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Segel auf dem Wintermeer

An der Seite gegen Mitternacht liegt die Stadt des großen Königs. Siehe, Könige waren versammelt und sind miteinander vorübergezogen. Du zerbrichst Schiffe im Meer durch den Ostwind. Gott, wie dein Name, so ist auch dein Ruhm bis an der Welt Enden.

Die Bibel

In den Spätherbstabenden haben sie es sich erzählt, wie man ein schauriges Märchen beginnt bei Sturm und Regen und dem Geräusch der niederbrechenden Äste. In Bessarabien begann es; die Ungarn nahmen es auf; es flog durch ganz Deutschland; es erreichte den König von Preußen in der Unrast seiner Arbeit.

Karl XII., der Gefangene von Demotika, war im neuen Anbruch – er, der als fünfzehnjähriger Schwedenkönig der Sieger über Dänen, Polen, Russen wurde und zum Herrn des Nordens sich aufschwang, bevor er noch Mann war; er, der Könige nach seinem Willen einzusetzen und selbst das Morgenland in die Kriege des Nordens zu ziehen vermocht hatte. Plötzlich entsann man sich wieder solcher Größe des Gestürzten.

Der einstige Herrscher der nördlichen Meere, der Triumphator über Deutschlands Küste, der in der Maßlosigkeit seines Ehrgeizes selbst nach dem Süden verlangte, war wieder auf dem Ritt gen Norden.

Besiegt von den Verbündeten, umhergetrieben von Land zu Land, ein Gefangener und Verbannter, wagte er dennoch die Rückkehr, und niemand wußte, ob er kam, um zu bitten, zu fordern oder sich zu rächen. Seine Krone war schon einem anderen versprochen. Aber den Seinen war er auch heute noch in allem Wollen und Träumen der König. Um seinen Namen wob sich schon die Sage.

Der König von Preußen nahm das Gerücht von Anfang an nicht als Märchen. Mit den russischen und dänischen und polnisch-sächsischen Gesandten hielt er Konferenzen, als brächte schon die nächste Stunde die Gewißheit. Der Fürst von Anhalt-Dessau blieb unentwegt an seiner Seite. Seine Stunde war da.

Man fand höchst widerspruchsvoll, wie sich der König auf jenen Konferenzen und danach an der Tafel gegenüber dem Schwedenkönig verhielt.

»Die Geschicke der nordischen Reiche«, sprach er am Sitzungstisch, »erfahren eine neue Wendung oder das furchtbarste Abenteuer eines Königs hat seinen Anfang genommen. Niemand weiß es. Aber das eine steht fest: wenn König Karl wirklich aus der Gefangenschaft ausgebrochen ist, bis nach Schweden gelangt und zu seinen Truppen findet, wird der nie beendete nordische Krieg wieder etwas völlig Neues werden. Statt eines durch Jahre verzettelten Ränkespiels der Kabinette, Gesandtschaften und Ministerien wird er wieder eine Sache sein von Herrscher zu Herrscher. Wen Karl als Gegner aufruft, er wird sich ihm stellen müssen.«

Bei dem nächstfolgenden Mahl aber trank der Warner vor dem Schwedenkönig auf das Wohl des tapfersten Fürsten, der, von der Welt gebrochen und geschlagen geglaubt, aus der Sonne in den Winter ritt, um bis auf den Untergang um sein Nordreich zu kämpfen.

Die Meinungen des Preußenkönigs hatten bei den Gesandten plötzlich einiges Gewicht. Denn er verfügte über zahlreiche neu angeworbene und in kürzester Zeit erstaunlich gut ausgebildete Truppen, über Silber und erste Erträge aus den neuen Gebieten seiner kaufmännischen Tätigkeit.

Der Kurfürst von Sachsen und König von Polen, der Dänenkönig, der Herzog von Holstein-Gottorp, dem man Karls Thron verheißen hatte, der große Zar Peter, alle nahmen sie einzeln und dann sogar gemeinsam die Beziehungen zu dem neuen Herrn über Brandenburg und Preußen auf. Je eigennütziger ihre Beweggründe waren, desto mehr hielten sie König Friedrich Wilhelm vor Augen, wie sehr die gemeinsame Abwehr in den Interessen gerade seines Landes liege; ein nordöstlicher Krieg müsse als Verhängnis darüber hingehen; er habe das unumstrittene Recht auf das schwedische Vorpommern noch vom Großen Kurfürsten her.

Dem Preußenkönig war sein Weg so klar. Es bedurfte nicht der vielen umständlichen Beweisführungen von seiten der anderen. Er bedachte den Weg und das Schicksal des Großen seines Geschlechtes und wie ihm die Pforte zum Meer zum größten Erwerb und herbsten Verlust seines Lebens und Brandenburgs Wende wurde. Es galt nicht nur, verschleppte und verzehrende Kriege zu beenden – es galt, die Höhe des Geschlechtes wieder zu erreichen. Der Sand, die Ebene und der Strom, der ohne Quelle und Mündung als einzige Ader des Lebens sie durchfloß, verlangten nach dem Meer; das abgebrochene, zusammengestürzte Werk des Großen Kurfürsten forderte die Vollendung.

Friedrich Wilhelm wartete nur noch auf den Ruf des Kaisers zum Kampf gegen die fremden Heere auf der deutschen Erde und gegen den Feind an der Küste, die den Wohlstand der nördlichen deutschen Lande verhieß. Dem jungen Kaiser aber, der ein Reich begehrte, darin die Sonne nicht unterging, ein Reich, darin ein ewiger Glanz um sein Haus lag, dem Habsburger war das Nordland ein Bettel. Sein Stolz und seine Sehnsucht suchten Spaniens glühende Sonne; der Mitternachtssonne war er blind. Der junge Habsburger und der junge Hohenzoller vermochten einander nicht zu verstehen. Der Brandenburger mußte selber handeln, ohne den Ruf von Kaiser und Reich her. Der Habsburger war gebannt von dem Glanz der Vergangenheit seines Geschlechtes, geheftet an das Gewesene und Zerronnene. Den Hohenzollern trieb die gegenwärtige Not zur Tat für die Zukunft. Traum und Tat schieden sich voneinander.

Wie Herr Friedrich Wilhelm nun sein Werk begann, entsetzte die gegen Schweden Verbündeten.

Dem König von Polen fehlte es an dem Willen, dem von Dänemark an den Kräften, den Krieg fortzusetzen. Die Haltung Englands aber überließ sein neuer König der Whigpartei, wenn sie ihm nur seine Welfenpolitik machen half. Bei wem lag da noch die Entscheidung?

Zu all den schwierigen und unehrlichen Projekten, die den Holsteiner zum Schwedenkönig machen wollten – bei großen Versprechungen an Brandenburg – äußerte der Hohenzoller nur dies: »Um vierhunderttausend Taler Krieg anfangen und eine Million in die Krätze geben, kann nicht tun, sondern einen Totalruin und kein Segen Gottes; unrechtmäßiger Krieg. Ich würde euch helfen und Krieg führen, wenn ich nur eine vor Gott gerechte Sache hätte. Die habe ich aber nicht!« Sähe er sich aber genötigt, den Degen zu ziehen, um den Frieden wiederzubringen, »– alsdann mit dem größten Pläsier von der Welt«.

