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König Ragotins Schloß

Einem König hilft nicht seine große Macht; ein Riese wird nicht errettet durch seine große Kraft.

Die Bibel

Der König hatte eine Stadt in Preußisch-Litauen Brandenburg genannt.

Der König taufte eine Stadt der Neumark Königsberg.

Auch solche Namensgebung war ein Bild; oder eine Brücke zwischen seinem Königreich Preußen vor den Grenzen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und seiner reichsständischen Kurmark Brandenburg. Sie sollten alle, auch in solcher Namensgebung, schon die künftige Nation begreifen.

Potsdam gedachte der Herr, freilich nur manchmal und heimlich, nach sich selber Wilhelmsstadt zu nenne. Aber dann verwies er es sich immer wieder selbst; solcher Name könne seiner Stadt niemals von ihm, sondern nur durch die anderen Menschen verliehen werden.

Fragte nun aber ein Reisender, der vom Süden des Landes her auf die Hauptstadt zufuhr, aus dem Verschlag seiner Kutsche heraus den Bauern am Feldrain, welches Dorf dort an der Kiefernwaldung um das alte Schlößchen liege, so erhielt er die Antwort: »Königs Wusterhausen.«

Und das war ein neuer Name. Nur war sich niemand dessen bewußt.

Wunderlicher als der Herr auf Wusterhausen hat wohl nie ein König Hof gehalten. Ein Saal mit Pfeilern, die Geweihe und jagdliche Embleme trugen; eine Tabakstube, die zugleich als Speisezimmer der Familie diente; zwei Räume für die Königin; ein paar enge Kammern für die viel zu vielen Gäste; ein schmales Gelaß mit einem großen steinernen Waschtrog für ihn selbst genügten dem König. Da gab es keine Hallen, Emporen und breiten Aufgänge; Turm und Wendeltreppe und im Nebenbau eine große Küche – das war alles. Höchstens waren noch die sauberen, langgestreckten Häuser für die siebzehn Pikeure, Leibjäger, Büchsenspanner und Jägerburschen des Königs neben den Ställen der Bären, Adler, Pferde und Hunde nennenswert.

Aber nun war doch immerhin bei dem Jagdschloß und dem Dorf, bei den Bärenzwingern und Adlerkäfigen des Königs, nahe an der Brücke zum Schloß eine von den neuen Kirchen des Königs erstanden. Und wie hier und in den Garnisonskirchen zu Potsdam und Berlin der Gottesdienst gehalten wurde, so sollte er im ganzen Lande sein. Vornehmlich in der Wusterhausener Kirche aber ließ sich der Herr um die Jagdzeit Probepredigten von Kandidaten halten.

Nun war wieder Jagdzeit, und auf Wusterhausen drängten sich die Offiziere und Minister und Gesandten, wimmelte es von allem, was jagdfroh war oder vor dem König doch so scheinen wollte; die vielen Räte aber waren da, in den Pausen weidmännischen Lebens mit König Friedrich Wilhelm zu arbeiten. Die Herren aus dem Ausland, die erstmalig auf dem Jagdkastell Herrn Friedrich Wilhelms weilten, befremdete es sehr, als die mit dem preußischen Hofe Vertrauteren sie darauf aufmerksam machten, daß demnächst die Pastoren auf das Jagdschloß kommen würden, alles sich dann nur noch um die Pastoren drehe und auch der an Rang und Würden am höchsten gestellte Gast dieses Schlosses alle nur erdenkliche Rücksicht auf die Pastoren nehmen müsse. Selbst Minister suchten oft Fürsprache durch Geistliche. Und auf allen seinen Reisen richte der Herr es so ein, daß er vom Sonnabend zum Sonntag in einem Pfarrhaus nächtigen könne.

Meist lächelten die Fremden ungläubig. Man hatte wohl von großen Kardinälen im alten London und Paris genug erfahren – aber ein lutherischer Hungerpastor bei Hofe?!

 

Es kam nun doch nur ein Pastor aus Halle, ein Herr Johann Anastasius Freylinghausen, des verstorbenen großen August Hermann Francke Schwiegersohn. Beide waren sie nicht abkömmlich, die Verwalter der Franckeschen Stiftungen, die Regenten des geistlichen Jugendstaates; des Professors Francke Sohn konnte erst in vierzehn Tagen folgen. Pastor Freylinghausen hatte nur noch einen kleinen Kandidaten bei sich; der bewachte ihm die Bücherstöße auf dem Wagensitz.

König Friedrich Wilhelm war um die Zeit der Ankunft des Hallenser Gastes vom ersten Jagen heimgekehrt, schon gegen halb zwölf Uhr des Mittags. Er saß mit den Generalen auf den Bänken unter den Linden im Schloßhof. Der Kastellan hatte Anweisung, den Hallenser geistlichen Herrn sofort zum König zu führen. Lebhaft ging der König auf ihn zu, nahm den Hut ab, geleitete ihn zur Bank, setzte sich und klopfte ein paarmal mit der flachen Hand auf die Bank. Der Pastor nahm das nun als einen Wink, neben dem König Platz zu nehmen. Die Generale gaben ihm erschreckte Zeichen. Es war mit dem Chef nicht so leicht. Ganz bestimmte Formen, ja recht deutliche Distanzen wollte er gewahrt sehen, auch wenn auf jedes Zeremoniell von ihm verzichtet wurde. Die Generale zwinkerten dem Pastor zu, er solle sich zu ihnen auf die Bank, dem König gegenüber, setzen. In Preußen suchten sich die Generale neuerdings mit den Pastoren gut zu stellen. Selbst der Küchenmeister auf Wusterhausen gedachte sich fromme Küchenjungen vom Pastor Freylinghausen vermitteln zu lassen.

Alles, aber auch alles wollte der König von dem Pastor wissen. Seine Lebhaftigkeit, namentlich sobald er fragte, war ungeheuer. Er kalkulierte sofort und ziemlich richtig den Etat der Franckeschen Stiftungen. Er ließ sich beraten, wie man die wöchentliche Ausgabe frischer Wäsche und Kleidung an die Waisenkinder, ein Novum, pünktlich und gleichmäßig durchzuführen vermöchte. Er wünschte, sobald der Gast sein Gepäck geordnet haben würde, die neuen Gesangbuchausgaben zu sehen, ob er sie wohl für die Armee verwenden könne. Zweimal mußte man den Herrn darauf aufmerksam machen, daß im Zelte schon serviert worden sei. Wo Gelegenheit und Witterung es nur erlaubten, wollte der König im Freien speisen. Türkische Tücher, zwischen den Ästen zweier alter Linden aufgespannt, wehrten der Sonnenglut. Das reine, glatte Leinen der Tafel atmete Kühle. Der schmale, lange, dichtbesetzte Tisch war ländlich gedeckt, mit Zinngeschirr und Krügen.

Der Platz der Königin erstrahlte wieder von Silber. Frau Sophie Dorothea, ganz entzückend liebenswürdig gestimmt, bat den Geistlichen an ihre Seite. Sie war von ihren Kindern umgeben. Sie sprach sogleich von religiöser Erziehung. Denn die Königinschwester von England, wie Gundling Frau Sophie Dorothea nannte, verhielt sich selbstverständlich gemäß der Religionspolitik des welfischen Hauses und trat somit als imposante Beschützerin des Protestantismus auf. Und damit schien sie noch immer einen tiefen Eindruck auf den Gatten zu machen. Es war vielleicht die letzte Täuschung, die sie ihm gewährte. Der Rest eines ehelichen Glücks lag allein noch in diesem einen Irrtum, dem verhängnisvollsten, beschlossen.

Der Hallenser Pastor hatte vor der großen Fürstin nicht die Sicherheit eines Roloff; der stand unter all seinen Amtsbrüdern wohl einzig da; aber Freylinghausen vergab sich doch nichts. Etwas von der weltgewandten Art des alten Francke hatte sich auch den Erben mitgeteilt.

Auch ein holländischer Schiffskapitän war zu Gaste. Prinz August Wilhelm sprach das Tischgebet. Ein Vorgericht aus Fisch und jungen Erbsen wurde aufgetragen. Der König erklärte, wenn er keine Vorkost äße, so wäre ihm, als hätte er nicht recht gegessen. Das Gespräch nahm eine überaus sanguinische Richtung; von der Königin wurde es mit Eifer ausgesponnen. Die feine Zunge des Gatten nämlich war das einzige, was sie an ihm bewunderte; hierin paradierte sie sehr gern mit ihm; einmal war er ohne Frage allen überlegen! Bei Reb- und Haselhühnern vermochte der König sogar genau die Herkunft anzugeben, ob sie in der Mark, in Litauen, in Pommern oder im Cleveschen geschossen wurden. Da gab es viele Wetten mit Grumbkow, dem berühmtesten Gourmet am Hofe. Ein Bruch mit allem Feinschmeckerbrauch lag beim Herrn nur in der brüsken Ablehnung alles Hautgouts beim Wild vor. Da empörte sich sein Sauberkeitsgefühl; seine Neigung für das Frische, Klare trat hervor. Als etwas barbarisch galt auch seine Vorliebe für rohes Obst.

Der Kronprinz bediente die ganze Tafel mit Vorschneiden; dies schien etwas zu sein, das ein künftiger König lernen mußte. Der Kronprinz war dabei ganz still und redete kein einziges Wort; er gedachte strikt die Rangordnung zu wahren und dem Pastor und dem Schiffskapitän zuletzt vorzulegen. Aber der König winkte ihm, daß er dem Gast aus Halle sogleich etwas reichen solle; es geschah auch sofort.

Der arme Pastor Freylinghausen hatte vor regem Befragtwerden nicht viel Zeit, zu essen. Unter anderem fing der König an: »Stille, ihr Herren!« – abends vermerkte der Pastor im Tagebuch: »ohnerachtet niemand redete« – und stieß die Königin, die ihm schon lange wegen der Gründung eines Theaters in Ohren lag, heimlich an, indes er sagte: »Nun, Herr Freylinghausen, Er soll uns sagen, ob's recht sei, in Komödien zu gehen –« Worauf eine große Stille war. Und wer den König auch nur einigermaßen kannte, wußte: jeden Tag jetzt, wenn er von der Jagd zur Tafel kommt, wird König Friedrich Wilhelm eine solche Frage an den fremden Pastor tun. Ob es Sünde ist, zu jagen? Ob es Sünde ist, zu rauchen und zu trinken? Ob der lebendige Gott auch den Soldatenstand segnet, in dem es doch schließlich und immer wieder zum Vergießen von Menschenblut kommt? Ob ein Herrscher denn überhaupt selig werden kann? Ob nicht Sünden fürstlicher Personen von Tausenden von Menschen nachgeahmt und mißbraucht werden, so daß ein großer Herr niemals sündigt, ohne sündigen zu machen und also ein Lehrer der Sünde wird? Ob Verwerfung und Erwählung ist ohne alles menschliche Zutun und als freier Ratschluß Gottes?

Dann aber, wenn die eine Frage ausgesprochen wäre, die Frage nach Verwerfung und Erwählung, würde der Pastor noch so viele Tage an dem langen Tisch im Gartenzelt erscheinen müssen, bis König Friedrich Wilhelm fast gar nichts mehr redete, auch nicht mehr jagte, sondern nach der Tafel rasch sein Pferd bestellte und schweigend durch die Stoppelfelder ritt, dem Pagen und dem Reitknecht weit voran – viele Stunden ritt, »um zu Gotte zu beten«.

 

Ob es Sünde ist, zu jagen –?

Der Pastor wurde von dem Hifthornschall im Hof geweckt.

Der sich am ersten vor der Turmtreppe zeigte, war König Friedrich Wilhelm selbst, ohne Orden und Band, im grünen Rode, den Hirschfänger am Gürtel. Der König, so zeitig es noch war, mußte schon lange aufgestanden sein; seit drei Uhr hatte er am Schreibtisch gearbeitet, danach den Rundgang durch die Wirtschaftsgebäude, die Ställe, die Küche gehalten und sich bereits zum zweitenmal gewaschen. Aber so blank auch sein Gesicht gerieben war – an der Frische dieses vierzigjährigen Mannes kamen einem Zweifel. Zu dunkle Schatten setzten sich um seine Augen ab, das runde, volle Gesicht wirkte durch die tiefen Falten, die seltsam rasch auftraten und sich erst sehr allmählich wieder glätteten, beinahe verfallen. Keine Behendigkeit, keine Lebhaftigkeit, keine Straffheit der Haltung, keine Munterkeit des Tones täuschten darüber hinweg. Vor allem aber machte die Art seines Betens zu viel Scheu und Ernst und Bangigkeit offenbar.

Denn er betete auch am Morgen der Parforcejagd auf dem Hofe seines Jagdschlosses, indes die Adler vom Zaren ihre Kugeln an den Ketten über die Steinpflasterung schleppten und die Bären in den Winkeln bei den Ställen tappten und schnappten. Er betete, kaum daß die Jagdgäste und seine Pikeure und Leibjäger ihn mit Gruß und Gegengruß umscharten; er sprach das Vaterunser vor; er stimmte den Morgenchoral an. Und es war seltsam, wie hell und voll er sang, er, der doch leise, heiser, schnarrend sprach; halb hochmütig, halb scheu. Nun, als der König aufsaß und vom Pferde herab sprach, war wieder nur das Herrische, ein wenig Näselnde in seiner Stimme. Und gar nichts als die Meute an den Riemen schien ihn etwas anzugehen. Die Pikeure in ihren roten Röcken, grünen Westen und gelben Lederhosen mußten jeder einzeln seine Koppel vor ihn führen. Der König tadelte: »Der kleine Paron haseliert wie sein Papa.« Jeden seiner hundert Hunde kannte er mit Namen, Herkunft, Vorzug, Unart. Über Verfilgo, Pimpone, Petro, Presson, Petz, die Lieblinge, wurden ganze Korrespondenzen mit dem Fürsten von Anhalt-Dessau geführt; als Hundezüchter war ihm der Dessauer überlegen; wie hätte König Friedrich Wilhelm sich nicht von ihm raten lassen.

Grognonne, die Bärin, konnte es nicht leiden, wenn Pimpone und Petro, die liebsten unter den Lieblingen, den Herrn so unbändig umkläfften. Eifersüchtig und bedrohlich wiegte sie heran, und der Herr auf seinem Schimmel mußte sie zärtlich mit der Reitgerte im zottigen Nackenfall krauen. Das war meist der Abschied. Dann faßte König Friedrich Wilhelm seine Zügel kurz, die Waldhornisten setzten das Horn an, und die Herren stoben davon, über die Brücke, durchs Dorf, an den Stoppelfeldern entlang auf den Wald zu. Es war auch heute noch ein prächtiger Anblick, obwohl der König die Kosten einer Jagd schon bei Regierungsantritt von zweihundert Talern auf sechs Taler herabgesetzt hatte.

Noch immer glaubten Jagdherr und Jäger von Wusterhausen, nun endlich diesen Herbst den Großen Hans, den Wunderhaften weißen Hirsch, den herrlichen, kühnen, noch vor dem Hubertustag zu erlegen. Nicht alle ritten gleich vom Schloßhof aus; denn unter den Gästen befanden sich auch ein paar alte Generale, mit denen es seit den großen Kriegen nicht mehr recht werden wollte; für die hielt Majestät die offenen, leichten »Wurstwagen«. Meilenweit ließ er sie bis zum Rendezvousplatz bringen; dort erst bestiegen sie die Pferde, was sie sich in keinem Falle rauben lassen wollten.

Im letzten dieser kleinen Jagdwagen befand sich bei den alten Herren auch der Kronprinz. Erst hatte er sich wegen leichter Krankheit ganz für die heutige Hatz entschuldigen lassen; dann, als der Vater ihn kurz nach sechs Uhr nochmals fragen ließ, erklärte er sich bereit, wenigstens doch mit hinauszufahren. Die Unruhe der alten Herren, den Reitern nur nicht gar zu langsam nachzukommen, teilte die junge Hoheit nicht. Königliche Hoheit beteiligten sich überhaupt nicht am Gespräch; und schwellender Hörnerklang, nahendes Rüdengebell belebten den überschlanken Prinzen nur wenig. Wie es gehen würde, wußte er im voraus. Sechs Stunden kam man nicht aus Wald und Sumpf, bis dem Vater endlich der Bruch auf silbernem Tablett gereicht wurde. Allein im Walde kannte er ja ein Zeremoniell. Heute Parforcejagd, übermorgen Parforcejagd, am nächsten Tage wieder Parforcejagd! verlangte dieses Zeremoniell; und die Parforcejagd war das einzige, was an diesem Hofe von Frankreich übernommen wurde. Dann waren aber jedesmal auch noch stundenlang die Reden des Königs »über die gesunde Motion und was für eine Erfrischung die ganze Natur dabei empfinde« zu ertragen. Nur sonderbar, wieso Papa dann meist so erschöpft von der Jagd kam, daß er sich legen mußte und erst am Abend wieder in der Tabagie erschien, durch neuen Anzug, neues Waschen und Frisieren weidmännische Frische vortäuschend-.

Den Prinzen, wie er da im Jagdwagen dahinfuhr, schauerte vor übergangener Müdigkeit, vor den kühlen Nebeln des Septembermorgens und dem Stumpfsinn seiner Begleiter. Kaum daß er mit im Jagen war, suchte er sich zu entfernen, blieb zurück und trachtete danach, ein Gebüsch zwischen sich und die Pikeure des Vaters zu bringen. Und als die Sonne hoch am Waldrand stand und aller Nebel nur noch Tau im Farnkraut war, hielt er allein entzückte Rast. Das Gebell der Hunde war unendlich fern; die Rufe der Jäger waren nicht mehr vernehmbar; der Waldhornklang verhallte nur als zartes Echo. Ein herber Duft stieg aus den Moosen auf, die sich der Sonne zu öffnen begannen. Unablässig wuchs das warme, sanfte Licht im Wald. Und was sich die spähenden Jäger vergeblich ersehnten, das wurde dem fliehenden Prinzen zuteil: herrlich, leicht und ruhevoll schritt der weiße Hirsch an ihm vorüber; aus der Tiefe dunkler Kiefernwälder trat er in die Lichtung, mächtig und leuchtend, die braunen, glänzenden Augen voller Milde. Da lehnte der Prinz unhörbar leise die Flinte an die Birke vor ihm und zog seine Flöte aus dem Jagdrock. Er war nicht mehr der Knabe, der einmal sprach: »Trommeln ist mir nützlicher!« Duhan, der Hugenotte, hatte ihn die Worte eines kleinen französischen Verses gelehrt, die Flöte sei im Anfang allen Musizierens gewesen und halb sei sie noch wie Gesang. Der Atem der Seele lebe in der Flöte. Der Mund sei an das Holz eines edlen Baumes gedrückt, und aus dem Hauch und Kuß erklinge noch einmal aller Vogelsang, der einst in seinen Wipfeln erscholl.

Am Anfang aller Kriegsmusik war die Trommel, rufend zur Eroberung der Erde; am Anfang aller Festmusik die Flöte, lockend zur Verklärung der Welt. So sagte der Vers. Der Prinz setzte die Flöte zu hellem Hirtenliede an die Lippen: zum Lobgesang an Pan, zur Hymne an Diana. Und alle Götter des Olympes und der sieben heiligen Hügel Roms begannen ihr herbstliches Fest in den Wäldern der Mark.

»Dir war der Weiße Hans beschieden, und du hast es verpaßt.« Der Vater hatte Friedrich gefunden. Er sagte es erstaunt und enttäuscht. Und auf einmal riß er ihm die Flöte zornig weg; was die wohl solle auf der Jagd; ob dies das Londoner Jagdzeremoniell sei; und außerdem habe er nun ihnen allen mit seinem verdammten Gepfeife den Weißen Hans verscheucht.

Der Hirsch, getrieben und gehetzt und gereizt, fiel an der Schneise einen Metzger, der zum Dorfe ging, gefährlich an. Der Metzger stach ihn mit dem Fleischermesser ab. Darin sahen alle ein sehr schlimmes Zeichen – und dies noch mehr als eine Schande – und kehrten recht verärgert von der Jagd zurück. Der König schien sogar bedrückt.

