus Holland, Dänemark und Frankreich hergerufen; nach Potsdam und in wohl siebzig Städte der Mark sollten sie kommen: Kupferschmiede, Zinngießer, Nagel- und Messerschmiede, Raschmacher, Knopfmacher, Lohgerber, Zeugmacher, Seifensieder, Hutmacher, Bürstenmacher und Goldschmiede sogar – alle, die fehlten, ein ödes, leeres Land lebendig und blühend zu machen.

Woher der König nur zu alledem das Geld nahm? Jetzt vergaßen sie im Ratssaal ganz das Räsonieren; das wollten sie gar zu gern wissen. Denn man bezweifelte, daß die russische Handlungs-Kompanie derart viel abwarf, obwohl die englischen Konkurrenten in Petersburg um ihretwillen trotz aller Bestechungen »einen terriblen Banquerot von einer Million« gemacht hatten und »die neue Handlung sich viel weiter extendierte, als man anfangs vermutet«.

Der Rat der alten Fischerstadt, die unter seinem Regiment verkommen und vergessen war, spielte sich auf, als hätte er allein darüber zu wachen, daß die neue Soldatenstadt einen starken und gerechten Grund erhielt. Der Kommissar, die Unterstützungen für Potsdam aufzählend, beruhigte: »Der Kreis Teltow muß, weil er die besten Gänse hat, die großen Federbetten für die langen Grenadiere liefern. Die Kreise der Kurmark haben die Steine zur Pflasterung der neuen Straßen zu beschaffen. Endlich, meine Herren Räte und hohen Garnherren, hat jeder Anbauer in seinem Hause nach vorn heraus ein Zimmer, auch eine Kammer, zur ständigen Einquartierung herzugeben; und Freihäuser, wie sie den König zu Berlin unlängst gar so sehr ergrimmten, werden überhaupt nicht mehr geduldet sein; jedes Haus muß nun Soldaten nehmen.«

So, nun würden sie es wohl begreifen, warum die Häuser sämtlich einen Dachgiebel mit großer Stube und Kammer erhielten.

Bis dahin hatten alle schweigend gelauscht. Die Rede klang nicht schlecht. Das Land schien bestimmt, für Potsdam zu zahlen. Aber nun brachen die Garnherren los; jetzt ging es an den eigenen Beutel und die eigenen Rechte. Der Kommissar vermochte zur Beruhigung nur das eine vorzubringen: der König selbst nahm ständig zwölf Mann auf sein Schloß, als wäre auch er nur ein Hausbesitzer zu Potsdam.

»Die neuen Häuser sind selbst wie die Soldaten«, begannen sie aus Zorn zu spotten, »eines ist wie das andere aufmarschiert, und die Blöcke stehen da wie die Kolonnen.«

Damit hatten sie nicht einmal unrecht. Wer einen Grenadier des Königs sah, hatte alle gesehen; und wer ein Haus betrachtete, konnte sich die Besichtigung der anderen sparen. Mit spitzem Ziegeldach, von einerlei Höhe und aus Fachwerk, regelmäßig von Balken gegliedert und getragen, waren sie in Reih und Glied gestellt: zwei Geschosse hoch, fünf Fenster in der Front, über dem mittelsten den erhöhten Giebel, über dessen Zweck man sich nun nicht mehr den Kopf zu zerbrechen brauchte, darüber die Wetterfahne, alles Mauerwerk weiß, den Holzverband gelb angestrichen. Zudem war an der Ecke jedes Häuserkarrees ein Torweg, damit es bei Feuersnot von innen angefahren werden konnte. Wo sich aber noch eine letzte Unregelmäßigkeit zeigte, nämlich da und dort ein Strohdach aus des Königs ärmster Anfangszeit, wurde schon das Stroh heruntergerissen und der Stuhl fürs bessere Ziegeldach aufgestockt.

»Liefert Dachsteine, ihr Herren, liefert!« Da war er wieder, der ärgerliche Kehrreim des Kommissars.

Sie fanden das Ganze zu jäh und zu rasch, bei weitem nicht gründlich genug oder auch nur genügend vorbereitet. Ein Garnherr lehnte sich tief in den hohen Armstuhl zurück und blickte ins steile Gewölbe des Ratssaals empor; er seufzte: »Ein Glück, daß das noch über uns steht.«

Aber den anderen war auch das schon zweifelhaft, ob es immer so bleiben würde; und der nächste Monat schon sollte ihrer Besorgnis recht geben.

Als sie aus den Bogengängen des Rathauses traten, kam von der alten Burgstraße her ein wunderlicher Zug auf sie zu, Hunderte von Knechten schleppten Laternenpfähle heran, hunderte trugen Laternen oder luden sie, in Stroh gewickelt, von den langen Leiterwagen, die wie eine Wagenburg aufgefahren waren; acht Pferde waren jedem vorgespannt, so mächtig war die Last. Aufseher zählten nach; kaum daß sie einen Augenblick der Ruhe fanden, den Ratsmännern den Bescheid zu geben: »Sechshundert Laternen sind's von den tausend, die der alte König die Allee vom Brandenburger Tor entlang, die ganze Meile bis nach Lietzenburg zum Schloß Charlottenburg der hohen Gattin, aufgestellt hatte. Der Rest, meint nun die neue Majestät, der dort geblieben sei, gebe Licht genug. Sechshundert kommen nach der neuen Stadt.«

Einen Augenblick waren die Ratsherren und ratsverwandten Garnherren nun doch von Stolz erfüllt. So groß sollte Potsdam jetzt werden? Sechshundert Laternen? Wenn nur aber das ewige Hämmern, Klopfen, Sägen, Rufen, Schimpfen, Peitschenknallen endlich einmal enden wollte! Ach, und das ständige Blitzen und Knallen ums Schloß! Und die leidigen Pfeifer, die Mohren!

Seltsam, daß so viel Ungestüm auf Friedliches, so viel Wirrnis und hastender Auftrieb nur auf Ordnung hindrängen sollte und daß Soldaten über Soldaten sich unter die keuchenden Arbeiter mengten, als sei das werdende Werk ringsum von Mißgunst bedroht.

Die Extraordinarienkasse des Königs für den Bau von Potsdam war am meisten gefährdet. Aber er schien seine Stadt auf einen anderen Grund denn Gold gegründet zu haben.

Der Taufspruch für das neue Söhnlein hatte es verraten. Im Frühling, ehe das Zarenpaar kam, im Mai, ganz im Anfang des Monats und sehr früh am Morgen, hatte die Königin den König mit dem zweiten Sohne nach dem Tod der ersten beiden Söhne beschenkt. Da hatte der Herr – so überglücklich er war, sich nun erst ganz des ältesten Sohnes freuen zu können – für den Knaben Carl Ludwig Wilhelm einen Taufspruch gewählt, der mehr der neuen Stadt galt als dem neuen Kinde; denn es war das Wort darein verwoben, daß er »wartete auf eine Stadt, die einen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist«.

Sie sollten miteinander wachsen, der Knabe und die Königsstadt, mit der Herr Friedrich Wilhelm neu begonnen hatte vor Gott, fern den alten Türmen Brandenburgs und dem zu schweren Rufe ihrer Glocken.

 

Die Stadt war Exerzitium und Arbeit. Geselligkeit und Muße hatten in ihr keinen Raum, doch hielt der Herr um den Anbruch des Abends eine Stunde für die Getreuesten bereit, die ihn nach Potsdam geleiteten: Offiziere, welche sein Leibregiment des neuen Reglements halber zu besichtigen begehrten; Minister, die den Weg von Berlin her nicht scheuten, um in dringender Sache die Entscheidung des Königs eiligst einzuholen. Auch Grumbkow befand sich unter ihnen, obwohl kein besonderer Anlaß es verlangte. Er wollte den König nicht mehr aus dem Auge lassen. Niemals gab es vor hohen Herren einen aufmerksameren Diener. Kein Blick, keine Geste des Königs, die er übersah; kein Wort, kein Lachen und kein flüchtiges Seufzen, die er überhörte. Groß und dunkel stand er neben seinem Herrn: gesammelt als Offizier, verbindlich als Hofmann, bedacht als Diplomat, und neuerdings auch betont männlich-derb und ein wenig formlos als der arme pommersche Junker, der er von Hause aus war.

In dem einfachen Landhaussaal neben seinen Zimmern hatte der König für die Gespräche mit seinen Gästen Landkarten aufhängen lassen, die Karten seiner Ostprovinzen, der Westgebiete, der Mark, Europas und des Reiches; denn das gedachte er in den knappen Stunden der Rast mit den Getreuen vor allem zu besprechen: wie der Zerrissenheit seiner Lande durch Umgestaltung der Verwaltung und Neuerungen des Verkehrs am raschesten und ohne jede Verletzung fremder Rechte abzuhelfen sei. In den kommenden Wochen wollte der König wieder durch sein ganzes Land reisen; er wußte von vornherein, daß die Wirklichkeit noch ungleich trüber und wirrer sein würde als das Bild der Karten ahnen ließ.

Daß der König voll so düsterer Gedanken war, verriet ein Bild, das er im Planen seiner Reise unlängst hinwarf, in aller Heimlichkeit und mit rohen Farben, wie man sie ihm gerade schnell beschaffen konnte. Denn diesmal hatte es ihm nicht genügt, wie sonst Feder und Papier hervorzuholen und in großen Umrissen kühne, wilde, nur von ferne bildhafte Striche aufs Papier zu werfen; es war seine Art so, manchmal etwas, worüber er gerade im Gespräch verhandelte, rasch zu skizzieren, man mochte nun von einem Bau oder einem Kaufobjekt oder einem Galgenvogel reden.

Nun aber war die alte Knabenleidenschaft in ihm erwacht, so sehr war er von all den großen Ängsten seiner Jugend wieder bedrängt. Friedrich Wilhelm hatte wieder gemalt –: ein Bauernhaus von schlechtem Fachwerk, von düsteren Bäumen überschattet und verdammt auf eine harte, rissige Erde. Vor dem Hause stand jammernd der Bauer und sein Sohn; der Wucherer forderte ihnen das Letzte ab, und voller Angst und Klage blickte die Bauernfrau, die Hände ringend, vom Fenster auf den Streit der Männer nieder. Große, dunkle Vögel schwirrten davon, als wollten sie für immer meiden, was von Stund an verloren schien.

Das Bild hing inmitten der Karten, seiner Heimlichkeit entrissen, eine ständige Warnung und Mahnung wie jene. Der hohe Holzschemel des Königs stand an der Fensterseite, in der Mitte einer langen Tafel; so hatte König Friedrich Wilhelm die Wand mit dem seltsamen, dem gar so ernsten Schmuck immer vor seinen Augen. Auf dem schweren Eichentische stand vor dem Herrn und jedem seiner Gäste eine kleine Kupferpfanne mit glimmendem Torf und eine hohe Büchse mit Tabak. Auf der ganzen Tafel waren flache Kupferschalen mit Tonpfeifen verteilt, denn der König war der Meinung, daß der Tabaksgenuß das Denken anrege und den Verstand schärfe. Alles, auch die Muße beim Rauchen, sollte sich unmittelbar nützlich erweisen. Zudem war noch ein weißer, tönerner Bierkrug neben den Pfeifen jeden Gastes gutes Recht. Nur daß er ihn selbst nachfüllen mußte; denn der Herr liebte um diese Stunde und in diesem Kreise die Gegenwart Bedienter nicht sonderlich. Lediglich Ewersmann, der in dem Lager von Stralsund gedingte Diener, hatte Zutritt, um am Tische mit dem Abendbrot Handreichungen zu leisten. Auf einem Nebentische lagen auf rundem Holzbrett mächtige Brote. Ein hoher Tontopf mit gekühlter guter Butter stand bereit; runde, blaue Fayenceschüsseln boten Käse und Schinken dar, und auf Zinntellern, weinlaubbedeckten, war helles, saftiges Kalbfleisch als kalter Braten aufgeschnitten. Zwischen diesem Tisch und je einem Bierfaß mit einem guten Ducksteiner Hellen und Braunschweiger Dunklen hatte man auf einem Schemel einen hohen Zinnleuchter mit gewaltig dicker Kerze aufgestellt. Denn kein lieblicher gläserner oder von hellem Goldwerk strahlender Kronleuchter erhellte den Saal. Auch die Tafel selbst hatte nur die blanken, kupfernen Stehleuchter zu Zierat und Leuchte.

Der König liebte die herbstliche Abendstunde, in der das Land weit und weiter wurde hinter Bäumen, die sich entlaubten, und frühe Dunkelheit und Kühle die Menschen an den Tisch ums Kerzenlicht verwiesen. Das waren die Stunden, in denen der rastlos Sorgende, Planende, Schaffende zu sinnen, zu erzählen, sogar zu lachen vermochte. Man durfte sich nicht einmal im Gespräch unterbrechen lassen, wenn der König den gefüllten Tabakssaal betrat.

Was es aber nur zu lachen gab in dieser Stadt der Arbeit und des Exerzitiums? Nun, Professor Gundling war dem Herrn gefolgt und wußte ihn von allerlei Dingen zu unterhalten, die alt und schlecht und überaus lächerlich waren und deren der König dennoch nicht vergessen sollte über dem Drängenden und Neuen – als da war eine hohe und gelehrte Akademie in Berlin. Den hochfahrenden mythologischen Kalendermachern spürte der Herr Professor nach, ob sie das Geld des Königs vertäten und in welches müßige Gelehrtengezänk sie sich verlören. Vielleicht, dachte Gundling, daß der Herr sich doch noch entschloß, sie davonzujagen, wie er es einst mit ihm selbst tat. Damals hatte die Akademie es versäumt, Gundling zu sich zu berufen. Seitdem war er ihr Feind, obwohl er bei dem König für alle Wissenschaft hätte kämpfen müssen.

Der Professor wußte es wohl, daß es eine eigene Sache war um die Wissenschaft und den König. Als junger Bursche hatte der Herr zwischen Soldatenspiel, derben Gesprächen mit Stallknechten, Malerei und Jagd einiges im griechischen Fürstenspiegel, in Xenophons »Kyropaedie« gefunden; davon kam er nicht mehr los; sein Leben verriet es. Denn Kyros war aus großer Leidenschaft Soldat und Jäger und Vater des Landes, dem jede Reise Heerschau und Landfahrt wurde und der nicht speiste zur Lust, sondern zur Stärke.

Mit solcher Wissenschaft vom Altertum war der König heute noch zu fangen. Das hatte Gundling längst schon wahrgenommen. Er, er allein verstand dem Herrscher Anekdoten und Historien vom großen Kyros zu erzählen, wie keiner der Kalendermacher sie nur ahnte. Majestät sollte es nur hören: Kyros musterte Jahr für Jahr die neuen Truppen; Kyros prüfte auf seinen Reisen zu den Regimentern flugs den Ackerbau, um die Reisezeit ja doppelt auszunützen. Er belohnte oder bestrafte Statthalter, beschenkte zuerst die Soldaten, ohne die kein Staat bestehen kann, und danach die Landleute, ohne die seine Soldaten wiederum nicht zu leben vermochten.

Die Herren um den König vermochten freilich nicht alle die Weisheit aus der bramarbasierenden Rede des Professors herauszuhören. Sie nahmen nur den Pfauenstolz des aufgeregten Männleins wahr, von dem in Potsdam und Berlin ja jeder wußte, daß man ihn aus Polterhansen Bleusets trüber Schenke aufgelesen hatte. Manchmal machte es ihnen Spaß, dem eitlen Professor den Bierkrug so rasch aufzufüllen, bis auch der hartgesottene Trinker endlich wieder erlag, den Saal und die Würde seines Prachtrockes und die Gegenwart des Herrn vergaß und sich in Polterhansen Bleusets Wirtsstube glaubte. Dann verfiel er in beträchtliche Derbheiten und begann, was die Anwesenden anging, gar gefährliche Offenheiten zu schwatzen. Und vor allem wußte der Eigenbrötler, Kauz und Faxenmacher treffend und bissig, unflätig und in sich überstürzenden Einfällen einige hohe Herren des alten Hofes ungemein lustig nachzuahmen. Der König nahm solches Treiben nicht übel.