Den kriegslustigen Rat seiner Minister tat er ab mit den Worten: »Ich bin ein junger Anfänger und noch nicht imstand, die geringste Sache mit Macht durchzusetzen.« Er bot sich an als Garant des Friedens. Alle deutschen Länder der schwedischen Krone, die von den Verbündeten während Karls Exil in Besitz genommen waren, sollten bis zum endgültigen Friedensschluß an das neutrale Preußen übergeben werden. Die Truppen der Verbündeten hatten sofort alles deutsche Land zu verlassen. Der König von Preußen übernahm dafür die Verpflichtung, es zu verhindern, daß von Schwedisch-Pommern aus Angriffe auf die Verbündeten ausgeführt würden. Mit seinen sämtlichen Truppen wollte er allein für die Sicherheit der deutschen Lande einstehen, diese aber frei wissen von allen fremden Heeren, auch den Verbündeten.

Das Heil des nördlichen Reiches und Brandenburgs konnte nicht von Russen, Dänen, Polen kommen. Brandenburg mußte zum Meer, um seines Sandes und des Reiches willen. Der König von Preußen harrte des großen Gefangenen. Bald war sein Ritt von der Türkei gen Norden nicht mehr Märchen. Karl XII. war in Stralsund, seiner Feste im Reich. Die Stunde der Entscheidung war da.

 

Von Bessarabien her war der Schwedenkönig gekommen, schweren und steinernen Gesichtes, in das der Sieg wie der Untergang beide nur wenige Furchen, gewaltige Umrisse zu graben vermocht hatten. Das Steinerne wich auch nach dem wilden Ritt nicht von ihm, der Flüchtling und Eroberer in einem war.

Von der Türkei her war ihm nur einer gefolgt, sein alter Adjutant, der auch die Verbannung und Gefangenschaft mit ihm teilte. Der lag am letzten Tag des Rittes auf einem Bauernwagen bewußtlos, und sein König, so sehr es ihn zum Meere drängte, ritt geduldig neben ihm her. Und dennoch brach der Renner des Königs noch zusammen, als schon die bereifte Küste der Ostsee vor dem Reiter lag und die steilen, schweren Türme von Stralsund als große Schatten in dem Nebel standen; so hart war der Ritt des Vortages gewesen. Dreihundert Meilen hatte der Renner seinen Herrn getragen, den rasenden Ritt in sechzehn Tagen erduldet.

Am Tor der Feste wiesen sie den erschöpften und verkommenen Reiter ab.

»Wer sich mir widersetzt –«, hob der König gebieterisch an. Aber da versagten ihm die Knie. Und dennoch war im Klange dieser Worte etwas gewesen, das die Männer am Festungstor aufhorchen ließ. Der Kommandant von Stralsund ließ den mit Schmutz und Schnee bedeckten Reiter vor sich führen und fragte nach Dokumenten und Pässen.

»Ob ich Geschriebenes bringe oder nicht«, sprach der Steinerne – »Sie empfangen die Befehle Ihres Königs.«

Da stürzte schon ein junger Offizier mit einem Freudenruf vor Karl in die Knie.

Sie mußten dem König die Stiefel von den Füßen schneiden, als er sich entkleiden ließ, um nach sechzehn Nächten wieder in einem Bett zu liegen.

»Ich bin gekommen«, sagte er, ehe er in Schlaf sank, »um den Schriftwechsel abzukürzen, und bringe eine eiserne Schreibfeder mit, um die in meiner Abwesenheit unterzeichneten Verträge zu ratifizieren.«

Nach dem schweren Schlafe trat er unter seine Offiziere. Die Haut des Gesichtes und der Hände war wie gegerbt, sonst aber stand er, der gleiche wie einst, an den langen Tisch gelehnt, den schwarzen, runden Hut mit dem breiten Lederband und dem flachen, stumpfen Silberknopf tief in die Stirn gedrückt; den dunklen, glatten, langen Rock mit Knöpfen, wie der Hut sie trug, bis an den Hals geschlossen. Er wirkte ruhig; aber er atmete nichts als Krieg und Rache. Er schien wie ein kühler Beobachter, der wägend und wachsam alles verfolgt hatte, was in der Zeit seines Exils sich zutrug. Aber allzeit sich selbst gleich und alle Dinge nur nach seinen Maßen messend, wollte er in Wahrheit die Veränderungen, die während seiner Verbannung in seinem Lande und in ganz Europa geschehen waren, nicht verstehen noch anerkennen. Er sah nicht, daß nun Preußen auf dem Plan war.

Er schien zurückgekehrt, sein Land, den Norden des Reiches, den östlichen und nördlichen Erdteil in seinen eigenen Untergang zu reißen.

Sein Name hatte bei der Werbung für den deutschen Soldaten noch immer einen unwiderstehlichen Zauber. Verkleidet in Bauernkitteln, zogen sie zu ihm, gerufen von Werbeliedern und Flugzetteln, »Weit erklingender Hall und Widerhall der schwedischen Trommeln, Trompeten und Pauken in Pommern« überschrieben. Mecklenburg, Wolfenbüttel, Kassel, Württemberg waren schon auf seiner Seite. Sie erboten sich mit anderen deutschen Fürsten in Paris, ein Heer von sechsunddreißigtausend Mann aufzustellen, wenn Frankreich – in Kleve, im Gebiet des neuen Plusmachers, einbrechen wollte. Das also war das letzte Ziel. Die Stimmung im Reich war für den berühmten Fremden. Der aber sah in seinem Recht als deutscher Reichsfürst nur einen Freibrief, den Boden des Reichs immer von neuem zum Kriegstheater der schwedischen Politik zu machen. Der Schwedenkönig zählte darauf, daß der Schrecken seines Namens ergänzen werde, was ihm zunächst an Mitteln noch fehlte. Stolz begann er vor seiner Flotte zu prophezeien, er, der nur noch ein Kriegsherr über sechzehntausend Mann war. Mit eiserner Schreibfeder gedachte er seine Weissagungen niederzuschreiben.

 

Die Einsichtigen um Karl XII., die es wußten, daß Schweden die von ihm eingenommenen Länder nicht mehr zu schützen vermochte, suchten den Gebieter zu einer Verständigung mit Preußen zu bewegen; und Preußen bot für den Fall der Kriegsverhütung sogar noch ein ansehnliches Darlehn. Aber die Antworten des Kriegers Karl an den Plusmacher Friedrich Wilhelm waren so vornehm und nichtssagend geworden, als wenn der König in Preußen sich eine Ehre daraus zu machen hätte, ihm gefällig zu sein. Wenn es in einer Flugschrift hieß, noch sei es nicht Mode, daß der Besiegte Gesetze vorschreibe, so schien jetzt Schweden auf dem besten Wege, es Mode zu machen.

Der Plusmacher nahm es hin. Aber die Gefahr, in der das Reich sich befand, gab ihm die »vor Gott gerechte Sache«; bis dahin hatte er nichts mehr gewünscht, als daß König Karl aufhöre wider den Stachel zu löcken und daß er das Elend seines Landes ansehe.

Mehr Worte fand er nun nicht mehr vonnöten.

Karl XII. eröffnete die Feindseligkeiten von der Nacht zum Morgen.

Er vertrieb die Brandenburger aus Anklam, Wolgast und Greifswald. Fünfhundert nahm er auf Usedom gefangen. Die Pommern in ihrer Angst vor den Schweden sowohl wie den Russen flehten den Brandenburger um seinen Beistand an.

Nach Empfang dieser Meldung ging König Friedrich Wilhelm vom Exerzierplatz, der von frisch geworbenen Truppen überflutet war, in den Ministerrat. Übermorgen werde er den Krieg erklären, weihte der König die Minister ein. Er habe zuverlässige Meldung, daß Karl die ersten Übergriffe wagte, ohne mit seinen Rüstungen fertig zu sein. Er gedenke ihm zuvorzukommen und sofort in das Zentrum Stralsund vorzustoßen. Aber ein Ausruf verriet, daß der Entschluß zu dem Krieg ihm hart ankam:

»Warum will mich gerade dieser König, den ich am meisten schätze, dazu zwingen, sein Feind zu sein?«

Die preußischen Truppen wurden indessen zu Schwedt zusammengezogen, am Ufer des Flusses, dessen Los nun zu entscheiden war.