An diesem Spätnachmittag kam noch sehr viel Sammelpost aus Berlin. Die Ramen und Ewersmann liefen auf dem Flur vor den Zimmern des Königspaares nur so hin und her. Die Königin hatte ganz entzückende Briefe aus England. Wo sie des Gatten nur ansichtig wurde, stürzte sie, die Billetts in der leicht erhobenen Rechten, auf ihn zu. Er bat um Vertagung der Lektüre; und etwas verstimmt, etwas geistesabwesend, aber in seinen Worten nicht unfreundlich, ersuchte er die Gattin, ihn vorerst mit dem soeben eingetroffenen Arbeitsmaterial allein zu lassen. Sophie Dorothea nahm es diesmal spöttisch auf; wenn seine Manufakturaufträge und Zollrollen wirklich wichtiger waren als ihre hochpolitischen Manifeste ... Etwas Ähnliches sagte sie ihm sogar. Er blickte fast ein wenig müde zu ihr hin, nahm ihr die Briefe ab und überflog sie: gespreizte, bombastische, inhaltlose Episteln der hinterbliebenen Mätressen des Herrn Schwiegervaters über die Stimmung am Londoner Hofe in Sachen der preußischen Heirat; Zettel, wie er sie nun schon zum zehntenmal vor Augen bekam. Nein, so entschied es sich nicht, ob über das kranke Europa der müde Traum der österreichisch-spanischen Universalmonarchie noch einmal kommen sollte oder eine neue Zeit sich ankündigte, in welcher »der gute Kampf der Reformation« sich unkriegerisch und herrlich vollendete, indem die alte Weltmacht Englands aufs friedlichste sich verband mit den nördlichsten Fürsten des Reichs, das Reich zu erretten, als es am schwersten bedroht war!

Längst war der König an den politischen Fähigkeiten der Gattin irre geworden. Ihre eigentümliche Neigung zum Mittelbaren, Vieldeutigen, Ungreifbaren schien ihm mehr und mehr hervorzutreten. Aber gerade dies Ungreifbare, Doppelsinnige, Nebensächliche hielt die Königin für die einzig echte Diplomatie, durch die sie die plumpe Geradheit des Gatten einigermaßen auszugleichen imstande war. Ihren Sohn hatte sie davon völlig überzeugt.

»Beenden Sie lieber Ihre gegenwärtige Handarbeit, statt daß Sie solchen Flikflak einer Antwort würdigen!«

Derart schroff hatte König Friedrich Wilhelm noch nie mit seiner Frau gesprochen. Brüsk verließ sie sein Zimmer und beriet sich sofort mit ihren beiden großen Kindern, was nun zu geschehen habe, um den für ganz Europa so bedeutsamen Moment über der Kurzsichtigkeit und Engstirnigkeit ihres Gatten und Vaters nicht zu versäumen.

Der König griff sofort zu den eigenen Briefschaften. Dies hier, dies war eine Bestätigung, daß alle englischen Pläne bald zum Scheitern kommen würden, so blühend und sinnvoll sie schienen. Als Landwirt war er nun ein armer Mann geworden. Man würde sich nicht mehr um seine wachsende Armee bewerben, denn nun würde er wohl noch zum Schuldenmacher werden.

Ach, daß die Könige wie die Bauern mit ihrem ganzen Glück und Wohl von Hagelschlag, Dürre und Wolkenbruch so hilflos abhängig waren!

Ach, unheilvolles Jahr, in dem die Kastanien und Apfelbäume zur Frucht noch einmal Blüten tragen mußten: herrliches Bild und entsetzliche Wirrnis in einem! Droben im Osten aber waren gar vom Winter an die Jahreszeiten in Aufruhr! Und seine Kolonisten hatten mit der fremden Erde keine Geduld, sie gingen mit seinen Unterstützungsgeldern davon, verkauften, was er ihnen schenkte, und all seine Gründungen blieben sinnloses Stückwerk. Die Nachrichten waren furchtbar. Er mußte hinauf, ganz gegen den festen Dreijahresplan seiner Reisen; in diesem Jahre mußte er noch einmal hinauf nach dem Osten! Fürs erste aber hieß es morgen nach Berlin zu gehen, eine geheime Sitzung des Generaldirektoriums einzuberufen.

Er gab bei weitem noch nicht den vollen Einblick in alles, was er schon wußte; er suchte sich vorerst nur die hervorragendsten Sachkenner als Begleiter aus; und den anderen, die indes in Berlin die Geschäfte zu führen hatten, befahl er ruhig und strikt, indem er es unter dem Eindruck dieser schweren Stunde bereits grundsätzlich festlegte: »Wenn Kalamitäten im Lande sind wie zum Exempel dieses Jahr in Preußen, soll solches cachiert werden. Es soll zwar Seiner Majestät jederzeit die reine Wahrheit berichtet werden, aber in der Stadt und sonst in der Welt soll es jederzeit gering gemacht und gesagt werden, daß es Bagatelle; daß alles schon redressieret; solches macht nichts und tut Seiner Königlichen Majestät nichts; dieselbe haben Geld Millionen; und sollen die Sachen niemals schlimm, sondern allemal groß und nichts gefährlich gemacht werden.«

Aber die Sachen standen schlimm, und die Lage war gefährlich; doch was ihn am tiefsten bewegte, besprach der Herr viel weniger mit seinen Ministern in Berlin als mit seinem Gast auf Wusterhausen, dem Pastor.

Wie er es besonders liebte, hatte er sich mit seinem Gesprächspartner in eine tiefe Fensternische des Hirschsaals allein zurückgezogen; die Ecksitze der Pfeiler schienen zum Gespräch auch einzuladen. Bei der Unterredung blickte König Friedrich Wilhelm bald hinaus, bald faßte er sein Gegenüber prüfend und fragend ins Auge. Die Eindringlichkeit seines Sinnens, Redens und Hörens war manchem schon ungeheuerlich erschienen.

Vor dem Fenster blühten hohe Sonnenblumen. Auf den Bauernhäusern jenseits des Grabens und über den Lindenwipfeln lag noch die dunstige Sonne des späten Nachmittags; unter den Bäumen aber war schon frühe Dämmerung und Kühle. Die Fenster waren weit geöffnet, und der König schien hinaus ins Freie zu sprechen. Er wollte, Freylinghausen möge auch noch nach Berlin fahren, um die beiden Kinder zu sehen, die sich vorerst nicht mit auf Wusterhausen befanden, die kleine, übermütige Sanssouci, Philippine Charlotte, und seine brave, vernünftige, ernste Sophie Dorothea Maria. Der König fragte auch sehr angelegentlich nach den Pastorenkindern. Aber das spürte der Geistliche deutlich: im Augenblicke trug der Herr zu schwere Sorge um das Geschick der Königskinder, als daß er völlig Anteil nehmen konnte an dem Leben, Wohl und Wehe fremder Kleiner. Denn es könnte sein, sprach der König, daß ein hartes Schicksal seine Kinder ereile, dem sie nicht gewachsen seien, weil er sie nicht recht erzogen habe; weil Gouverneure und Gouvernanten seine Stelle verträten und endlich einem König seine Kinder immer ferne blieben. Gewiß, man mühe sich mit ihnen in Instruktion, Examen und Erzieherwahl; man suche sie auch nach Möglichkeit wenigstens einmal des Tages zur Tafel um seinen Tisch zu versammeln. Aber die vornehmsten Pflichten eines Hausvaters blieben von einem König unerfüllt; und es sei in nichts ersichtlich und in gar nichts habe man es in der Hand, ob die Kinder nun auch Gottes Kinder würden oder zu Kindern des Teufels mißrieten. Auf das Bürschlein Hulla setze er nun freilich viel. Aber für manche seiner Kinder verwette er nichts mehr.

Manche seiner Kinder, sagte König Friedrich Wilhelm. Und dann ließ er den Kronprinzen rufen; den Kronprinzen, die Erzieher, die Generale. Etwas für alle Beteiligten Seltsames geschah; auch für den Pastor war es peinlich: er sollte den Kronprinzen von Preußen examinieren, ob ihn der Glaube recht gelehrt worden sei. Freylinghausen, der das Leibeswohl und Seelenheil zweitausend junger Menschen betreute, schien dem König der Berufene dafür zu sein.

Sie lenkten alle ab: die Generale, der Pastor. Kronprinz Friedrich wurde totenblaß. Der König blieb fest. Auf die ersten Fragen schwieg der Prinz. Dann aber begann er plötzlich sehr lebhaft zu reden, die heiligen Worte in ihrem geheimnisvollen Widerspiel wie advokatische Spitzfindigkeiten drehend und wendend, aber niemals als der Christusleugner greifbar. Der Vater aber wußte genug. Er nickte vor sich hin. Dies war die Bestätigung.

Während der Glaubensprüfung aber hielt der Herr ein Neues Testament in Händen. Das hatte er noch vom alten Professor Francke selbst bekommen und wollte es brauchen, solange er lebte; darin war sehr viel unterstrichen.

Ein Neues Testament befand sich in der Bibliothek des Sohnes nicht.

Tags zuvor, in Berlin, hatten sie dem König nach der geheimen, bitter ernsten Sitzung des Generaldirektoriums die heimliche Bibliothek seines Sohnes gezeigt. Ein Generalfiskal, einer der Späher, war zum König gekommen, ihm zu melden, daß an einer Stelle der Hofhaltung ein erheblicher Aufwand getrieben werde, ohne daß Deckung im Etat vorhanden oder der Posten auch nur vorgesehen sei. Der Generalfiskal kam vom Präsidenten der Generalrechenkammer. Creutz war es von der Ramen zugesteckt. Die Ramen aber wußte alles, aber auch alles von der Königin selbst.

So kannte nun also der König die Bücher des Sohnes. So wußte nun also der König, daß der Kronprinz Schulden machte. So hatte nun der Vater einen Blick in jene fremde Welt getan, in der Preußen und die Mark Brandenburg nur klägliche Sandwüsten und Kieferngehölze waren und ihre Domänen, Amtshäuser, Kasernen und Kirchen nicht verzeichnet wurden.

Er bemühte weder Schiedsrichter noch Kassenbeamte; er holte auch nicht einmal Friedrichs Gouverneure. Er ließ den Sohn nur mit dem Pastor diskutieren. Darin allein offenbarte sich dem König alles. Aber wie der König da auf den Pastor sah und horchte, spürte Gundling, daß der Herr die fromme Antwort und glaubensgewisse Erläuterung nicht für den Sohn, sondern am meisten für sich selbst begehrte –.

Er hatte die Hände in die Seiten gestemmt, blickte den Geistlichen beständig an; war ungemein aufmerksam und still. Und als der Pastor seine Reden endete, saß der Herr noch immer sinnend da.

Alle verließen den Hirschsaal recht betreten. Welches Ungeschick von Majestät! Der König folgte erst allmählich nach. Von dem Sohne sagte er gar nichts. Im Gange draußen faßte er den Prediger am Ärmel. »Weil übermorgen Sonntag ist – Er wird mir doch auch unvorbereitet predigen? Es wird die letzte Predigt sein vor einer unerwarteten und schweren Reise, Herr Freylinghausen. Mit der neuen Woche muß ich fort. Mein Land erregt mir Leid und Grauen.«

Der Pastor sagte ehrerbietig zu. Dem König schien es nicht genug; er setzte noch zu neuer Frage an. Aber als sie ausgesprochen war, stockte er und erschrak.

Die Frage war: »Glaubt Er –, daß ich selber predigen könnte?«

Dann stammelte er etwas davon, daß Könige zu predigen wissen müßten; denn ihre Taten seien nichts. Gott streiche sie durch; und eben dies, dies müßten Könige bekennen. Und als beginne er nun solche Königspredigt, sprach er wieder die Worte der Schrift wie die eigenen Gedanken des bedrängten Augenblickes aus: »Herr, du hast mich überredet, und ich habe mich überreden lassen; du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich.«

Als der Fürst von Anhalt-Dessau den ersten Satz im ersten Schreiben von der Reise seines königlichen Freundes las, wußte er, daß so nur ein Hilferuf anhob: »Euer Liebden sein so ein kluger und Penetranter herr als einer mit in Europa ...«

Drei und vier und endlich sieben Briefe kamen von der Reise. Aber niemand als der Dessauer erhielt ein Schreiben. Er, der Gutsherr von Bubainen und Norkütten, wußte als einziger, daß diese Königsfahrt ein Kreuzesweg durch nicht endenwollende Stationen des Leides wurde: durch Brand und Dürre, Wolkenbrüche und Sturmflut, vernichtete Ernten, sterbende Herden, Aufruhr, Widerspenstigkeit, Raub und Verzweiflung. Ach, für Elenjagden und Kampfspiele zwischen Wisenten und Bären, die sie sich beide droben im Osten erhofften, war keine Zeit und kein Recht mehr. »Mehr Wölfe als Schafe«, schrieb der König vom Ostland. Am bedrückendsten aber schien dem Fürsten, daß seinen königlichen Freund das einzelne schon nicht mehr berührte. –

»Budopöhnen ist abgebrannt – die haushaltung ist sehr schlegt – aber ich frage nits mehr danach – wen dieses jahr vorbey ist höre auf zu wirdtschaften –«, so las der Fürst im Briefe des Königs, »in die vierzehn Jahre nits gemacht zu haben und alle meine Mühe, Sorge, Fleiß, Geld, alles umsonst – itzo das Geld und Zeit verspillert und ins Meer geworfen, gehet mir nahe. Wenn die vierzehn Jahre wieder hätte, à la bonheur, aber die sein fort, ohne was zu tun. Wenn ich es veroperiert und Redouten, Komödien gemacht hätte, so wüßte noch wovor, aber ich habe nits als chagrin, Sorgen gehat, das Geld auszugeben, ergo ich mich sehr prostituieret habe vor die Welt und ich vor fremde Leute nit gerne höre von Preußen sprechen, denn ich mich schäme.

Gott hat mir bewahret, sonste hette ich müssen nerisch werden vor simf und mockerie vor die ganze Welt – mit Gottes hülfe so werde mir doch wieder herraußen helfen das die Machien nicht übern hauffen gehe – aber adieu verbessern das bißgen was ich zu lehben habe will in stille lehben und von die weldtl Sachen nur so wenig meliren als mein Schuldigkeit und ehre es leiden wierdt. Lottum trinkt vor Kummer und Sorgen und beseuffet sich teglich den chagrin sich zu Passier, da bewahre Gott mir davor.

anfein ist es als wen gott nit haben wolte, das das arme Landt in flohr komen solte, wen ich die wasserfluhte selber nit gesehen ich es nit geglaubet hatte den ich meine dage nit so wahs gesehen, dieses wetter ist die leze öllung vor Preußen.

ich bin meine Preußische haushaltung mühde ich kriege nichts an contrer erschoppe mich und mein übrige lenter mit menschen und geldt.

dieses nun Baldt aufhöhren oder mei Bankeruht ist da.

es ist da alles so desperat und miserable das ich nicht weis ander zu sagen als das Gott ein fluch über das landt gesicket habe.

Will Gott nit – ich meretiere es nit besser – ich gehe in mich, denn ich habe große Ursache dazu.«

Er glaubte, der König von Preußen habe den Kurfürsten von Brandenburg vernichtet. Und er wußte: alle Könige Europas und alle Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation würden von nun an Sorge dafür tragen, daß der König von Preußen und der Kurfürst von Brandenburg auf immer Widersacher blieben. Nun war der Herr ein Bettelkönig. Der Hunger war im Land.

Da entschloß er sich zur ersten Lüge, den furchtbaren Zwiespalt, der in ihm vollzogen war, zu verbergen –. Er warb von neuem Riesen, jeden für Tausende von Talern. Er zog in Potsdam neue Straßenzeilen. Aber es war nicht mehr das Wachstum, die Entfaltung, die Festigung. Etwas Fremdes und Geängstigtes kam in sein Handeln. Tiefer denn je war er von Gedanken verwundet; und der Blick der Leidenden ist anders. Seine eigene geliebte Stadt, die ihm im Havelsumpf erstand, begann ihm mehr und mehr zur quälenden Frage zu werden. Was an ihr war Wille zur Tat, Bereitschaft zum Dienst, Erkenntnis des Auftrags? Was war Lüge, Maske, Eitelkeit, Vermessenheit, Willkür?

Die Menschen, die Gott am stärksten zu sich ziehen will, müssen zuvor am tiefsten alles Menschliche erfahren; und einer, den Gott sucht, muß sich selbst zuvor als verloren erkennen. König Friedrich Wilhelm ward zum Bankerotteur und Hasardeur. Das Unbegreifliche war nur, daß der Bankerotteur und Hasardeur nach seiner Rückkehr von der Leidensfahrt vor seiner täglichen Tafelrunde zu predigen begann. Da waren die Zeiten noch besser gewesen, in denen er die alten Geschichten aus Flandern und Pommern, von Malplaquet und Stralsund immer wieder von neuem erzählte! Die großen Kinder durften sich bei Tische nicht ansehen, sonst war es um ihre Fassung geschehen, und der Vater merkte ihr Lachen. Er war ein närrischer König geworden, aber sie sollten seinen biblischen Worten lauschen, als spräche sie der Mund eines Apostels. Sie fanden jedoch entzückende Möglichkeiten, ihre Sarkasmen und Satiren zu umschreiben. Mama hatte ihnen gerade einen hypermodernen Roman aus Paris kommen lassen. Für dessen Figuren konnte man ganz ohne weiteres den König und seine Günstlinge einsetzen. Es war zum Totlachen, wenn man sich in der allerhöchsten Gegenwart vom Buche unterhielt und die Wirklichkeit meinte!

König Ragotin im Buche war ein bigotter, weinerlicher, dicker Mann, ein trauriger König Vielfraß und grämlicher Herr Dickwanst. König Friedrich Wilhelm, der Schlaflose, aß unmäßig viel, als gäbe es nur noch das eine, dem Verfall in sich zu wehren; auch trank er gierig. Aber nach dem zweiten, dritten Glas geschah es immer, daß er es weit und heftig von sich schob und in dumpfem Brüten vor sich hin sah.

Die Königin, auffallend wenig geschwätzig, beobachtete es mehrere Tage hindurch. Dann war sie genügend davon überzeugt, daß die Geschicke Preußens ihr allein anvertraut wären. Sie konnte den Hubertustag nicht mehr erwarten. Denn der erlöste sie aus Wusterhausen, das seit des Königs Reise nicht verlassen worden war.

Der König tanzte dieses Jahr am Jägerfest nicht einen Tanz mit den Generalen. Es schien, als wären die Sieger von Malplaquet vergessen. Vielleicht war aber König Ragotin auch nur zu dick geworden –?

Sobald die Kinder ihn nicht auslachten, sprachen sie sich höchst gereizt darüber aus, daß ein paar verhagelte Felder im öden Osten diesen Geizhals von einem Gatten und Vater derart außer Fassung brachten. Der Königin kam sogar der Gedanke, ob es mit dem Gemahl nicht ganz richtig wäre. Welcher König hatte denn je gepredigt! Gott sei Dank, daß ihr und ihrer Kinder Geschick nicht über dem Pregel, sondern jenseits des Nordmeers entschieden wurde!

Als sie nun nach Berlin zurückkehrten, hatte jeder seinen eigenen Plan; die großen Kinder: die strengen Maßnahmen eines so törichten Vaters nun aber wirklich nicht mehr ernst zu nehmen; die Königin: Einfluß zu erlangen auf sämtliche auswärtige Affären, denn ihr Gatte war nur noch ein Junker nach der Mißernte; der König: dem furchtbaren Ernste Gottes alles zu beugen, was ihm als Statthalter Gottes auf diesem einen armen Stück Erde Untertan war; der Präsident und Freiherr von Gundling: den Einfluß der Pastoren Roloff und Freylinghausen abzustellen, und sei es, daß er zu solch hohem Zweck die gesamte Kirche samt allen theologischen Fakultäten der Universitäten aufrufen müßte; Prinz Hulla: den entsetzlich traurigen Papa doch einmal wieder zum Lachen zu bringen. Er hatte sich das Schwerste gewählt.