Heute stand er auf, stopfte sich die Pfeife neu und trat hinter den Schemel des aufgedunsenen, stolzgeschwellten, lächerlichen, sehr erregten kleinen Mannes. Aber das Lachen wollte König Friedrich Wilhelm doch nicht kommen, obwohl er geruhte, dem Expräsidenten und Professor selbst den Krug, mit hoher Blume, vollzuschenken. Noch war der König ganz in seiner eigenen Rede befangen; er hatte von seinen künftigen Reisen gesprochen. Plötzlich zog er, wie ergrimmt, den Krug von Gundlings Platz hinweg und hieß ihn gehen; und als es der nicht mehr verstand, stießen die Offiziere ihn sehr derb hinaus. Schließlich, das hätte man ja selbst gesehen, war der Professor noch gerade gut genug gewesen, das Narrenpaar des Zaren während der russischen Visite in Berlin zu unterhalten. Und seit er sich herumgeschlagen hatte mit einem von den hundert zarischen Narren, hatte Gundling sein Geschick heraufbeschworen, selbst nur noch als Hofnarr zu gelten. Höflichkeit durfte ein solcher nicht mehr erwarten.

Der Herr nahm seinen Platz nun nicht mehr ein. Er blieb, mitten unter dem Bauernbilde von seiner Hand, bei den Karten stehen und wies, wie ein Lehrer den Schülern, die Linien seiner Reise. Aber mehr noch war er, zeigend und erläuternd, ein beredter Anwalt aller Not, die auf ihn eindrang, oder wie einer, der vom schwer zu erkämpfenden Heil zu der Schar seiner ungläubigen Jünger predigte.

Gundling hatte sich wieder in den Saal der Tabagie geschlichen. Als der König einhielt, schlug ihm Professor Gundling stammelnd vor, er werde ihm neue Landkarten anfertigen und zu solchem Zweck das Land des Königs bereisen. Die Karten hier seien aus diesem und jenem Grunde sehr schlecht. Die Karten, die er selber zu entwerfen wisse, seien in dieser und jener Art besser. Und wie er es entwickelte, warum, wich die Betrunkenheit, und nur Besessenheit von Klugheit und von Dünkel blieb. Nachdenklich sah der König den Gefährten des zarischen Narrenpaares und des Zwergentrosses an. Dann gab er Gundling den Auftrag, den er begehrte.

Einige Herren standen bei dem König und Gundling. Die Höflichsten hielten Leuchter zur Rechten und Linken der Karten. Die Unwissenderen hatten sich über den Nebentisch mit dem Brot, der Butter und dem kalten Braten hergemacht und beluden zinnerne Teller mit saftigen und mächtigen Scheiben zarten Fleisches. Ewersmann, der Bauer und Fischer, der ein königlicher Diener geworden war, ging leise auf und ab; er legte auf der Tafel zwischen Kupferpfannen und Tabakskästen die Zeitungen aus, die auf den Abend noch mit der Post aus Ost und West und Nord und Süd gekommen waren, Gazetten aus Holland und Frankreich und England, aus Frankfurt, Hamburg, Breslau, Leipzig und Wien. Der König hatte sie alle selbst bestellt, von jetzt an für immer, damit in der Runde seiner Rauchgefährten, im schmalen, weißgetünchten Saal zu Potsdam, die weite Welt auch ihre Stimme hätte und frei zu reden vermöchte wie die Herren hier.

Ewersmann besteckte die Leuchter noch einmal mit frischen Kerzen. Der König und die Offiziere, Minister von Grumbkow und Professor Gundling nahmen wieder ihre Plätze ein und griffen zu den Journalen. Die Wiener und Pariser Zeitungen fanden am ehesten ihre Leser; Französisch verstand ein jeder. Grumbkow wählte die Meldungen aus London und Hannover; wie das neue Preußen sich in den Residenzen des hohen Herrn Vaters Ihrer Majestät der Königin wohl spiegeln mochte, das schien Grumbkow nun vor allem wissenswert. Der König selbst erbat sich das Kurierblatt aus Den Haag; und eine Welt des Friedens und der Ordnung, des Wohlstands und der Sicherheit, die leuchtende Erinnerung seiner Jugendreise, erwuchs ihm aus den schwarzen Lettern. An diesem Abend wurde es sehr spät im Kreis der Tabagie, obwohl die Kutscher und Knechte in Stall und Remise schon die Pferde und Wagen für den kommenden Tag zur Abfahrt des Königs bereitmachten.

 

Der König fuhr hinauf ins Ostland Preußen, das nun der alten Mark, das seinem ganzen Königreich den Namen gab, so fern es auch lag und so mißachtet es im Reiche auch blieb. – Nicht einmal der Titel eines Königs von Preußen war dem Herrn vom Vater her vergönnt; das westliche Preußen gehörte den Polen, und die hatten es erzwungen, daß dem Brandenburger nur erlaubt ward, sich als der »König in Preußen« zu bezeichnen.

Traurige Pilgerfahrt, die König Friedrich Wilhelm im alten Ordenslande hielt! Viel wüstes Land war sinnlos erworben, damit das neue Königreich mit Maßen und mit Zahlen prunken könne, wo die Werte fehlten. Städte, Dörfer, Menschen, Herden waren längst zum Raube des Krieges, der Tatareneinfälle und der Pest geworden. Himmelschreiendes Unrecht in der Verwaltung, Steuerbetrug durch den Adel, Nepotismus und Goldgier der Herrschenden, Stumpfheit und Trägheit der Untertanen, zu harte Winter und zu glühende Sommer hatten das Lebendige getötet, das einst die Ritter und Brüder in dem armen Lande wachsen ließen – von Brandenburgern geführt.

Ganze Tagesreisen weit war kein Bauer mehr anzutreffen, Güter und Bauernhöfe lagen verödet, kein Vieh und kein Getreidehalm war mehr zu sehen; zerfallen ragten die Gebäude; Wildnis starrte überall; das Land war eine Stätte des Grauens.

Droben in Litauen hatte der Herr in alten Schriften geblättert. Er wollte erfahren, was die zerbröckelten Mauern am Fuße der Ordensritterburgen und die verödeten Äcker, die sich um die alten Dome breiteten, nicht mehr zu künden vermochten. Die Wonne des Erdkreises, die unerschöpfliche Quelle guter Steuern, die Kornkammer, das Tor des Handels dreier Reiche war das Land in den alten Schriften genannt. Und gerühmt war sein goldener, strahlender Bernstein, der honigfarbene, gläserne Schatz aus Meer und Wald und Zeit. Gepriesen war auch der Reichtum der Fische, die Fülle des Kornes und der Herden auf üppigen Weiden, die Menge des Holzes und Wildes, der Anstand und die Schönheit seiner Menschen. Noch war ein Sprichwort aufgezeichnet, das dem Herrn das Herz zusammenpreßte: »Wollten die Götter auf Erden wohnen, sie ließen sich im Lande Preußen nieder ...« Aber nun, das wußte Preußens neuer Herr, würden die Götter nur fliehen vor Entsetzen, wie die Menschen einer armen Erde leiden und Not übereinander bringen mußten.

Zwischen Verschlafenheit und Trunkenheit schwankend, wachten sie nur, um für die bitterste Notdurft des Tages zu stehlen, aus lähmender Trägheit auf. Ein verlaufenes Stück Vieh, das war der Kostbarkeiten größte, um derentwillen jeder sich zum Diebe machte.

Der König sah die Menschen seines Elendslandes, nur in Fetzen gehüllt, dahinschleichen, die Füße bloß, mit rauhem Bastgeflecht umwickelt: untätig, gegen Frost und Hitze stumpf, und roh; manchmal nur war ein Mann zu einer jungen Frau von einer fernen Freundlichkeit; und ohne Argwohn schienen sie alle gegen jeden, der beim Trunke derb und lustig war.

Wenn der Sonntag den König auf seiner Fahrt in einem Kirchdorfe fand – denn so pflegte er seine Reise mit den wenigen leichten Wagen einzurichten, so fern die Kirchen einander auch lagen –, sah er die Männer und Frauen, verschmutzt wie am Werktag, weither aus den Dörfern ohne Kirche kommen; aus Dörfern, die dem Bann von Nachtmahr, Alp und Werwolf preisgegeben waren. Nun aber riefen jammervolle Glocken all das arme Volk zusammen; die Hornviehseuche war im Lande, das Letzte zu rauben, und das allgemeine Kirchengebet war angesagt. Betrunken torkelten die Männer, betrunken oft auch die Frauen, von ihren holpernden, mühsam und notdürftig zur Fahrt zusammengeflickten Karren, schlugen auf die Pferde ein und zerrten sie am Stricke auf den Kirchhof; die Gefährten, die noch auf dem Karren hockten, schliefen weiter.

Den fremden Mann, der ihnen in das Kirchtor folgte, nahmen die Unglücklichen nur mit einem stumpfen Blicke wahr. Sie krochen, einander umschlingend wie in großer Gefahr, in die Bänke, blickten fremd und blöde zu dem Prediger auf, dessen Schwall ohn' Ende doch niemand verstand; und mitten in Epistel, Evangelium und Psalm schliefen die einen, an den Nachbarn, auf die Vorderbank oder den Knüppel gelehnt, wieder ein, und andere begannen, unbekümmert um Gottes Wort, laut zu singen, wehmütig, unheimlich und haltlos, den wortlosen Gesang mehr und mehr in Stöhnen und Heulen verlierend, als wären sie nur um solchen Klageliedes willen weither gekommen aus den schwarzen Wäldern.

Verfallen und dunkel umschloß die morsche Holzkirche all den Jammer. Der Herr fuhr weiter, ohne auch nur den Pastor zu sich befohlen zu haben. Am Wege oder vor den Friedhofsmauern sah er die Armen Kräuter und Wurzeln zernagen und an entsetzlichen, steinharten Broten kauen; deren Kruste war mit Asche und Staub bedeckt. Er warf nur einen flüchtigen Blick auf die Hungrigen. Dann eilte er in seiner leichten Kalesche, der zu schneller Fahrt geschaffenen, von Edelmann zu Edelmann, fuhr an den Adelssitzen vorüber und fand alles, wie das Fräulein von Wagnitz, als er ihm noch sehr vertraute, es beschrieb.

Ein kleiner Küchenwagen rollte hinterdrein. Nur ganz selten auf der Reise aß der König bei Offizieren, Amtsleuten, Beamten, Förstern; und immer nur wie einer der Ihren: Suppe und Huhn; Kohl oder Erbsen mit Pökelfleisch; Kalbfleisch und Käsebrot. Doch teilte er auch nach einem bloßen Butterbrot noch reichlich Tafelgelder aus; und nur am Tische der Redlichen und Sauberen nahm er Platz.

Der König hat auch einige Herren von Rang auf ihren Schlössern aufgesucht, doch nicht als Gast. Dann hat er sie alle in die Krönungsstadt des ersten Preußenkönigs bestellt: die Braunsberg, die Wagnitz und Schlubhuth. Im Krönungssaal des ersten Preußenkönigs plante er die Schlacht gegen die »polnische Freiheit« seines preußischen Adels zu schlagen: die polnische Freiheit, wonach niemand im alten Herzogtum Preußen ohne die Genehmigung der Junker sich ansiedeln oder auch nur Beamter werden konnte.

Die großen Herren boten ihrem jungen König ein Donativ, ein Don gratuit, wie König Midas es erhielt, damit die Begegnung einer späten Huldigung gliche und in Feierlichkeiten zerrönne, nach denen man wieder seine Ruhe, sein Vergnügen, seine Zinsen von den Armen hatte. Aber König Friedrich Wilhelm wies das Ehrengeschenk zurück und erklärte, auf festen Rechten und Pflichten, nicht auf Geschenken und Verehrungen solle die Beziehung zwischen Thron und Adel und Ämtern basiert sein.

Es wurden klingende Reden zur Ablenkung des Monarchen gehalten, in denen totgeschwiegen werden sollte, weshalb er eigentlich gekommen war und hier stand. Der König hob die Hand ein wenig. Die Röte stieg ihm nun doch bis in die Schläfen.

»Ersparen Sie mir«, unterbrach er, »die Versicherungen unabänderlicher Ergebenheit und Dienstbereitschaft, die von allen Tatsachen von vornherein Lügen gestraft sind. Erlassen Sie mir die Floskeln, die jeder Kanzlist mir auswendig aufs Briefpapier setzt. Ich spüre allenthalben nur die offene, geschlossene Resistenz der Tat. Mir bangt – für Sie – vor den Folgen; für mich und mein Volk werde ich sie von Stund an abzuwenden wissen.« Danach kehrte er sich insbesondere zu seinen hohen Beamten. »Oh, es ist gut, Kammerrat oder Kammerpräsident in Preußen zu sein. Denn sie stehlen, rauben, plündern die Untertanen, ducken, lügen, wenn sie sehreiben, weil es weit abgelegen ist und ich glauben muß, was mir die Kammern melden. Die armen Leute kommen selber so weit zu mir gereist – und müssen, wenn man sie abfängt, hohe Summen geben, falls sie nicht wegen Aufsässigkeit bestraft werden wollen!

Aus allem ersehe und vernehme ich nur immer wieder, daß meine Meinung ganz anders will verstanden werden als sie bei mir ist. Ich suche gar nicht Ihre Unterdrückung, sondern nur eine gerechtere Verteilung der Lasten, die meinem Volke auferlegt sein müssen; ich bin stets darauf bedacht, auch Ihr Bestes zu fördern. Das soll mein beständiger Vorsatz bleiben. Es müßte auch bekannt sein, daß ich eine große Macht zur Beschützung meiner Lande auf den Beinen halten muß, die ja gleichfalls zu meiner getreuen Vasallen und sämtlicher Untertanen Schutz gereicht. Diejenigen Gelder, die Sie, und nicht mehr nur allein meine unglücklichen Armen, zur Rekognition geben sollten, waren bestimmt, allein zur Erhaltung der Armee verwendet zu werden, damit Sie vor fremder Macht und vor einem feindlichen Überfall wie bisher allezeit gesichert und geschützt sein können, obwohl der größte Teil des Landes von Kriegstrubel umgeben war.«

Als der König während seiner Rede im Moskowitersaal umherblickte, wie es seine Art war – denn er sprach, als rede er zu jedem einzelnen –, wurde die Erinnerung schmerzlich wach in ihm, daß er dies alles ganz genauso schon einmal erlebt hatte, als er mit den Junkern der Kurmark in Fehde lag. Da war überall noch die alte Unbotmäßigkeit, der Übermut und die Zügellosigkeit des Reichsadels. Ah, sonst wollten Brandenburg und Preußen, Cleve und Magdeburg einander nicht kennen, so sehr er darum warb –; doch im Widerstand gegen ihn war herrliche Einmütigkeit! Der König traf auf Stände, die Staaten waren im Staate und seiner Führung nicht zu bedürfen glaubten. Der Wind, so sagte der Herr, könne auf dem Landtag immer noch gemacht werden, aber seine Änderungen nähmen ihren Fortgang; und er werde die Enormität eines solchen Verbrechens, wie Staaten im Staat es bedeuteten, mit gehöriger Strafe zu ahnden wissen, wo immer es ihm in mancher neuen Form und doch dem gleichen Geiste offenbar werde.

Gleich war aber auch dies: daß überall ein Treuer war; daß immer wieder einer sich fand, dem die Not des Landes und die Unehre des Standes das Herz bedrängten; daß einer sich vom hellen Blick des jungen Herrschers bezwungen und hingezogen fühlte und zu ihm kam, indes die anderen ihn mieden und sich gegen ihn verschworen.

König Friedrich Wilhelm dachte an den Landmarschall von Schulenburg, als man ihm den neuen Namen nannte: Karl Heinrich Graf Truchseß zu Waldburg. Der Truchseß hatte, um sich dem König von Preußen zu verschreiben mit allen Kräften und allem Besitz, nur das eine Wort des Herrn vornehmen müssen: »Ich werde die Hände in dem angefangenen Werk nicht sinken lassen noch eher ruhen, bis die Wüsteneien aufgehört haben.« Auch er stand vor dem Angesichte Gottes, der »die Erde nicht gemacht hat, daß sie leer soll sein, sondern sie bereitet hat, daß man darauf wohnen solle«.