Aus den zweiunddreißigtausend Mann des Königs, unter denen sehr viel Neugeworbene waren, hatte man in fliegender Eile noch eine Armee zu bilden versucht. Noch war viel Schein an ihr; doch verriet sich in ihr der Wille zur Zukunft. Das Heer trat in neuen, sauberen Uniformen, mit blankgeputztem Gewehr und in schönster Ordnung an. Erleichtert seufzte König Friedrich Wilhelm auf: »Gott sei Dank, ich bin imstande. Ich gehe ihnen auf den Leib. Es mag mir übel gehen, ich frage nichts danach. Die Schweden müssen vom deutschen Boden herunter.«

Aber auch die noch folgende summarische Begründung des Königs, daß er absolut keine Fremden in Deutschland leiden wollte, seien es nun Schweden oder Franzosen, vermochte den Fürsten von Anhalt-Dessau, obwohl er ein ganzes Regiment von Freiwilligen aufgebracht hatte, nicht dazu zu bewegen, daß er dem ersten Krieg des jungen Königs gute Auspizien zu geben vermochte, so sehr er auch nach Waffentaten unter seinem neuen, jungen Herrn verlangte.

Um Magazine und Monturen stand es schlecht. Viele Geworbene desertierten. Im Nordland am Meer war keine reiche Beute zu machen, der Winter der Küste lockte nicht zum Abenteuer. In der Armee, ein verteufelter Zwischenfall, war das Fieber. Der erschöpften Kriegskasse mußte der Herr vom Reste seiner Schatzkammer leihen. Das Land gab nicht genügend Pferde her; Händler mußten sie für teures Geld aus dem Braunschweigischen beschaffen.

Auf allen Gassen sah man vor Schmieden und Stellmachereien nichts als Artillerie-, Munitions- und Rüstwagen stehen. Vor der Brücke zur Schloßfreiheit standen die Artilleriewagenhäuser Tag und Nacht geöffnet, neue Kanonen aufzunehmen, weil die vorhandenen nicht reichten. Bomben und Kugeln wurden auf Schiffen und Wagen herangeholt und in Pyramiden um die Arsenale aufgeschichtet. Der Brandenburger ließ von dem Entschluß, Krieg zu führen, nicht mehr ab: ihm war die vor Gott gerechte Sache gewiesen.

In allen Berliner Kirchen fanden Feiern statt, weil in diesen Tagen ein neues Jahrhundert darüber anbrach, daß dem Hohenzollern vom Kaiser die Kurfürstenwürde übertragen worden war. Der König duldete nicht, daß voreilig verherrlichende Parallelen zwischen dem Einst und Jetzt gezogen würden, an deren Ehrlichkeit er ja doch nur zweifeln konnte. Der Krieg fand zudem auch keinerlei Begeisterung. Der Große Kurfürst war vergessen. Der König arbeitete bis zu der Stunde seines Aufbruchs, und es wurde nicht einmal etwas darüber bekannt, ob er von seinen Kindern Abschied genommen habe oder nicht. Gesprochen hatte er nur von Fritz. Sie sollten alle für ihn sorgen.

 

Es war ein gerader Marsch, ohne Umschweife, auf Stralsund zu, vor das festeste Bollwerk des Schweden auf dem deutschen Festland. Es hieß von Stralsund, es wäre mit Ketten an den Himmel gebunden.

Und wer vermochte an die irdische Besiegbarkeit der Stadt zu glauben? Sie schien der Erde entnommen: auf einer Insel schwebend vor der Weite der Bucht und des Meeres, von Glocken rauschend überbrandet, von sanften Wogen umspült, geschmückt und geschützt von wuchtigen und starken, steilen Türmen und gegründet über Klostergewölben im Gerank uralter Rosenstöcke. Doch bebten harte Kämpfe mit, wo man nur ihren Namen aussprach.

Der junge König von Preußen zog aus, die letzte Schlacht des Großen Kurfürsten zu schlagen.

Nicht Kugeln, sondern Briefe, immer noch Briefe erwarteten ihn. Frankreichs Gesandter, Bedroher mehr als Vermittler, warnte: »Mit der Erfahrung eines Soldaten, der fünfundzwanzig Jahre im Feld gestanden, kann ich Ew. Majestät versichern, daß, wenn je ein Unternehmen mir schwer erschienen, ich die Einnahme von Stralsund für unausführbar erklären muß.«

Aber der junge Herr, nachdem die Entscheidung zum Kriege mit soviel Bedacht und Ernst und im Austausch unzähliger Vertragsentwürfe getroffen war, wollte das Schwere, Rasche und Endgültige. Der Krieg hieß: Stralsund.

Eigenhändig hatte der junge Brandenburger die Disposition für den Feldzug entworfen, seine Kosten bis auf den Pfennig mit einer Million Taler berechnet, seine Möglichkeiten bis auf den geringsten und widrigsten Umstand erwogen und vor allem die große Erkenntnis gewonnen: Preußen mit seinen offenen, langen Grenzen konnte sich keinen Krieg mit vorsichtiger Manövriertaktik und zäher Ermattungsstrategie leisten.

Jeden Morgen, sobald es nur dämmerte – aber die Dämmerung des nördlichen Winters brach dem jähen Willen des Königs zu spät an – stand der Herr voll großen Tatendranges im Ring seiner Truppen. Er selbst betrieb die Belagerungsarbeiten mit größter Anstrengung; er selbst hielt wachsam Ausschau auf die plötzlichen und kühnen Ausfälle der Schweden. Kein Schlag der Schweden blieb unpariert. Die Festung wurde von Woche zu Woche enger umgürtet. Der Krieg hieß Stralsund. Jedoch Stralsund erhielt nur, wer die Insel im Meer vor der Stadt besaß: Rügen. Noch hatten die Schweden die Verbindung mit dem Meer. Noch konnten sie Zufuhr erhalten, mochten auch Wollin und Usedom schon wieder an die Preußen verloren sein. Der Herr begnügte sich nicht mit den Teilerfolgen.

Ein Sturm kam auf, brach Maste um und versenkte Schiffe, die unersetzlich waren.

Die bitteren Tage des Wartens und Verlierens nützte der König, um seine kleine Flotte zur Aufnahme von Pferden herrichten zu lassen. Seine Ingenieure ersannen Maschinen in der Art von Brücken und Kranen. Der Plan des Herrn stand fest, Stralsund durch Rügen zu nehmen. Er verbot jegliche Korrespondenz aus dem Lager.

Als die Königin im Lager eintraf, war sie enttäuscht, derart wenig Sehenswertem zu begegnen. Sie wollte vor der Suite groß und heldisch erscheinen, wenn auch natürlich sich keinen Gefahren aussetzen; diese aber waren in den Quartieren fürstlicher Gäste durchaus nicht üblich.

Sie selbst – und das erschütterte den König – erinnerte ihn an seine eigene Frage, ob sie ihm auch in einen Krieg folgen würde. Wie wohl entsann er sich des Wortes. Er hielt die Gattin im Augenblick der Ankunft am offenen Wagenschlag fest umschlungen. Die Wimpel der Zelte, die Fahnen des Lagers erschienen ihm mit einem Male sehr festlich. Rings im Halbkreis um die hohe Frau wehten Kurbrandenburgs Flaggen, den Roten Adler auf dem blauen Schilde führend, darüber im weißen Felde den Kurhut.