Die königliche Familie bewohnte während des Winters überwiegend den von König Friedrich Wilhelm zu Ende gebauten Spreeteil des Berliner Schlosses.

Die Stimmung im Königshause war trostlos. Die Christtage waren ohne alle Festlichkeit vorübergegangen, nur daß Familie und Hof drei Tage hintereinander im Gottesdienste zu erscheinen hatten. Heitere Bescherungen, Knecht-Ruprecht-Umzüge und den Rundgang der Heiligen Drei Könige hatte Majestät als unfromme Alfanzereien verboten. Die Krönungsgedenk- und Neujahrsfeiern waren ja nun eigentlich schon seit seinem Regierungsantritt immer sehr düster gewesen. So groß waren Mühsal, Ernst und Widerstand und oft auch Mangel in vielen Jahren gewesen, daß der König die Wiederkehr des väterlichen Krönungstages am 18. Januar nur noch mit Predigten zu feiern gestattet hatte. Alles andere sagte er ab; nur die Armen des Friedrichshospitals erhielten etwas Geld, aber es wurde ihnen kein Festessen mehr gegeben.

Um die Neujahrsempfänge suchte der König möglichst durch eine kurze Abwesenheit von Berlin herumzukommen. Am Neujahrstag hatte er weder von dem Hof noch von den Kollegien die üblichen Gratulationskomplimente annehmen wollen, auch die Aufwartung der wenigen, noch beibehaltenen Kammermusikanten mit dem Ständchen seit der Thronbesteigung nicht mehr verlangt, wiewohl er ihnen und den anderen Hofbedienten im Parolezimmer ein Neujahrsgeschenk reichen ließ. Sie lebten, klagte man, im Schlosse wie die Trappisten. Um den König durfte niemand lachen oder lustig sein. Zudem schien nun die Armseligkeit der Wusterhausener Haushaltsführung zum ersten Male die königliche Familie auch ins Berliner Residenzschloß begleitet zu haben, das eine letzte Zuflucht gewesen war. Auf Wusterhausen hatte man Berlins damastbespannte Schlafzimmer, Marmorkamine und Deckenmalereien schätzengelernt.

Nach seinen großen Verlusten war der König so entsetzlich sparsam geworden, daß er selbst die Kerzen auf den Leuchtern zählen ließ und für jedes Appartement und jede Galerie ein ganz genaues Kerzendeputat bemaß. Jede der Prinzessinnen bekam ein einziges Altarlicht für den Tag, und in der Finsternis, die nun angeblich im Schlosse herrschte, waren die vielen dunklen Treppenkammern und die Zugänge zu den Küchen im großen Portal zu unheimlichen Winkeln geworden, wie es sie auf Wusterhausen in so beängstigender und verwirrender Fülle gab. Man trachtete nur noch danach, möglichst rasch zu Mama zu gelangen, denn in den Räumen der Königin, die sich ja erst spät erhob, brannten auch morgens die Kerzen sehr lange. Nur in dem Vorzimmer, in dem die Töchter auf die Mutter warteten, wurde ebenfalls gespart. Dort saßen sie nun artig um den ungeheizten Kamin gruppiert, auf dessen Sims zur Rechten und Linken je eine Kerze auf vielarmigen Leuchtern angezündet war. Meist nahm die Königin den Morgengruß der jüngeren Kinder erst nach zehn Uhr entgegen, dann konnte man endlich ihre schönen Zimmer betreten; freilich hatten die Prinzessinnen, wie die rauhe Friederike Luise zu sagen pflegte, nun den ganzen Vormittag bei der Mutter zu verseufzen, während der Tafel zu schweigen und des Nachmittags der Reihe nach der Königin vorzulesen. Das war der Königin ein Ersatz dafür, daß sie nicht in dem Maße, das ihr angebracht schien, Hof halten durfte; denn abgesehen von den beiden Kleinsten, Ulrike und der fünfjährigen Anna Amalia, waren die brandenburgischen Prinzessinnen ja nun wirklich schon zu kleinen Hoffräulein um die dreizehn und zwölf und elf Jahre herangewachsen, von der Ältesten, Wilhelmine, gar nicht zu reden.

Für die Königin selbst begann der Tag seit Jahren mit der gleichen Frage nach englischer Post; und je nach Eingang und Inhalt der englischen Briefe wechselte nun ihre Laune; aber die Prinzessinnen fanden doch bei ihr in jedem Fall, wie nun der Morgen verlaufen mochte, vom frühen Nachmittag an lichterstrahlende Räume vor, hörten gewandte Konversation und speisten nette kleine Dinge von Silbergeschirr; Wilhelmine gar musizierte mit den Damen der Mutter und vertrieb sich in ihrem Kreise die schleppenden Stunden dieses Winters mit Kartenspielen; vor allem: um Mama stand nicht, wie um den Vater, alle Zeit in Schwere still, obwohl er immer so gehetzt war. Bei Mama war immer nur von künftigen, leichteren und angenehmeren Zeiten die Rede. Zehnmal in einer Unterhaltung fiel der Satz von einer »Zeit, in der es nicht mehr so wäre«. Das war schon eine feste Redensart der Königin geworden, die ungemein überzeugend und tröstlich wirkte. Einmal – und das war nun doch erschreckend – vernahm Prinzessin Wilhelmine sehr deutlich Worte der Mutter über eine »Zeit, wo der König nicht mehr wäre«. Und was dann an weiteren Ausführungen noch folgte, verriet die unbefangenste Freude und Hoffnung auf fortan ungetrübte Lebenslust und Ungebundenheit, vor allem auf die Stellung einer wirklichen Königin.

Erst fühlte sich die Tochter im Vater getroffen, dann aber empfand sie gerade für die Mutter etwas wie Rührung. War die Mutter nicht älter als der Vater? Hatte sie nicht die vierzig Jahre überschritten? Hatte nicht eine Frau schon um die Mitte ihrer dreißig Jahre mit ihren Lebensfreuden nahezu abzuschließen? Aber welches Feuer, welches Vorwärtsdrängen, welche Ungebrochenheit und Unauslöschlichkeit aller in zwanzig Jahren ihrer Ehe niedergekämpften Wünsche beschwingten die Mutter!

Manchmal fühlte die Tochter sich älter, als sie die Mutter neben sich empfand. Denn Wilhelmine graute vor der Zukunft, wenn sie daran dachte, wie Vater und Bruder sich immer mehr voneinander entfernten. Sie kannte die Welt ihres Bruders. Er war ohne Freunde. Er hatte nur den alten Erzieher seines Vaters um sich und zu junger Freundschaft keine Zeit. Auf ihn war der Ernst des Königs in fast erdrückender Schwere gesammelt. Er sollte seit dem Mißerfolg des Vaters im Osten und seit der Entdeckung seiner heimlichen Bibliothek – zwei Ereignissen also, die doch überhaupt nicht in Beziehung zueinander standen – gar nichts mehr treiben als »die Regierung« zu erlernen. Und am fremdesten, bedrückendsten und unheimlichsten war, daß der Vater von dem König von Preußen, zu dem er seinen Sohn erzog, nur noch wie von einem Dritten sprach. ›Dem König von Preußen‹, dem sie beide, Vater und Sohn, untertänig seien wie die Sklaven! Wie sollte es enden! Der Bruder war so zart, seine Sehnsüchte waren so groß und unbezähmbar, sein Geist schien unersättlich nach allem, was Weite, Glanz und Klarheit war! Der Vater aber redete nur noch biblisch; und in der Bibel fand er noch unbekannte, unergründliche und harte Worte, die alles Leben erstickten –.

Ein beklommenes Gefühl legte sich Wilhelmine aufs Herz, wenn sie an die große Zukunft dachte, die ihre Mutter ihr schon binnen kurzem zu bescheren versprach. Ihr blieb als Vorbereitung für das herrliche »Morgen« der Mutter nur die Zähigkeit des Lernens. Sie war verdammt, das unschöne Mädchen zu sein, das sich seiner großen Zukunft nur gewachsen zeigen konnte, wenn es imstande war, durch Klugheit zu bestricken. Der Gedanke freilich, durch Klugheit eine Krone zu erwerben, gab ihr manchmal doch ein ungeheures Selbstbewußtsein; und daß die Mutter, die dauernd – unter Londoner Aspekten – an ihr herumtadelte, sie so eisern fest in ihrem politischen Spiel hielt, sagte solch kluger Tochter genug. Ach, daß sie aber über all das Unschöne an sich nicht durch Eleganz hinwegzutäuschen vermochte! Sie litt unter den Schulden der Mutter. Mama hatte sich mit achtzigtausend Talern im Jahr zu begnügen und davon noch die Kleidung und die Wäsche dieser riesigen Familie zu bestreiten. Daß der Vater alljährlich zum Christfest der Gattin und den Töchtern Kleider aus den Stoffen seiner Manufakturen überreichen ließ, es wirkte eher als ein Hohn auf sie denn als Freundlichkeit: Berliner, Potsdamer Stoffe! Die Kammerfrau Ramen würde sich spöttisch bedanken, wenn man die Gabe an sie weiterreichte!

»Wir arme Teufel müssen uns nun nach der Decke strecken.« Das hatte der Vater zur Mutter gesagt. Schrecklich, daß Mama sich in ständigen Geldverlegenheiten befand. Aber noch schrecklicher war, daß alle ihre Unterhaltungen mit den fremden Gesandten ein ständiges Klagelied waren. Darin verstand die Tochter ihre Mutter nicht; darin fand sie ihre Mutter ohne allen Stolz. Doch war es unmöglich, ihr etwas zu sagen. Friedrich allein ging manchmal erstaunlich frei mit Mama um. Der Bruder hatte für die Mutter eine ganz reizende Ironie, zum Exempel, wenn diese ihn lobte, nun habe er das Ziel einer dem Londoner Hofe angemessenen Bildung erreicht trotz aller einengenden Beschränkungen von seiten des Vaters.

Niemand wußte es besser als Wilhelmine, wie die von der Mutter gesteckten Grenzen längst gesprengt, die von ihr erstrebten Ziele längst überschritten waren. Wenn Friedrich an die Bücher und Noten geriet, an Globen und Zirkel und Bilder – es war, als baue der Vater sein Potsdam, als werbe der König für sein Heer, als kaufe er Güter; so ohnegleichen und so unaufhaltsam war das Wachstum jenes geistigen Reiches ihres Bruders, Eroberung und Entfaltung in einem. Und daß er nicht nachgab, wie sehr ihn auch der Vater mit dem Erlernen »Der Regierung« bedrängte! Eine Zähigkeit war in dem Schwärmer, die schon an Gehorsamsbruch grenzte. Er behauptete die Weite seiner eigenen, lichten Welt gegen das enge, dunkle Unglücksland seines Vaters. Er stand als König gegen den König.

 

Der Präsident von Creutz schrieb wieder Zahlen mit eigener Hand wie einst in kalter, sandbestreuter Amtsstube am Pult. Er diktierte nicht seinen drei Sekretären. Er saß beim Kamin am mächtigen Schreibtisch, zwei herrliche Leuchter zur Seite, im großen Mittelsaale seines Palais. Er schrieb allein und heimlich. Aber er befaßte sich nicht mit den Zahlen, in denen das neue Unheil über Preußen bisher allein zu fassen war. Die Dokumente des Elends, die aus dem preußischen Osten eingegangen waren, waren schon überholt. Dem Herrn von Creutz schien noch erheblich wichtiger, welche völlige Stockung die russische Handelskompanie in ihrem gesamten Export aufwies und in welch eigentümliche und bedrückende Undurchsichtigkeit die Zustände im Moskowiterland sich hüllten. Der Tod war als ein Dreigestirn über dem Ostreich erschienen; nun lasteten die Schatten der drei unglücklichen Toten – Zarewitsch, Zar und Zarin – über dem zum Raube preisgegebenen Lande.

Aber auch der Zusammenbruch des gemeinsamen Werkes des Bruders Peter und des Bruders Friedrich Wilhelm veranlaßte einen Herrn von Creutz noch nicht dazu, daß er selbst wieder einmal zur Feder griff. Was er da allein und heimlich niederschrieb, Generalfiskal mehr denn Plusmacher, Späher mehr denn Rechner, war eine stets wiederkehrende Frage, die nur in Zahlen beantwortet werden konnte: Welches Gehalt bezieht Herr von –? Welchen Etat erfordert seine Lebenshaltung? Woher erhält er den Betrag der Differenz –? Es waren Bestechlichkeitslisten.

Sonderkonten, die der kaiserliche General Graf Seckendorff führte, stimmten ganz auffallend damit überein. Überhaupt bestanden die lebhaftesten Wechselbeziehungen zwischen den Berechnungen der beiden Herren. Herr von Creutz war sich nur noch nicht im klaren, wem er seine geheimen Rechnungen nun zum Schluß gesammelt überreichen sollte, dem König von Preußen oder dem kaiserlichen General. Seine Bedenken gegen König Friedrich Wilhelm wuchsen; an dessen neuerdings wahnwitzigen Unternehmungen beteiligte er sich nicht mehr; der Chef gefiel sich ohne Frage darin, eine noch einigermaßen sichere Gegenwart für eine überaus ungewisse Zukunft hinzugeben. Denn zu des Rechenmeisters Creutz großem Bedauern und Unwillen hatte der König leider gar nicht, wie erst angekündigt, daran gedacht, die Hände von seiner preußischen Unglückswirtschaft zu lassen.

»Von Preußen«, sagte König Ragotin beharrlich, »trägt das Königreich den Namen.«

Das Wort vom »König Ragotin« war längst herum. Es sei auch ein gar zu reizender Einfall, meinte Monbijou.

Immerhin war König Ragotin doch noch imstande, die Diplomatie samt ihrem geheimen Generalkontrolleur von Creutz in Atem zu halten. Manchmal verwirrten sich den beiden Herren Creutz und. Seckendorff ihre Kontoauszüge. Dann wußten sie: La Chétardie und Rothembourg, die neuen Pariser Gesandten, sind am Werk; oder Du Bourgay aus London bemüht sich um diesen und jenen. Im allgemeinen aber konnten die Herren sich versichern, daß England und Frankreich, sein diplomatischer Vasall, nicht so großzügig und emsig Mittel daran setzten, die preußisch-englische Heirat zustande zu bringen, wie Österreich, sie zu verhindern. Denn die Kaisermacht war im Zerfall; die habsburgische Monarchie war furchtbar bedroht; und der Kaiser hatte nur Maria Theresia, die Tochter.

Alles drückte sich in Zahlen der Bestechungslisten aus: der Wert des Geschaffenen; die Fehlspekulation im Osten; der Ehrgeiz der Königin; der Zwiespalt zwischen Hauspolitik, Reichspolitik und Religionspolitik, unter dem der König so namenlos litt; denn alle Partner waren miteinander verwandt; und alle waren auch miteinander verfeindet; und obendrein noch alliiert.

König Friedrich Wilhelm aber war fromm.

Da wurde das gemeine, kalte Spiel und Gegenspiel zur Qual des lebendigen Herzens.

Wie aber kam es, daß der kaiserliche General Graf Seckendorff über den wankelmütigen, hin und her gerissenen König Ragotin an den Wiener Hof berichten mußte: »Man macht sich von des Königs Gemüt eine ganz falsche Vorstellung, wenn man glaubt, daß solches von irgend jemand könne regiert werden!«?

In seinen Berichten nach Wien vergaß der kaiserliche General leider noch hinzuzufügen, welch neuartige Erfahrung er durchgehend in Preußen machte: des Königs neuen Militärs durfte man keine Dukaten mehr anzubieten wagen. Die Offiziere der neuen Armee zeigten sich unbestechlich. Ihnen gab der kaiserliche General allwöchentlich ein großes Gastmahl mit fünfzig Flaschen Wein.

Mit dem König ging er zur Parade und zur Kirche.

 

Einmal, gänzlich gegen die Gepflogenheit, verabschiedete sich der König, gleich nachdem man den Kirchenstuhl verlassen hatte, von Seckendorff, winkte unauffällig zu der Loge der Ärzte hinüber und begab sich sofort mit ihnen und einigen anderen Herren der Anatomie und des neuen Sanitäts-Rates zu einer außerordentlichen Sitzung ins Schloß hinüber.

Ein unheimliches Sterben in den Regimentern war angebrochen. Namentlich unter den Südländern ging es um, als vermöchten sie plötzlich die Witterung des fremden Landes nicht mehr zu ertragen; als bedeute der jähe Umschwung von dem lauen, trägen Winter in so grimmige Kälte eine unabwendbare Gefahr für sie.

Der König konnte sich gar nicht erklären, daß das Sterben unter seinen Grenadieren nahezu schon epidemisch auftrat. Scheinbar unterhielt er sich ganz wissenschaftlich oder allenfalls human darüber mit dem Sanitäts-Rat: Welches sind die Gründe? Welche Maßnahmen sind erforderlich? Welche Aussichten auf Abstellung des Übels bestehen? Aber die Pfeife in seiner Hand zitterte verräterisch. Und aus der Sitzung eilte er, allem Widerspruch zum Trotz, in die Lazarettbaracke seiner Grenadiere. Die Konferenzen wiederholten sich täglich. Allmählich gelangten die Ärzte zu der Meinung, Majestät sei selber krank. Aber der König winkte unwirsch ab – beinahe gequält.

Das Sterben griff um sich. An jenem Tage sah man trotz der Eiseskälte und des schneidenden Sturmes die Potsdamer Bürger in den Haustoren stehen, wie sie den gewaltigen schwarzen Schreinen nachsahen, in denen man des Königs tote Riesen auf den Friedhof vor die Stadt hinaustrug.

Hinter den Mauern um den Gottesacker ragten unheimlich die Gerüste des neu begonnenen Stadtteils, tief verschneit, wie böse Zauberbäume, übergroß und kahl, über verlassenem, unvollendetem Mauerwerk.

Der Einbruch der Kälte zwang, allen Bau im Stich zu lassen. Der König glaubte nicht mehr, daß er diesen Stadtteil je vollenden würde. Er fühlte sich zu hart an ihm gestraft. Es war, als sollte seine Lüge offenbar sein vor der Welt. Denn er hatte gelogen, als er spät im Jahr noch neuen Baugrund ausheben, Grundmauern ziehen, Gerüste aufrichten ließ. Er hatte über die Verluste hinwegtäuschen wollen, die er im Osten erlitt. Jetzt starb seine Stadt aus. Züge von Soldatenhäusern standen leer. Die Soldatenwitwen überkam Furcht. Sie zogen zueinander. Ganze Häuserreihen waren als vom Tode gezeichnet verschrien. Der Würgeengel ging durch die Stadt. Die Kinder im Waisenhaus starben auch. Der Grund des neuen Karrees war feucht und schlecht. Zu Hunderten holte der König alle erreichbaren Schlitten vors Waisenhaus. Aber die Schlitten durften keine Schellen tragen. Es war dem Herrn unerträglich geworden, das helle, leichte Klingeln unter den nicht mehr verstummenden Totenglocken zu hören. Lautlos gleitend, trugen die Schlitten die Kinder hinaus auf die Dörfer und in die alten, großen, festen Klöster der Mark, nach Lehnin und Chorin. Der Herr war überall zu finden; plötzlich war er da, ging unruhig umher, prüfte mit scharfen, düsteren Blicken jeden Vorgang; und ebenso jäh war er in fliegendem Schlitten auch wieder verschwunden.

Endlich war er selber krank. Es zerriß ihm die Glieder. Aber die Ärzte erfuhren nichts davon, bis sich der König einmal mitten in der – ach, wievielten – Konferenz am Stuhl festhalten mußte, der am nächsten stand; sein Gesicht war entsetzlich verzogen. Nun war sein Leiden nicht mehr zu verbergen; aber untersuchen durften sie ihn nicht, ehe nicht gut an die zehn Eide geschworen waren, daß alles geheim bleiben werde.