Es war, als schenke jedes seiner Länder dem König immer wieder einen, der ihn an dem Wert und der Treue und den Gaben des Adels nicht verzweifeln ließ. Der König prüfte Truchseß nur mit einem Wort, nur mit einem Blick; und schon besprach er nur mit ihm, was schnell, sehr schnell im Lande geschehen müsse. Graf Truchseß schien keiner zu sein, der in Begeisterung dahinstürmte, viel eher einer, der wartete und vorbereitete und Unterlagen beschaffte, auf die man sicher bauen konnte. Nach einer kurzen Abendtafel, die beide Herren allein miteinander hielten, war König Friedrich Wilhelm entschlossen, dem Adel sein Recht, die Armen zu besteuern, und die ausschließliche Baugerechtigkeit zu nehmen; entschlossen auch, jegliche Parzellierung durch wilden Verkauf, der eine sinngemäße Bebauung des Landes erschwerte, zu beseitigen; der Adel aber sollte nach dem Wert und Ausmaß seiner Hufen zu Steuerleistungen herangezogen werden statt des armen Mannes. Selbst den Besitz der Großmächtigen durfte der Herr jetzt nicht länger unangetastet lassen, mochten sie auch noch so drohend gegen ihn nach Polen um Beistand rufen. Wie hätten sie sich eingestehen wollen, daß ihr König ihnen nichts entriß als wüstes, wildes Land, das ihnen Last bedeutete und das von Saatzeit zu Ernte, von Ernte zu Saatzeit Jahr um Jahr brachlag. Der Herr in seinem Glauben, daß »der vaterländische Boden zu jedem guten Werk geschickt« sei, sah nur die ungenützte Erde an. Er fragte nicht nach überlebten und verjährten Privilegien, die gar nichts mehr denn nur Dekor der Eitelkeit bedeuteten. Die Not des Lebens und die Möglichkeiten einer fruchtbereiten Erde, die allein bedrängten ihn. Die Proteste und Skrupel der innerlich Toten tat der Lebendige mit heftiger Gebärde ab. Der Herr von Grumbkow warnte von Berlin aus, der König fange da ein Ding an, das er nicht werde durchführen können.

Er aber sah die Frist, die dem Ackerlande der Großen gesetzt war, ungenützt verstrichen; und sein Wille war, den Grund und Boden neu zu verteilen, als sei er, ein letzter Ordensritter, wie ein Eroberer in sein eigenes Reich gekommen, es zum Gottesstaat auf Erden zu machen. Was er entwarf, war hartes, nüchternes Edikt; aber jedes Wort darin war ein Aufruf zum Leben, auch wenn die Niederschriften Aktenchiffren und Registerzeichen trugen. Eine neue Agrargesetzgebung bahnte sich an – vorerst noch allein im leidenschaftlichen Ausbruch dieses einen heißen, königlichen Herzens!

Als Anwalt der Entrechteten hatte der König zum Grafen Truchseß, seinem »lieben Trux«, gesprochen: »Ich habe in Erwägung gezogen, was es für eine edle Sache sei, wenn die Untertanen statt der Leibeigenschaft sich der Freiheit rühmen, das Ihrige desto besser genießen, ihr Gewerbe und Wesen mit um so mehr Begierde und Eifer als ihr eigenes betreiben und ihres Hauses und Herdes, ihres Ackers und Eigentumes für sich und die Ihrigen für Gegenwart und Zukunft gewiß sind.«

Er plante auf der Stelle eine neue allgemeine Konferenz mit dem Adel; er wollte auf dieser neuen Sitzung mit der Faust auf den Tisch schlagen, auch einige der hohen Herren gleich verhaften lassen, aber er fügte sich dem Wissen, das sich ihm im »lieben Trux« als einzige Hilfe bot. Denn Graf Truchseß widersprach; er redete dem Herrscher nicht zum Munde; er tat nichts, um sich selbst ein rasches Lob zu sichern. Und der Herr, in all der Not und all dem Zorn, war glücklich nur um dieses einen Gerechten willen. Der prägte ihm ein, daß glühender Wille und überstürzter Entschluß in diesem Lande der Öde, Wildheit und Schwere jäh versagen müßten. Er schrieb es seinem Herrn noch nach, mit Eilkurier und eigenem Boten, als der längst schon wieder unterwegs war: »Man muß die Sache kaschieren, bis alles changieret wird sein, alsdann auf einmal abbattieren und in fuhrie einrichten, daß die Leute keine Zeit haben zur Remonstration.«

Der Truchseß schien einer, der selbst die Heftigkeit mit Vorbedacht einsetzte. Solch einen konnte König Friedrich Wilhelm gebrauchen, über seinem Ostland zu wachen, »bis alles changieret wird sein –«.

Welch harte Probe der Geduld, wenn die Adern vom Zorne zerspringen und ein königliches Herz vor Mitleid überströmt!

»Bis alles changieret wird sein –«

Das Wort hat einen ungeheuerlichen Sinn, ein überwältigendes Ausmaß für ihn gewonnen; es wächst an Weite und Schwere seines Gehaltes; grollend ruft es ihn noch aus jedem Räderrollen an; mahnend fleht es noch im Ächzen der Deichsel und Achse. In Litauen fehlt es an kleinen Städten, und in den vorhandenen Städten an Manufakturen, die doch »der rechte nervus rerum eines Landes sind«. Verkommene, vergessene Landflecken werden in einer wahren Umgürtung von Gerüsten in Städte verwandelt; plötzlich kennt man die Namen: Tapiau, Ragnit, Bialla, Stallupönen, Darkehmen, Pillkallen, Gumbinnen, Schirwindt – jede einzelne ist König Friedrich Wilhelms Stadt.

In Magdeburg stockt der Salzvertrieb der Salinen; die Salzverbrauchspflicht ist zu erwägen. Bei den Domänen der Neumark und Uckermark ist eine Revision von Amt zu Amt höchst nötig, und das Forstwesen muß gründlich untersucht werden. Der Holzhandel mit Holland und Hamburg ist in Gefahr.

Die einzelnen Schatullgüter des Hauses Brandenburg liegen zerrissen in mehr denn zwanzig kleine Vorwerke, sind auf Raubbau zu doppeltem Preise weiterverpachtet, verschuldet, verpfändet, verrottet. Pachtverträge müssen gelöst, Verschreibungen annulliert, Erbpachten in Zeitpachten verwandelt, Entschuldungen durchgeführt, die geretteten Güter mit ewigen Fideikommiß belegt, für unteilbar und unveräußerlich erklärt werden. Er, der das elendeste Erbe übernahm, wird überall zum Verfechter einer neuen Lehre von Besitz und Erbe: vor seinem Hause, vor dem Adel, vor den Bauern.

Sechs- bis achthunderttausend Taler Revenuen mehr im Jahr lassen sich schaffen – ohne Drückung der Untertanen und bei allergeringster Besteuerung der Bevölkerung. Das ist die Lehre und die Forderung der Landfahrt.

Dabei sind den Pächtern noch die Schäden zu ersetzen, die »durch Pest, Krieg, Feuer vom Himmel, ungewöhnliche Wasserstauungen und Überschwemmungen oder andere dergleichen Zufälle entstanden, welche Menschenmacht und Vorsichtigkeit nicht haben abwenden können«. Und solche Hilfe soll auch noch »gegen Mißwachs, Sturm und Hagel« gewährt sein, »wenn nicht einmal das Aussaatquantum wiedergewonnen wurde«. Was nun den Pächtern versprochen wird, »muß heilig gehalten werden«.

Im Oderbruchgebiet ist Hochwasserzeit; die Tierkadaver sind auf die überfluteten Äcker geschwemmt. Im Havelländischen Luch versinken die Kühe beim Weiden. Die grasenden Schafe werden krank vom fauligen Klee. Die Saat verschimmelt. Die Mahd kann um der trügerischen Decke des Moores willen nicht vor dem ersten Froste erfolgen. Ein halbes hundert Dörfer modert in einem armseligen Winkel hin. Aber die Menschen widersetzen sich dem Retter: »Das Moor besteht seit uralten Zeiten. Wer kann es wohl durch Menschenkraft hinwegbannen?«

Der Herr entwirft gleich einen Siebenjahresplan, ach, Pläne für wohl sieben magere Jahre! Er übernimmt die Vermessungskosten; er beschwichtigt die, denen er helfen will: »Dieses muß ich bezahlen, weil ich es zu meiner Curiosité habe wissen wollen.«

Tausend Arbeiter und zweihundert Soldaten werden ins Moor entsandt. Die Regimenter haben ihren Soldatendienst zu verlassen und Deiche, Dämme und Buhnen aufzuschütten, Weiden anzupflanzen, Flößereien anzulegen, Uferland zu schützen: ohne Waffe; und solcher Dienst scheint König Friedrich Wilhelm für seine Soldaten nicht geringer, als Schanzen und Wälle um ein Lager aufzuwerfen. Denn immerwährend ergeht, auch im Frieden, der Josuabefehl an die Herrscher der Erde: »Des Landes ist noch sehr viel übrig einzunehmen –«

»– bis alles changieret wird sein –«

Die Kavallerie, die rings im Lande auf den Dörfern und den Bauern auf der Tasche liegt, wird noch während der Reise des Königs auf den Kriegsetat gesetzt, und die Bauern sollen sich künftig, aber nur bei guter Ernte, mit einem Kavalleriegelde ablösen. Vor allen Dingen aber müssen die Kreisräte »nach Vermögen dahin sehen, daß von den marschierenden Korps die Einsamen des platten Landes und die königlichen bäuerlichen Untertanen nicht zur Ungebühr beschwert, viel weniger denenselben einiger Schade oder Verdruß zugefügt werde«. Mit härtesten Drohungen wird der Prügelstrafe ein Ende bereitet, »jenem barbarischen Wesen, die Untertanen gottloser Weise mit Peitschen und Stockschlägen wie das Vieh zu traktieren«. Den königlichen Räten haben die Bauern keinen Vorspann mehr zu stellen, wenn Pflugzeit und Ernte jeden ärmsten Gaul verlangen. Der König will nicht, daß die Herren Räte in den Provinzen mit seiner Bauern Pferde spazieren fahren. Er legt das Tempo des zu leistenden Vorspanns fest. Er ordnet die Benützung leichter Jagdwagen an, um die Bauernpferde zu schonen. Aber so wenig angenehm das Reisen nun ist, müssen alle Kammerpräsidenten jetzt alljährlich, sobald der Schnee taut, zur Visitation aufbrechen. Auf solcher Dienstreise ist alles in bar zu bezahlen. Man soll dem König nicht mit »pommerschen Historien« kommen, dies gehe nicht. Die Herren haben zu reisen, wie er selber jetzt die Länder durcheilt: denn grimmiger Krieg ist zu erklären allen Wölfen, Bären, Hamstern, Raupen, Heuschrecken; der Versandung der Äcker und Flüsse, dem Sterben und Faulen der Fische. Der Kampf gegen die biblischen Plagen, die Heuschrecken, hebt an; der König läßt die Felder, in denen Raupenherde nisten, vor Winteranbruch umpflügen, damit sie an der Kälte sterben. Und damit im dürren Lande der Flugsand die Felder nicht mehr verwehe, werden Erlendämme angelegt und dichte Gräser an den Ackerrain gepflanzt. Streng zu überwachen ist, daß die neue Pflugart angewendet und das wenige Getreide, das seine unglückselige Erde noch trägt, »rein ausgedroschen wird, nicht nach bisheriger unverantwortlicher Gewohnheit obenhin bearbeitet, so daß der Segen, den Gott gab, im Stroh zurückgelassen wurde«.

Der Herr läßt nicht nach. Abermals und noch einmal werden zehntausend Taler für den Ankauf deutscher Pflüge ausgesetzt, mit denen seine Siedler das rohe Holzgerät der Litauer verdrängen sollen. Wenn nur die herbeigerufenen Kolonisten nicht so unbillige Bedingungen stellen wollten! Aber sie können ja nur ihren eigenen, sichtbaren Vorteil suchen – was gilt ihnen denn des Kurfürsten von Brandenburg östliches Titularkönigreich Preußen! Ihm aber muß alles als Werk von Dauer erstehen. Er ernennt für sein Siedlungsprogramm Ingenieure und Baubeamte; er organisiert Baukompanien mit Landbaumeistern und Bauschreibern und sendet ihnen Soldaten als Hilfsmannschaften. Nicht mehr nur Soldaten, auch Mühleninspektoren, Mühlenmeister und Müllerburschen werden im Magdeburgischen und Halberstädtischen geworben. Eine neue Art von Werbern hält überall Umschau nach erstklassigen Landwirten vom Administrator bis zum Kleinknecht. Vierhundert Gärtner werden noch in diesem Jahr gebraucht –

»– bis alles changieret wird sein –«

»Bis alles changieret wird sein«, bekennt der Herr, »denke ich Tag und Nacht, wie das schöne Land in florissanten Zustand kommen kann. Dann finde ich immer, die alten Systeme stehen dem entgegen. Denn wenn das Land florieren soll, dann kann der Kommerz nicht sehr florieren. Davon bin ich überzeugt. Nun ist die Frage, ob ich ein florissantes Land oder einen florissanten Handel haben will.«

Wenn die Liebe zu seiner elenden Erde gar zu mächtig über König Friedrich Wilhelm kommt, nennt er Sand und Sumpf und Kiefernheide »das schöne Land«.

Es ringt den eben erst notdürftig gefüllten Kassen Ausfuhrprämien, Produktionsbelohnungen und Kredite für die »Entrepreneurs neuer Fabriken und Manufakturen« ab. Fabrikinspektoren werden ernannt, der Gewerbeschutz wird ausgebaut, ein numerus clausus in einigen Innungen eingeführt. Eine genaue Handwerkerstatistik stellt fest, wo und an wem Bedarf ist. Das völlige Verbot der Einfuhr von Manufakturen wird unerläßlich, ebenso der Ausfuhr solcher Rohstoffe, welche die einheimischen Gewerbe für die eigene Produktion benötigen.

Der stärkste Widerstand kommt aus den Zünften. Der König gestaltet das Innungswesen um und hebt die alten, beschränkenden Zunftgesetze auf. Er dehnt die Fürsorge, welche die Spinner und Tuchmacher erfuhren, auch auf die Leder- und Metallarbeiter aus, da er die am ehesten mit Aufträgen für das Heer zu beschäftigen vermag.

Die Behörden müssen die fremden Biere, Branntweine, Weine, Essige, das ausländische Korn, die Gerste, den Hafer, Flachs, Butter, Käse mit hohem Imposte belegen, damit die preußischen Lebensmittel um die Hälfte billiger verkauft werden können als die fremden. Dagegen dürfen die Waren und das Getreide, die aus dem Lande in die Fremde geschickt werden, nur mit »einer leidlichen Handlungsaccise« belastet sein, und »auch sonst ist die Ausfuhr auf alle Art und Weise zu favorisieren«. Der König fordert die Kaufmannschaft aller größeren Städte auf, sich monatlich zu versammeln und Vorschläge an die Behörden zu machen, wie ihre Haltung verbessert und eine neue Handlung eingerichtet werden könne.

Der neue Handel erfordert neues, besseres Geld. »Und wenn wir gleich des Jahres ein paar tausend Taler an die neuen Zweigroschen- und Achtpfennigstücke setzen müßten, so werden wir doch frisches Geld ins Land bekommen«, so verspricht der König, »denn wir wollen durchaus nicht mehr gestatten, daß anstatt baren Geldes Zettel und Papiere gezahlt werden.«

Dem Reich ist es unfaßlich, daß ein Landesherr nun gar auch noch daran denken will, die Gewichte und Maße in den verschiedenen Gebieten seiner Herrschaft einheitlich zu machen, die auseinanderklaffenden Währungen in einem zerrissenen Lande in Einklang zu bringen. Ellen und Gewichte in den Läden werden jetzt monatlich untersucht, die Waren nachgeprüft. Alle Grenzstreitigkeiten, die den Versand und Austausch erschweren, werden beigelegt, die Postkurse vermehrt, die Wege verbessert, die freien Bestellungen unterbunden, die Tarife an die der anderen Staaten angeglichen.