Weil es so wenig für den lieben Gast zu zeigen gab, ließ der Herr von Pagen einen Sturm auf eine Festung in kriegerischem Schauspiel aufführen. Auch gab er noch diesen ersten Tag ein Fest. Er begann überhaupt so splendid zu leben wie noch gar niemals zuvor, entgegen der bisherigen Gewohnheit mit Trompeten und Pauken zur Tafel zu rufen und mit Feldmusik das Kriegsmahl in der Gegenwart der Königin zu feiern. Zwei und drei Tafeln wurden jetzt in seinem Zelt gedeckt. Die Zahl der Gäste war ihm nie genug. Auch ließ er verkünden, daß das Alt-Doenhoffsche Regiment noch diesen Tages Der Königin Regiment heißen solle. Die Königin hatte unentwegt nach England von Ehrungen zu melden, die sie erfuhr. Als erste Antwort eintraf, geriet sie in einen wahren Überschwang des Stolzes. Sie breitete den reichsgesiegelten Brief aus, der übers Meer von England her gekommen war. Die Schwägerin, die Prinzessin von Wales, die Kurprinzessin von Hannover, war von einem Erbprinzen entbunden.

»Durch drei Generationen«, rief die Königin an der Tafel, und ihre Stimme bebte vor Begeisterung und Erregung, »ist nun der englische Thron dem welfischen Hause gesichert – meinem Vater, meinem Bruder, meinem Neffen!«

Der König gratulierte seiner Gattin freundlich. Er brachte ihr und ihrer Schwägerin Wohl aus, und sein Herz wußte nichts mehr davon, daß diese als Ansbacher Brandenburgerin die Geliebte seines Herzens, die Gemahlin aber, die ihm an der Seite saß, nur die von den Hausverträgen zudiktierte Gattin gewesen war.

Die Königin hob ihr Glas und blickte, es leerend, ihren Gatten an, als wolle sie ihm für die Worte seines Zutrunks danken. Aber es war, als sähe sie über den König hinweg und durch die bannergeschmückte Zeltwand hindurch aufs Meer hinaus, das sie so nahe vor dem Lager rauschen wußte; und sie begann, an Englands Insel denkend, das Meer in seinem Wintersturm zu lieben.

Der König wußte seine Gattin schwanger und freute sich an ihrem träumerischen und in weite Ferne verlorenen Blick.

Abends geleitete der König die Gemahlin in ihr Zelt. Lächelnd durchschritt er an ihrer Seite die Kammern, die von Teppichen und Spanischen Wänden gebildet wurden; viel Geschick war darauf verwendet. Dem Personal der Königin gab er selbst noch Anweisungen, wie unter so erschwerten Umständen für das Wohl der Herrin am besten zu sorgen sei.

Die Königin, in Erwartung der Fürstenbesuche, hatte ihre eingeschränkte Suite aus eigenen Stücken um einige Kammerfrauen vermehrt. Da zu jener Zeit die Bedientengelder bereits dem Rechenmeister Creutz unterstanden, war er auf jene Personen, die der Königin ihre neuen Kammerfrauen zu engagieren hatten, von einigem Einfluß. Schon lange aber hatte er die Ramen dafür vorbereitet, daß er sie zum Hofe bringen könne; und sie war still und flink und gelehrig gewesen, solche Dienste zu erlernen; denn denen aus der Gasse, Creutz und der Ramen, schien es gut, daß sie immer einen wüßten, der des Morgens als erster und des Abends als letzter um die Fürstin weilte.

Der König, der die neue Bediente bemerkte, fragte nach ihr mit freundlichem Scherzwort. Er möchte die Tapfere näher sehen, die ihrer Herrin ins Soldatenlager folgte. Die Neue nun war eine kleine, zarte Frau mit glatten, schönen, schwarzen Haaren. Große, dunkle Kinderaugen schlug sie, sich tief verneigend, zu dem König auf. Sonst aber war sie unschön. Ihr Mund war breit und häßlich, die Nase etwas stumpf. Doch der Blick der riesigen Augen schien alle Mängel strahlend auszulöschen. Der König winkte ihr, sie möge sich erheben. Sogleich begann die Kammerfrau sich wieder den Schachteln und Koffern der Königin zuzuwenden. Denn sie hatte allerlei müßige Dinge der Bequemlichkeit mitgebracht, und es wurde schön im Zelt der Königin. Der König lobte alles sehr. Die Königin jedoch erklärte, sie glaube nicht, in einem Zelte schlafen zu können. Der König bat, sich nur für eine kurze Frist zu gedulden, und versprach ihr den Bau eines Logements. Die Königin bemerkte, es müsse acht Räume haben, deren sie dringend bedürfe.

Der König ließ sofort den Bau des Logements beginnen. Auch bestellte er, damit die Gattin etwas Unterhaltung für die stillen Stunden ohne Tafel und Empfänge fände, große Stoffsendungen ins Lager. Seine Sorgen verbarg er vor ihr. Viertausend seiner Leute waren krank, und für den König war es nur ein bitterer Trost und eine verzweifelte Bestärkung, daß er erfuhr, den schwedischen Soldaten würden schon Schuhe aus alten Hüten gemacht. Über Karl und ihn schien Hartes verhängt.

In den schwersten Tagen erreichte die Fürsten des Nordens die Botschaft, der Sonnenkönig sei tot. Die Kunde traf zuerst im Lager des Brandenburgers ein. Der gab sie durch einen Trompeter an Karl XII. weiter. Der schwache Urenkel des Gewaltigen, ein müdes Kind, nahm ein müdes Reich vom großen, maßlosen Ahn in schwache Hände. Alle Macht war ihm verwehrt in weite Zukunft, dafür aber der schöne Name Das Kind Europas geschenkt, es bald zu lehren, wie viele Vormünder es habe. Vordem hatten Zar Peter und Karl von Schweden den zarten, lichten, stolzen Namen geführt. –

Gerüchte von schwedisch-französischen Bündnissen tauchten auf, und es gab Stunden, in denen der König noch einmal alle Bitterkeiten, die der Große Kurfürst erlitt, zu durchkosten hatte. Es wurde sogar ein gemeinsames Vorgehen mit den Brandenburgern gegen die russischen Alliierten vorgeschlagen.

Der König von Preußen sah auf Rügen und Stralsund und hielt sich an die Begrenzung der Stätte, auf der das Schicksal des Nordens sich entscheiden sollte.

Häufig sah man in diesen Tagen einen Feldprediger an seiner Seite. Der war Lutheraner, und da der König zu den Reformierten, den Calvinisten, zählte, wußte man gar nicht, in wessen Fahrwasser er jetzt gezogen zu werden schien. Auch brachte man damit in Verbindung, daß der König schon seit dem Regierungsantritt den Gottesdienst nicht mehr in der Schloßkapelle stattfinden ließ, sondern alle Kirchen der Hauptstadt nacheinander aufzusuchen pflegte.

Man vermochte sich nicht vorzustellen, daß den König angesichts des Sturmes auf das Schwedenbollwerk die Fragen der protestantischen Einheit bewegten, als stritte er nicht gegen Karl, sondern Gustav Adolf von Schweden, und daß er zu wissen begehrte, ob der Mensch die großen Entscheidungen seines Lebens allein mit sich ausmachen könne und vor Gott verantworten müsse. Die Reformierten nun, denen das Brandenburgische Haus zugehörte, sagten: Es steht alles bei Gott – Verblendung, Verwerfung und Erwählung. Nicht der Mensch sucht Gott. – Gott sucht den Menschen. Nicht der Mensch umschließt sich. – Gott beschließt über den Menschen.