In die alte Wunde von dem letzten Jagdunfall sei beim Frost eben etwas Rose gekommen; eine Lappalie; ein bißchen Salbe tue not. So sagte der Herr. Unter sich meinten die Herren vom Sanitäts-Rat lakonisch, in Berlin und Potsdam könne man es ja eine leichte Rose nennen. Anderswo heiße es Gicht.

Ein bißchen zu jung sei der Herr für die Gicht, fügten sie dann noch hinzu; er sei viel zuviel in der Kälte gereist; er habe auch zu wild gejagt; und auch sein unsinniges Waschen trage wohl Schuld: Tag für Tag den ganzen Leib mit frischem Brunnenwasser zu übergießen! Dann war noch an seinen Vergehen zu nennen das maßlose Essen, das schwere Getränk.

Damit fingen sie an: er solle nicht mehr so viel essen.

Der König sagte schleppend: »Das muß ich aber. Das muß ich.« Und dann kam es schrecklich. Er schrie es plötzlich heraus, nun wo Schweigen vergeblich war. »Diese Nacht habe ich zum ersten Male wieder eine Stunde geschlafen. Ich habe in zwölf Tagen nichts als grausame Schmerzen gehabt. Gott hat mich bewahrt, daß er mir den Kopf nicht hat zerspringen lassen. Bevor ich es wieder bekommen sollte, so mache der liebe, liebe Gott ein Ende mit mir. Denn Sterben ist sanft. Aber dies Leiden ist unerträglich, ist viehisch.«

Danach sahen sich die Ärzte an und meinten noch einmal: »In Berlin und Potsdam kann man es ja leichte Rose nennen. Anderswo heißt es die Gicht.«

Und das Schicksal des Großen Kurfürsten dämmerte herauf.

 

Als wolle er sich in der Hilflosigkeit, die über ihn gekommen war, verbergen, erließ der Herr ein Edikt gegen den Mißbrauch, »Seiner Königlichen Majestät allerhöchste Person immediate mit Klagen zu behelligen, die vor die ersten Instantien gehören«.

Er hatte Einblick gewonnen, daß die Beamten und Offiziere bei dem neu anbefohlenen, gesteigerten Bauen oft ihr ganzes Vermögen zusetzten; und nun suchten sie um die Erlaubnis nach, die Häuser im Wege der Lotterie wieder veräußern zu dürfen, weil sich so viel Käufer, wie benötigt wurden, gar nicht fanden. –

So hatte den Herrn noch nie eine Schmähung getroffen wie nun dies furchtbare Wort »Lotterie«, angewandt auf seine Völkerstadt und seinen Gottesstaat Potsdam.

Wie eine Königin schritt die Ramen durch die Gassen ihrer Herkunft. Wie ein Engel schwebte sie durch die Hütten der Armut, der sie entronnen war. Sie bot des Königs leere Häuser aus.

Durch Potsdam ging indes der Würgeengel.

»Ihr werdet den König erfreuen, wenn ihr ihn um seine leeren Häuser bittet«, redete die Ramen. »Ihr müßt sagen: ›Majestät, uns habt Ihr bisher noch vergessen trotz allen Eures starken Bau's und Eurer hübschen Schmuckkästchen für die Soldatenfamilien!‹ Gleich wird der Herr euch seine leeren Häuser öffnen.« Es hilft ihm, seine Lügen zu verschleiern, dachte sie dabei.

Ewersmann führte dem König die Armen ins Schloß. König Friedrich Wilhelm hörte trotz der Schmerzen aufmerksam und sehr geduldig, wenn auch tief betroffen zu. Auf der Stelle schrieb er ein paar Zettel aus: Wohnungsanweisungen.

So kam das Gesindel nach Potsdam. So drangen die Heuchler ein, die er in seiner gegenwärtigen Aufgewühltheit nicht sogleich durchschaute. So machten sich die Diebe breit, die ihm noch immer entwischten. So nisteten die Hehler sich ein, die er noch nicht fand. So hatten nun die Huren eine gute Zuflucht vor der Dicken Schneider und die Trinker ein Versteck in der nächsten Nähe des Königs. Die Trägen zogen ein, die sich bis heute den Armenwächtern entzogen; die Räudigen gesellten sich dazu, die seine Armenärzte mieden. Die Ehrlichen, Redlichen hielten sich ängstlich von den Unglückshäusern des Königs zurück.

Zu dieser Zeit wurden nun im Magdeburgischen mehrere Dörfer mit ihrem ganzen Wintervorrat in Brand gesteckt – von Soldaten! Bald verlachte aber der König auch solche Untat, solches Unheil als geringfügigen Jammer und Frevel angesichts des größeren. Potsdam hatte zum zweitenmal brennen sollen! Und die Franzosen unter den Grenadieren des Königs waren schon bereit zu Anschlag und Ausbruch. Wenige Stunden danach war auch ein Komplott von siebzig oder achtzig Dalmatiern, Polen, Illyriern, Kroaten, Ungarn, Russen, Engländern aufgedeckt.

»Für solches Pack verschwendet der König sein Geld«, sagten die Gassen und Schenken, die Amtsstuben und die Vorzimmer im Schloß.

Wer war der letzte Widersacher in dem nicht endenwollenden Kampfe? Was meinte Gott mit alledem? Das – immer – war die letzte Frage des Königs, der mehr als Brandstifter und Aufrührer der göttlichen Vergebung zu bedürfen glaubte, zerrissen von dem Zwiespalt, Herrscher und Büßer in einem zu sein. Und alle mußten spüren, was ihm durch den Sinn ging.

Der düstere Ernst von Wusterhausen lastete auf der ganzen Hauptstadt; er ergriff schon das Land.

Das Billardspielen in den Kaffeehäusern wurde verboten. Die neuen Kaffeehäuser waren dem König überhaupt viel zu sehr à la mode und darum schon ein Dorn im Auge.

Für die Pfingstzeit wurde bereits jetzt den Schützengilden und Innungen das Scheiben- und Vogelschießen untersagt.

An Glücksspielen blieben nur die erlaubt, deren Aufhebung die Königin bloßgestellt haben würde.

Er, der als Trinker geschmäht war, verfügte, daß Trunkenheit niemals ein Strafmilderungsgrund, sondern strafverschärfend sein solle.

Der Herr von Schlubhut wurde, nachdem der König am Sonntag weinend eine Predigt über die Barmherzigkeit angehört hatte, am Montag wegen der Unterschlagung von Siedlungsgeldern vor den Fenstern des Sitzungszimmers der Domänenkammer, vor den Augen seiner Kollegen, aufgeknüpft. Zum ersten Male hing ein preußischer Edelmann am Galgen wie sonst eine diebische Magd vor dem Hause ihrer Herrschaft. Eine neue Phase des Gerichtes hatte begonnen.

In den Kirchen sollte aller Schmuck der Altäre verschwinden.

Gestickte Behänge, Leuchter, Zierat der Taufbecken und Abendmahlsgeräte durften nicht mehr sein.

Aber darin fiel bereits eine Entscheidung, die schon allem hoch enthoben war, was Edikt hieß. Preußen wurde zu einem Lande der Buße.

Als es soweit gekommen war, beschloß man, den Herrn auf Reisen zu schicken. Es war ein letzter Versuch, bevor man es endgültig aussprach, daß er in unheilbaren Trübsinn verfallen werde. Alle waren sie sich ganz merkwürdig einig darin, daß Majestät sobald wie möglich außer Landes gehen müßten. Wirklich waren einmal alle einig: Der Hof. Die Gesandtschaften. Die Familie. Die Geistlichkeit. Das Generaldirektorium. Die hohen Militärs. Der Sanitäts-Rat.

So unerträglich war es mit dem Herrn geworden. Alle meinten sie dasselbe, so verschieden auch die Absichten waren, die sie im einzelnen verfolgten. Am klügsten gingen Seckendorff und Grumbkow vor. Sie gaben der Reise das Ziel. Grumbkow hatte dank des neuen Freundes keine Geldsorgen mehr; er hatte nunmehr einen freien Kopf; da konnte er alles so ruhig bedenken.

Er kannte des Königs seltsamen, unablässig sich steigernden Wunsch, einmal die Fäden der diplomatischen Gespinste zerreißen zu dürfen – wie ein Grumbkow recht pathetisch in der Modesprache sagte – oder einmal die Wälle der Pakte und Briefe beiseite schieben zu können und mit den Partnern der Verträge von Angesicht zu Angesicht zu verhandeln. Am liebsten, und das wußte nicht nur Grumbkow, wäre Herr Friedrich Wilhelm zum deutschen Kaiser und zum König von England gefahren. Aber da könnte etwas Schönes angerichtet werden, meinten Seckendorff und Grumbkow. Um den Ausweg waren sie nicht lange verlegen.

Herr August der Starke, Kurfürst von Sachsen und König von Polen, war gerade in der rechten Schwebelage, die man brauchte, um dem Preußenkönig ein Exempel zu liefern. Gerade Herr August der Starke lavierte gar so geschickt zwischen Wien und Paris; zwischen Warschau und Dresden; zwischen reichsständischen Pflichten und den autonomen Herrscherrechten; zwischen den Rücksichten auf das protestantische Bekenntnis, das er verließ, und dem Eifer für den katholischen Glauben, den er annahm. Da war es wohl gut, wenn der Grübler und Querkopf Friedrich Wilhelm einmal sah, daß andere Regenten in viel schwierigerer Lage ihr Land doch keineswegs die eigenen Gewissenskonflikte oder taktischen Fehler, was meistens das nämliche schien, ausbaden ließen ... In Dresden war Glück und war Glanz! Aber auch wenn es nicht das politisch Vorteilhafteste gewesen wäre, kam kein Hof als Reiseziel so sehr in Frage wie der Dresdener.

König Augustus brauchte man nicht lange und umständlich dafür zu gewinnen, die Einladung an den Berliner Nachbarn ergehen zu lassen. Er war immer entzückt, Gastgeber sein zu können. Denn Dresden nannten sie Die Insel Cythere, das Freudeneiland Aphroditens.

Herrn von Grumbkow beschäftigte noch die Frage, inwieweit die Göttin Aphrodite wohl fähig sein könne, die tugendhafteste Fürstenehe Europas auseinanderzubringen; denn das wäre ein nicht unbeachtlicher Nebeneffekt und der halbe Sieg der Kaiserlichen gewesen. Er schien nicht völlig unerreichbar. Durch die Kammerfrau Ramen verlautete, daß die allertugendhafteste Fürstenehe wohl überhaupt nicht mehr bestünde.

Eigentlich hatte es auch niemand mehr angenommen, daß hier noch eine wahre Ehe sei; so, wie Ihre Majestät sich über die »mögliche Verstandesverrückung« ihres Gatten äußerte ... Ein Ehebruch aber mußte den bigotten König innerlich vernichten und wehrlos machen gegen die, welche ihn zu kennen und zu leiten glaubten. Der Polenkönig und Sachsenkurfürst zu Dresden war im Bilde, was mit dem frommen Bruder Wilhelm zu geschehen hatte. Es sollte aber, war er instruiert, wirklich die Schönste am Hofe sein; denn des düsteren Königs Ragotin des öfteren bemerkter Schönheitssinn sei geradezu fanatisch.

Die Dame heiße Formida, meldete August der Starke zurück.

 

Eines Tages bemerkte der Prediger Roloff, Majestät würden zum Mönch und suchten Gott durch Selbstkasteiung zu gefallen. Da nahm der König die Dresdener Einladung an. Er wollte ganz rasch reisen. Beinahe etwas wie Freude kam über ihn: Er war vierzig Jahre alt! Noch viele Jahre konnten ihm sehr vieles wandeln! Er sollte ein fremdes Land mit dem eigenen vergleichen, sollte zum ersten Male Gast an einem anderen Hofe sein! Was nur der Freund in Dessau zu dem plötzlichen Entschlüsse sagen würde! Kaum reichte noch die Zeit zu ein paar Zeilen. Er diktierte: »Ich gehe Dienstag nach Dresden, hoffe bald wiederzukommen. Da werde ich so viel Neues wissen. Ich freue mich, in eine andere Welt zu kommen, weil ich curieux bin und nach meinem Penchant die ganze Welt durchreisete.«

Aber niemals hatte er sich die Zeit genommen; immer hatte er nur die fremden Verfassungen studiert; immer hielt ihn ›Der König von Preußen‹ im Dienst.

Übrigens wußte er noch gar nicht, daß er nicht allein fuhr.

In letzter Stunde hatte es Prinzessin Wilhelmine beim sächsischen Gesandten so zu arrangieren gewußt, daß der Kronprinz noch aufs dringlichste eingeladen wurde. Der Vater sollte ihn mit neuen Augen sehen lernen. Das war die große Hoffnung der Prinzeß. Friedrich würde sich im kultivierten Dresden so sicher bewegen! Der Vater würde ihn als jungen Prinzen unter anderen jungen Prinzen betrachten!

Es war nichts von Diplomatie und Intrige in ihren Plänen; es war lediglich Zuneigung zum Bruder, der immer nur regieren lernen sollte.

Der Vater nahm es freundlich auf. Fritz sollte in Dresden gute Figur machen. Er befahl ihm, sich schleunigst einen goldbetreßten blauen Rock und sechs Livreen für seine Dienerschaft anfertigen zu lassen.

Der Königin erschien es zu wenig. Aber im ganzen war sie sehr zufrieden über diese Wendung. Wenigstens versicherte sie es dem französischen Gesandten Graf Rothembourg.

Umständlich legte sie ihm die Maßregeln dar, die ihr gut schienen, falls der König in Geistesumnachtung fiele; falls Dresden ihn doch nicht zu kurieren vermöchte.

Der französische Gesandte erwiderte, das seien zwecklose und gefährliche Unterhaltungen; und die geringste Indiskretion könne Ihre Majestät den härtesten Maßnahmen aussetzen. Zugleich aber gab er ihr Ratschläge.

»Die klügste Haltung ist fürs nächste, dem Kronprinzen gute Gesinnung einzuflößen und ihn dahin zu bringen, ebensoviel Güte gegen jedermann zu zeigen, wie sein Vater Härte zeigt, vor allem aber mit den Freunden der kaiserlichen Partei sich äußerlich gut zu stellen, damit sie dem König nicht mit einem Schein von Recht einblasen, man wolle eine Partei des Kronprinzen gegen ihn schaffen.«

Das Wort war gefallen: Partei des Kronprinzen; das Wort, von dem die Königin nun nie mehr loskam.

Ihren geliebten Jungen lud sie am Tage vor dem Aufbruch gleich nach Tisch zum Kaffee zu sich, für den Fall, daß er die Tragweite seiner Reise doch noch nicht ganz zu überschauen vermöchte.

»Es ist überaus wichtig«, begann die Mama, »in fremdem Lande mit den dortigen Gesandten jener Mächte zusammenzutreffen, mit denen man hier nur befangen zu verhandeln vermag. Der englische Gesandte, der französische Resident, der kaiserliche Bevollmächtigte in Dresden können dir dienlicher sein als die Vertreter dieser Höfe in Berlin. Jedes deiner Worte am sächsischen Hofe wird mit ungleich größerem Gewicht nach Wien, Paris und London gemeldet werden.«

Friedrich fand Mama nun doch erstaunlich weitblickend. Und als sie ihn, den Träger aller ihrer Hoffnungen, mit heißen Küssen bedeckte, war er bewegt. Wahrhaftig, es mußte ja anders werden in Preußen! Und jetzt ergab sich vielleicht auch ein Weg. Jetzt kam er an Deutschlands glanzvollsten Hof. Und die Diplomaten warteten mit Spannung.

Halb lächelnd, halb weinend sprach die Mutter, ihn umarmend, etwas sinnlos, aber gerade darum rührend, auf ihn ein: »Tu etwas dagegen – versuche etwas, daß dir die schwarze Melancholie nicht derart aus den Augen sieht, wenn du in Dresden bist –!«

Aber Friedrichs Augen blitzten jetzt schon ganz vergnügt. Nur entsetzlich schwächlich sah er aus: ruiniert für ›Den König von Preußen‹.

Er war nicht wie ein Sohn dieser blühenden Mutter.

 

Siebenmal war man nun schon zur Redoute, vierzehnmal war große Tafel, drei maskierte Schlittenfahrten hatten stattgefunden, zweimal waren sämtliche Paläste Dresdens illuminiert, fünfmal wurde die Komödie besucht – und da fragte dieser unglückselige Preußenkönig ein bißchen erstaunt, ein wenig traurig und doch wieder auch in dieser merkwürdig hochmütigen, schnarrenden Art, wann denn nun die versprochene Lust eigentlich angehe?

Einigen Herren seines Gefolges machte das allerdings einen mächtigen Eindruck. Plötzlich schnarrten und näselten die armen Brandenburger alle und vermißten die versprochene Lust, obwohl sie doch bis dahin den ungewohnten Champagner, den Pfropfentreiber, das Wunder der Abtei von Hautes Villers, gar so bestaunten und sich in ihren knappen, blauen, propren Röcken fast kindlich brav ausnahmen neben den lockenumwallten, seidenumrauschten sächsischen Herren und den Lateinisch sprechenden Polen in ihren langen Mänteln mit sehr weiten Ärmeln, den tief herabhängenden, dünnen Schnurrbärten und kahlgeschorenen Köpfen.

Die auswärtigen Gesandten zeigten ein reges Interesse an der Blasiertheit des Königs von Preußen; dies hatte man am wenigsten erwartet.

König Augustus war beunruhigt, daß zum ersten Male all die selbsterdachten Wunderwerke seiner Feste nicht bestrickten, überwältigten, betäubten. Weil ihm die Festesfolge der vergangenen Tage nicht genügte, hatte er nun für den späten Abend noch die Begegnung seines Gastes mit der schönen Formida angesetzt. Vielleicht war noch bestimmender gewesen, daß die verwöhnte junge Dame bereits unwillig war, erst so spät in Erscheinung zu treten und darum an all den Feierlichkeiten des Hofes noch immer nicht teilnehmen zu dürfen.

Die Elbe lag im Eis. Droben von den Palästen am Ufer her blitzten die Lichter über sie hin, wenn ein Portal sich öffnete oder Fackelträger einer Sänfte entgegeneilten, ihr den Weg zu erhellen.

Man begab sich in einen Flügel des Schlosses, der bis dahin den Gästen noch nicht aufgetan worden war. Die Türen hier waren noch weiter, die karrarischen Gesteine der Stufen noch reiner, die Kandelaber noch reicher und strahlender; und das Heer der marmornen Götter, die den Weg der Fürstlichkeiten säumten, wuchs von Saal zu Saal ins Unermeßliche. Auf den Emporen der Galerien trommelten, pfiffen, trompeteten Hunderte von Janitscharen, schlugen Becken, schwangen Schellenbäume. Aus dem Gewirr der Säulen traten, Fleisch und Blut und süßer Duft geworden, die Göttinnen goldener Zeitalter, mitten im tiefen Winter der Menschen mit den Blumen arkadischer Gefilde umkränzt, Weinlaub um Brüste und Hüften. Die reichten den Irdischen ihre Schalen mit Nektar, dessen Hauch schon die Sinne entflammte und dessen Glanz die Feuer der ewigen Freude im Blüte der Sterblichen aufschlagen ließ. Mohren, schlank und gewaltig, Söhne der Sonne, völlig in Silber gekleidet, trugen hoch erhoben über ihren Häuptern goldene Urnen, darin arabische Hölzer berauschend verglimmten. Aus allen Sälen drangen die Weisen der Geigen und Hörner; die edlen Knaben, die blühenden Frauen lösten sich aus dem Zuge der Schreitenden, traten in den Reigen, vermengten sich den Sarabanden und Chaconnen, entzückten sich und alle, die es sahen, an Courante und Gigue – es war ein Tanz ganz ohnegleichen: unendliche Begeisterung der Blicke, Herzen, Sinne.