Der König fährt noch durchs Land, und schon begegnen ihm im Umkreis der Städte die ungleich nobleren und bequemeren Kutschen all der großen Sachkenner, die er aus allen Himmelsrichtungen herbeirief.

Die alten Städte an den neuen Straßen verlangen nach Menschen: Magdeburg hat nach den großen Kriegen nur noch den zehnten, Frankfurt an der Oder den fünften Teil seiner Einwohner.

Die Willkür der Patriziermagistrate mit dem jährlichen Wechsel ihrer Bürgermeister und der herrschenden Familienklüngel hat den Beamtenmagistraten Seiner Majestät zu weichen. Der König wird zum Bürgermeister aller seiner Städte; er nimmt ihnen ihre Gerichtsbarkeit und unterwirft sie einem Rechte; er wacht noch über sie im Mühlenamt, in der Feuerordnung und Laternenkommission. Er ist an gar zu vielen späten Abenden durch gar zu dunkle Städte gereist; von Oktober bis März werden von nun an in den Straßen aller Städte allabendlich Laternen brennen. Seine Hand ist spürbar im Vormundsamt für die Stadtwaisen und im Dezernat der Armenwachtmeister. Gassenherren haben ihm über den Zustand der Bürgersteige zu wachen. Das Hebammenwesen wird geregelt – die Hundehaltung geordnet, als müsse alles in einem Zuge geschehen, als sei das Höchste und das Geringste im selben Maße unerläßlich. Der junge König beschließt, von nun an auf seiner Landfahrt stets eine Kapsel bei sich zu führen; in ihr stecken die Etats der Provinz, des Domänenamts, der Stadt, die er besichtigt. Jeden will er sein Pensum abhören. Mit jener Kapsel, die sein Reichsapfel ist, wird er von nun an immer reisen –

»– bis alles changieret wird sein –«

Der König fährt und schaut und prüft – und lernt. Er kann keinen Untertanen entbehren, den er auf seiner Landfahrt findet. Denn die Menschen fehlen, die neuen Pflüge zu führen, die Sensen zu schwingen, die Ziegel zu setzen, die Bäume zu pflanzen, die Kühe zu melken und die Schafe zu scheren, die aus allem guten Land in Nachbarreichen von dem König angekauft werden. Die Menschen fehlen, die Manufakten zu verwalten und zu verwerten, die der König in die Wüsten der Verzweiflung schickt. Und die wenigen Menschen seines Reiches sind einander fremd und feind. Er aber will erzwingen, daß im ganzen Land aus Jahren und Bezirken reicher Ernte künftig Magazine für die Hungersnöte vom Unglück verfolgter Landstriche aufgefüllt werden; er will mit Zwang ankaufen, aus Gnade verteilen, die sieben fetten Jahre für die sieben mageren Jahre werten, östliches Preußen und westliches Cleve, das Küstenland Pommern an Meer und Strom und die Mark im Sande ihre Not und ihren Reichtum miteinander teilen lassen. »Denn das Land«, schreibt der Herr, als wäre er, der Plusmacher, auf seiner Landfahrt zum Träumer geworden, »ist gut, daß es meinem Sohn an Menschen nit fehlet. Menschen halte für den größten Reichtum.«

An Menschen ist er bettelarm. Er wirbt um seine Untertanen, wie keiner seiner Werber um Soldaten werben kann.

Immer wieder steigt der Herr an einer Scheuer ab, immer wieder fährt der Herr an einem Amtshause vor, immer wieder jagt er die Landstraßen entlang, die kaum erst aufgeschüttet wurden – vorüber an neuen Mühlen, deren Flügel und Wasserräder sich noch nicht drehten, und an Speichergerüsten, durch deren Gebälk nur die Weite und Leere der Ebene ihn anblickt.

Die Nacht wird in ärmlichem Wirtshaus verbracht, das Mahl am Feldrain abgekocht. Nicht einmal bei Förstern und Amtsleuten kehrt er noch ein. Der Diener Ewersmann hat sich daran gewöhnen müssen, auch des Königs Koch zu sein. Auf der Reise ward er wieder Fischer, Landmann, fern dem neuen Schicksal, das eine Frau über ihn heraufbeschwor und das er nun sein Glück nannte. Der König aber wünschte sich solchen Bedienten auf seinem Reisewagen.

Obwohl es tief im Herbste war, lagerten der König und sein Diener noch immer wieder einmal am Wegrand. Die Pferde wurden an einen Wiesenstreifen geführt; der Kutscher ruhte nahe bei ihnen unter einem Baum. Der König und Ewersmann suchten eine Gruppe von Kiefern und Birken auf der anderen Seite des Feldweges. Der Diener nahm den Korb mit dem Imbiß mit; er breitete dem Herrn eine Serviette auf den Erdboden und mahnte ihn an die Mahlzeit. Als der Herr am letzten Tage seiner Landfahrt das Brot brach unter dem herbstlichen Himmel – unter einer Sonne, die keinen Halm und keine Frucht mehr reifen lassen durfte –, war es mehr als eine Geste, die der Sättigung diente. Er betete vor der Mahlzeit unter dem offenen Himmel nicht. Aber durch seinen Sinn zogen alle die frommen Geschehnisse, die er mit jedem Tage seines Königsamtes tiefer und tiefer zu begreifen begann, als sei alles Herrschen, Ordnen und Verwalten nur eine Auslegung der Heiligen Schrift: des Evangeliums von der Speisung der Fünftausend mit fünf kärglichen Broten und zwei Fischen; des Evangeliums von dem Brote, das als ein Leib dahingegeben wird zum Leben der Welt.

Es war das königlichste Mahl, das er je hielt: einsam, am Wegrand, unter offenem Himmel, in der sanften Wärme einer Sonne, die nicht mehr reifen ließ und dennoch seine liebe Erde beglänzte. Als prüfe er das herbstliche Gewölk, sah König Friedrich Wilhelm empor, Bauern und Könige müssen des Morgens, des Mittags, des Abends nach den Wolken sehen. Er betete nicht. Aber er schaute auf zu dem, der über den Wolken ist. Die Rast war kurz und tief.

Wenn sie die Eile einhielten, die der Herr bestimmte, gelang es noch immer, daß sie zur Nacht gerade wieder auf dem Gebiete seiner Herrschaft ruhen konnten: so zerrissen war sein Land, so zerstückelt in sinnlos ausgestreute Fetzen, so zerschnitten von fremden Gemarken.

Die Klagen liefen König Friedrich Wilhelm nach. Die Freien, Mächtigen, Verwöhnten, die großen Geschlechter, »die mitregieren wollten«, jammerten hinter ihm her: »Tout le pays sera ruiné!«

Der Herr wiederholte es höhnisch: »Tout le pays sera ruiné? Nihil credo. Aber das credo, daß die Junkers ihre Autorität wird ruiniert werden müssen! Denn ich komme doch zu meinem Zweck und stabiliere die souverainité und setze die Krone fest wie einen rocher de bronce.«

Noch durfte er die Junker nicht erfahren lassen, daß er, der Bauernnarr, der Tagelöhnerpotentat, bei seinen Bauern auch nicht einen Tag auch nur den Anflug eines Freiheitstaumels duldete. Er, der Lehrmeister der Pflüger, Säer, Schnitter, nahm die Beschenkten in nicht minder harte Schule, als sie der Adel nun bei ihm durchlaufen mußte. Herren aus den Nachbarstaaten mischten sich bereits ein. Der sächsische Gesandte wiederholte seine Versicherungen, daß die Unzufriedenheit des Adels den höchsten Grad erreicht habe; und er bezeichnete dem Herrn mehrere Adlige, die ihre Güter verkaufen, ihr Vermögen durch seine Vermittlung in Sachsen anzulegen und dahin auszuwandern beabsichtigten.

Die minder Wohlhabenden unter den Junkern klagten, sie hätten allerlei Verbindlichkeiten in Warschau, denen sie nun nicht mehr nachkommen könnten; nun sei ihr Ende ganz gewiß; ihre Kinder würden noch betteln gehen, wenn der König ein so übles Spiel mit ihnen allen beginne.

Da ließ der Herr drei große Leiterwagen mit adligen Knaben nach seiner Residenzstadt fahren. Er wollte für die Knaben sorgen; denn »Menschen sind der größte Reichtum«. Er wollte sie erziehen als Pagen und Kadetten. Aber dem Adel war nach jener Landfahrt des Königs das Wort »Kadetten Seiner Majestät« ein Schimpf; und dem unsinnigen Plane seines Kadettenhofes sagte man den baldigen Zusammenbruch voraus und betonte höhnisch, daß dieser Kadettenhof im Alten Hetzgarten errichtet werden sollte. In den gedemütigten Herrensöhnen werde sich der König für die Zukunft eine rechte Rute aufbinden.

Die Knaben der verwöhnten Warschauer Kavaliere, der Herren von Braunsberg und Wagnitz und Schlubhuth, die hundertzehn hübschen Jungen, waren aber so verlaust, daß der König, bevor es darum ging, sie als Kadetten einzukleiden, noch von seiner Reise aus Order geben mußte, sie zu waschen, zu scheren, zu stutzen. Er war genötigt, all den kleinen Herren eine Kinderfrau zu halten, die gut Läuse fand und Krätze zu heilen wußte.

Zum Glück besaß die Dicke Schneider, die in Männerkleidern Huren fürs Spandauer Spinnhaus auffing, eine jüngere Schwester, die in alledem als kundig galt; auch im Haarescheren. So überlegte sich der Herr schon hübsche Uniformen für die Jungen: blau mit roten Aufschlägen, gelber Weste und einem Hut mit silbernen Tressen.

Ach, sollte den Knäblein bei Kindsfrau und König nun wohl sein!

 

Einer war dem König nachgereist, Schritt für Schritt: ein freier Reichsfürst, der keines Dienstes beim armen König von Preußen bedurfte, Freund Leopold von Anhalt-Dessau.

Er hatte gesehen, daß der König auf seiner Landfahrt nur selten Heerschau halten konnte. Paraden und Musterungen wurden mehr als einmal abgesagt, Truppen wurden zum Deichbau in überschwemmtes Land und zur Noternte jämmerlicher, später Hackfrucht in Elendsgebiete entsandt. Er hatte das neue Jahr des Königs an dessen Geburtstag für das Heer begehrt. Nun fuhr er heim, schwieg von dem Glanz der Waffen und dem Wetterleuchten der Fahnen – und erbat sich ein gewaltiges Stück wüsten Landes im ödesten Osten zum wunderlichen Unterpfande ihrer Fürstenfreundschaft. Denn niemand, der nicht die preußische Not – und sei es auch nur an einem ganz geringen Teil – mit König Friedrich Wilhelm teilte, hätte vermocht, sein wahrer Freund zu werden.

Der Fürst von Anhalt, der beste Wirt im Reich, begann dem »König in Preußen« Bubainen und Norkütten zu bebauen. Wie er dem König nachgereist war Schritt um Schritt, so ging der Fürst nun in der Wüste seines neuen Gutes in jedem Zoll den Wegen nach, die der Herr und Freund in der Einöde seines ganzen Landes zurückgelassen hatte: auf Kriegszug und Pilgerfahrt in einem!

 

Immer, wenn König Friedrich Wilhelm auf Reisen war, belebte sich die Geselligkeit in der alten Residenz Berlin. Die Königin selbst begann die Reihe heimlicher Festlichkeiten. Obwohl sie schon das Winterschloß bezogen hatte, ließ sie Monbijou noch einmal herrichten. Der Herbst war mild, und die Kamine reichten noch aus. Abend für Abend hielt die Königin jetzt Appartement mit Kartenspiel, Konzert und Tanz, öffnete sie ihre Räume für die vornehme Welt von Berlin. Es war wie eine stillschweigende Übereinkunft unter ihnen allen, das Personal mit eingeschlossen, daß niemand Seiner Majestät etwas verraten würde; sonst hätte man sich ja bei aller künftigen Abwesenheit des Königs um jegliches Vergnügen gebracht. Selbst den strengsten Wächter über alle öffentlichen und privaten Finanzen im ganzen Lande, Geheimrat von Creutz, brauchte man in dieser Hinsicht nicht zu fürchten. Er wollte nicht mehr die Hohen, Reichen, Edlen herabziehen zu seiner Herkunft. Er wollte aufsteigen zu ihrem Glanz. Auch sein Haus lag jetzt in hellem Licht, Sänften und Equipagen drängten sich vor der Einfahrt, und an der Küchentür wollte es nicht still werden von unablässig noch eintreffenden Lieferungen.

Es hatte allgemeines Aufsehen erregt, als der aufstrebende junge Geheimrat, der Günstling des Königs, sich mit einem jungen Mädchen aus ärmstem Adel verlobte und darauf verzichtete, sich durch eine reiche Ehe ein Vermögen zu schaffen. Aber ihm brauchte nur noch daran zu liegen, in den ererbten Adel einzudringen; dabei wollte er jedoch seine vornehme Frau in völliger Abhängigkeit von sich wissen. Und wirklich, die junge Frau von Creutz war sehr gehorsam und von allem Hochmut frei. Eine alte, tiefverschuldete Mutter, eine Menge jüngerer und älterer Brüder ohne Amt und Einkünfte waren auf die Hilfe ihres Gatten angewiesen. Der gab ihnen Stellungen, in denen sie ihm unmittelbar untergeordnet waren. Der setzte der Frau Schwiegermutter eine Rente aus. Der hielt der jungen Gemahlin ihre erste Equipage und löste ihren Schmuck beim Pfandamt ein. Wie er es konnte – das war das Rätsel. Aber nichts, was nicht in Redlichkeit geschah, wenn er von Monat zu Monat seine Einnahmen steigerte. Er brachte, außerhalb des Handels, fremdes Geld ins Land und war am ausländischen Gewinn zu Recht beteiligt. Alle machten sie ihren Profit dabei: der König, die Fremden und er. Nur das unbedingt Sichere griff er heraus, etwa die Spekulation im Schiffsbau, der eine Vorbedingung war für Pünktlichkeit und Schnelligkeit im gewinnversprechenden russischen Handel. Auch zeigte er eine unerschöpfliche Findigkeit, den Handel auf der Ostsee nach Dänemark und Schweden auszudehnen. Da war es König Friedrich Wilhelm selbst, der ihm eine angemessene Provision vorschlug.

Darüber war der Herr von Creutz sehr reich geworden. Und vor allem: er konnte sich auch seiner Reichtümer offen freuen. Er besaß die Gnade seines Königs wieder wie zuvor; er wirkte und verdiente mit dem Herrscher Hand in Hand. Die Affäre Wagnitz war ihm ganz vergeben, seit der König seine neuen Leistungen bestaunte. Frau von Creutz – der Wunsch des Königs stand dahinter – empfing und erwiderte die Visite des Fräulein von Wagnitz. Creutz führte kühl aus, was der Herr befahl. Er schleppte einen Rechenfehler nicht durch. Der König liebte wirklich nur die Königin. Das Fräulein von Wagnitz liebte wirklich nur den Obersten Friedrich Wilhelm von Hohenzollern.