Davor erschrak der König und rief und suchte die Lutheraner, die Luthers Erbe nicht mehr wahrten und seine Glut und Härte zu verhüllen suchten; denn sie lehrten: Dem Menschen ist es gegeben, selbst zu entscheiden angesichts des göttlichen Gerichts; der Mensch vermag nach Fluch und Segen selbst zu greifen.

Solche Lehre schien dem König leichter und einem, der entscheiden, richten, ordnen und befehlen mußte, gemäßer; er floh den Glauben, der ihn hielt und bannte, wie er vor Brandenburgs Türmen gewichen war. Er floh in jener Flucht aller Berufenen, die Gottes Anrede und Anspruch nicht mehr auszuweichen vermögen.

Solche Unterredungen mit dem Prediger freilich waren kurz und nahezu heimlich. Der Tag gehörte anstrengenden Rekognoszierungsgängen und strategischen Konferenzen, denn der König des Sandes sollte das Meer zum Schlachtfelde machen. Die dänischen Truppen und Schiffe waren entgegen dem Schwedter Vertrage in gar nichts parat. Zu den lebhaften Vorwürfen des Königs von Preußen, daß man ihn schon seit Wochen mit gekreuzten Armen dastehen lasse, zuckten die dänischen Herren die Achseln; schließlich waren die Verbündeten der Nordischen Allianz schon länger als ein Kriegsjahrzehnt an ihren Streit und ihre Lügen gewöhnt; wer wollte da erneuern; wer wollte da ändern. Das dänische Kontingent, die Fregatten, Transportschiffe und Prahmen mit ihren Vierundzwanzigpfündern und großen Kartaunen blieben aus. Die englische Flotte, »mit der man so große Parade gemacht«, unternahm gar nichts. Der Brandenburger war mit seinen wenigen Getreuen ganz allein.

Der Oberstleutnant Koeppen hatte ihm einen hellen Streifen in der See, im Sunde, gegenüber Dänholm gewiesen. Der Koeppen war ein kleiner, unansehnlicher und wunderlicher Herr. Er zeigte dem König, wie ein Träumer, auch den Flug der Wolken und die Bahn des Windes.

Der helle Streifen in der See war eine Sandbank unter dem Spiegel der Wasser. Der Oberstleutnant Koeppen war als Knabe mit den Freunden oft hinausgeschwommen. Er kannte die Furt wie einen Pfad im Wald. Er bat den König, sich mit einer kleinen Schar durch diese Furt an die Feste heranschleichen zu dürfen, ehe die Kälte solche List unmöglich mache. Die Feste Stralsund schiebe ihr stärkstes Außenwerk durch Sümpfe, Teiche und Moraste der Sandbank in dem Meer entgegen. Wenn Südostwind wehe, werde das Meer an dieser Stelle auf eine weite Strecke flach. Man könne, die See durchwatend, das Außenwerk umgehen und vom Rücken her angreifen. So erklärte er dem Herrn, und er befahl nur noch, auf den Südost zu warten.

 

Sie spähten täglich nach dem Südost.

Sechzehnhundert Freiwillige wurden gefunden, vor allem unter denen, die dem Dessauer gefolgt waren, dem Stiefelettenfürsten und Alten Schnurrbart, wie sie ihn im Feindeslager höhnten. Darunter waren viel Verwegene, die der Welt vergessen hatten, welche außerhalb des Lagers und der Walstatt noch ist. Das Nie-Erlebte lockte sie: der Angriff aus dem winterlichen Meer auf die Inselfestung. Der König vermochte ein Gefühl der Bitterkeit in allem Stolz und Wagemut nicht zu verwinden; die Verwegenen flogen dem Dessauer zu, wollten neuen Ruhm mit ihm erwerben; er stand noch fremd vor seinem Heer; er dachte nicht, er handelte nicht in ihm; er hatte nichts, die alten Kämpen großer Schlachten zu begeistern. Beschwichtigend und anfeuernd in einem war nur, daß der Dessauer beim armen Preußenkönig blieb und neuen Ruhm in seinem Heer erwerben wollte. Der Oberstleutnant Koeppen, der kleine, unansehnliche, wunderliche Herr, führte die Schar in der Nacht des frühen Winters durch die Wogen. Der Dessauer attackierte das Außenwerk in der Front und lenkte den Feind mit heftigen Scheinangriffen ab.

Es war etwas Neues geschehen. Der Preußenkönig und sein Generalissimus, die sonst doch alles Heil nur von großen und heldischen Männern erhofften, fügten sich einem wunderlichen, kleinen Mann.

Unbeachtet erschienen achthundert Mann inmitten der schwedischen Baracken und marschierten dem Seetor der Festung zu. Doch ein Schwedenoffizier, der einzige, der aufmerksam wurde, eilte vor den Preußen her, den Damm am Werk zur Festung entlang, vom Dunkel geschützt. Er gewann den Vorsprung, der für König Karl die Rettung war. Das Tor wurde geschlossen, die Zugbrücke aufgezogen; in die Stadt einzudringen, war den Preußen nicht mehr möglich. Aber das wichtigste Außenwerk der Festung Stralsund, vom Feinde für uneinnehmbar gehalten, war genommen. In der letzten Spanne der Entscheidung hing alles an Rügen.

Mit achthundert Mann Fußvolk und zweieinhalbtausend Mann Reiterei und acht Kanonen setzte Karl XII. von Stralsund nach Rügen über, die Landung der Preußen zu verhindern. Die Schweden fuhren zweiundzwanzig Linienschiffe auf. Versenkte Schiffe machten das Fahrwasser ziemlich unbefahrbar. Sechs Fregatten und ein Bombenschiff lagen binnenwärts zur Sperrung beider Wasserstraßen.

Der König von Preußen und sein großer Marschall schreckten auch vor dieser Meldung nicht zurück. Ihre Truppen mußten zuvorzukommen suchen. Das Meer, gerecht vor beiden Völkern seiner Küste, Schweden und Deutschen, war beiden Gehilfe. Es lag still. Und dennoch füllte ein milder Wind die nebelfeuchten Segel. Fast immer, wenn der Küstenwinter kommt, beruhigt sich das Meer. Die letzte Wärme des Landes liegt, wenn das Jahr sinkt und die Erde sich gen Mitternacht wendet, über den nördlichen Ufern. Die See erduldete die Schlacht, als wäre sie ein Feld. Der König des Sandes lernte das Meer als Schlachtfeld begreifen.

Vierundzwanzig preußische Bataillone landeten auf Rügen, zwei Stunden hindurch. Der Schwedenkönig hatte mit tausend oder gar nur fünfhundert Mann des Feindes gerechnet. Aber zwanzigtausend Preußen kamen übers Meer. Die vierhundert Fahrzeuge mußten bei den Preußen in See streng dieselbe Ordnung behalten, die den Truppen nach der Landung bestimmt war. Das Meer lag bleich im hellen Mondlicht, sein Wellenschlag war sanft. Ein starker Nebel, der unter dem Mondesglanz wie eine silberne Wolke auf den Hängen der Inselwälder ruhte und Maste und Segel umhüllte, verdeckte die Landung und gab der Armee die Möglichkeit, sich sofort zu verschanzen. Das Heer blieb zur Nacht in den Waffen. Mäntel und Stiefel waren von feuchtem Salze beschlagen. Salz und Kälte, Meer und Winter brannten auf den Gesichtern. Müdigkeit und Erwartung hielten sich die Waage.