Nacht und Jubel wurden immer tiefer. Es war nur noch ein enger Kreis von Männern, die miteinander durch die Hallen schritten: die beiden Könige, ihre Söhne und wenige Große ihrer Höfe. Seltsamerweise hatte Friedrich Wilhelm das Kostüm eines Bauern aus dem hohen Norden gewählt, indes Augustus in antikischer Toga einherschritt; er fand die größte Beachtung seines brandenburgischen Gastes, nur galt sie nicht seiner klassischen Maskerade: die römische Kühnheit seiner Stirn und Nase gab dem Nordlandsbauern zu denken.

Manchmal blieb der Römer Augustus stehen, denn sein rechtes Bein schien den Giganten gar nicht mehr recht zu tragen, und ein Augenlid sank ihm beim Sprechen und Lauschen müde herab. Das Lächeln, das um seine Lippen lag, ließ ihn noch älter erscheinen, als er war.

Vielleicht war es besser, als König im Bauernkittel über diese Erde zu pilgern.

Der schöne Graf Rutowsky, sein jüngster und heiterster Bastard, suchte dem Römer und seinem Gaste aus dem Nordland den Weg durch all die tausend Wunder; gerade zu diesem festlichen Tage hatte er es mit seinen zweiundzwanzig Jahren auf die gleiche Anzahl fröhlicher Bankette gebracht wie sein hoher Herr Vater. Er lachte und schwatzte, daß es die ernsten Brandenburger fast noch mehr als all die anderen bezwang.

Langsam verlöschten darüber die Kerzen.

Aus der Höhe der Pfeiler, von Spiegeln vertausendfacht, begannen Monde, Sterne und Kometen bläulich und silbern zu schimmern; und neue, nie gehörte Klänge schwebten in den Gewölben der leuchtenden Kuppeln auf. Weit in der Ferne, am Ende der Pforten und Stufen, schwoll Gesang an, steigerte Glanz und Schimmer sich zur Sonnenhelligkeit. Kaskaden von fließendem Feuer sprühten auf, und als sie zerrannen, ward Nacht, Nacht ohne Glanz und Gesang. Aber die Schwüle aller Sommerdüfte strömte aus den Alabasterbecken der versiegten Fontänen. Von Brunnen zu Brunnen wachsend, sich immer klarer aus silbernem Nebelhauch lösend, schwang sich die Mondessichel schmal und weit und edel von Schale zu Schale. In ihrer Tiefe ruhte die Göttin des Mondes, Selene. Perlengleich schimmerten ihre Glieder. Goldstaub glänzte auf den gesenkten Lidern. Alle Blumen der Nacht umschlossen ihren Schoß in sanftem, losem Kranz. Auf den Brüsten blitzte Tau der Diamanten. Aber lichter als die Edelsteine war der Glanz ihres Leibes.

Alle um den Preußenkönig wichen leise zurück. Allein stand er vor der Sichel Selenes, dem himmlischen Ruhebett am Saume der Ewigkeit. Lächelnd hob die Göttin des Mondes die Arme. Noch immer waren ihre Lider tief gesenkt.

»Sie ist sehr schön. Das muß man gestehen«, sagte der König von Preußen und betrachtete sie ruhig, so wie er auch die Brunnenbecken und die blühenden Gewinde zwischen den Säulen sich aufmerksam ansah. Aber plötzlich fuhr er zurück, riß Grumbkow den Hut unter dem Arm hervor und drückte ihn dem jungen Sohn vors Gesicht. Er stieß den Sohn zum Eingang zurück. Er wendete sich ab. Er schritt die Stufen zum oberen Saale empor. Noch schwebten Gigue und Courante, Chaconne und Sarabande durch den Palast. Die Treppe, von Fackeln und marmornen Göttern gesäumt, drangen die Züge singender Masken herauf und umschwärmten den König von Preußen. Er ging durch sie alle hindurch. Den Bauernkittel streifte er im Gehen ab. Er kehrte zu Fuß in Graf Flemmings Palais zurück, in dem er Aufenthalt genommen hatte. Er verschloß seine Zimmer.

 

Morgens ließ der König Herrn von Grumbkow holen. Der zog die Sache ins Scherzhafte. Aber der König nahm einen recht ernsten Ton an und befahl ihm, dem König von Polen in seinem Namen zu sagen, daß er ihn sehr bitte, ihn dergleichen Vorfällen nicht mehr auszusetzen, wenn er nicht wolle, daß er Dresden auf der Stelle verlasse.

Der Polenkönig und Sachsenkurfürst lachte sehr vergnügt darüber, ging sogleich zu Friedrich Wilhelm und entschuldigte sich bei ihm. Er nahm aber, wie er es auszudrücken pflegte, wahr, daß den König von Preußen seine ernsthafte Miene nicht verließ, und so brach er denn die festgefahrene Unterhaltung ab und fing ein anderes Gespräch an. Sofort war König Friedrich Wilhelm es zufrieden. Denn er suchte Diskurse mit König Augustus. Die Dresdener hatten erwartet, daß der Preußenkönig – der Pastorenwirt von Wusterhausen, der Korporal von Potsdam, der Wildschweinhändler von Königsberg – von Herrn August dem Starken eine Rechtfertigung seines Namens verlangen würde: Kanonenstrecken, Talerbrechen, Eisenbiegen. Und allenfalls mochte er sich wohl auch nach dem erheblichen Darlehen erkundigen, das der Bruder August von ihm erhielt.

Herr Friedrich Wilhelm aber hatte nur ernste Fragen an den Galant und Athleten zu stellen: Besitzen solche Feste wie die Dresdener Bacchanale einen Wert für das Volk? Kommen viel Fremde ins Land, sie zu sehen? Zirkuliert dann wohl neues Geld? Schaffen sie dem Handwerk Arbeit? Oder werden die Untertanen dadurch belastet? Endlich aber: Wird die Via regia von Dresden nach Warschau einen Schnitt durchs Deutsche Reich bedeuten, an dem es verblutet, oder wird sie ein Weg zum Frieden der Völker im Osten des erschütterten Europa werden?

Etwas an dem Nachbarmonarchen schien Herrn Friedrich Wilhelm groß trotz all des Verwerflichen, das Augustus umgab.

Schenkte nicht die Feierlichkeit seiner Bauten den Menschen das Bewußtsein einer neuen Würde und den Triumph erreichter Ziele, während sie noch mitten in den ersten Mühen standen? Warb seine Heiterkeit nicht dauernd um Liebe, während er noch Last um Last auferlegte? Breiteten nicht seine Feste alle Leichtigkeit des Lebens über seinem Lande aus, während es noch hingegeben war an die ungewisseste Zukunft? Das Leben des geringsten Mannes und des nüchternsten Werktags war ins Gefüge seiner Feste einbezogen. Die Menschen um Augustus sahen glücklich aus. Das preßte dem König von Preußen das Herz ab. Er fand die Leichtigkeit des Lebens nicht. Ihm wies es überall nur Forderungen. Ihm gab es kein erreichtes Ziel. Die Menschen um Augustus wurden von einem lächelnden Zauberer in Wunderlande getragen. Friedrich Wilhelm aber erschreckte sein Volk, war Tyrann, Lastträger, Bettelkönig in einem. Klötze und Stämme mußte er roden, Pfützen ausfüllen, der grobe Waldrichter sein, der die Bahn brechen und zurichten mußte für etwas, das allein in seinem Denken bestand und das er niemals zu zeigen vermochte: Siehe, da ist es, Luthers Worte hatten sich ihm schmerzhaft eingeprägt.

Augustus war Verschönerer, Bezauberer, Beglücker. Über Schuld und Übel schritt und trug er hinweg; alle Welt um ihn war höchste, letzte Blüte. In Friedrich Wilhelm war die Schwere alles Wachstums und die verborgene Last der künftigen Fruchtbarkeit. Auch in dieser Stunde sank die Schwermut wieder über ihn. Ihm kam der Gedanke daran, wie er sich einmal Bußpredigten für den Polenkönig zurechtgelegt hatte, den er bis dahin immer nur den »Kleiderständer« schimpfte. Nun stand er selbst als Büßer vor dem Strahlenden, »dem kein Schaden, kein Verlust noch Klage in den Gassen war«.

Er war geneigt, Augustus einen der größten Fürsten der Erde zu nennen.

Bitter neidete er ihm den Sohn, der die Verhandlungen des Vaters so ernst und streng verfolgte, seine Rechnungen prüfte und daneben auf der Einhaltung aller ärztlichen Vorschriften für den Vater bestand. Daß einer jeden Tag mit seinem ganzen Hause betete, das machte wohl nicht Söhne nach dem Willen Gottes; und ein nur geringer Trost lag darin, daß in Dresden, wie er hörte, »des preußischen Königs und Kronprinzen überall hervorleuchtender Religionseifer und Kirchengehen einen großen Eindruck gemacht habe«. Ach, über Brandenburgs vermessenen und gequälten Glauben! Hier, hier war die Verheißung zugleich schon Erfüllung: in diesem Lande blühte selbst der Stein als Akanthusgeranke, und alle klaren Wasseradern der Erde sprangen als Fontänen auf.

Er aber war der Herr und Knecht des Sandes und der Sümpfe.

König Friedrich Wilhelm war es kaum bewußt, daß er, wenn er aufgestört und beunruhigt war, immer wieder denselben Versuch unternahm, sich ein Gleichgewicht zu erkämpfen: er schrieb an den Dessauer Freund.

Sein letztes Dresdener Schreiben geriet sogar noch besonders ausführlich.

»Ich gehe nun nach Hause, fatiguieret von alle guthe Dage und Wohlleben, aber Gott ist mein Zeuge, daß ich kein Plaisir daran gefunden. Die hiesige Magnificence ist so groß, daß ich glaube, sie habe bei Louis XIV. ohnmöglich größer sein können. Und was das liederliche Leben betrifft, so kann ich in Wahrheit sagen, daß dergleichen noch nicht gesehen, und wenn der selige Francke lebte und hier wäre, würde er es nicht ändern können.

Was der Karneval und Weltgetümmel ist, hab' alles gesehen, daß ich davon sprechen kann, aber kein gusto gefunden; ich werde wiederkommen als ich hingegangen bin, Gott hat mir bewahret, die Verführung fehlet nit, das lasse ich mündl zu besprechen. Das Zeughaus ist gut fourniert, aber das bei uns ist tausendmal besser. Was das grüne Gewölbe ist, cela éblouit, meinem Vater seine Juwelen ist nits dagegen –«

Er erzählte und bestaunte, kritisierte und moralisierte, kritzelte und kleckste. Nur das eine, Wichtigste vermochte er auch vor dem Freund nicht zu erwähnen – nämlich, daß Fritz am Weltgetümmel und insbesondere am Prinzendasein »gusto fand« und nicht mehr wiederkehrte, wie er hingegangen war. Der Vater hatte seinem Sohn bei dem Anblick Formida-Selenes den Hut vor sein Gesicht gepreßt; aber vor manch anderem hatte er ihn nicht zu bewahren vermocht.

Nun wußte Friedrich, was einem Kronprinzen zukam. Er hatte Höflichkeiten erfahren, wie sie ihm selbst die Märchen der Mutter nicht beschrieben. Er hatte unter jungen Fürsten und fröhlichen Königsbastarden gelebt. Er hatte Töchter aus königlichem Blute in weißseidenen Knabenanzügen und kurzgeschnittenen schwarzen Locken umherlaufen sehen, sich als die Mätressen ihres Vaters rühmen hören und dabei der Schwestern gedacht, die auf Wusterhausen hinter dem mütterlichen Wandschirm lasen, lernten und Stickereien für Herrn Pastor Freylinghausens Waisenhaussaal anfertigten. Er hatte erfahren, wie man jedem seiner Worte ungeheure Bedeutung beimaß. Er hatte begriffen, was es hieß – der Neffe des Königs von England und vielleicht dereinst sein Schwiegersohn zu sein. Er hatte mit Diplomaten höchst doppelsinnig philosophiert und nannte sich in seinen Dresdener Briefen an die älteste Schwester »Frédéric le pfilosophe«. Aber »pfilosophe« war er zur Zeit am wenigsten. Er war ein junger Fürst, er war ein Diplomat geworden. Und philosophisch war er nur gestimmt gewesen, wenn er sah, wie sein harter Herr Vater den Königsbastarden zu Dresden mit so viel Höflichkeit und Güte begegnete.

Er fragte sich viel, als er von Dresden kam, der Prinz. Nur fragte er nicht danach, warum der Papa bei König Augustus den Flötenspieler Quantz für ihn ausbat, »Quantz, der die Querflöte spielt, einen großen Komponisten, der durch seinen Geschmack und seine erlesene Kunst die Flöte der schönsten menschlichen Stimme ebenbürtig gemacht hat«.

Es mußte während des sächsischen Karnevals Stunden gegeben haben, in denen der Bettelkönig seinem Sohn ein fürstlicheres Dasein zuzugestehen bereit war; Stunden, in denen er ihn erfreuen wollte, wie Augustus seinen einzigen Sohn und seine Bastarde erfreute; und als Friedrichs edelstes Vergnügen sah er, ohne sich nur einen Augenblick zu bedenken, die Musik an. Außerdem fand er aber Friedrichs bisherigen Musikunterricht unzulänglich und erklärte, als er um den Meister Quantz bat, es müsse ein Ende haben mit dem abscheulichen Gepfeife daheim. Oder wollte er sich hinter solch rauher Wendung verbergen?

Der Kronprinz vermutete allein den Einfluß der Mama bei dem König von Polen; er hätte gern ihre Briefe an König Augustus gelesen, in denen sie einen Quantz von ihm erflehte. Auch in Dresden kam ihm alles Glück von Monbijou. Ohne Monbijou wäre der Gedanke an die Heimkehr unerträglich gewesen. Monbijou wenigstens war doch ein Hof.

In hundert Einzelheiten prägte Friedrichs Wandlung sich aus. Schon auf der Rückfahrt wurde es deutlich. Der Sohn war indigniert, daß der Vater sich nicht auf den Schlössern des Adels ansagte, sondern in öden Dorfkrügen Rast hielt.

Einem aber hatte Friedrich vorgebeugt. Er dachte gar nicht mehr daran, mit den derben, zweizinkigen Stahlgabeln zu essen, die in den deutschen Wirtshäusern üblich waren und eher einer Waffe ähnelten. Er hatte sich in Dresden ein Besteck mit dreizinkiger silberner Gabel besorgen lassen. Gemächlich nahm er es bei Tisch aus dem Etui. Alle in der Wirtshausstube blickten auf ihn; das ganze Gefolge gab acht, was wohl geschah. Denn alle waren sich im klaren: der Gebrauch der Silbergabel bedeutete die offene Kampfansage an die väterliche Lebensweise und allen altväterischen Brauch zu Potsdam und auf Wusterhausen.

Der König nahm dem Sohn die Gabel aus der Hand, so heftig, daß Böswillige sagen konnten: er schlug sie ihm aus der Linken.

Es schien einzureißen, daß man die Königliche Hoheit, die man zu Dresden so umworben sah, zu bedauern begann. Herr von Grumbkow, wie er sagte, suchte zu vermitteln. Er erklärte dem verstimmten Herrscher, des Kronprinzen Humeur sei doch nun einmal auf Generosität, Gemächlichkeit und Magnificence sowie auf eine glänzende Zukunft gerichtet. In einem einzigen Satze häufte er die Worte, die der König haßte: Generosität, Gemächlichkeit, Magnificence, glänzende Zukunft.

Was mußte ›Der König von Preußen‹ dazu sagen!

Nach Tisch beschloß der König, seine Reiseroute abzuändern. Der einzige Aufenthalt, der noch an einem Hofe vorgesehen war, sollte abgesagt werden. Der König schickte eine Eilpost nach Dessau, er würde Anhalt auf seiner Heimfahrt nun doch nicht berühren. Die Gründe konnte niemand erfahren. Selbst der Fürst von Anhalt-Dessau wurde mit der Erklärung abgespeist, es gehe nun wieder Hals über Kopf in die Arbeit. Die Wahrheit wollte König Friedrich Wilhelm ganz in sich verschließen: daß er gerade jetzt die Wärme des Familienlebens in diesem Fürstenhause nicht ertrug, in dem noch alles Wirklichkeit war, was sich auf Wusterhausen längst als Lüge erwies. Er wollte nicht zu den dessauischen Winterjagden, jetzt nicht. Er sah zu deutlich vor sich, wie die lachenden Riesensöhne, dicht um den herrlichsten Vater geschart, auf Schimmeln, Füchsen und Rappen all den anderen Jägern des Hofes voranstürmten. Er kannte die Strecke, die der Dessauer und seine Jungen zum Jagdschluß an den Waldsaum legten – wilde Reiter waren sie, verwegene Jäger, lustige Brüder, brave Junker, tapfere Offiziere allesamt, wie die Jahre sie auch trennen mochten: der Moritz, Wilhelm und Eugen, der Dietrich und der Maximilian Leopold, für den der König eine »personelle Liebe« hatte.

Die »Weltlust« war zu Ende. Schon auf der Heimfahrt mußte Friedrich wieder die Regierung erlernen und mit dem Vater eine überaus umständliche Rückreise machen, in Dorfgasthäusern mit der zweizinkigen Gabel essen, öde Siedlungen und kahle Fabriken besichtigen und allerorts die Niederlassungen der aus den verschiedenen Ländern gekommenen neuen Einwohner selbst in Augenschein nehmen. Indessen ließ der Papa die Magnificence seiner Zukunft sich und ihm entgleiten, indem für eine Auswertung der diplomatischen Begegnungen, die der Kronprinz in Dresden gehabt hatte, keine Zeit mehr blieb.

Nun ja, fand der Kronprinz von Preußen, als er betrachtete, was der Vater ihm wies, es sind gewiß ganz schöne Erfolge eines kleinen Fürsten ... Papa hatte einen unglückselig engen Zuschnitt gewählt. Aber er, der Thronfolger, wußte: Preußens Zukunft lag bei dem großen Hause der Mutter, entschied sich weit über dem Meer und nicht in diesen dürftigen Kolonien, die Papa so lächerlich wichtig nahm. Nur in gewisser Hinsicht waren die abscheulichen Reisen mit Papa ganz außerordentlich lehrreich und lohnend. Denn das wußte er nun fest: der Vater war im Lande verhaßt. Jeder Winkel seines Reiches litt – genau so wie der Hof – unter seiner Schwermut, seiner Bigotterie, seiner maßlosen Arbeitswut und tötenden Sparsamkeit.

Beamte, die nach Preußisch-Litauen versetzt werden sollten, weigerten sich sogar in offenem Widerstand; und selbst die Bauern wußten ihrem Wohltäter keinen Dank. Nach des Königs Weise sollte jahraus, jahrein gepflügt, gesät, geerntet und gedroschen werden, und das Lernen und Mühen nahm kein Ende.

Warum der Adel gegen den Vater rebellierte, warum die Geistlichkeit ihm opponierte, warum die Diplomatie ihn derart ablehnte, aus welchen Gründen die Wissenschaft seine ganze Existenz am liebsten kraft abstrakter Spekulationen und Schlüsse ableugnen wollte – dies alles war der jungen Königlichen Hoheit aus den Kreisen des mütterlichen Hofes bis in jede Einzelheit bekannt.

Nun aber, nach den ersten Reisen mit dem Vater, wußte Prinz Friedrich, wie es um den Papa und jene Leute stand, mit denen er tat, als wären sie anstatt des Adels die Träger seines neuen Staates. Nun erfuhr der Knabe, was es mit den Bauern, den Bürgern, den Soldaten auf sich hatte. Niemand in Preußen machte die Narrheiten des dicken, frommen Königs gern und aus freien Stücken mit. Die Stimmung war schlecht. Kein hartes, zorniges Wort, zu dem sie jemals den von Arbeit Erschöpften, von Sorgen Aufgeriebenen absichtlich, gereizt und herausgefordert hatten, war in Vergessenheit geraten. Sie kamen alle dem Sohne nun wieder zu Ohren.

»Sie sollen nach meiner Pfeife tanzen, oder der Teufel hole mich. Ich lasse hängen und braten wie der Zar und traktiere sie wie die Rebellen.«

So hatte der König gedroht.