Seit sich auch Creutz nun immer mehr von ihr zurückzog, führte die junge Baronesse ein einsames Leben. Auch unternahm sie nichts, es zu ändern und wieder den Anschluß an jene Kreise zu finden, zu denen sie, wenn auch bei Hofe gestürzt, nun einmal doch gehörte. Der Schmerz über die Torheit war groß; die Einsicht in die Unmöglichkeit, die Liebe dieses Königs zu gewinnen, war noch bittrer. Daß sie nach den Sorgen der Heimat nicht mehr zu fragen brauchte, war die einzige Entlastung; der König auf seiner Landfahrt bereiste ihre Güter; alles war aus ihrer Hand genommen. Sie hätte auch gar nicht vermocht, von Berlin wegzugehen. Ein entsetzlich haltloser Zustand war über sie gekommen. Das Spiel mit einem Abenteuer, wie es andere Höfe doch in Fülle kannten, war mit völliger Hoffnungslosigkeit des Herzens gestraft. Wäre nicht plötzlich für ihren Unterhalt gesorgt gewesen, sie wäre, müde und tatenlos, dem tiefsten Elend verfallen. Aber der König hatte sich überaus gnädig gegen sie verhalten, weil er es ihr dankte, daß sie ihm einmal die Not und Schuld seines Ostlandes gar so brennend machte. Ihre Bezüge als Hofdame Ihrer Majestät außer Diensten erhielt sie weiter ungekürzt, dazu, sogar die Naturalien und das Holz für die Heizung. Nur daß sie in der Zeit ihres glanzvollen Auftretens bei Hofe zu viel Geld ausgegeben hatte, beschwor noch schlimme Folgen herauf. Doch als es sich herumsprach, daß der König weiter für sie sorge, zuckten ihre Gläubiger die Achseln, sahen sich vielsagend an und hielten die Mahnungen für unbezahlte Rechnungen zurück. Dann freilich dauerte es ihnen zu lange, bis Majestät sich nach den Verbindlichkeiten des Fräuleins erkundigte. Sie machten das Logis der Wagnitz ausfindig und erschienen vor ihr selbst, von der Dürftigkeit ihres Möblements im gleichen Maße ermutigt wie erschreckt.

Und es war gut, daß sie kamen. Die junge Frau wurde aus ihrer Müdigkeit und Haltlosigkeit gerissen. Sie entsann sich, wie Rat Creutz sie einst den Wert all ihrer Diamanten lehrte. Sie sagte rasche und völlige Begleichung ihrer Schulden zu. Ohne jede Bitterkeit, ohne die Spur eines Bedauerns trat sie zu verschiedenen Malen den Weg zum Goldschmied Lieberkühn an, und es bereitete ihr mehr Genugtuung als Kummer, wie überschwenglich er ihre Juwelen rühmte; auch gab er der Begeisterung wohl Ausdruck im Kaufpreis. Sie wurde im Goldschmiedsladen nicht minder höflich bedient als die eleganten Kundinnen, die neue, seltsame Steine, welche sehr oft aus dem Besitz des alten Königs stammten, bewundern wollten. Aber sie fragte nicht mehr nach den Menschen.

Nur als sie heute wieder – nun vielleicht zum letztenmal, denn ihr Schmuck ging zur Neige – im Goldschmiedsladen an der Kavaliersbrücke weilte, mußte ihr der einzige Kunde auffallen, der außer ihr noch in dem von Gold und Steinen blitzenden kleinen Raum weilte; dieser war sehr berühmt durch die zierlichen Malereien seiner Wände und die gefälligen Arrangements von Sesseln und kleinen Tischen, gläsernen Schaukästen, Schatullen und Vitrinen. In dem ganzen kleinen Laden brannten Kerzen; denn er war sogar am hellen Tage dunkel. Doch dem Glanz der Saphire und Smaragde tat der Kerzenschimmer besser als das Sonnenlicht; er machte die Verzauberung vollkommen. Der junge Herr, sehr schön und schlank, saß völlig versunken über ein Rosenholzkästchen mit seltenen Petschaften gebeugt. So gepflegt, so höfisch gekleidet er war, schien er doch fern von aller Norm und gar zu strengen Sitte und hatte den Hauch verlockender Fremde und Ferne um sich. Der weite Mantel hing ihm lose um die Schultern; den Hut hielt er nicht zierlich, wie die anderen Kavaliere, unter die Achsel geklemmt; er hatte ihn, mit Handschuhen und Stock, auf einen Sessel geworfen; auch trug er keine Perücke; das dunkle lockige Haar lag ihm sogar ein wenig wild und ungeordnet über der Stirn. Nur einen Augenblick sah er auf, doch völlig abwesend; die Augen waren grün und groß, die Schatten seiner langen Wimpern dicht und dunkel.

Niemals störte die Anwesenheit eines Kunden die Erledigungen des Fräuleins bei dem Goldschmied. Der hatte eine überaus geschickte Art, es gänzlich undurchsichtig zu lassen, ob das Fräulein ihm da einen Stein zurückbrachte, um einen andern dafür einzutauschen, oder ob er hier ein rares Stück erhielt, damit er es nach dem Original kopiere mit aller seiner großen Kunst.

Der Fremde, so unbeteiligt er sich stellte, gab mit schärfster Aufmerksamkeit auf alles acht. Er war sogar entzückt, wie sicher und geschickt das Fräulein mit den ernsten grauen Augen dies traurige Spiel der Verstellung bei der Veräußerung seiner Juwelen trieb. Wirklich, auch die verwöhnteste Kundin konnte nach reichem Einkauf den Goldschmiedsladen nicht stolzer verlassen. Die vornehme Schöne verriet sich in nichts; und doch, das hatte der Menschenkundige und viel Umhergekommene wohl bemerkt, gehörte sie nicht zu den kühlen und gleichmäßigen Frauen. Ihr Gesicht, so jung sie war, zeigte über den Wangen, unter den Augen die frühen, kleinen Falten, die ein Zeichen stärkster Empfindsamkeit sind und durch die Glätte keiner Jugend aufgewogen werden; und auch in ihrer dunklen Stimme, in ihrer klugen, raschen Sprache war der Unterton dauernder, lebendiger Unruhe spürbar. Sie war der erste Mensch, der ihn seit der Ankunft in der preußischen Hauptstadt lebhafter beschäftigte und anzog.

Der Goldschmied betrachtete noch die Perle und den Diamanten, die er von der Wagnitz empfangen hatte. Die Juwelen lagen noch vor ihm auf dem kleinen Tisch. Das Mittelfach des großen Eckschranks von blassem Veilchenholz, das wußte er schon jetzt, würde er freimachen; auf einem Kissen von weißem Samt sollten nur die beiden Edelsteine hegen. Minister, Fürsten, Kammerherren, ihre Damen würden sich vor ihnen drängen. Freilich, die Geschäfte waren nicht mehr gut, seit die Hofgesellschaft sich nur noch auf Schloß Monbijou beschränkte. Aber welch ein großer Tag war heute; welch seltene Stücke brachte dieser Morgen! Denn da war vor dem Fräulein, noch lange vorher, ein biederer Mann gekommen in einfacher hochgeschlossener Weste, mit rundem Hut und schwarzem Zopf, und hatte ihm aus altem Bürgererbe kostbare Münzen gebracht – Münzen, wie sie selbst durch eines Lieberkühn Hände noch nie gegangen waren. Er rührte sie nicht an; nur mit Andacht, ohne Gier sah der Meister auf sie nieder, auch als der Fremde sich erhob und zu ihm trat. Er hatte nun ein Petschaft, für ihn geeignet, entdeckt. Er legte es dem Goldschmied auf den Tisch, neben die Juwelen der Wagnitz.

»Vor diesen Steinen hält wohl schwerlich etwas stand«, meinte er dabei. Und der Goldschmied, selig über den neuen Besitz, sagte lächelnd: »Nichts.« Immerhin war ein Gespräch über das Fräulein von Wagnitz angebahnt, und der Fremde erfuhr ihr Abenteuer und ihre Verdammung nicht durch widerwärtigen bösen Leumund, sondern aus dem Munde eines, der dem Fräulein sicher eher wohl als übel wollte und nicht gern daran dachte, daß man diese Juwelen als den Schmuck der einstigen Hofdame von Wagnitz wiedererkennen könnte.

Von den Perlen des Fräuleins kamen sie auch auf die Münzen des Biedermannes zu sprechen. »Nie und nimmer ist dies Bürgererbe«, sagte der Fremde, »hier hat der Hof ein Wörtlein mitzureden. Es gilt, die Augen offen zu halten.«

Und der Kundige erbat sich einen Abdruck in Siegellack und Wachs. Er vergewisserte sich, daß der schlichte Mann im runden Hut am Montag nochmals wegen ähnlicher Münzen vorsprechen wollte.

Als der Fremde ging, trat aus der Nebenstube von ihrem Schreibspinde mit all den feinen Waagen und optischen Gläsern, in hoher Perücke, Madame Lieberkühn, die Frau des Juweliers, die er nicht zu seinen kostbaren Besitztümern zählte. Sie pflegte gern ein letztes Urteil abzugeben. Diesmal meinte sie nicht die Ware, sondern den Kunden. Sie bemerkte nur: »Du monde.« Und das sagte sie ganz unnachahmlich. Denn sie, der Laden und die Kundschaft stammten eben noch aus König Friedrichs Zeit, dieser neue Käufer aber ganz gewiß von noch älterem und reicherem, fremdem Hofe.

 

Wenn spät im Herbst die Sonne noch einmal groß hervorkommt, ganze Tage hindurch, nicht wahr, dann entwirft man noch ungleich festlichere Pläne in der Stadt als in all den Sommerwochen zuvor. Nein, solchen Übermut kennt ja der Sommer gar nicht! Wartet nur, ob das herrliche Wetter noch anhält bis zum Sonntag! Es wird eine kleine Landpartie geben! Die Kammerfrau Ramen hatte es richtig prophezeit, und der Hofgärtner der Königin, der fest daran glaubte, das Wetter nach alten Regeln berechnen zu können, bekam beschämend unrecht mit seiner Warnung und Bedenklichkeit.

Mit Ahnung und Verheißung hatte die Ramen noch viel mehr gewagt. Der König sei auf Reisen, begann sie, die Königin sei darum guter Laune; die Königin habe ein Fest ums andere gegeben; sie werde sich am Sonntag erholen, am Vormittag und Nachmittag zur Kirche fahren – denn andernfalls hätte der König es wohl doch erfahren und übel vermerkt – und sonst mit ihren Damen Karten spielen. Paßt auf, sagte die Ramen, es gibt Urlaub für den Nachmittag und Abend! Man sollte einen hübschen Sonntag haben, eine Landpartie mit Tanz!

Welch hübsche Einfälle die Kammerfrau der Königin doch hatte! Der Gärtner aus Schloß Monbijou mußte ein Gartengespann herrichten mit kleinen, weißen Eseln; das erwartete die Gesellschaft vor dem Brandenburger Tor, ein Stückchen davor, nicht an den beiden hohen Obelisken, wo die Karossen und die Equipagen sich drängten, sondern bei den flachen Torhäuschen unter den Pappeln. Denn die Straße Unter den Linden entlang wollte die Ramen nun doch nicht in der Eselskutsche fahren.

Es war nicht zuviel gesagt, daß der Wagen eine ganze Gesellschaft zur Fahrt über Land hier erwartete. Ein stattlicher Kreis kam zusammen: der Kastellan des Berliner Residenzschlosses, Monsieur Runck mit Gattin; das waren gebildete Leute; der Freund des Kastellans, Hofschlossermeister Stieff und die Seine; der war ein Kunsthandwerker von Ruf und hoch besoldet; dazu der Zweite Hofkonditor, der nach der Rangliste Sergeantenrang bekleidete. Der kam ohne Ehefrau und Demoiselle; aber ein Herr ohne Damenbegleitung in so geselliger Runde, das macht den Frauen immer Spaß; vor allem aber sorgte ja auch gerade der Zweite Hofkonditor für die Überraschungen des Ausflugs. So brachte er ein Mühle- und Damespiel mit, für das man statt der hölzernen Steinchen Kaffeebohnen und Zuckerwürfel verwenden sollte; vorerst hielt er es noch sehr geheim. Auch hatte er kleine Zuckerherzen gebacken, man mußte schon besser sagen: gegossen; die waren in der Mitte durchbohrt, und die Ramen hatte Zettelchen mit Freundlichkeiten und Anzüglichkeiten beschrieben, die wurden mitten durch das Herz gesteckt; und wer sich eines zog, sollte sein Vergnügen daran haben, sein ganz großes Vergnügen, Herr und Frau Stieff sowohl wie Monsieur und Madame Runck, der Hofkonditor wie der Gärtner, nur die Ramen nicht. Die hatte ja alles geschrieben; die wußte ja alles im voraus. Aber das hatte auch seine Reize, große Reize sogar.

Und das Ziel? Das Ziel so sorgsam vorbereiteter Landpartie? Das Schloß Charlottenburg in Lietzenburg war gewählt, ganz als führen die Herrschaften aus. Die Ramen hatte es sich ersonnen, und das war klug und nett von ihr gewesen. Man gedachte, den Kastellan dort zu besuchen. Aber die Ramen meinte mehr noch seine Tochter. Denn um diese schienen wunderliche Dinge im Schwange zu sein. Einmal war sie zu den Zeiten, da die Tochter des reichen Wirtes Koch als Zarengeliebte gar so stolz auftrat, deren Zofe gewesen; das war nun freilich vorüber. Sodann hatte König Friedrich Wilhelm ausgerechnet in Charlottenburg, dem Lietzenburger Schloß der Frau Mutter, das er seit je so glimpflich behandelte, den Drechslerwerktisch aufstellen lassen, den ihm der Zar als Gegengabe für Bernsteinkabinett und Liburnika daließ. Das gab zu denken, namentlich wenn man den Vergleich zog mit dem Zaren und der Demoiselle Koch. Es warf ein neues Licht auf die Kälte des Königs gegenüber dem schönen Fräulein von Wagnitz. Man mußte wirklich einmal hin und sehen! Schließlich: War es nicht gerade auch Charlottenburg gewesen, wo die Frau Mutter einst den jungen Prinzen verführen ließ durchs muntere Fräulein von Pöllnitz? Was half es, daß der Kronprinz später klagte, wie er sich habe so vergessen können, und daß er seine Mutter eine kluge Frau, doch eine schlechte Christin nannte?! Man mußte hin!

Lärmend und schwärmend fuhren sie vor. Der Charlottenburger Kastellan in seiner Einsamkeit war hocherfreut und dankte sehr für solche Überraschung; er habe sich schon so etwas gedacht, behauptete er, als er vorhin im Fenster lag und drüben, die Allee entlang, die lustige Kutsche kommen sah. Nein, und daß die Gäste sogar für ihre eigene Bewirtung sorgten! Wo nur die Tochter steckte? Wo sollte sie nur schnell die Tafel decken? In der Stube oder noch einmal unter den Linden des Gartens? Die Damen sagten: »In einem der Räume des Schlosses.« Sie wollten sich totlachen, daß der Charlottenburger Kastellan darüber derart erschrak. Nun, nun, man würde wohl noch einmal einen der feinen Säle für sich selbst benützen dürfen, auf die man täglich aufzupassen hatte, zumal er doch hier draußen als Entgelt niemals ein Douceur von Fremden bekäme! Denn das Schloß seiner Frau Mutter hüte ja der König wie seinen Augapfel, und Reisenden werde es kaum jemals gezeigt.

Aber als die Unterhaltung diese häßliche Wendung nahm, war die Ramen nicht zugegen. Sie hatte sich angeboten, die Demoiselle Tochter im Garten suchen zu gehen. Es schien, als sei die Ramen nur um der Tochter willen hergekommen. Nun, das ist liebenswürdig, dachte sich der Kastellan, das arme, mutterlose Ding ist einsam.

Wußte er denn nicht, daß die Demoiselle Koch aus der Stadt herausgekommen war zu ihrer einstigen Zofe und daß die jungen Mädchen schon seit einer Stunde auf der Bank am Wasser saßen, weil die Oktobersonne noch einmal gar so mild schien?

Das war mehr, als selbst die Ramen von der Landpartie erwarten durfte, daß nun gar auch die Demoiselle Koch in Lietzenburg weilte! Was war denn mit der reichen Tochter des berühmten Wirtes, was war mit der Zarengeliebten geschehen, daß sie den Sonntag auf dem Lande bei ihrer einstigen Zofe verbrachte?!

Die Demoiselle Koch war ein wenig blaß. Nein, was sie doch für ein leicht angegriffenes, vornehmes Fräulein geworden zu sein schien! War es Hochmut, daß sie gehen wollte? Waren die neuen Gäste ihr zuviel? Aber um hochmütig zu sein, dazu war sie zu still, zu freundlich, zu bedrückt. Sie gab auch nur vor, sie möchte den Kutscher nicht so lange warten lassen, der drüben im Dorfkrug ausgespannt habe.