Lange bevor der Mondschein, der immer stärker durchs Gewölk brach, in die matte Helligkeit des Inselmorgens zu verblassen begann, rückte Karl XII. mit seinen acht Kanonen an. Die Schweden hatten auf einem nicht geernteten Getreidefelde übernachtet. Die Kriegsangst hatte die Bauern und Fischer auf der Insel ihre Ernte preisgeben lassen. Braun und feucht lag der Weizen auf dem winterlichen Acker, Lagerstatt für ein Heer, die schon nahe war der Kühle und Fäulnis des Todes. Jenseits der Felder war die Insel in bleichen Kreidefelsen als Absturz zum Meer hin zerklüftet. Der matte Schlag der milchigen Wogen dämpfte die Rufe, das Ächzen der Räder und Achsen, das stürmische Keuchen schweißbedeckter Pferde nicht.

Aber der Nebel verbarg das Lager der harrenden Preußen. Erst als die Schweden, ihren Kugeln unentrinnbar, vor ihnen standen, sahen sie die Schanzen und die Palisaden ragen.

Karls XII. Offiziere vernahmen ein Wort ihres Königs, wie sie es noch nie aus seinem Munde hörten: »Es ist schon zu spät!« Und danach, als sein Antlitz ganz versteinerte, hörten sie noch das bitterste Wort, in dem alles Königtum erlöschen muß: »Ist denn kein Gott mehr für mich?« Dann gab er das Zeichen zum Angriff und stürmte den Seinen voran.

 

Die Vorwinternacht ging zu Ende. Der Morgen war da. Das Meer behielt den gleichen Schlag wie am Abend zuvor. Erde, Baumäste, Leichen waren eine Brücke über den Graben des Lagers.

Der König von Preußen hatte auf dem Schiff wie an jedem Tage Hemd, Stiefeletten, Uniform und Hut gewechselt, nachdem er sich in Ledereimern wusch. Strahlend vor Sauberkeit, klar und gesammelt saß er über seinen Karten und Belagerungsskizzen. Die Welt war ihm zum Umriß einer Insel zusammengedrängt. Der Krieg war ihm ein Mensch geworden, steinernen Angesichts: König Karl.

Die Boten kamen. Der König hörte den Morgenbericht. Die Schweden hatten kein Süßwasser mehr an Bord. Ihre höchsten Offiziere waren gefallen. Pässe, an denen er das ganze Heer des Gegners hätte aufhalten können, ließ Karl XII. unbesetzt; und Stellen, wo der Angriff am meisten erwartet werden mußte, blieben fast gänzlich unbefestigt. Sah der große Schwedenkönig das neue Preußen so gering an? König Friedrich Wilhelms Rechte zeichnete auf der Karte den Hergang jeder Meldung nach. Er wägte ab, er lobte und tadelte, riet und beschleunigte. Vor seinem inneren Blick war immer nur der Mann auf der Wende, der größte König oder der verzweiflungsvollste Abenteurer zu werden.

Neue Boote legten an und brachten weitere Kunde: Karl vollbrachte Wunder der Tapferkeit. Karl war der erste, der in den Graben am preußischen Lager sprang, den Degen in der Hand, einen Weg durch die Verschanzungen zu bahnen. Mit blutenden Händen zerrte er die Verhaue der Spanischen Reiter hinweg, erstieg er den Wall, riß er noch einmal die Truppen mit sich fort. Das Pferd des Schwedenkönigs lag erschossen auf dem Kampfplatz. Karl war zum zweiten Male schwer verwundet und vermochte sich nicht mehr aufrecht zu halten. Die Schweden sanken in Reihen nieder.

König Friedrich Wilhelm dankte und lobte und zeigte sich zufrieden; aber seine schmerzenden Gedanken taten die Frage: Warum kommen die schwedischen Verstärkungen nicht? Von Karlskrona sind Schiffe ausgelaufen, neue Schwedentruppen aufzunehmen. Warum muß es ein Kampf bleiben, der es sinnlos macht, daß ich selber vor Karl hintrete, den Degen in der Hand? Gibt es nicht nur noch das eine, den Kampf so rasch wie möglich zu enden, damit der Schwedenkönig nicht mehr sein Leben gefährdet?

Die letzte Schlacht des Großen Kurfürsten kam den jungen Brandenburger hart an.

 

Mit Mühsal und großer Gefahr hatten die Schweden ihren verwundeten Herrn zu einer Fährschanze getragen. Nur noch fünfhundert Schweden waren da, die Schanze und den König zu verteidigen.

Dies ist das Ende eines Weltreichs, dachte der König von Preußen, der inmitten maßloser Ansprüche sinkender Weltreiche und verzettelter, lähmender Kriege sein Amt angetreten hatte. Den Befehl zum Sturm auf die Fährschanze gab er erst, als das Gerücht zu ihm drang, den fünfhundert Getreuen Karls XII. wäre es gelungen, ihren Herrn weit weg zu bringen.

Gerüchte häuften sich, aber sie waren nicht grausig genug, die Wirklichkeit der Leiden zu begreifen, die über den Schwedenkönig eingebrochen waren. Am entsetzlichsten war jener Irrtum, der Schwedenkönig sei gerettet. Das Bombardement auf die Feste begann. Höher zischte das Meer von glühenden Kugeln auf, die ihr Ziel nicht erreichten. Aber dann brachen sie in die Mauern ein, wie Sturmflut ein Kai und ein Bollwerk zerstört. Die Preußen hatten den furchtbaren Kessel um Stralsund von Land und Insel her gebildet. Der Hauptsturm setzte ein. Der Untergang war bereitet. Der einzige, den König Friedrich Wilhelm schonen mußte nach den Gesetzen eines königlichen Herzens und gegen die Regeln der Kriegskunst, galt ihm ja als geborgen.

Die ausgeruhten Kanonen der Verbündeten fielen ein. Die Festung am Meer ergab sich nicht. Furchtbar löste sich das Rätsel ihres Trotzes. Karl XII. war in Stralsund. Auf dem Räucherboden des Johannisklosters – vor seinen Blicken lag die Bucht mit den Segeln der todbringenden Schiffe – hatten sie ihn verbunden. Dann wankte er wieder davon. Die Männer in der Festung weinten um den König, der taumelnd noch dem Tod entgegenraste mit fliegendem Degen. Seine Leute drangen in ihn, er müsse die Feste verlassen. Gerate er in Gefangenschaft, sei alles verloren. Bliebe er frei, so würde er das Verlorene zurückgewinnen. Da hielt der Schwedenkönig ein. Er hob den Kopf und horchte auf. Das steinerne Gesicht, geschaffen, den Feind seines Landes anzublicken nur über die Länge des Degens hinweg, war überströmt von Schweiß und Tränen, das Antlitz eines Märtyrers und nicht mehr das Gesicht des Kriegers.

Es war der Morgen des zweiten Tages vor Weihnachten. Drei Fischkutter lagen festgefroren in der Bucht. Die Schweden schlugen ihnen einen Weg durchs Eis. Einer von ihnen kam, von dem Kreuzfeuer zwischen Rügen und den Belagerten schwer zerschossen, nach Stralsund zurück. Der zweite, mit Mühe den Weg durchs Treibeis erkämpfend, drohte ebenso dem Feuer zu erliegen. Nur der dritte entkam. Auf ihm war Karl XII. Er floh durch Winter und Meer, sich hoch im Norden in verzweifelten Abenteuern zu verbluten; er floh, von seinen Feinden gefürchtet, seinen Untertanen geliebt, von ganz Europa bewundert – von einem König gewürdigt. Er war wie der Wikingerjarle einer, die, nachdem sie die Ostsee und ihre Gestade mit Krieg erfüllt und die Rache des Schicksals auf sich gezogen haben, in den Nebel des Nordens zurückweichen: als Geschlagene noch von Drohung an die Welt umwittert, die sieglosen und ruhmreichen Waffen vom bleichen Licht der Mitternachtssonne beglänzt.