»Wir sind doch Herr und König und können tun, was Wir wollen.« So hatte der Bettelkönig geprahlt.

Verborgen blieb, was er dem Freunde schrieb, wenn ein Tag so harter Rede sich neigte: »Gott ist bekandt, daß ich es ungern tue und wegen die Berenheuter zwey Nächte nit recht geschlafen.«

Den französischen Gesandten Graf Rothembourg überschüttete Friedrich nach seiner Heimkehr mit Höflichkeiten, ihn verlangte danach, in Sparta fortzusetzen, was er auf der Insel Cythere begann. Er versicherte dem Grafen, er wisse, wie sehr er die Partei seines britischen Oheims ergreife.

Die Kaiserlichen wollten, als sie den Kronprinzen so oft bei dem Franzosen trafen – denn gesellschaftlich verkehrte man ja so reizend und so rege miteinander –, auch ein bißchen von den Reiseplaudereien Seiner Königlichen Hoheit profitieren. Sie umwarben Friedrich sehr. Aber leider hatte Graf Rothembourg nun für Frankreich schon die besseren Informationen. Die Pariser trauten ihren Augen kaum, als sie jetzt von seiner Feder lasen: »Der König ist nach den Worten seiner eigenen Untertanen ein Fürst ohne Plan und System, der sprunghaft verfährt und von einem Extrem ins andere fällt. Er ist bei allen Ständen seines Landes gleichmäßig verhaßt. Um den Vater zu entwaffnen, müßte man dem Kronprinzen eine Partei schaffen und eine Anzahl von Offizieren auf seine Seite bringen. Ich glaube, das würde gelingen. Jedenfalls müßte man den jungen Prinzen in einer für Frankreich günstigen Gesinnung erziehen. Ich tue neuerdings so, als ob ich nie mehr mit ihm spräche. Aber ich habe mehrere sichere und zuverlässige Wege, um ihm alles zukommen zu lassen, was ich will, und um Nachrichten von ihm zu erhalten.«

So weit also waren die Dinge gediehen. Aber mehr durfte jetzt noch nicht gewagt werden. Graf Rothembourg kündigte Frankreich einen baldigen mündlichen Bericht über den preußischen Thronfolger an. Inzwischen sah er von Brief zu Brief den Umsturz immer näher und meldete in stets kürzeren Abständen, daß alles auf dem Wege dazu sei. Was sich der Abenteurer Clement einst in gefälschten Briefen ersann, war Wahrheit geworden. Er hatte König Friedrich Wilhelms späteres Geschick schon längst zuvor geahnt. Alles schien in Auflehnung. Neuerdings taten sich sogar die Bäcker gegen den König zusammen; sie verstünden es nicht, so schlechtes Brot zu backen, wie der Herr es verlange. Das Volk beklage sich; es wolle anderes Brot.

»Nein«, schlug der König ab, »sondern solch Brot wie die Musketiere essen und wie ich selber esse. Ich will den Anfang machen auf meinem Tisch.«

Er sah die dritte große Teuerung, seit er König war, über sein Land kommen.

Die königliche Tafel sollte es am ersten spüren.

Als krank ausgegeben, kam Friedrich tatsächlich um die neue Ostfahrt des Vaters herum, die sich sofort an seine Dresdener Reise anschloß. Aber er mußte nun in Potsdam wohnen und durfte die Mutter nur zweimal in der Woche besuchen. Solche vom König verfügte Trennung ließ tief blicken. Fritz bekam sein festes Pensum Ingenieurwesen und Fortifikationskunde aufgetragen. Das war lästig, keinesfalls jedoch so schlimm wie die täglichen militärischen und ökonomischen Gespräche mit dem Vater, deren Inhalt dem Kronprinzen nun einmal nach wie vor nur als quantité négligeable erschien.

Vor allem: die zwei Tage jeder Woche in Monbijou glichen alles, alles wieder aus! Denn immer wieder noch einmal flackerte am Hof der Mutter eine Festesfreude, wie er sie aus den Dresdener Tagen kannte, empor. Ja, um die Zeit der Lilien und Rosen und der Brunnenspiele im Park brach in dem Gartenschloß Sophie Dorotheens eine wahre Musikleidenschaft aus. Denn König August hatte nicht nur dem König seinen Meister Quantz, sondern, wie er in den artigsten Schreiben versicherte, auch der Königin »die geschicktesten Musiker gesandt, so den berühmten Weiß, der ein Meister auf der Laute ist und nicht seinesgleichen gehabt hat, und Bufardin, der für seinen schönen Ansatz auf der Querflöte bekannt ist«. Sie durfte diese Musiker behalten. Ihre Sonderrechte erschöpften sich nicht nur mit dem Silberservice bei der Tafel.

Friedrich blieb allmählich drei und gar vier Tage bei Mama, spielte Flöte, Violine, Cembalo, trieb Politik, indes die Erzieher aufgerieben wurden von dem Zwiespalt zwischen Monbijou und Wusterhausen. Noch immer nahm der König nicht ihr Amt von ihnen, noch immer hielt er an dem Gedanken fest, den Sohn von seinen eigenen Gouverneuren erzogen zu wissen, solange Gott diese Treuen dem Hause Brandenburg ließ. Die Treuen waren zu rar.

An jenem Abend allerdings, an dem der Herr vergrämt, beunruhigt, überanstrengt, krank und völlig beschäftigt mit trüben Eindrücken und schwierigen Plänen aus Preußisch-Litauen zurückkam, das Schloß verlassen fand und – wollte er begrüßt werden – vom Personal nach Monbijou gewiesen wurde; an jenem Abend war er zu dem starken Eingriff entschlossen, Friedrichs Erziehung so spät noch einmal auf eine neue Grundlage zu stellen. Denn da saß nun wieder die ganze Clique bei einem Konzert beisammen und politisierte und schwadronierte und hörte nicht auf Harfen, Flöten und Gamben, sondern spielte, in politischen Anzüglichkeiten schwelgend, L'hombre und A-la-bassette, obwohl die Königin dem Gatten fest versprochen hatte, dies Hasardieren würde allmählich einschlafen, damit er es ihr nicht zu verbieten brauchte. Und fraglos war der Mittelpunkt des Konzertes, der Spielrunde, der eleganten Debatten und unausgesprochenen Komplottgedanken einzig und allein sein ältester Sohn; sein Sohn, das wußte König Friedrich Wilhelm längst, als der Neffe des Königs von England! Ach, all das Konzertieren war ja nur ein Vorwand! Da saß er nun, die Flöte unter die Achsel geklemmt, am Spieltisch der Mutter, obwohl heute nicht sein Monbijoutag war, griff schnell ins Spiel ein, mischte sich lebhaft in die Konversation und gab der Unterhaltung sofort die entscheidende, die gefährliche Wendung. Am Hofe der Mutter in Charlottenburg, dachte der König, war es doch, bei aller Ablehnung des Königs, immerhin nur um Monaden, inkommensurable Größen und prästabilierte Harmonie gegangen: um die philosophische Unterbauung des Königtums und Leibniz' große Pläne für die deutschen Fürstenhäuser, herrliche Möglichkeiten der Entfaltung, die man theoretisch diskutierte. Hier aber wurden andre Möglichkeiten für das Königreich Preußen erörtert.

Friedrich schien sich sehr heimisch zu fühlen und machte nicht gerade den Eindruck, als wolle er diesen Abend noch nach Potsdam zurückkehren. Perücke und Anzug, die der Kronprinz trug, waren dem Vater völlig unbekannt. Seit der Rückkehr aus Dresden hatte Friedrich Schulden nicht mehr nur für Bücher –.

Ach, und der König durfte nicht einfach mit seinem Sohn auf sein Jagdschloß gehen, sich fern von den Gesandtschaften allein mit ihm verbergen, ein paar tüchtige Männer für den Unterricht mitnehmen und all die großen Aspekte mit einer kühnen Geste und einem möglichst klaren Kraftausdruck beiseitefegen –; im Gegenteil: man mußte den Knaben gerade in jene Verflechtung seiner stillen Schulstunden mit den bewegten Vorgängen der europäischen Zeitgeschichte tiefer und tiefer einweihen. Um ›Des Königs von Preußen‹ willen kam der Vater nicht daran vorbei.

Es gab recht betretene, aber auch sensationslüsterne Gesichter, als der König so unerwartet im Halbrund der Spieltische erschien.

Der König bemerkte, daß Gattin und Tochter sich flüchtig verständigten. Die Königin bot ihm an, in dem Gelben Zimmer neben der Orangerie ihm und einigen der Herren rasch eine Tabagie zu arrangieren. Der König dankte. Dagegen erkundigte er sich unvermittelt, aber nicht unhöflich nach der Herkunft all der unzähligen neuen Dosen – er schätzte, es seien an die zwei- bis dreihundert –, die wie eine kostbare Sammlung auf den Möbeln umherstanden und die er vor der Reise noch nicht bemerkt zu haben glaubte: Dosen aus Gold, Perlmutter und Brillanten, Lapislazuli und Carneol. Er rückte an ihnen hin und her, was den Damen ungezogen schien. Eins der Kästchen griff er heraus.

»Achthundert Taler«, meinte der König, »wozu benötigt man dies?«

Es sei eine neue Mode, erfuhr er. Die Damen nähmen jetzt auch un peu du tabaque. Und zu jedem Kleide wähle man die passende Tabatiere. Das sei jetzt üblich.

Der König schob auf einem japanischen Lacktisch alles, was an Dosen über ihn verstreut war, zusammen.

»Damit können Sie Dörfer retten, meine Damen, in jenem Lande droben im Osten, das Sie zur Königin, zu Prinzessinnen, zu königlichen Hofdamen macht. Im alten Preußen droben ist jetzt Hungern à la mode.«

Mit kurzem Gruße ging er hinaus. Die Damen umflatterten aufgescheucht die sichtlich angegriffene Königin. Denn alle waren ja in alles eingeweiht. Keiner sah, wie mühsam und beschwerlich König Friedrich Wilhelm hinausging; keiner hatte bemerkt, daß er an dem Tisch mit den Tabatieren nur verweilte, weil er eines Haltes bedurfte. Auch als er seine Reise angetreten hatte, machte sich die Königin keine Gedanken, daß sein Aufbruch unter etwas besorgniserregenden Umständen erfolgte. Den vierten Platz in seinem Wagen hatte der Oberchirurg innegehabt; und außer dem leichten Feldküchenwagen war der offenen Königskalesche zum ersten Male ein völlig neuartiges Gefährt gefolgt: eine Feldapotheke auf Rädern, die getreue, wenn auch sehr verkleinerte Nachbildung der neuen Schloßapotheke aus Silber und Glas.

Sie fragten nicht nach den Zeichen seines Aufbruchs, seiner Heimkehr: sie achteten auch heute nicht auf seinen Weggang. Sie waren bedrückt, wenn er kam, und atmeten auf, wenn er ging.

Auf dem Parkweg am Fluß mußte der König immer wieder stehen bleiben; er lehnte sich gar an eine der Laternen. Aber seiner Traurigkeit und seinem Grimm entging es keineswegs, welch maßloser Überfluß an Beleuchtung um das Schloß der Königin herrschte, weil man ihn noch auf der Landstraße glaubte.

Im verlassenen großen Schlosse drüben stieg er so spät noch zu den Prinzenstuben empor und trat in seines Hulla Schlafgemach. Für einen unendlich schmerzlichen und unendlich seligen Augenblick erschien ihm jene kleine Kammer, ganz in Rosa und Gold, als ein Hort der Wärme und Liebe in der großen Öde und Kälte seiner Schlösser, des Römerpalastes sowohl wie des Jagdkastells. Jede der wenigen Stunden, die er in den Kinderzimmern verbrachte, war ihm gegenwärtig, und aus allen Erinnerungen trat das Bürschlein August Wilhelm: immer sanft und rührend aufmerksam, zuvorkommend und heiter, aufgeweckt und liebenswürdig, stürmisch in seinen Zärtlichkeiten und plötzlich wieder fast andächtig still. Der große Bruder spielte die Flöte – und Hulla stahl sich als begeisterter Zuhörer ins Zimmer. Der grämliche und kränkliche kleine Heinrich wurde im Gartenwagen ausgefahren – und Hulla lief, ihm schöne Schmetterlinge fangend, munter schwatzend nebenher. Die dicke, kriegerische Ulrike hatte in einer Treppenkammer ein vergessenes altes Jagdhorn aufgestöbert – und Hulla blies es ihr gleich unermüdlich, wenn auch ein wenig atemlos vor, um danach noch als eifriger kleiner Maler ihre Tuschereien zu bewundern: turmhohe Häuser und Bäume, riesenhafte Enten und höchst merkwürdig aussehende Menschen in winzigen Kähnen. Oder die große Schwester Wilhelmine las in ihren Büchern – und Hulla hockte neben ihr und malte ihr unzählige kleine Bildchen zu ihrer Geschichte, und überall fügte er nach Möglichkeit den Papa in seiner blauen Uniform ein. Der Vater, der große Bruder, der kleine Heinrich, Wilhelmine, Ulrike, Sanssouci, die rauhe Friederike Luise, die gesetzte Sophie Dorothea Maria – stündlich ergoß sich ein Strom von Hullas Zärtlichkeiten über sie. Nur vor der Mama blieb er befangen. Sanssouci und er schienen sie immer zu stören. Und Sanssouci Philippine Charlotte wünschte doch gar nichts so sehr, als ein Hoffräulein der herrlich parlierenden Mama zu sein; selbst das lange, lange Warten in dem Vorzimmer der Mutter Königin war ihr ein Fest!

Der König kämpfte um ein Reich, als er die Hand auf die Türklinke der Knabenkammer legte – er kämpfte um den Traum der bergenden, wärmenden Nähe, die Wusterhausen ihm bescheren sollte in den eisigen Weiten des Königtums. Der Kleine schreckte auf, aber er lächelte sofort und freute sich sodann ganz unbändig, daß der Papa so mitten in der Nacht mit einem Male wieder da war.

»Was hast du mir mitgebracht, Papa? Hast du es hier?«

»Ich habe heute nichts mitgebracht, mein Kleiner. Dein Papa ist ein armer Mann.«

Der Kleine wollte sich ausschütten vor Lachen. Der König rückte ihn im Bett zurecht und strich ihm liebkosend die Decke glatt.

»Morgen darfst du dir aber wieder Farben kaufen.«

Das versprach er seinem Hulla fest. Noch einmal streichelte er ihn: er streichelte ihn für alle seine Kinder, die nahen und die fernen, die lebenden und die toten, und darum sehr innig. Aber nun dachte er schon wieder nur daran, was mit seinem Ältesten zu geschehen habe.

Denn geschehen mußte etwas; und bald.

Die Erzieher waren entlassen, mit hohen Ehren und Renten. Das hatte keiner erwartet.

Aber der König hatte nirgends Schuld gefunden, nicht bei sich selbst und nicht bei den Männern Kalkstein und Finckenstein. Ihm war ein liebster Plan gescheitert. Das war alles.

Am Hofe orakelte man im Zusammenhang mit den jüngsten Vorfällen in Monbijou und der Entlassung beider Gouverneure das Ungeheuerlichste über die Teufeleien, die der König sich nun aussinnen würde, den »Neffen des Königs von England« zu treffen und ihm in Wusterhausen einen wahren Schreckensherbst zu bereiten; Korporale würde er ihm wohl zur Seite geben, Korporale!

Der König war entschlossen, seinen Ältesten noch einmal in Güte, Ernst und Versöhnlichkeit für ›Den König von Preußen‹ zu gewinnen.

Ohne Frage mußte er zwar seinen Sohn aus dem Umkreis der Mutter entfernen, ohne Frage jedes seiner angebahnten diplomatischen Rendezvous verhindern. Aber er wählte einen Weg, der nur nach behutsamster Erwägung und ernstestem Nachdenken, abseits allen Zorns und aller Härte, hatte gefunden werden können.

Er mußte nun den Sohn eng an sich binden. Aber er gab ihm Gefährten: nicht mehr Männer, die schon die eigene Kindheit behüteten oder ihm selbst schon Waffenmeister und Waffenbrüder gewesen waren, sondern junge Menschen, die besten, die gebildetsten seiner Armee. Die Freundschaft sollte Friedrich sein Amt begreifen lehren; diese drei jungen Männer, die der Vater für ihn ausersah, hatten verstanden, welche Forderung von ›Dem König von Preußen‹ an Junkertum und Offizierskorps gestellt war. Die sollten nun dem künftigen König allstündlich zur Seite sein. Als derart wichtigen Bestandteil seiner Königsaufgabe betrachtete der Herr die Erziehung des kommenden Königs, und im Gegensatz zu all den anderen Höfen suchte er den Thronfolger mehr und mehr zu den Geschäften heranzuziehen.

Der König holte seinem Sohn den jungen Herrn von Rochow, den jungen Grafen Keyserlingk und den Pagen von Keith. Diese drei sollten ihm, dem Vater, helfen den Kampf zu führen gegen das, was seinem Sohn allein noch »digne d'un prince« war.

»Komödianten, maîtres de flûtes mit zwölf Pfeifen, Tanzmeister, Franzosen und Französinnen, Döschen, Etuichens, bernsteinerne und andere Bagatellen, das ist königlicher als eine Kompanie Grenadiere«, hatte der König zu seinen Helfern gesagt und sie noch schriftlich gebeten, seinem Sohne vorzustellen, »daß alle effeminierte, laszive, weiblichen Okkupations einem Manne höchst unanständig sind. Wer den Kopf zwischen den Ohren hängen läßt und schlotterig ist, der ist ein Lumpenkerl.« Die Schlafmütze solle dem Prinzen aus dem Kopf vertrieben werden, daß er mehr Vivazität bekäme. Der Kronprinz neige zu Beschäftigungen, welche faul seien. Und auf ihren Abendkonzerten in verputzten Gartensälen hätten sie etwas überaus Artiges zusammenkomponiert, das verdammte Ähnlichkeit mit einem Kriegsmarsch besitze.

Der König legte dem jungen Oberstleutnant von Rochow sogar beide Hände auf die Schultern.

»Will es auch mit Ihm, dem Keyserlingk und dem Keith bei meinem Sohne nicht gelingen – so ist es ein Unglück.«

Und alles, was er nun noch sagte, war Entwurf einer völlig neuen Instruktion für einen erwachsenen Sohn.

»Der Ehrgeiz, der moderiert ist«, hob König Friedrich Wilhelm an, »ist recht löblich, hingegen die Hoffart stinkend; und ist gegen Gottes Willen und ein Abscheu der Menschen.«

Auf ihrer Reise schien er den Sohn zu jeder Stunde beobachtet zu haben: kein Fehler, keine Schwäche, kein Versagen, keine Unart, die er nicht an ihm kannte; und niemals war ihm der Eindruck geworden, als kämpfe Friedrich gegen sich selber an, so wie er selbst sich nahezu in Qualen überwunden hatte: immer stärker überwältigt von Gott. Es war, als erkenne er aus seinem eigenen Wesen und seiner eigenen Erinnerung heraus vieles wieder, das er an dem Sohn genauso haßte, wie er es an sich selbst hassen gelernt hatte, und wäre es nur die malpropre Art der äußeren Haltung.

Völlig unbegreiflich schien, daß der König zu diesem Zeitpunkt den militärischen Rang seines Sohnes erhöhte; er wollte ihm Vertrauen beweisen und all seinen guten Willen recht sichtlich bekunden.