Die Freundin – denn als solche erschien die frühere Zofe beinahe – redete ihr nicht zu, zu bleiben; sie schien sie gut zu kennen. Aber die Kammerfrau wußte noch besser um sie Bescheid. Sie mußte nur auf einen Augenblick mit der Demoiselle ganz allein sein, damit sie es ihr zu verstehen geben könne.

Doch daß die aufmerksame Ramen heute so zerstreut war! Eben erst verlor sie, sicher drunten an der Brücke zwischen den Teichen im Park, ihre Börse, ein gesticktes Beutelchen, das sie von Ihrer Majestät geschenkt bekam; und nun, weil sie im Plaudern immer daran zupfte, zerriß ihr die dreimal geschlungene Kette; die kleinen bunten Steine waren gar nicht einmal wertlos. Nun hockte man im Kies des Weges, nun, durchsuchte man den Rasen; was waren doch die kleinen Steine weit gesprungen!

»Ah, Demoiselle«, rief die Kammerfrau zu der Kastellanstochter hinüber, »dort drüben sehe ich es noch blitzen – vielen Dank, daß Sie sich so bemühen –«

Sie selber aber wußte es so einzurichten, daß sie beim Suchen immer an der Seite der blassen Demoiselle Koch blieb.

»Es findet sich in jeder Lage eine Hilfe; es gibt in jeder Not noch immer einen Ausweg«, hatte sie zu bemerken, und an ihrem Tone erkannte das junge Mädchen sofort, daß es ihr nicht mehr um die Kette ging. Seine Betroffenheit vermochte es nicht zu verbergen; denn um der Not willen war es zur Freundin geflüchtet; aber das sehr verwirrte junge Mädchen wollte sich nicht verraten und sprach beharrlich weiter von den bunten Steinen. Zu solcher Unterhaltung mit doppeltem Sinn und zwiefacher Möglichkeit gab die Ramen nur zu gern Gelegenheit; dies war ja auch durchaus eine ihrer ganz besonderen Fähigkeiten.

»O je«, rief sie lachend und schalt sich selbst, »man muß sich auch nicht gleich behängen wie die Zarin Katharina.« Und gleich schwadronierte sie wieder von anderem weiter. Die Demoiselle hockte im Grase; sie suchte nicht mehr; sie sah der Ramen zu; die sprach und sprach und wühlte und rupfte im Rasen.

Dabei schien ihr gar nicht gar so sehr viel an ihrer Kette zu liegen, denn sie scherzte: »Ach, die Demoiselle wird mir sicher einmal eine schönere Kette schenken. Mit so blondem Haar, mit so braunen Augen kann die Demoiselle es noch zu einer großen Gräfin oder Fürstin bringen. Dann trete ich in ihre Dienste, als Kammerjungfer oder Kinderfrau für ihren kleinen Prinzen.« So gewandt war die Ramen. Sie machte mit dem Verlust nicht viel her. Die Demoiselle blickte nicht mehr von der Erde auf. Ihr Herz klopfte rascher und machte sie atemlos. Die Demoiselle fand keine Antwort. Aber was brauchte auch die Ramen eine Entgegnung. Ihre Einfälle nahmen kein Ende. Unaufhörlich plauderte sie weiter. Die Demoiselle müsse sich nur, wenn es erst so weit sei, an die rechten Leute zu wenden wissen und sich schon beizeiten umschauen, wer für ihre Dienste recht geeignet sei.

Ehe die kleine Kastellanstochter zu ihnen fand, war das Schreckliche in der verängstigten Freundin schon geschehen. Das Ungeahnte, nur mit flüchtigen Worten von der Kammerfrau der Königin hingeredet, war als Macht schon völlig über ihr, war schon Entschluß geworden.

Sie müsse zu den Engelmacherinnen beten, hatte die Ramen zu der Verzweifelten, gesagt, dann würde alles noch gut. Und plötzlich sprach die Ramen unverblümt. Sie fragte, wer davon wisse; und sie erfuhr, da sei niemand.

Die Freunde kamen, die Börse war gefunden; Steinchen der Kette seien mehr von ihnen aufgelesen als verloren waren, sagte die Kammerfrau lachend. Die Demoiselle Koch wurde noch in das Dorf bis an den »Krug« begleitet; dann kamen sie gerade zurecht, wie unter den Linden hinter dem rechten Seitenhause des Schlosses, wo die Sonne noch letzten Glanz und letzte Wärme gab, die ländliche Tafel gedeckt war. Es waren wirklich liebenswürdige Leute, der Kastellan und seine Frau, der Hofschlossermeister und die Seinige, die Kammerfrau, der Hofkonditor und der Gärtner aus Berlin. Wie aufmerksam sie nach allem fragten, was das einsame Leben in Charlottenburg anging, jeder etwas anderes, als läge ihnen nichts auf dieser Welt so sehr am Herzen wie das Wohl des Charlottenburger Kastellans und seiner Tochter. Die Spannung der Damen war groß, ob die Kleine sich nicht endlich doch verraten würde, warum der König seine Drechslerwerkstatt ausgerechnet eine Meile vor die Stadt verlegte. Er kam also oft nach Charlottenburg? Ach, und immer, wenn er voller Sorge schien? Und immer ging er aufgeheitert wieder weg?

Die Ramen war auch zu geschickt in Fragen und Bemerkungen! »Ja, der König! Der König!« begann sie. »Der hält es mit den braven Leuten! Der liebt und achtet sein Volk! Der verschmäht es nicht einmal, von unsereinem zu lernen! Selbst das Handwerk des biederen Mannes läßt er sich lehren! Und daß er gerade Euch in Eurer alten Meisterschaft von einst dazu erwählt hat, Herr Kastellan! Nein, der König! Er will ein Handwerk so verstehen, daß er sich auch wie ein Mann aus dem Volk von seinen Händen zu ernähren wüßte?! Welch schöne Anschauung!«

Die Kastellanstochter lauschte aufmerksam und lächelnd. Sie hörte gern vom König Gutes reden. Sie vermehrte sein Lob, indem sie erzählte, wie sie dem König immer wieder wohlverwahrte kleine Schätze seiner Mutter zeigen müsse, die er zu ganz besonderen Geschenken aufheben ließ.

Da flogen die Fragen nur so: Wie oft kommt er denn herausgeritten? Führt die Demoiselle ihn immer in die Zimmer der Frau Mutter?

»Die Demoiselle ißt ja gar nichts«, meinte dazwischen die Ramen verbindlich und bemerkte das jähe Erblassen des Mädchens. Denn an diesem Tage hatte es der Freundin, die einmal seine Herrin gewesen war, gestanden, daß es den König zu lieben begann, und daß des Königs Güte groß war, wenn er so vergrämt hinauskam in das stille Schloß der Mutter. Das blutjunge Mädchen hatte durch die Freundin, aus deren Liebe zu dem Zaren, schon zu tiefe Einsicht erlangt in die herrlichen und schrecklichen Möglichkeiten des Daseins. Und darum verstand die Kastellanstochter alle Fragen der Frauen plötzlich nur zu gut und erschrak. Es war wahr: sie wartete nur, daß der König kam. Es war wahr: wenn er kam, so fragte er nach ihr. Sie mußte ihm eine kleine Erfrischung bereiten, mußte bei ihm stehen am Tisch, den sie ihm mit ländlicher Vesper bestellte. Er pflegte nur wenig zu reden; sie sollte ihm erzählen vom täglichen Leben; von Sorgen, die sich leicht beheben, von Wünschen, die sich leicht erfüllen ließen.

Nun sollte ihr auch das genommen sein. Nun war die sanfte, ferne Heimlichkeit zerstört. Nie mehr sollte sie versinken können in seinem großen, klaren Blick; nie mehr würde jene Stille in ihr sein, wenn er zu ihr sprach – immer nur von dem, was sie anging, als gäbe es sonst nichts auf der Welt, was einen König zu bedrängen vermöchte. Ach, sie glaubte es fest, daß er sie selbst nicht meinte, sondern eben nur dieses: daß er, wenn er voll so schwerer Sorgen und Kümmernisse kam, nun Nöten begegnete, aus denen er sofort zu befreien vermochte, und Wünschen, die er in seiner Macht und seinem Reichtum belächelte. Immer aber wußte sie nur Dinge zu begehren, das Seine besser erhalten zu können – ein paar Vorhänge fürs Rote Tressenzimmer, damit die Sonne der altgoldenen Bespannung, der schönen, pfauenblauen Wandbemalung und dem kostbaren erdbeerfarbenen Sesseldamast nicht schade, oder eine Gießkanne für die Orangerie der Frau Mutter.

Nun aber würde sie immer das Geschwätz der Berliner Frauen hören und unter dem Lärm und der Dringlichkeit ihrer Fragen sehr leiden. Sie würde nie mehr dem dunklen Blick, dem sanften lächelnden, der Kammerfrau Ramen entrinnen! Durfte sie noch die Zimmer seiner Frau Mutter pflegen, die Früchte für seine Tafel selber aus dem Treibhaus wählen, das Vogelnest bewachen, das der König ihr im Frühling zeigte? Durfte sie noch je in Sinnen und Erinnerung verfallen? Die Ramen sah sie an.

Da sich alle ganz vorzüglich delektiert hatten und die Demoiselle nun einmal nicht bei Appetit schien, hob die Ramen, die sich verantwortlich fühlte für den feineren Ton, die Tafel auf. Ehe es dunkel wurde, wollte man noch die Säle besichtigen, namentlich den Empfangsraum mit den drei Knabenbildern des Königs in Rüstung und Hirtenkostüm.

»Zum Verlieben!« riefen lachend die Berliner Damen; beachtlich schien ihnen aber auch das weiße Marmorbad, in das man aus dem Oberzimmer heißes Wasser gießen konnte, und die Kammer mit den dreitausend Fayencen und Chinoiserien, an der man alle Jahre ein volles Quartal zu putzen hatte. Auch die Wißbegier der Männer war unersättlich: Was gibt es sonst hier noch an Kuriositäten, Kollege? Er hat doch auch zu allem Zugang?

Den Hofschlossermeister Stieff beschäftigten einige der köstlichen Schlösser; das war sein Fach; darauf verstand er sich. Groß war das Erstaunen, daß der Charlottenburger Kastellan sogar die Schlüssel zu all den Silberschränken besaß; nur den zum Notenschrank der Mutter verwahrten Seine Majestät persönlich. Seht, seht, und das Silber des Königs pflegt die Demoiselle! Erst kürzlich hat sie vor dem König alles zeigen dürfen! Die Damen Runck und Stieff stießen einander heimlich an und flüsterten sich zu: »Da wird sie wohl bald selbst von Silbertellern speisen ...«

Auf der Heimfahrt, die Allee war schon dunkel und der Laternenraub des Königs für Potsdam machte sich nun doch bemerkbar, gingen Runck und Stieff fast die ganze Meile Weges neben ihrer Eselskutsche her. Das war rücksichtsvoll gegen die Tiere. Außerdem aber sangen die Damen im Wagen; auch machte die Ramen so sehr viel Unruhe mit ihrem seit der Dämmerung überflüssig gewordenen Sonnenschirm, und der Schlosser und der Berliner Schloßkastellan hatten doch jetzt manches miteinander zu besprechen.

»Im Charlottenburger Schloß gibt's keine rechten Möglichkeiten«, begann der Hofschlosser Stieff. Und Kastellan Runck bewies, wie rasch er begriff.

»Der Tropf hält zum Herrn.« Das war seine Antwort So waren sie sich über Lietzenburg im klaren.

Die Ramen, der man den reizenden Einfall der fröhlichen Landfahrt verdankte, stand ihnen nicht nach. Sie wußte, was sie wissen wollte. Die Demoiselle Koch bekam ein Kind vom Zar Peter; und der kleinen Kastellanstochter gelang, was ein Fräulein von Wagnitz vergeblich ersehnte. Nun würde man sehen müssen, wie Ihre Majestät sich dazu stellte.

Was war die Ramen doch für eine treue Dienerin! Auch den freien Sonntag verbrachte sie im Dienste der Herrin. Aber es war prächtig auf dem Lande gewesen. Das fanden sie alle, als sie unter den Pappeln am Torschreibershause vor dem Brandenburger Tor von ihrer Eselskutsche stiegen. Die Herren küßten den Damen die Hand. Sie hielten die Rollen der Herrschaften durch.

Es ist hübsch unter Dienern. Sie haben so vieles gesehen.

 

Als sie stiller geworden war in ihrem aufgewühlten Herzen, begriff die junge Tochter des Charlottenburger Kastellans, daß ihr noch etwas für den König zu tun geblieben war. Erst allmählich drangen Worte in ihr Bewußtsein, die sie in der Not und Verwirrung des Sonntags überhört zu haben schien. Plötzlich waren ihr die Augen geöffnet. Sie mußte es dem Vater sagen, was er nicht gemerkt hatte aus all dem Blinzeln und Achselzucken, den Andeutungen und verschleierten Erkundigungen der Berliner Gäste. Nicht nur ihr selbst hatte ihre Visite gegolten – auch dem Vater! Schlösser, Riegel und Schlüssel des Königs waren in Berlin nicht so gut verwahrt wie in Charlottenburg.

Dies alles bedachte sie, als sie sich am folgenden Tage wieder einmal aufmachte, in die Stadt zu fahren, den Auftrag der Freundin auszuführen, beim großen Goldschmied Lieberkühn einen Ring zurückzukaufen, ein Geschenk des Zaren, das die Unglückliche in einer Stunde großer Verzweiflung weitergab und von dem sie wußte, daß es diesen Weg genommen hatte. So hatte sich die Kastellanstochter trotz all des neuen großen Kummers nett und städtisch hergerichtet; denn es war schon eine besondere Sache, zu Lieberkühn zu gehen, wenn man keine Dame von Stand war.

Die braungelockte Kastellanstochter von Charlottenburg wurde still und stiller, als sie vor Goldschmied Lieberkühns blitzenden Schreinen stand. Das stimmte den alten Juwelier sogleich sehr freundlich; die Gier, das affektierte Geschrei, der Überschwang und die Geziertheit waren ihm verhaßt. So still war nun das kleine Fräulein geworden, daß es vergaß, seine Wünsche noch näher zu äußern; kaum daß es etwas von dem Ringe sagte. Hätte der Goldschmied den Kopf nicht gar so voller Gedanken gehabt, er würde das Mädchen mit der gleichen Andacht betrachtet haben, die das kleine Fräulein bei dem Anblick seiner Steine überkam.

Welch wunderliche Zeit! Die Großen des Hofes, schon seit Jahr und Tag, gingen alle sehr piano – der Ausdruck war noch immer im Schwange – und wagten nicht mehr recht, ihr Geld zum Juwelier zu tragen, weil sie fürchteten, Majestät könne es dann noch einmal fertigbringen, ihr Budget abermals zu korrigieren; teils weil es bei Hofe keinen Prunk mehr zu entfalten gab! Ein ehemaliger Regimentsschreiber schmückte seinen neuen Adel mit den alten Kostbarkeiten aus eines Lieberkühn Vitrinen; o ja, den Herrn von Creutz konnte man wohl einen guten Kunden nennen! Eine schöne Frau mit strahlend schwarzem Haar und perlengrauen Augen, die in jedem anderen Lande ein Heer von Juwelieren Tag und Nacht in Atem halten konnte, versetzte ihren letzten Diamanten, nur um ein einfaches Logis in einer Gasse nahe dem Königsschloß weiter behalten und ihre Jugend in einer Altjungfernstube vertrauern zu können! Ein Bürgermädchen, wie er es in den licht gemalten Wänden seines Ladens ganz bestimmt noch nie erblickte, trat über seine Schwelle und verlangte einen Ring, dessen Wahl doch einen gewissen Blick verriet; einen Ring zudem, um den recht ungewöhnliche Gerüchte gingen, ja, der sogar vom Zaren stammen sollte! Einfache Handwerksleute brachten ihm alte Münzen heran, so kostbar und so seltsam, daß man einen weitgereisten Fremden um die Rätsel ihrer Herkunft, trotz aller eigenen Kennerschaft, befragen mußte!

Und kaum zu fassen: das Geheimnis dieser alten Münzen trieb den Fremden wieder her, und zwar zu so früher Stunde, daß Madame Lieberkühn noch nicht einmal bereit war, Ausschau zu halten, ob sie ihr »Du monde« flüstern dürfe!