In den Stunden, in denen die Flucht geschah und die Feste erlag, fanden sich die großen Herren der verbündeten Armeen auf den Wällen ein. Nur der Preußenkönig fehlte. Er ließ Frauen mit Branntwein bei den Schwachgewordenen umhergehen, denn es war ein bittres Siegen gewesen. Wo nichts mehr für ihn zu tun war, mußte er beschäftigt sein; der Anblick solchen Unterganges war zu große Last. Die großen Herren wußten ihn nicht ungern entfernt. Man hatte von seinem wunderlichen Wohlwollen für den schwedischen König vernommen. »Ein blutender Feind bedarf schon des Schutzes«, hatte der Preußenkönig gesagt, »ein blutender König verlangt schon die Ehrung durch den Gegner.«

Es sollte alles geschehen sein, ehe Friedrich Wilhelm auf den Wällen eintraf. Sie fürchteten seinen Einspruch, als begönnen sie, ihn zu erkennen. Sie wußten alle, wen der Fischkutter barg, der durchs Eis auf das Meer stieß, erst vom Winde getrieben, dann fast zurückgejagt. Nun aber war der Wind auch der Flotte entgegen, und sie vermochte den Kutter nicht zu verfolgen; schon war er zu weit auf der See. So suchten die Kanonen das Meer ab nach dem Manne, der einmal der Herr aller Kanonen im Norden und Osten zu sein schien. Nun floh er gen Mitternacht, von der verlorenen Feste, der Türmestadt, hinweg übers Meer. Zwölf Kanonen hatten fest ihr Ziel gefaßt, das Schiff des Flüchtlings in den Grund zu bohren.

Bei der Batterie auf dem Wall erschien der König von Preußen. Er ließ sein eigenes Regiment vor den Kanonenschlünden aufmarschieren. Er sagte nur: »Erst müßt ihr uns erschießen, ehe ihr euch an diesen großen Mann wagen dürft!« und wich mit seinen Grenadieren nicht von der Stelle.

Der ärmliche Kutter entschwand in der Ferne des winterlichen Meeres, beladen mit den Trümmern eines Weltreiches und einen blutenden Menschen bergend.

Der Preußenkönig sah mit keinem Blick mehr nach der See hin. Von den Verbündeten schied er schweigend.

Herrn Friedrich Wilhelms Wort war eingelöst – vor den Verbündeten, weil es niemals Schwedens Weltreich geben würde; vor dem Reich, weil Deutschland nun frei war von allen fremden Armeen; vor Brandenburg und Preußen, weil der grimmigste Krieg von seinen offenen Grenzen ferngehalten war, die Pforte zum Meere sich auftat und das bittre Los des Sandes überwindbar wurde.

Der kaiserliche Hof saß über den Sieger, der die Sache des Reiches für ihn ausgetragen hatte, zu Gericht: »Zwar kann niemand den Ruhm leugnen, den die preußischen Waffen erworben haben; aber bei den meisten scheint die Vertreibung der Schweden vom deutschen Boden mehr Betrübnis und Jalousie, als der dadurch erworbene Ruhestand im Reich Freude und Dankbarkeit zu erwecken.«

Der König von Preußen ordnete den Rückzug an und trug selbst Fürsorge für gute Winterquartiere auf dem Heimmarsch der Truppen. Auch besuchte er noch die Verwundeten. Unter ihnen war Graf Achim Schulenburg, der ihn einst vor dem Anfall eines Hirsches bewahrte, sein Augenlicht für ihn opfernd.

Den Oberstleutnant Koeppen erhob der König in den Adelsstand und ernannte ihn zum Generaladjutanten, und der Lohn für seinen Gang durchs Meer fand keine Neider und Mäkler; denn es war nur eine Stimme, daß er groß dastünde in der »kostbarsten, schwersten und epineusesten Entreprise«, die der König von Preußen in der Eroberung von Stralsund gewagt und durchgeführt hatte.

 

Täglich empfing die Königin guten Adel aus dem Lager und der Umgegend, und an Silber, Glas und Tafelgedecken durfte bis zum Schluß nichts fehlen, ebenso wie auch Küche und Keller noch täglich aufs beste bestellt sein mußten. Denn die Zeit der gemeinsamen Tafel im Kriegszelt war vorüber, und das Logement der Königin im Felde wurde etwas wie ein eigener Hof. Sein besonderes Prunkstück waren neuerdings die beiden schönen, großen Spiegel in Rahmen von getriebener Silberarbeit, die der Stiefelettenfürst und Alte Schnurrbart, der Dessauer, der jungen Königin von seinen Beutestücken schenkte.

Die Kammerfrau Ramen, der selbst noch ihr Hofdienst so neu war, mußte sich nach jungen Mädchen und adretten Leuten umtun, das Personal zu vervollständigen, und sie bewies dabei schon alle Eigenschaften einer Meisterin. In all ihren Mühen hatte die Ramen einen eifrigen Helfer gefunden, Ewersmann, einen Fischer der Küste, dem der Krieg das Gewerbe geraubt hatte. Der nahm die neue Stellung gern an. Denn er gedachte sich des Beistands des neuen Herrschers über Pommern zu vergewissern; er war nicht stumpf wie die Gefährten.

»Im Meere fischen sie jetzt Flotten«, pflegte er zu sagen, und das fand die Ramen so klug, daß sie ihn mit den schwierigsten Aufgaben betraute. Er durfte sogar schon die fremden Herrschaften bedienen, denn er wußte sich trotz seiner Größe und Schwere mit dem Tablett manierlich zu bewegen und Anzug, Hände und Gesicht sehr sauber zu halten.

Die Ramen bedachte den Mann mit mühsamem Dienst; aber er vermerkte jede Mühe, mit der sie ihn belud, dankbar.

»Er sieht, ich tue etwas für Ihn«, prägte die Ramen ihm ein, wenn er sich halbtot für sie plackte. »Ich werde Ihn zum Diener des Königs machen! Vielleicht ist uns gegeben, mehr über die Majestäten zu herrschen als ihnen, uns zu gebieten. Wir erfahren es immer, wenn sie uns befehlen. Sie dagegen spüren es nicht, wenn wir sie lenken. Wir wecken sie aus dem Schlummer, wir schlagen nach der Nacht den Vorhang ihres Bettes zurück. Wir verlassen als letzte ihre Kammer und sehen ihr Antlitz, wie keiner es sieht. Trauere Er nicht, daß sein erbärmlicher Kutter keinen Fischzug mehr tat. Wir werden auf glänzenden Schiffen unsere Fahrt machen und reichen Fang tun.«

Und als er schwieg, fuhr sie fort: »Noch einer wird sein Glück mit uns machen – Creutz. Wer das ist? Morgen ein anderer als heute.«

Und wunderbar wie nichts zuvor war es dem Mann, als die Häßliche, Sanfte, Schwebendleichte ihre dunklen, glänzenden Augen zu ihm aufschlug.

Von nun an, wenn der König im Logement der Königin weilte, wurde er von Ewersmann bedient. Und da der König jeden Neuen kennenlernen wollte, der ihm nahe kam, fragte er ihn um dieses und jenes und erfuhr viel mehr, als Berichte ihm sagen konnten, wie es um die Not der Fischer in dem Lande stand, darüber er nun herrschen sollte; warum das Holz der Kutter auf dem Strande verfaulte und die Felder der Küste und Insel ungeerntet moderten.

Der Diener und die Kammerfrau aber wußten, daß die Königin, welche von den Beschwerden ihrer Schwangerschaft so gar nicht gequält war und hochgestimmt des Tages ihres Einzuges in der Hauptstadt und ihrer Niederkunft harrte, bedrückt und gereizt war, sobald der König sie verließ.