Die Königin, von den Umbesetzungen der Gouverneursstellen und im kronprinzlichen Gefolge benachrichtigt, erklärte, nicht einer dieser neuen Herren sei wahrhaft von Familie. Selbst Graf Keyserlingks Mutter sei nicht eigentlich von Geburt, wenn sie recht unterrichtet wäre. Auch hieß es, ein simpler Leutnant von Borcke würde noch hinzugezogen werden. Die Königin glaubte sich nie an solche Enge gewöhnen zu können. Nichts schien ihr unerträglicher als kleine Verhältnisse. Und nun stand Wusterhausen dicht bevor. Frühling und Sommer waren über den Hoffnungen von Monbijou und der Wahl der neuen Prinzengouverneure dahingegangen. Die Menschen sprachen schon vom Sommerende. Das preßte Frau Sophie Dorothea das Herz ab. Die kostbaren Vorhänge von weißgelbliniertem Atlas vor ihrem Fenster am Schreibtisch beiseite schiebend, blickte sie in ihren Garten hinaus – und sah das kahle Burgfenster ihrer Wusterhausener Kammer vor sich. Das sollte nun den langen Herbst über alle Freude ihrer schönheitsdurstigen Augen sein: grobes Mauerwerk ohne milde, bunte Verhüllung; und als einziger Ausblick aus den kalten, steinernen Nischen einige düstere Kiefern, wie sie sich im Herbststurm bogen.

 

Es war, als wittere die Bärin Grognonne die Ankunft des Herrn. Wie ein Hund lag sie im Tor an der Brücke und hielt Ausschau. Ganz gegen die Gewohnheit kam der König diesmal als der letzte. Die anderen waren alle schon im Jagdschloß eingetroffen. Der Herr war noch immer durch die schwierigsten Geschäfte in Berlin festgehalten.

Der Hof und seine Gäste richteten sich indessen auf Schloß Wusterhausen ein, lärmend und mit etwas nervöser Heiterkeit, dann mehr und mehr gereizt, jedenfalls soweit es die älteren Glieder der Familie betraf! Die Enge! Die Enge! Was half alle Bauwut des Königs! Auf Wusterhausen wurde nichts geändert; es blieb die alte Jagdburg, das alte Grenadierkastell aus seinen Knabenjahren. Der Kronprinz hatte nicht einmal ein eigenes Zimmer, einen Besucher zu empfangen.

Bis zum Eintreffen des Königs war es aber ganz erträglich. Prinzessin Wilhelmine wurde in den Kreis der jungen Männer einbezogen, man lernte einander kennen, entdeckte die gemeinsamen Interessen, und der Kronprinz schien sehr rasch imstande, sich ein Bild von den neuen Erziehern und Hofmeistern und Begleitern zu machen.

Den Kavallerieobristen von Rochow, einen schwerfälligen jungen Mann mit großen, grünen, ruhigen Augen, hatte Papa – um in seiner Sprache zu reden – ganz sicherlich wegen seiner ernsten Natur ausgewählt. Der Rochow sollte die Schar der Gouverneure führen und den ganzen Ton in ihrem Kreis bestimmen.

Schwerer war dem Prinzen schon die Wahl des jungen Grafen Keyserlingk verständlich, den Papa gelegentlich schon selbst einmal als sehr »alert« bezeichnet hatte. Meinte er damit nur den schlanken, geschmeidigen Reiter? Es war ja wohl unmöglich, daß dieser König den ausgedehnten Studienreisen und Universitätsaufenthalten des jungen Grafen irgendwelchen Wert beimaß?! Und ausgeschlossen war es doch, daß Papa gar Keyserlingks lebhafte Klugheit erkannte oder sein modernes philosophisches Denken, durch das der junge Graf dem Königssohn so nahestand, auch nur ahnte?!

Am rätselhaftesten aber stand es um den Leutnant von Borcke; und gerade der hatte Tag und Nacht ständig um Friedrich zu sein. Ja, wußte Papa denn nicht, daß niemand ein eleganteres Französisch sprach und in der neuesten Musik vorzüglicher beschlagen war; daß niemand in der Konversation beschwingter sein konnte als der schmale, junge Offizier mit den auffallend langen, tiefschwarzen Wimpern über guten, klugen, grauen Augen?! Der sollte seinen stündlichen Aufpasser abgeben? Ach, welch ein schlechter Menschenkenner war doch König Ragotin! Und nun auch noch der Page von Keith, Musikant, Poet und Maler, zigeunerhaft dunkel, hochgewachsen, ein behender Spieler in jeglichen Dingen, so leicht, so gewandt, so vergnügt! Friedrich fand, die jungen Herren hätten den Papa mit ganz außerordentlichem Geschick überlistet. Wie mußten sie im Potsdamer Leibregiment den strengen König-Obristen hinters Licht geführt haben, ihr Amt bei Hofe zu erhalten und in die engste Umgebung des künftigen Königs zu gelangen!

Geschmeichelt dachte sich der Prinz das aus. Die Güte des Vaters begriff er nicht. Er dünkte sich so menschenkundig. Mit den neuen Gouverneuren glaubte er sich in geheimem, stillschweigendem Einverständnis, von dem die jungen Männer jedoch nicht das mindeste ahnten. Der Kronprinz hatte sie bei sich zu begeisterten Gefährten einer schwärmerischen, heimlichen Verschwörung erhoben. Weil er ihnen nun so aufgeschlossen begegnete, erschien ihnen ihr neues Amt, so verschieden sie an Temperamenten und Talenten waren, unverhältnismäßig leichter, als sie es erwartet hatten. Im Hirschsaal herrschte jetzt manchmal das munterste Schwadronieren, das sich einer nur vorstellen konnte; so glänzender Laune waren der Kronprinz und die älteste Prinzeß. Auch warben sie nun geradezu bei der Mama für Friedrichs neue Herren. Daraufhin begann auch diese, vertraulich mit ihnen zu sprechen und zu erklären, das Land werde es ihr noch einmal danken, was sie an dem Kronprinzen getan habe.

Erst an dem Morgen, an dem die Bärin sich im Tor erhob, ihr Fell schüttelte und sich reckte, als der Wagen des Königs über die Brücke rollte, begann sich die Stimmung zu ändern.

Rochow, der seinen Vater früh verloren hatte, betrachtete den König mit stärkerer innerer Anteilnahme, als der bloße Respekt vor dem allerhöchsten Herrn sie verlangte. Aber dazu war er zu jung, um zu ermessen, wie verändert, von Jahr zu Jahr, König Friedrich Wilhelm zum Herbste seinen Einzug auf Schloß Wusterhausen hielt.

Er kam nicht mehr als der Blühende, Leidenschaftliche, der kühn und kraftvoll Neues plante, wirkte, ordnete und flüchtige Ruhe bei den Seinen suchte: Frau, Kindern und Jagdkumpanen.

Er kam als einer, der das längst Begonnene und zu vielen Malen schon Zerstörte immer wieder von neuem aufnahm: Das Heer. Den Staat. Die Stadt. Die Kassen. Die Felder. Die Fabriken. Die Provinzen. Die Erziehung des Einen. Die Ehe.

 

Der späte Sommer war wie ein großes Feuer im Verlodern. Der Himmel war gelb. Die Sonne stand stumpf und rot und abgegrenzt in der Leere. Die Hitze ließ die Wälder weithin brennen. Der Anblick der Gärten in ihrer Welkheit und Dürre war sehr niederdrückend. Vor Trockenheit fiel alles Obst, noch ungereift, von den Bäumen. Die Wiesen waren wie versengt. Selbst in den sonst so kühlen Gängen des alten Schlosses und seinem Saal war es dumpf. Den König vermochte nur noch ein Kirschwein zu erfrischen, den ihm der Dessauer in großen Korbflaschen schickte.

Allen ging der Tag fast allein nur damit hin, daß sie in den Fensternischen hockten und das Gewitter erwarteten. Die Adler rollten ihre Kugeln an den Ketten dicht am Gemäuer vorbei, als suchten sie Schutz. Die Bärin schien zornig, und die Nähe des Herrn beunruhigte sie, anstatt sie wie sonst zu beschwichtigen. Unbewegte Glut und fauchender Sturm wechselten rasch. Die Bären vom Zaren waren vor dem Stall der Meute auf einen Haufen zusammengekrochen und jappten wie durstende Hunde; die Zungen hingen aus den offenen Mäulern.

Dann, um den Feierabend, kam das große Gewitter herauf, seit Wochen täglich erwartet: in unruhigen Blitzen, ohne Windhauch, die Luft nur mit rötlichem Staube erfüllend. Nur einzelne Tropfen fielen. Immer wieder trat die Sonne glühend aus dem Schwefelrauch, und jeder Flecken Sandes oder Grases, der nur irgend Feuchtigkeit empfangen hatte, wurde wie von einem heißen Dunste überloht.

Binnen einer Stunde waren es viele Gewitter, Blitz um Blitz und starke Schläge. Aber Wind und Kühle und Befreiung brachten sie nicht, nur so jähe Wolkenbrüche, daß es klang, als führen viele Landwagen eine holprige Straße entlang. Solcher Regen war zu schwer, um helfen zu können. Er schlug die Früchte, die Glut und Dürre noch gelassen hatten, von den Bäumen. Aber der Ausbruch so gewaltiger Gewitter nach so unbarmherzig heißen, lastenden Tagen hatte etwas Feierliches.

Die Kammerfrau Ramen, in federleichtem, feenweißem, weitem Kleide sprengte aus einem Kupferbecken in der Kammer der Königin Wassertropfen auf die Dielen. Das Bett der Herrin bezog sie vor den schwülen Nächten alltäglich mit frischem, kühlem Leinen. Sanfter und dienstbereiter war sie denn je, behender und stiller; und das Dunkel ihrer Augen war noch tiefer.

Nun wohnten Herr und Herrin wieder Tür an Tür.

 

Nachts stand der König lange vor der Schwelle, die ihn von der Gattin und einer Vergangenheit trennte, die ihm sehr weit schien. Der Regen rauschte nun doch so schwer und voll und ebenmäßig, als vermöchte er die verbrannte Erde noch einmal fruchtbar zu machen.

Als dann der König vor die Gattin trat, den Leuchter über sie erhebend, gewährte diese Nacht ihm den letzten Irrtum seiner einstigen Liebe. Als hätte sie Monat um Monat auf diese Stunde gewartet, blickte Sophie Dorothea beseligt lächelnd zu ihm auf.

Noch sah er schwer und traurig auf sie nieder, wie einer, der die letzte Unentrinnbarkeit erkennt, in die der Mensch geworfen ist.

Immer ernster sah der König auf das Lächeln seiner Frau.

Es war zuviel gewesen zwischen Herbst und Herbst.

Er kam zu der lächelnden Frau, wie einer, der von Gott geschlagen und an der Welt gescheitert ist.

 

Es war um die tiefste Stunde dieser Nacht gewesen, als er an ihrem Bettrand saß, sehr still und sehr lange.

Wenige Tage danach, als zur Freude der Königin unter all den Jagdgästen endlich, endlich auch einige der fremden Gesandten in die Einöde von Wusterhausen hinauskamen, hielt Ihre Majestät es für angebracht, einem dieser Herren sehr eindeutige Bemerkungen darüber zu machen, daß sie eine Stunde besonderer Vertrautheit und eine ungewöhnlich günstige und lange nicht beobachtete Stimmung des Königs sofort benützt habe, um ihn auf die neuen Briefe aus England vorzubereiten und vor der Lektüre bereits zu einer den beteiligten auswärtigen Höfen genehmen Antwort zu bestimmen. Sie war beseligt, die fremden Diplomaten wieder zu sprechen. Die Aktionen durften ja keine Unterbrechung erfahren! Der Sommer von Monbijou hatte ja den Sieg noch nicht entschieden.

Hätte doch der König auf jene letzte Höflichkeit verzichtet, die fremden Gesandten wie alljährlich zur Jagdzeit nach Wusterhausen zu bitten! Was half es nun dem König, daß er um den Sonnenuntergang als der beste aller seiner Schützen heimkam, abgelenkt und sogar ein wenig vergnügter.

Was half es ihm, Wusterhausen war ja doch in Monbijou verwandelt, und er konnte nicht dagegen an. Ein zu großer Plan stand auf dem Spiel. Er vermochte die vorzeitigen Heiratsprojekte für seine jungen Kinder nicht mehr mit rascher, unbekümmerter Geste beiseite zu fegen. Die Politik Europas hatte sich dareingemischt, verwickelt, verbissen. Und das seltsamste war, daß Monbijou die glückliche Lösung der englischen Frage nicht heftiger und sehnlicher begehren konnte als der Jagdherr und Wirt von Wusterhausen.

Nein, richtig lenkte ihn auch die Jagd nicht mehr ab, trotz der hundertfünfzig Hühner den Tag und obwohl er es in diesem Winter gar auf tausend Wildschweine zu bringen gedachte. An den Abenden gab es ja in den alten Mauern der Jagdburg doch nur das eine Gespräch als Traum oder Wille, Hoffnung oder Notwendigkeit, Phantasie oder Überlegung, Intrige oder Gebet.

Dieses Jahr wurde zum Malplaquetfest nicht zu dem Tanz der Offiziere aufgespielt. Der König wußte von einem anderen Tanze zu sagen – aber der war wild und wüst und hatte nach Allianzen, Pakten und Traktaten seinen wirren Namen.

»Es ist ein englischer Kontertanz«, so zürnte der König, »wo jeder Herr jeder Dame nacheinander die Hand reicht; und nicht eher als am Schlusse weiß man, welche Paare zusammengehören.«

Von solcher Art war der Malplaquet-Tanz dieses Jahres.

Das Wild aber, das sie in diesem Herbst von Malplaquet bis Sankt Hubertus jagten, war König Ragotin selbst. Nun, nach dem Tode des alten Ilgen, war er ja ohne den Rat und Beistand des greisen Ministers, der nach seines eigenen Herrn Worten »so viele, viele Avantagen für dieses Haus zu Wege gebracht«. Außer als Manufakturist, als Landwirt und als Korporal nahm man den König nirgends mehr ernst. Aber der Agrarier, Fabrikant, Armeeinspekteur und -instrukteur und Generaldirektor war für fremde Zwecke auch weiterhin noch sehr begehrt. Und so ließ Europa den Verachteten nicht los, der mit dem selbstgewählten Namen »Bettelkönig« wohl doch nur seinen argen Geiz verhüllte. Man sprach von ihm nicht mehr anders als mit Achselzucken und Köpfeschütteln. Er war schwerkrank. Er lebte in Zerfall mit seinem Hause. Er hatte sich in einen unglückseligen Reichspatriotismus verstrickt, den er mit dem Verzicht auf allen Aufstieg seines Hauses bezahlen mußte. Er hatte sich im Osten in eine Fehlspekulation von noch nicht dagewesenem Ausmaß hineinreißen lassen. Er hatte die fremden Staaten und die eigenen Länder gegen sich. Aber seine alten Städte waren entschuldet und neue Städte wuchsen; seine Armee paradierte auf immer glanzvolleren Revuen in immer größerer Stärke. Seine Magazine, mochten sie Waffen oder Tuche und Stiefel bergen, waren immer üppiger gefüllt, und insbesondere schienen seine neuen Straßen gut zum Marschieren. Anfangs war König Ragotin wohl doch ein tüchtiger Mann gewesen. –

Es war noch ein Geheimnis um ihn; und verlockend war, es zu lösen; verlockender noch, den verwirrten und überanstrengten Mann bis zum Wahnsinn zu treiben und sich seines ängstlich geheimgehaltenen Besitzes zu bemächtigen. Peinlich und schwierig war nur, daß man noch so gar keine klare Vorstellung davon erlangen konnte, wer alles in dem Kuratorium würde mitbestimmen wollen, das dereinst – man hoffte: bald – den armen Kranken unter Kuratel zu stellen hatte.

Aber es galt, rasch zuzupacken. Sonst vergeudete er im Nu wieder alles Errungene und Erworbene an seinem wahnwitzigen Gedanken, sein ödes, krankes, unheilschwangeres Ostland – das wahrhaftig den Namen eines Bettelkönigs rechtfertigte – zum fruchtbaren Königreich zu machen, ebenbürtig den alten, schönen und gewaltigen Reichen Europas, denen zu dienen für das neue Preußen eigentlich höchste Ehre bedeuten mußte.

Es galt, ihn schleunigst festzunageln. Denn wenn der Brandenburger in ihre Allianzen nicht mit eintrat, so war den anderen ihr Konzept und ihre Tabulatur verrückt.

»Europa ist von neuem in einer Krisis«, schrieben die fremden Gazetten, »wenn es in diesem Herbste nicht zum Krieg käme, müßte man staunen.«

Und andere Journale des neutralen Auslandes meldeten: »Man sucht vergebens nach einem vernünftigen Grunde, warum fast ganz Europa voll Kriegseifer ist.«

Fünfzigtausend Franzosen standen marschbereit am Rhein. Holland hatte sich kriegsfertig gemacht. Die Spanier lagen vor Gibraltar. Die englische Flotte wollte Neapel beschießen. In den westindischen Gewässern erschien ein englisches Geschwader, welches die kaiserlichen Gallionen hinderte, mit ihrer Silberladung in See zu stechen.

Die blühendsten Industrien gingen schon über der bloßen Erwartung des großen Krieges zugrunde. Selbst im berühmten Lyon waren die Seidenarbeiter bereits ohne Arbeit. Aber die Magazine des Königs von Preußen füllten sich stetig.

Auf alles Werben, Drohen, Drängen war jedoch vom närrischen König Ragotin leider immer nur die eine Antwort zu hören: »Es ist keine Sache in der Welt, an der uns mehr gelegen wäre als an der Erhaltung der Religion. Unser Gewissen und Interesse verpflichten uns, das Werk nicht kaltsinnig und obenhin zu behandeln.«

Aus dieser einen Antwort, die er vor seinen eigenen Ministern und den fremden Gesandten erteilte, ohne einen Unterschied zwischen ihnen zu machen, brach die ganze Gewalt seiner Leiden und die ganze Schwere seiner Gedanken hervor.

Sie alle sahen in ihm den närrischen Bettelkönig der östlichen Wüsteneien. Er aber meinte in jeder Handlung das Reich, den Erdteil, Gottes ganze schmerz- und schuldbeladene Welt.

In den Stunden, in denen solche Trauer das Herz des Fruchtbaren, Lebendigen zerriß, stürzte sich König Friedrich Wilhelm wie der leidenschaftlichste aller Diplomaten auf die Politik.

Wer ahnte, daß auch die Karnevalsreise nach der Insel Cythere nur eine Pilgerfahrt des Herzens gewesen war.

Er hatte in Dresden, obwohl dort von Geschäften nicht die Rede sein sollte, und nach seiner Rückkehr unablässig an dem Plane eines auf volle zehn Jahre bemessenen Friedenspaktes zwischen den souveränen Herrschern auf fremden Thronen, die zugleich deutsche Reichsfürsten waren, gearbeitet, da man seines Ermessens, wo im Reich und in Europa es auch sein mochte, »ohne Sturmhaube nicht mehr aus dem Fenster blicken konnte«.

Aus England war dem König immer wieder nur der Bescheid geworden, man sehe nicht, wie die Könige von England und Preußen zu ihrem Zweck gelangen könnten, wenn König Friedrich Wilhelm nicht in gewisse Bedingungen willigte. Und das hieß: wenn sich der König von Preußen als Kurfürst von Brandenburg nicht so skrupellos von Reich und Kaiser trennte, wie der König von England als Kurfürst von Hannover es längst zu tun bereit war.

»Der Kurfürst von Hannover ist König von England, sein zweyn Herren, die ein Herz haben, ergo inséperable«, schrieb König Ragotin in seiner diplomatischen Sprache.

»Krieg wierdt in der weldt, dieses ist gewiß«, erging nun eine Botschaft des Preußenkönigs nach Dessau, »wo auf was vor Façon, das weiß noch keiner. Das Menschenfleisch ist itzo rar also man was seuberlich umgehen muß, indessen werde alles mit gewaldt verhindern, was das Römische Reich in Unruhe bringen kann, und für die Wohlfahrt Deutschlands mitsorgen also ich es der feder nit eher anvertrauen kan als bis acht dage vorbey ist.«

Ein Plan war entworfen, nach welchem im Norden und Osten ein Heer von Dänen, Schweden, Hannoveranern, Hessen unter englischfranzösischen Fahnen ins Feld gestellt werden sollte, um, wie im Dreißigjährigen Kriege, in Schlesien, auch Böhmen, einzufallen. Dagegen faßte man in Wien den Gedanken, den König von England in seinen hannoverischen Landen anzugreifen – und beide Parteien gedachten es mit der Musterarmee des roi sergeant zu tun. Was bedurfte dieser König solchen Heeres!