Nur flüchtig blickte der Fremde nach dem Mädchen, nahm den Juwelier beiseite und erklärte ihm rasch, in wenigen Minuten werde ein Offizier mit einer Wache hier sein. Den sollte er samt der Mannschaft in die Hinterstube führen, und sobald der angebliche Erbe der Münzen, der Biedermann im runden Hut und in der hochgeschlossenen Weste, nach den Medaillen fragen käme, sollte Lieberkühn, als ob er die Münze hole, in die Hinterstube treten. Ein Teil der Wache würde dann sofort die Ladentür verstellen.

Der Goldschmied hatte nicht mehr Zeit, zu staunen, daß sich nun auch an Münzen und Medaillen Verbrechen und Geschicke hefteten wie an Edelsteine, da polterte es schon an der Hintertür. Soldaten waren da, und er mußte die Juwelierin vorbereiten, damit sie nicht zu Tode erschräke. Wer achtete noch auf das kleine Fräulein; wer nahm ihm das Beutelchen mit den Dukaten ab – und so mußte es kommen, daß es seinem Charlottenburger Gast, dem Schlosser Stieff, nun höchst erstaunt beim Goldschmied Lieberkühn begegnete. Genau wie am gestrigen Sonntag trat er herein, in rundem Hut und hochgeschlossener Weste, den adretten Zopf im schwarzen Seidentäschchen.

Sie hätten auch der Demoiselle einen Wink geben sollen wie der Madame Lieberkühn! Nun mußte wohl das junge Mädchen sehr erschrecken. Die Bajonette in der Nebenstube blitzten auf – gleich hatte sich der Biedermann zur Flucht gewendet; aber schon war er umstellt, schon waren ihm Handschellen angelegt, wurde er abgeführt; und er nahm es nur wie einen Schatten wahr, daß plötzlich die Tochter des Charlottenburger Kastellans aus Lietzenburg vor ihm aufgetaucht war.

Die hatte gar nicht nachgedacht; sie wollte auch niemand etwas Arges antun; über ihr Wollen und Denken hinweg geschah es, nur aus der Angst, daß alles wahr sei, was sie seit gestern zu ahnen begann: daß seine Diener den König betrogen! In der Erregung legte sie die Hand auf den Arm des vornehmen Fremden. »Achten Sie«, rief sie, »auf Runck – den Kastellan im Großen Schloß – seinen Freund –«

»Sie kombinieren überraschend schnell, mein Fräulein«, sprach der junge Herr in etwas gebrochenem Deutsch und ein wenig befremdet und sah ohne jede Regung auf die Mädchenhand in seiner Spitzenmanschette. Aber den Namen Runck, das Amt des Schloßkastellans, die Warnung und den Argwohn gedachte er in keinem Falle zu vergessen.

Das Mädchen schämte sich, verdächtigt zu haben, ohne beweisen zu können; es schämte sich auch, soviel Angst um den König verraten zu haben.

 

Es ging Schlag auf Schlag. Die Gerichte brauchten sich überhaupt nicht zu bemühen. Als sei der junge, elegante Herr nur nach Berlin gekommen, diesen großen Fang zu tun, genauso war es. Die Zeitungsschreiber durften sich nicht von den Pulten wegrühren, so überstürzten sich die Nachrichten, wie der König in seinem eigenen Schlosse bestohlen und betrogen werde, wenn er nur ein wenig länger auf der Reise ausblieb. Die Diener der Skribenten mußten dreimal des Tages flink zum Krämer jagen, neue Gänsekiele zu holen.

Zeitungsschreiber in Berlin? Hatte der König nicht die Gazetten verboten, weil er all die Kleckserei von seinem Hof und seiner Person nicht liebte, hämische Kritik und lügnerische Schmeichelei nicht brauchen konnte und empört war über die unanständige und nachteilige Zeitungsschreiberei? Dies waren seine eigenen Worte! Dennoch Journalskribenten in Berlin? Und gar so vornehme und reich dotierte, daß sie sich einen Diener halten konnten? Oh, es waren Zeitungsschreiber ganz besonderer Art! In der Tat, sie schrieben die Gazetten selber, mit der Hand und nur in einem einzigen Exemplar, falteten sie zierlich zusammen, gossen den glühenden Siegellack darauf und drückten wohlgefällig und zufrieden ihr Petschaft darauf. Hoheit würden Freude haben an dem neuen geschriebenen Journal!

Es war eine leichte, fesselnde Tätigkeit, wenn sie auch geheim gehalten werden mußte. Man brauchte nur eine flinke Feder zu besitzen und über einen guten Weinkeller und einen Bekannten bei Hofe zu verfügen. Monsieur Ortgies kannte Hofrat Gundling. So war er ohne Frage der Erste der geheimen Zeitungsschreiber und konnte mit einiger Sicherheit berichten, der Kastellan des Königlichen Schlosses und der Hofschlossermeister seien in Arrest getan, und im Zusammenhang mit dieser Affäre, von der Majestät selbst noch nicht wüßten, mache ein geheimnisvoller Fremder von sich reden, ebenso eine junge Frauensperson, welcher der König seine Gunst geschenkt haben sollte, wodurch eine neues Licht auf den Skandal um das Fräulein von Wagnitz falle. Man beginne zu ahnen, warum es vom König verschmäht worden sei. Was aber den jungen Fremden angehe, so finde man es wunderlich, daß er, der bei keiner der großen Familien der Stadt zu Gaste weile, nun nicht wenigstens im Fürstenhaus am Friedrichswerder Quartier nahm und daß er auch die vornehmen Hotels wie den Kochschen Gasthof verschmähe. Er sei im Pfarrhaus von Sankt Peter abgestiegen. Den bürgerlichen Namen dieses Fremden glaube keiner. Alle Anzeichen sprächen dafür, daß eine hohe Geburt sich dahinter verberge. Die ganze Art seines Auftretens, seiner Haltung lasse sogar auf eine Fürstlichkeit von ungewöhnlichem Range schließen, die zu wichtigen Erledigungen unerkannt in Preußens Hauptstadt weilen wolle.

Man befaßte sich lebhaft mit ihm. Es kamen wenig Fremde nach Sparta.

 

Es stand in den Türpfosten des freundlichen Fachwerkhauses eingegraben und war in schönen Lettern in den Balken mit den alten Jahreszahlen eingeschnitzt, daß dieses Haus Gott übergeben sei und daß alle, die in ihm wohnten, dem Herrn ihr Leben lang dienen wollten. Es wohnte aber nur der eine Mann im Alten Pastorate von Sankt Peter zu Berlin, allein der Prediger Roloff, ein schwerfälliger und großer Mann, Feuer und Schwermut im Blick und in der Stimme abweisende Kälte, als sei es nicht gut, mit den Menschen zu reden, vor die er Gottes Frohe Botschaft brachte. Die Gemeinde von Sankt Peter warf ihm vor, er sei kein milder Seelenhirte, der in den Hütten der Armen gottselig, Trost und Gaben spendend, aus und ein gehe. Er kam nur dann, wenn man ihn dringend rief. Die Woche flog ihm hin wie Spreu im Winde, und er quälte sich täglich bis zur Nacht mit seiner Predigt für den Sonntag; und wenn er sie dann hielt, war sie so kurz, daß in seinem Gottesdienst nicht nötig wurde, die von Majestät verordnete Sanduhr auf den Rand der Kanzel zu stellen. Seine Rede war knapp; seine Sprache war schwer; Himmel und Erde und der Abgrund, der im Menschen ist, war in seiner Predigt aufgerissen. Er mühte sich die wenigen Worte ab; so schwer war es ihm, den Menschen die Botschaft von Gottes Gnade zu bringen; denn vor dem frohen Boten stand das Kreuz. Am heiligen Christfest predigte der Glühende und Ernste vom Kindermord zu Bethlehem und der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten. Das machte seine Hörer bitter. Um die Todesstunde des Heilands aber, wenn sie in der dritten Stunde des Karfreitagnachmittags die Kirchen öffnen im Land, war seine Predigt die freudigste des stillen Kirchenjahres. Er sprach von dem Glanze bei den Hirten auf dem Felde und den Königen unter dem Stern. Das nannte die Gemeinde einen Frevel, und es verwirrte sie sehr.

Beim König stand der Prediger Roloff hoch in Gunst, obwohl er nicht von seiner reformierten Konfession war. Aus der Abgeschiedenheit seines Predigeramtes war er vom König selbst herausgerissen worden. Lange hatte er sich gegen den Ruf seines Königs gewehrt. Ja, ein großer Schrecken war über ihn gekommen, als er den König Sonntag um Sonntag unter seiner Kanzel sitzen sah. Er dünkte sich ein geringer, schwer verständlicher, der Rede nicht mächtiger Diener am Worte Gottes. Was machte sich der Herr den weiten Weg zu ihm? Warum blieb der König nicht bei den berühmten Hofpredigern, die all die leichten, angenehmen Worte aus der Bibel hurtig aufzuspüren und gefällig auszulegen wußten und den Geheimnissen und Härten der Heiligen Schrift zu entrinnen vermochten?

Roloff schrieb dem König, er sei ein kranker Mann; die Lunge mache ihm zu schaffen. Der König gab zurück, man werde Roloffs Kraft nicht über Gebühr in Anspruch nehmen und für seine Pflege alles tun, aber er wünsche den Mann vor seinen Berlinern predigen zu hören, der vor einer kleinen Gemeinde die Worte sprach, der Weg zum göttlichen Dienste beginne noch immer mit der Flucht; aber der Flüchtige vor Gott habe mit der Tat und mit dem Dienste schon begonnen.

Roloff bemerkte, es werde »ein zu groß Werk« mit ihm gemacht, und es geschehe zum »heimlichen dépit« der bestallten Hofprediger. Sein Kollege Reinbeck habe größere Kapazität als er. Der König schrieb an den Rand der Eingabe, daß er also den Reinbeck zum Propst an der Sankt-Petri-Kirche ernennen und neben Roloff ansetzen werde.

Auch in fernen Ländern mußte man vom Prediger Roloff schon vernommen haben; wie hätte sonst der vornehme Fremde aus weitentlegenen Reichen mehrmals an ihn geschrieben, daß er ihn bitte, während seines Berliner Aufenthaltes Gast im Pastorate von Sankt Peter sein zu dürfen. Der Prediger, so abgewandt er den Menschen sonst war, sagte ja; denn dem Briefe des Fremden war ein Schreiben beigefügt, das des Predigers berühmter alter Lehrer noch in der Sterbestunde an seinen einstigen Lieblingsschüler Roloff schrieb, er möge Michael Clement Baron von Rosenau zu dem Glauben führen, zu dem er gar so sichtlich strebe, nachdem der Bruch mit Papst und Heiligenglauben in ihm geschehen sei.

Jeden Tag gehörte nun eine Stunde der Unterweisung dem Fremden, obwohl es dem Pastor von Sankt Peter tiefe Beunruhigung bedeutete, wenn er auch nur eine Stunde für die Behandlung des sonntäglichen Textes verlor. Als Michael Clement von Rosenau kam, in wappengeschmückter Kutsche, mit Dienerschaft und elegantem Gepäck, im samtenen Mantel – der Prediger war nicht unterwürfig gewesen. Dies alles war ihm wohlvertraut von seinem Elternhause her, dem Hause eines großen Bremer Kaufherrn.

Aber der Baron von Rosenau war vielleicht ein wenig betroffen, als er das Haus durchschritt, zum Zimmer hin, das ihm als Gastgemach bestimmt war. In allen Räumen des alten Pastorates von Sankt Peter, das nach außen doch so einfach war, fand er den feierlichen Reichtum einer nun vergessenen Zeit. Vor den mächtigen Schränken im Glanze ihrer tiefen Voluten und der Pracht ihrer silbernen und zinnernen Schlösser stand der Fremde still; des Edlen kundig, erkannte er, von welchen Meisters Hand sie stammten und daß die hohen Stühle am Kamin aus der Werkstatt keines Geringeren gekommen waren. Im Silberzeug der Tafel fand er Meisterzeichen, wie sie ihm nur aus den Schlössern großer Fürsten in Erinnerung waren; und vor den Büchern, Pergamenten und Folianten der Bibliothek verfiel er in Versunkenheit und Schweigen. Alles strahlte Schönheit, atmete Würde, zeugte von Kostbarkeit und war umhüllt von Ernst und Stille.

»Ich bin wie heimgekehrt«, sagte der weitgereiste junge Herr zum Pastor von Sankt Peter, als er in sein Haus kam. Sanftes Staunen und liebendes Bewundern ergriff ihn; ach, daß der Klang der tiefen Glocken dieses Haus umschloß! Der erste Glockenschlag des morgendlichen Geläutes schwebte und wuchs durch das Haus, und die Abendglocken wogten noch durch seine Gänge. Um diese Stunde wurden in ihnen und im Studierzimmer, zu dem sie führten, die Kerzen angezündet; und Clement vermeinte, die Weisen einer Orgel müßten erklingen. Er lag auf einem Ruhebett vor dem Kamin der Bibliothek, unter dem Bilde der verstorbenen Gattin des Pfarrherrn. Noch im Dunklen leuchtete das Bild, so strahlte der weiße Damast des festlichen Kleides, so schimmerte der Fächer, leuchteten die Hände; und über dem Bildnis lag der Glanz, den Michael Clement von Rosenau nur von den Bildern toter Frauen kannte.

In diese Sanftheit und Stille drang Lärm. Er mußte jedes Wort vom Studierzimmer her vernehmen, denn die Tür zum kleinen Durchgangskabinett stand offen. Die Männer, die schon den ganzen Nachmittag im alten Pastorate weilten, taten ihrem Ingrimm keinen Zwang an. Die Gemeinde hatte sie entsandt, und das verlieh ihrem Auftreten Nachdruck. Die Sache war auch wichtig genug, daß man sich wohl um sie ereifern konnte. Morgen sollte laut Edikt damit begonnen werden, sämtliche Friedhöfe der Hauptstadt einzustampfen. Es dürften keine Friedhöfe mehr in der Stadt sein, hatte König Friedrich Wilhelm angeordnet, und die Toten müßten fortan außerhalb der Tore zur Ruhe gebracht werden. Schon hatte man damit begonnen, am Dom und bei Sankt Peter die Mauern der Totenäcker niederzureißen, die Leichensteine wegzuschaffen, die Gräber zu öffnen und die zerfallenen Skelette in ein großes Loch an der Kirche zu werfen, wo sie sofort vernichtet wurden. Die noch erhaltenen Särge erst kürzlich Bestatteter wurden ausgegraben und emporgewunden, die Gräber vertieft, die Totenschreine wieder versenkt; doch Grabhügel aufzuwerfen, duldete der König nicht mehr. In kurzem sollte jeglicher Friedhof eingeebnet sein und einer gleich dem anderen gepflastert werden, daß man darüber gehen, reiten, fahren könne.

Das hatte ein sehr großes Murren, Klagen und Seufzen in der Bürgerschaft und allen Kirchengemeinden ausgelöst. Daß nun die Toten in der Erde keine Ruhe mehr fanden! Daß der König so absonderliche Dinge wollte!

Mit seinen eigenen Glaubensgenossen, den am Dom begrabenen Reformierten, machte er den Anfang!

Gerade darauf wies der Prediger hin. Aber es schien den Deputierten nur sehr schwachen Trost zu bedeuten; sie schauderten davor zurück, daß es vor der Neuerungssucht des Königs weder Schutz noch Grenze geben sollte und daß er es bis zur Leichenschändung trieb.

»Aber das ist der Anfang eines völlig Neuen, das ihr noch nicht kennt. Der König will nicht, daß die Toten die Gesundheit der Lebendigen bedrohen«, hörte Clement den Pastor entgegnen, seltsam nüchtern, seltsam weltlich alle Argumente des Verstandes zusammentragend. »Die Friedhöfe sind schlecht angelegt. Die Gräber inmitten der Städte sind schädlich.« Sehr zögernd, weil es ihm schwer fiel, von sich selbst zu reden, sagte er dann: »Ist nicht auch meine eigene Frau unter den ausgescharrten Skeletten? Bedeutet sie mir weniger, weil man vermoderte Knochen zu anderem Gebein in eine tiefe Grube schüttet und Erde über ihnen feststampft?«

Dann erst fielen Worte aus der Heiligen Schrift. Wer ihrer nicht kundig war, vermochte sie nicht in den Reden des Pfarrherrn zu erkennen. Als wären all die Bibelworte neu, Gedanken des Augenblicks, so nüchtern und kühl sprach der Glühende sie aus.