Alle feierliche Ehrung, die sie ihm und sich selbst zuteil werden wissen wollte, hatte er von sich gewiesen und gemeint, sie habe das Schönste für ihn bereit, das es nach der Rückkehr aus dem Krieg und dem Anblick all der Vernichtung für ihn geben könne: das neue Kind. Es werde auf der Welt sein, noch ehe der Friede unterzeichnet sei; und es müsse ein heldischer Knabe werden, denn welche Mutter aus so hohem Hause hätte im Kriegszelt ihre Schwangerschaft durchlebt? Es werde eine Rückkehr sein, die sie beide nie vergessen könnten.

Vergeblich hatte die Königin geglaubt, ein fürstlicher Einzug sei ihr bestimmt und Tage des Glanzes würden ihre Treue lohnen.

Die Ramen reiste mit der Königin, Ewersmann mit dem König.

 

Außer Ewersmann hatte niemand etwas davon erfahren, daß König Friedrich Wilhelm schon einige Tage vor seiner Sitzung mit dem Rat allein in Stettin war. Und es war ohne Vorbereitung geschehen.

Ewersmann hatte täglich den König, der nun der Herr dieses Landes sein würde, umhergeführt und ihm im Umkreis des Lagers und unter der Kahlheit des Winters die große Fruchtbarkeit einer schwarzen und feuchten Erde gewiesen, wie der König von Preußen und Kurfürst von Brandenburg sie in seinem Land noch nicht erblickte.

»Er trennt sich schwer von der See und Seinem Lande«, sagte der König, »ich merke es. Ich könnte Ihm ein Fischerboot und Netze kaufen oder gar zum Hafenmeister machen. Aber es ist wichtiger, daß Er mit mir reist.«

Das hätte den Fischer, wäre er noch gewesen, der er war, bitter ankommen müssen. Nun aber war die Kammerfrau in sein Leben getreten, und er entsann sich ihrer Nähe und ihrer Prophezeiungen und folgte dem neuen Herrn mit großer Willigkeit.

Der Fischer und der König standen am Haff, der gewaltigen See zwischen Oder und Meer, der mächtigen Stauung des Eises aus weitester Urzeit. Bleich lag das Haff und unbewegt, und weil eine Schicht des milchigen Nebels auf dem Wasser ruhte, war es, als höbe sich der Spiegel der weiten Flut über die Ebene empor.

Das Land war nicht zu sehen, die Grenze der Ufer blieb verhüllt, das bleiche, hohe, weiße Wasser schien unendlich, ein nördliches Meer, keinem Lichte als der Fahlheit des Nebels und der blassen Kühle der Mitternachtssonne hingebreitet.

Es war nur noch ein einziges Schiff auf dem Haff: ein schwerer, dunkler Kahn mit hohem, rotem Segel quer am gewaltigen Mast, einer ungehobelten Kiefer. Kaum daß ein Mensch es wahrzunehmen vermochte, glitt das rostbraune Segel in der Milde des Winters durch das grenzenlose Weiß. Der letzte Segler fuhr aus. Oder war es spät, sehr spät im Jahr der erste, das befriedete Meer zu befahren? Der König schwieg. Vor seinen Blicken war das goldene Schiff auf der Havel. Das Gold der Untertanen hatte es verschlungen und niemals Ware und Reichtum gebracht oder Erträge des Landes um guten Preis der Fremde zugeführt. Ein Traumschiff war es, golden, müßig und tückisch.

Aber die Gedanken des Herrn erfüllten sich mit Heiterkeit und Zuversicht. Unübersehbare Scharen goldener Schiffe sah er den dunklen Kahn mit dem roten Segel begleiten, zum Meer, in die Weite, gen Norden und Osten, die Erträge des Untertanenfleißes vor den fremden Völkern auszubreiten und goldenen Lohn für seine arme Mark Brandenburg zu bergen. In diesem einen Augenblick begrub er den Irrtum der alten Brandenburgisch-Ostindischen Handelsflottille.

Danach fragte er den Diener und Fischer, ob er ihn nicht ein Stück aufs Haff hinauffahren könne, aber nun nicht auf die See zu, sondern zum Hafen Stettin. Es verging einige Zeit, bis ein Kahn gedungen war; auch mußten sie sich erst pelzgefütterte Mäntel beschaffen. An Schiff und an Kleidung konnte keiner den König erkennen. So wollte es der Herr. Als König gedachte er erst später vor den Rat seiner künftigen Hafenstadt zu treten. Er verlangte nur danach, seinen Hafen zu sehen.

Das Eis war überall geschmolzen. Die Fahrt war ohne Beschwer. Im Hafen sahen sie die Schiffe sich rüsten zum Empfang des Siegers von Stralsund, des künftigen Herrn über Stadt und Hafen und Pommerns Küste und Land. Auf allen Schiffen wurde gehämmert, genagelt, geteert und geschmückt. Auf den Schonern, die den ganzen Kriegswinter über vor Anker gelegen hatten, richteten sie die Maste auf, als wäre die Zeit friedlicher Frühlingsausfahrt gekommen. Dann sollten die Segel, die sie heute zum Lüften setzten, die schönste und festlichste Beflaggung sein.

Denn sie wußten es längst aus den Bekanntmachungen des Rates: der König von Preußen gedachte redlich zu bezahlen und guten Verdienst zu geben. Er kam nicht als Sieger, als Rächer, als Räuber. Er nahte als Schirmherr der Schoner und Kutter und Kähne.

Zum ersten Male erfüllte ihn der Gedanke an eine Huldigung unter Paukenwirbel, Trompetenschall und Kanonendonner mit stolzer Freude; denn der, dem er huldigen sah, war der Große seines Geschlechtes, dessen Auftrag er nun vollzog. König Friedrich Wilhelm nahm nicht Gaben von der neuen Preußenstadt Stettin; er schenkte; er wollte den Stettiner Bürgern die Waffen zurückgeben, die ihnen eine Zeitlang entzogen gewesen waren; er gedachte, seiner Hafenstadt eine französische Emigrantenkolonie zuzusenden, von deren Redlichkeit, Würde, Fleiß er die Hebung ihres Wohlstandes erhoffte.

Es wehte weit und hell über den dämmernden und wintertrüben Hafen. Am Kai standen Kinder, die Hände in den Jackenärmeln oder unter der Schürze versteckt, als ob viel Muße dazu gehörte, das Werden der ungewohnten Festlichkeit zu betrachten.

Es war ungewöhnlich, daß um diese Jahreszeit und Stunde ein Schiff mit Männern in großen Pelzen vom Haff her gefahren kam. Die Kinder liefen an der Stiege zusammen, die in die Mauern des Bollwerks gehauen war.

Der Herr fragte eines, für wen wohl all das Schöne hier bereitet werde.

»Für unseren neuen König«, sagte der Flachskopf, »und die neue Fahne hat unsere Mutter selber genäht.«

Nun war der König des Sumpfes und Sandes ein Herr und Vater auch der Schifferkinder.

»Wir stell'n uns in die erste Reihe, daß wir ihn auch ja gut zu sehen kriegen«, erzählte der Flachskopf noch weiter, der kommenden Ereignisse voll.

»Dann lasse dir nur eine schöne, neue Jacke kaufen«, sagte der junge Herr im Pelz und drückte dem Kinde eine Münze in die Hand, »damit der neue König sich freut, wie schmuck ihr hier seid.«

Das war der erste Dukat, den die Hafenstadt durch ihren neuen Herrn erhielt.

Es war gut, daß die Fahnen schon wehten, als er unerkannt gekommen war. Denn mit dieser Stunde begann es, daß die dunklen, schweren Kähne mit dem rotbraunen Segel quer am gewaltigen Mast zu den goldenen Barken eines jungen Königs wurden.


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