»Laßt die Toten ihre Toten begraben. Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen. Des Königs Herz ist in der Hand des Herrn wie Wasserbäche, er neigt es, wohin er will.«

Noch jammerten sie sehr über Raub und Frevel an den lieben Toten, rügten sie den Mangel an Verehrung für die teueren Verstorbenen – da stand der Prediger Roloff auf, schloß die Unterredung, wendete sich ab und sprach: »Der Tod ist der Sünde Sold.« Denn er wußte nur den Tod des einen zu verehren, »welcher ist um unsrer Sünden willen dahingegeben und um unserer Gerechtigkeit willen auf erweckt«.

Als er sich dann zu dem Baron an die Abendtafel setzte, fand der junge, so gewandte Gast sich nicht ins gewohnte Gespräch. Seine weiten, grünen Augen verrieten eine Unruhe. Die dunklen Locken hingen ihm in die Stirn; er hatte sie, ganz in Gedanken und wider die Gepflogenheit, heute vor der Mahlzeit nicht mehr geglättet. Dann, als beginne er nun doch die Konversation, tat Michael Clement von Rosenau die gleiche Frage, wie sie in der Hauptstadt in diesen Tagen überall gestellt zu werden pflegte.

»Wann kommt der König zurück?«

»Für morgen bin ich zu ihm gerufen«, gab ihm der Pfarrherr Bescheid.

Den Abend verbrachte der junge Herr allein über Briefen. Er hatte den gestickten Rock abgelegt und einen leichten seidenen Schlafrock angezogen. Alle seine Schriften, eine umfangreiche Korrespondenz, waren auf dem Schreibschrank und dem alten Klosterzahltisch in der Fensternische ausgebreitet. Er prüfte die Siegel; er hielt die Federzüge gegen den Lichtschein der Kerzen; er las versunken in dem Briefe eines Kardinals. Endlich schrieb er; und er tat es mit der Andacht, mit der er einst als Schüler der Mönche die Initialen heiliger Schriften mit Goldtinktur und farbigen Säften malte. Er schrieb mit den gleichen Lettern und im gleichen Zuge wie der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Dann trat er zum Kamin und blickte lange in den Spiegel, der über dem Kaminsims eingelassen war. So lange und so unbewegt sah er hinein, daß er fast wie ein Bild im Spiegel zu stehen schien. Seine Augen hatten sich geschlossen.

 

Nach der Rückkehr von seiner Landfahrt und vor der ersten großen Konferenz mit den Ministern warf König Friedrich Wilhelm noch einen flüchtigen Blick auf die eingelaufenen Briefschaften, sichtete die Schriftstücke in Eile und steckte nur einiges, das nach Empfang und Siegel wichtig erschien, in seinen Rockschoß. Der Wagen wartete bereits am Portal. Der Fähnrich Fritz und sein neues Kadettenkorps waren schon im Tiergarten aufmarschiert! Tag und Stunde der Knabenparade waren dem König von dem jungen Knabenfähnrich Fritz noch auf die Reise mitgeteilt worden; lange hatte das Fritzlein an diesem Briefe geübt und eine ganze Seite bemalt mit den schönen Schnörkeln der Anschrift A mon cher papa, à mon cher papa. Der König hatte sein Erscheinen zugesagt; nun hielt er sich an sein Wort. Was auch den König bekümmern und beschäftigen mochte: seine jüngsten Soldaten sollten nicht vergeblich seiner harren, nun, wo er sich zum erstenmal zu ihrer Parade angesagt hatte. Der Wagen fuhr so schnell zum Brandenburger Tor und die lange Allee von Weiden und Linden zum Tiergarten hinaus, daß niemand König Friedrich Wilhelm grüßen konnte. Er traf aber das Knabenregiment schon nahe dem Abschluß seiner Übungen. An einem Querweg, nahe dem Großen Stern, in dem sich die Alleen aus den Jagdrevieren schnitten, hatten Offiziere dem Prinzen eine regelrechte Schanze aufwerfen lassen. Dort waren Fritzens Hundertundzehn aufmarschiert. Der König winkte, indes der Wagen hielt, man möge nicht unterbrechen. Er nahm die Revue der Kadetten sehr ernst. Nun, leicht machte es Fritz den Fünf- und Sechsjährigen – denn älter als der Sohn war wohl keiner – wahrhaftig nicht! Die große Trommel wurde meisterhaft vom kleinsten Burschen geschlagen. Zwei Mohrenknäblein setzten die Querpfeife an, daß man sie sich wohl für später merken mußte.

Die Schritte knirschten, als zerträten schwere Stiefel den Sand; das Leder der Schulterriemen ächzte; Griffe schlugen wie im Takt; vollendet war Strenge und Stille des Dienstes, sicher und ebenmäßig die Übung des kindlichen Waffenhandwerks. Gleichgerichtet wie mit dem Stock des Korporals waren die liegenden, knienden und stehenden Reihen.

Seht, es galt auch hier: Gleichschritt! Gleichschritt! Rasches Feuern! Geschwindes Laden! Geschlossen anschlagen! Wohl antreten! Alles in tiefster Stille!

In ihrer blanken Montur – dem blauen Rock, der gelben Weste, der weißen, ledernen Hose und dem Hute mit den Silbertressen – standen die eben erst gestutzten Knaben wie eingeschraubt und festgenietet, marschierten sie pfahlgerade, schwenkten sie die Reihen ihrer Körper wie eine einzige Waffe.

Montur und Waffe strahlten, als seien Kreide, Puder, Schuhwachs, Schmirgel, Öl und Seife das einzige Spielzeug dieser Kinder, der jungen Söhne eines neuen Sparta.

Fürs erste, bis er alle Kadetten dem Sohn zu unterstellen gedachte, hatte der König ihm noch einen siebzehnjährigen Exerziermeister beigegeben. Doch wollte es dem König dünken, es werde nicht mehr gar zu lange nötig sein, auch wenn die großen Augen seines Sohnes etwas ängstlich schienen. Er verargte es ihm nicht. Es war ja schließlich keine so ganz geringe Sache für einen gar so jungen Fähnrich, zum erstenmal vor einem Obristen die Truppe zu kommandieren und für sie einzustehen!

Der König trat vor den Wagenschlag. Er blieb beileibe nicht sitzen. Bequemlichkeit galt auch hier nicht. Er war als Oberst im Dienst; nur daß sein Herz den kleinen Fähnrich »Junge« nannte.

Wenn deine Blicke wieder ängstlich werden, Junge – laß die Kompanie kehrt und noch einmal kehrtmachen, bist du dich ganz gesammelt hast! Wenn deine Stimme etwa plötzlich eine Kleinigkeit zu dünn und gar ein bißchen zitternd scheint – gib die Kommandos langsamer; schreite schweigend die Front ab; nein, nicht einer darf es merken!

Und wirklich: Fähnrich Fritz von Hohenzollern tat alles, was der Vater dachte!

Es läßt sich über Beförderung reden, Fähnrich Fritz! dachte der König und Oberst, nur scheint Er mir ein wenig klein für einen höheren Rang. Ach was, der Koeppen vor Stralsund war auch, vom Werber aus betrachtet, nur für das letzte Glied, ganz hintenan, verwendbar. Und hat dennoch die Meeresfeste für Brandenburg erobert.

Dem König entging es nicht, daß das weiche Gelock des Sohnes straff nach hinten gekämmt, in einzelnen Strähnen zum Zopf gedreht und am Hinterkopf in einer Art von Knoten zusammengefaßt war. Davon freilich nahm er, der Haarkünste nicht gar so kundig, nichts wahr, daß auf Wunsch der Königin der Hofchirurgus Heinemann beim Haarschneiden die langen Seitenhaare des Kronprinzen dadurch rettete, daß er sie möglichst im Zopf mit unterbrachte. Der König sah nur den soldatischen Zopf. Hatte nicht schon das kleine Fritzlein im ausgeschnittenen, schleppenden Samtkleid, den Federhut auf dem blonden Gelock, wenn die große Schwester mit ihm promenieren wollte, den Trommelstock wie einen Marschallstab erhoben und Wilhelmine zugerufen: »Trommeln ist mir nützlicher!«? Hatte er wohl die Worte belauscht, die der Vater einmal zur guten, alten Montbail sprach?

Der König hatte jene kleine Szene malen lassen, so sehr beschäftigte sie ihn. Er zahlte Pesne 350 Taler, einen Preis, wie man ihn nur zu König Midas' Zeiten zahlte. Der König war bereit, noch einmal 350 Taler für ein Bild des Sohnes auszuwerfen: doch diesmal in der Montur – vielleicht nicht in dieser, vielleicht bereits in einer, die noch höhere Ehre bedeutete. Der Fähnrich schien sie verdient zu haben.

Der Oberst Friedrich Wilhelm hielt Kritik.

»Vielleicht, Herr Kapitän, ins erste Glied noch einige größere Leute? Das ist alles, was ich zu bemängeln hätte. Aber ich weiß, es ist nicht Ihre Schuld, Herr Kapitän. Man gab Ihnen wenig Mittel für die Werbung.«

Der Fähnrich Fritz war tief errötet. Hatte er recht gehört? Zweimal die Anrede »Herr Kapitän«?

Und noch einmal – »Womit, Herr Kapitän, wollen Sie Ihre Leute nach dem Marsch nun refraichieren?«

Beinahe listig sah der König drein. Daran würde das Fritzchen nun doch nicht gedacht haben! Bei einem Fehler mußte er den Jungen doch ertappen, wenn er nicht gar zu übermütig werden sollte von dem glänzenden Verlauf der ersten Revue vor dem Obristen und König!

Aber nun blitzten die meist so sinnenden Augen des Sohnes; die hohe Stimme war fest; die Wangen, sonst sehr leicht ein wenig blaß, waren röter. Er bat den allerhöchsten Kriegsherrn zu dem Platz an den drei alten Buchen. Das rote Laub war weggefegt. Mächtige Kupferkessel mit Kaltschale von Wein und Bier waren aufgestellt. Fast, fand Majestät im Kosten, war der Trank für kleine Jungen etwas stark! Doch der Kapitän mußte ja wissen.

Der König hatte allein noch die Frage zu stellen, wie oft der Kapitän denn solches Exerzitium halte und wo.

Prompt kam die Antwort: »Zweimal in der Woche, Majestät, und immer hier, zur gleichen Stunde.«

Die Bitte klang nicht gar so sehr versteckt heraus: der König, Oberst, Vater möchte wiederkommen.

Der Dienst war aus. Es war nicht gegen Disziplin und Reglement, wenn König Friedrich Wilhelm nun den Sohn in seinen Wagen bat. Beinahe hätte er ihn auf den Sitz gehoben. Wahrhaftig, das Fritzchen erschien als der kleinste von allen. Kerzengerade saß der Sohn an seiner Seite. Die kleinen Stiefel berührten den Boden noch nicht; und der Degen, den er zwischen seinen Knien hielt, schwebte in der Luft. Der Vater sah nicht näher hin. Dagegen konnte er dem jungen Kapitän die Frage nicht ersparen, ob er denn auch die Augen aufgemacht habe, um sich den Prinzen Carl Ludwig Wilhelm von Hohenzollern ja nicht als Flügelmann entgehen zu lassen? Er habe doch von dem starken Riesenkerl gehört? Und falls der hochmütige Tropf bei der Werbung viel Sperenzen machen sollte und sich seine Größe gar zu hoch bezahlen ließe –, der König griff in die Tasche, holte die Lederbörse hervor und ließ seine blankesten Talerstücke in die Hände seines Jungen gleiten, die den Degengriff umschlossen hielten.

Der kleine Kronprinz lachte hell auf. Nun merkte er: der Vater machte Spaß! Das Brüderchen als Flügelmann bei den Kadetten! Es wurde ja unlängst noch im langen Hängeröckchen von der Kinderfrau getragen!

Aber die Taler waren ernst gemeint. Die nahm der Vater nicht mehr zurück. Und die Ernennung zum Kapitän – auch sie blieb nun Wahrheit! Die hatte er nun vor der ganzen Front zu überdeutlich ausgesprochen!

Das Fritzchen war recht in Verlegenheit, zwischen Scherz und Ernst, Gehorsam und Zärtlichkeit die rechte Mitte zu finden. Sollte er dem Herrn Vater wohl die Hand küssen? Sollte er dem König militärisch danken?

»Schon gut, mein Sohn«, sprach der König und fuhr sogleich fort: »Ich will dir zum Geburtstag im Oranischen Saal über der Alten Wache ein Zeughaus einrichten. Dort habe ich Platz dafür. Ich denke, ein paar kleine Kanonen können hinein – die lasse ich dir wie die großen gießen – und allerhand kleines Gewehr, jedes Stück, das die Soldaten brauchen.«

Der König malte seinem Sohn das künftige eigene Zeughaus so lebhaft aus, daß er es gar nicht bemerkte, wie sich an den Lindenreihen der Allee zum Schloß die Menschen sammelten und zu dem Wagen winkten. Man nahm das Neue wahr, und etwas wie Freude darüber breitete sich unter allen aus: König und Kronprinz hatten die erste gemeinsame Ausfahrt gehalten! Es war wahrhaftig nicht nur Schmeichelei vor dem gefürchteten Herrn, daß sie der Kutsche ihre Reverenzen machten und da und dort sogar ein Vivat riefen, das seit des seligen Königs Friedrich Zeiten in dieser Stadt nicht mehr erklungen war.

Der Prinz, sehr wohlerzogen und bescheiden, wagte den Grüßen nicht zu danken. Der Vater forderte ihn freundlich zum Gegengruß auf.

»Es gilt uns beiden, Fritzchen.«

Als sie dann von ihrem hohen Wagen kletterten, meinte der Vater noch: »Du wirst jetzt zwei militärische Erzieher erhalten.«

Fritz wußte nicht, was wohl ein braver Prinz da zu erwidern hatte. Er freute sich. Er sagte nur: »Mon eher papa.«

Es war doch schöner bei Papa als bei den Damen.

Als sie das Schloß betraten, erwarteten der alte Graf Finckenstein und der Oberst von Kalkstein Vater und Sohn: die neuen Erzieher, ein alter und ein junger Held von Malplaquet, tapfer und fromm. Graf Finckenstein war neben Dohna schon der Gouverneur des Königs gewesen. Der König fragte nicht danach, daß die Häuser Finckenstein und Dohna zu den gefährlichsten Rebellen im preußischen Adel gehörten. Er sah die Männer an.

Der Vater führte das Söhnlein zu seinem alten, freundlichen Finckenstein, von dem es selbst an König Midas' Hof inmitten aller Hofkabalen hieß: »Wenn unsere Kirche sich das Recht anmaßte, Heilige zu ernennen, so würde Finckenstein die Hoffnung haben, darunter aufgenommen zu werden.«

Der König übergab den kleinen Kapitän seinem alten Heiligen.

Mit dieser Stunde war Friedrich dem Kreise seiner Geschwister entnommen, mit dieser einen Stunde und für immer. Er war zunächst den kleinen Jungen aus dem Adel zugeteilt, die der König von seiner Landfahrt auf drei Leiterwagen nach Berlin geschickt hatte – den kleinen Jungen als ihr Knabenkapitän und dem alten Kriegsveteran als sein Zögling.

An ihrem Ende meinte alle Heerschau und Landfahrt des Königs nur den einen: den König nach ihm. Manche Revue und Musterung auf der großen Landfahrt war abgesagt worden, weil die Soldaten mit der Not des Landes kämpfen mußten und nicht einmal vor ihrem König paradieren durften. Aber zur Knabenparade war der Herr erschienen, gleich nach der Rückkehr.

Er begehrte den Gefährten in der Schwere des Amtes.


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