Noch ehe acht Tage vorbei waren, mußte der Herr über Brandenburg und Preußen seinem alten Kriegsmechanikus auf die Exerzierwiese vor Halle melden: »Werde nit leiden, das der keiser Hannover über hauffen schmeißet wo der keiser nach sein Kop es thun will werde alles daran setzen was ich habe Hannover zu beschützen.«

Alles trug in seinem Herzen einen großen Namen, den es nur mit Inbrunst sprach: Der Glaube. Das Reich. Der Kaiser. Das Haus. Das Bündnis.

Darüber war der Friedensstifter nach den langverschleppten Kriegen wie ein Narr geworden. Sollten die Königreiche auf Gottes Erde nicht mehr blühen und wachsen? Sollte Gottes Schöpferkraft und Ordnung nicht mehr spürbar werden? Sollte der Mensch nur noch eines vermögen: zu zerstören; und waren die Könige dieser Welt nichts mehr als Lehrmeister zum Töten?

»Ich mediator sein«, erbat sich der Brandenburger im Zerfall und Auseinanderklaffen des Reichs. Er erbat es sich von den Mächten. Er erflehte es von Gott. Und um des Reiches und des Glaubens willen war er zu Zugeständnissen England gegenüber bereit, die von den Holländern »so generös und equitabel« genannt wurden, »daß der englische Hof sich ins größte Unrecht setzen würde, wenn er sie nicht annähme. Denn die evangelische Religion könne nicht schwerer gefährdet werden, als wenn ihre beiden stärksten Säulen im Kampf miteinander lägen, wie die Römischen immer gewünscht hätten.«

Es ging um Silberflotten und herrliche Hochzeiten fürstlicher Kinder. Es war wie in den Märchen, die Königin Sophie Dorothea in Monbijou ihren Kindern erzählte. Aber König Ragotin hörte aus all der Hochzeitsmusik nur den Kriegsmarsch heraus. In der ungeheuerlichen Vergrößerung, Vertiefung und Verdichtung, die alle Dinge unter den starken, raschen Schlägen seines Herzens erfuhren, sah er seit Jahr und Tag den Bruch zwischen dem Norden und Süden Europas, den Riß im Reich, den großen Glaubenskrieg um der irdischen Macht willen sich vorbereiten – den Glaubenskrieg, in dem nun wiederum die Dynastien eines Glaubens gegeneinanderstanden: die Welfen gegen die Hohenzollern, die Bourbonen gegen Habsburg!

In dem Schacher, der im Zeichen der Zepter und Kreuze, Throne und Altäre getrieben wurde, erhob er selbst nur eine Forderung: »Ich will alle Geheimnisse ebenso erfahren, so gut wie der Allerchristlichste König und der König von Großbritannien, und will mit ihnen alles ausmachen, was geschehen soll, und zwar als Gleichberechtigter, nicht als Untergeordneter. Muß ich Bündnissen beitreten, dann will ich es nicht als Laufbursche tun.«

 

Als die Gefährten des Glaubens drüben überm Meer dem König über Sumpf und Sand allmählich zu verstehen gaben, daß man seine Armee und nicht seine Tochter begehre und daß die Ehre, »Königin in Preußen« zu werden, für eine englische Prinzessin ungleich geringer sei als umgekehrt für eine preußische Prinzessin die Aussicht auf die Würde einer Königin von England; als dieses böse Wort in Briefen und Vertragsentwürfen, zehnfach verwandelt, verschleiert und verdeutlicht, wiederkehrte, riß sich das Herz des Bettelkönigs los von dem beglänzten Bilde, indem die Reiche eines Glaubens ineinanderwuchsen durch die Liebe junger Königskinder. Er erkannte nur zu bald den alten Leitsatz wieder, das Aufkommen des brandenburgischen Hauses dürfe nicht geduldet werden.

Jeder neue Brief aus England hatte den älteren Lügen gestraft, und der König begrub nun den frommen Traum von den beiden großen Friedensreichen evangelischen Glaubens, den Reichen des Königs von England und des Königs von Preußen, die als Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zugleich treue Reichsstände unter dem katholischen Kaiser wären. So hatte sich der große Friede König Friedrich Wilhelms angekündigt. Das Reich hieß ja das »Heilige«. – England schuf und Londons Hof zerstörte den Traum, zerstörte ihn in kleinlicher, beleidigender Schmähung. Der König von Preußen schrieb schroff, daß er nun für die englische Prinzessin danke; und was seine eigene Tochter angehe, so sei das Fräulein wohl des Herrn wert.

Im welfisch-hohenzollerischen, hannöverisch-brandenburgischen, englisch-preußischen Hexenkessel war nun die Teufelei vollkommen geworden. Die Königin von Preußen war verzweifelt. England konnte ja jetzt nur eine Antwort geben: es danke seinerseits endgültig für die preußische Prinzeß. Und wenn diese Antwort eintraf –.

Die Antwort durfte, durfte, durfte nicht kommen, raste die Königin von Preußen.

Furchtbar bäumte ihre Ungeduld sich auf. Sie wollte diesen Herbst nach Wusterhausen kommen und Wusterhausens klägliche Macht ohne weitere Mühen gebrochen wissen. Sie hatte dem englischen Gesandten alles erzählt, was ihr der Gatte jemals über Politika sagte. Sie hatte ihm die Briefe gezeigt, die sie schrieb; sie wollte ihm sogar Berichte diktieren, in denen sie von dem Gatten nur noch als dem Wüterich sprach, den man besänftigen müsse. Weinend hatte sie gefragt: »Hat denn England gar kein Erbarmen mit mir?« Und als England schwieg, flehte die Königin von Preußen Frankreichs Mitleid an. Der französische Gesandte erhielt den Auftrag, »den Erfolg ihrer Maßregeln zu erkunden, damit man die Schwierigkeiten behebe, die sich ihren Wünschen noch entgegenstellten«. Ihr schien, als müsse sich die Welt zusammentun, um den Ehrgeiz ihrer großen Kinder zu befriedigen, die ihr die Art der Welfen und Stuarts in sich zu tragen schienen und darum »in der Hoffnung auf die Ehe mit dem Prinzen von Wales und seiner Schwester erzogen waren«.

Ihr Hochmut, ihr Starrsinn fragten nicht nach der Morgengabe, die der Märchenkönig überm Meer vom Bettelkönig im Sande verlangte. Sie, sie hatte Versprechungen gemacht, die der Gemahl nur zu erfüllen hatte.

»J'embouleverserai l'Europe«, schrie die Königin von Preußen, und die Welt vernahm, wie sie auf Wusterhausen raste.

Vorerst verdichteten sich alle ihre Leidenschaften nur in den einen, harmlos scheinenden Wunsch: den Sohn nur eine Viertelstunde allein sprechen zu dürfen, ohne den Gatten, ohne die Gouverneure, außerhalb der kerkerengen Mauern!

Die Kammerfrau Ramen fand den wunderbaren Ausweg, man könne auch im engsten Hause wie durch weite Fernen, allen unsichtbar geworden, durch Briefe miteinander verkehren. Des Kammerdieners Seiner Majestät war sie gewiß. Ewersmann im Zimmer des Kronprinzen – das konnte auch dem hellhörigsten, scharfsichtigsten Argwohn nicht im mindesten verdächtig sein.

Damit nahm ein Briefeschreiben wie durch weite Fernen in dem engen, schmalgiebligen Jagdschloß in der Mark Brandenburg seinen Anfang.

 

Die erste Folge davon war, daß der Kronprinz, sehr begeistert und belebt, eine private Korrespondenz zwischen Wusterhausen und London begann. Er hatte ein Mittel ausfindig gemacht, die Wünsche beider Höfe in Einklang zu bringen. Papa wollte als Genugtuung für erlittenen Schimpf die einfache Heirat, die englisch-preußische Ehe nur für die Töchter? Denn soweit war es gekommen. Gut; England mochte also fürs erste getrost mit der Vermählung zwischen dem Prinzen von Wales und Prinzessin Wilhelmine von Preußen vorliebnehmen. Der Kronprinz von Preußen gab dafür sein Ehrenwort, wenn er erst der väterlichen Gewalt entronnen sein werde, niemand anders als die Prinzessin Amalie von Britannien zu heiraten. Er gab sein Wort ohne das Wissen und gegen den Willen des Vaters. Die Politik des Bettelkönigs ging ihn nichts an. Und nach dem Gebot ›Des Königs von Preußen‹ fragte er nicht.

Wenn er nach der Jagd frisch umgekleidet war wie immer, saß der König oft stundenlang düster sinnend am Tisch, wie er es zuvor noch nie getan hatte. Um seines Grübelns, seiner Ängste willen war er ein Zauderer und Zögerer geworden, wo er nur je noch seinen Königsnamen unter ein Schriftstück setzen sollte, das von einem fremden Hofe kam oder an einen fremden Hof gehen sollte.

Aber Europa sah kein anderes Heil als die Traktate, Tripel-, Quadrupel- und Heiligen Allianzen. Der königliche Diplomat Friedrich Wilhelm scheiterte an der Verschlagenheit, nicht so an der Verworrenheit Europas.

Jedesmal, wenn der König sich aufraffte und vom Schreibtisch erhob, drängte es ihn, in die Kammer seines Sohnes zu gehen, ihn an sich zu ziehen und ihn vorzubereiten auf die schweren Geheimnisse, die ihm anvertraut waren von ›Dem König von Preußen‹.

Aber in der Kammer seines Ältesten war ja nicht Gehör und Raum für ihn. Dort parlierte ja immer einer der fremden Herren Gesandten von Dingen, die verführerischer anzuhören waren. Und auch im Zimmer seiner Frau, wollte er den Sohn nun etwa dort erreichen, fand der König keine Stätte. Dort brachten ja Kuriere dauernd Briefe, und andere Kuriere harrten der Antwortbilletts. Niemand konnte ferner sein als der Sohn und die Frau.

So hatte nun der weite Geist von Monbijou gesiegt. Dem Herzen des Königs war die bergende Mauer der abgeschiedenen Jagdburg niedergerissen. Frau und Sohn und Tochter hatten die Wärme und Nähe des einen Saals, der Kammern, der Höfe und Winkel Wusterhausens preisgegeben an die große, wirre Welt. Ihre Briefe verrieten König Ragotins Schloß an die Länder und Meere, die Mächte und Gewalten des Erdteils. Die Briefe, die sie erhielten, zerstörten die Steine und Quadern des kleinen Kastells. Die künftigen Schlachten Europas bebten schon in jedem Schritt voraus, der im Gewölbe der steilen Turmtreppe verhallte.

Auch die Bibel kündete dem Herrn in diesem Herbst nur noch von Fürstenleide; er las viele Tage lang die gleiche Königsklage: »Du zerstörst den Bund deines Knechtes und trittst seine Krone zu Boden. Du zerreißest alle seine Mauern und lassest seine Festen zerbrechen. Es berauben ihn alle, die vorübergehen; er ist seinen Nachbarn ein Spott geworden. Auch hast du die Kraft seines Schwertes weggenommen und lassest ihn nicht siegen im Streit. Du zerstörst seine Reinigkeit und wirfst seinen Stuhl zu Boden. Herr, wo ist deine vorige Gnade?«

Ewersmann sah seinen Herrn jetzt oft so regungslos sinnend über der Bibel am Eichentisch im Hirschsaal sitzen. Er flüsterte es der Kammerfrau Ramen zu.

Draußen rollten die Adler drohend ihre Kugeln über den Hof.

Die Bärin, behutsam zwischen Böschung und Schloßgraben tappend, umkreiste das Schloß, lautlos und böse und jeden zu Tode erschreckend, der ihrer nicht gewärtig war.

Die Kammerfrau lockte Grognonne mit Zucker hinweg, auf Bitten der Herrin. Da richtete die Bärin sich auf, als wollte sie sich auf die Kammerfrau werfen, und wußte doch nicht, daß die Ramen es war, die ihr den Namen gab: Die Böse.

In der Flucht der Kammerfrau war etwas von Herausforderung und Hohn, und die Bärin stand noch grollend aufgerichtet, als die Ramen schon längst die Turmtür hinter sich ins Schloß geworfen hatte. Droben, am ersten der schrägen Fenster an der Wendeltreppe, klopfte sie beharrlich an die Scheibe, die Bärin zu reizen und als wollte sie hinunterrufen: So ist nicht gewettet, schwarze Bärin, daß sie mich unter deinen Pranken hervorziehen und meine köstlichen Briefe im Busentuch finden!

Sie schwebte durch den Gang, leise und licht und händigte dem Diener Ewersmann die neuen Briefe aus und gab ihm auch die gewissen tausend Dukaten. Der Diener Ewersmann nahm sie müde. Er sah ein Entrinnen mehr. Aus Wien war indessen schon eine Hundertguldenrente unterwegs.

Die Ramen wußte nicht nur ganz genau, aus wessen Feder die Briefe stammten, die sie zu bestellen hatte. Sie wußte auch, was in den Briefen stand. Sie wußte es von Preußens Königin selbst. Denn als erste war sie bei ihr, wenn die hohe Frau erwachte – als ein Bild des Friedens, die Arme unter dem Kopf verschränkt, in faltenlosem Bett, planend, hoffend und voller Erwartung.

Die Kammerfrau war auch noch als die letzte um die hohe Frau, wenn die ihr fliederfarbenes Nachtgewand anlegte: vergrämt, verbittert, gereizt, enttäuscht, empört und bis zum Äußersten entschlossen, mit dem neuen Tage, der nach dieser Nacht anbrach, endlich, endlich doch zu siegen. Dann sollten die Nächte in dieser schmalen Kammer gezählt sein!

In einer Nacht, als nahe neben seiner Stube die Gattin schon im Traum die Seligkeit des Triumphes über ihn durchlebte, saß König Friedrich Wilhelm noch lange im Gespräch mit den Herren, die er sich neuerdings nach Wusterhausen hinaus bestellt hatte, beide wieder Bürgerliche; der eine war der Direktor der Lütticher Gewehrfabrik, der andere Potsdams neuer Baukapitän.

Der Direktor der Gewehrfabrik erhielt den Auftrag für eine große Lieferung an Flinten. Noch einmal, wie in der Vergangenheit, fügte der König sein Cito! Cito! hinzu. Aber seine Stirn war umwölkt, und die Augen blitzten nicht mehr. Ihr Blau schien in ein tiefes Schwarz verdunkelt. Den Stadtbaumeister fragte König Friedrich Wilhelm gar absonderliche Dinge.

»Baukapitän, hör Er gut zu. Wie hat der König von Preußen seine neue Stadt angelegt, wenn man sie beim Schloß an der Havel betritt?«

»Zur Rechten, Königliche Majestät, auf der alten kurfürstlichen Schloßfreiheit liegt Ihr Schloß, daneben, über dem Exerzierplatz, die Soldatenkirche; ihr zur Linken, beinahe wie ein Gegenstück des Schlosses, das Waisenhaus der tausend Soldatenkinder.«

»Gut geantwortet, Baukapitän. Ich sehe, Er kennt meinen Plan. Und: der Kirche gegenüber?«

»Königliche Majestät – nun, die Gewehrfabrik.«

Er sagte das Selbstverständliche leichthin und war von der Torheit der Fragen befremdet. Der König war mit seinem Unsinn noch nicht fertig?

»Sehr wohl, Baukapitän: der Soldatenkirche zwischen Schloß und Waisenhaus liegt die Gewehrfabrik gegenüber. Ob Er es nun versteht oder nicht, Baukapitän: die soll Er mir schmücken. Rings um den Dachfirst zieh er mir einen Fries von steinernen Trauertüchern; und wo sie sich schürzen, sei der Kadaver, sei das Skelett, der Totenkopf geopferter Rinder der Zierat. Er weiß doch von den Hekatomben der Antike? Ihm ist doch nicht fremd, daß heute die Antike à la mode ist? Nun, ich schließe mich jetzt der neuen Mode an. Dies soll mein Beitrag sein zu ihren Götterstatuen und Amoretten; vielleicht, daß meine Stadt dann endlich Anklang und Beachtung findet.«

Er schwieg, tat keine Frage mehr und ging an den Schreibtisch.

Ewersmann leuchtete den Herren die Turmstiege hinunter. Sie hatten im Dorfe ihr Quartier bekommen. Aus ihrem Flüstern konnte der Diener noch deutlich vernehmen: »Der König ist nicht mehr richtig im Kopf.« Er hatte die Herren bis an die Brücke geleitet. Sie fürchteten sich. Noch immer tappte die Bärin im Hofe umher, ruhelos, ein schwerer Schatten, dunkler noch als die Nacht.

Der König saß auch im Bett noch lange wach. Vor sich sah er den Fries, den er soeben zu meißeln befahl: Trauertücher um die Totenköpfe geopferter Tiere. Diesmal malte er ein Bild in Stein. Es war das einzige, das der Bilderdenker schuf. Das Bild der Vergänglichkeit blieb er dieser Nacht noch schuldig. Aber in den schweren Schlägen seines Herzens bereitete auch sein letztes Bild sich schon vor, und allein die unbewußte Ahnung dieses Bildes weitete seine Augen so, daß, bis der Morgen anbrach, Schlaf sie ihm nicht schließen konnte; denn aus dem Bilde der Vergänglichkeit trat ihm das Antlitz ›Des Königs von Preußen‹ entgegen, der Erhaltung, Entfaltung und Bestand von ihm forderte.

 

Allmählich waren auch die jüngeren Kinder in vieles eingeweiht, das zu ahnen, geschweige denn zu wissen, ihnen nicht gut tat. Mittags, wenn Hulla das Tischgebet sprach, blieb er manchmal in dem simplen kleinen Verse stecken. So sehr beunruhigte es den zarten Knaben, daß der Vater hinter ihm stand, die Hände über der Lehne seines Stuhles gefaltet. Sie redeten alle so schreckliche Dinge von Papa. Und etwas von schlimmen Veränderungen mußte wahr sein. Der Prinz hatte zu oft, wenn eine Tür sich öffnete oder ein Fenster aufgetan war, Fetzen elterlicher Gespräche gehört. Einmal war es, daß der Vater der Mama erklärte, die Engländer arbeiteten nur für sie, nicht für ihn; und ihr geliebtes Söhnchen sei nur ein Schelm, der sich durch die frühe, vornehme Verlobung doch nur von ihm freizumachen suche; aber er werde ihn schon im Zaum zu halten wissen. Dann wieder nannte Papa an der Tafel, vor allen Augen und Ohren – vor Mutter, Geschwistern und Gästen – Frau und Kinder eine viel zu große Last für einen König, und das lähmende Wort war gefallen, den Verlust einer Frau dürfe man nicht höher anschlagen als den eines hohlen Zahnes, der nur wehtut, wenn man ihn ausreißt; aber im nächsten Augenblick ist man heilfroh, ihn loszusein. Sofort nach diesem Mittagsmahl umarmte er heftig den Kleinen. Aber der entzog sich ihm bedrückt und verängstigt, vertrieben gerade vor dem Übermaß der Liebe, das ihn in solcher väterlichen Umarmung bedrängte; da konnte es geschehen, daß das Prinzlein seine Arme wie zur Abwehr hob. Es konnte ebenso geschehen, daß der Vater wie ohne alle Besinnung seine Augenlider fest zusammenpreßte, nichts anderes mehr denkend als: Dieser Sohn darf nicht verloren werden!

Dieser Sohn war ihm gegeben, daß er ihn lieben durfte, wie jeder Bürger seine Söhne liebt.

Fortwährend wurden die Kinder erschreckt, Mama sei krank. Dann wieder hörten sie den Hof so spöttisch von Mamas Erkrankung reden. Die Königin war jetzt in Schrecken, Zorn und Tränen; oder sie fing des Morgens an über ihren Zustand zu klagen; und um mehr Eindruck zu erzielen, spielte sie eine Ohnmacht. Tagelang setzte sie die Komödie fort. Die Ramen hatte für die Kulissen zu sorgen. Die Kinder wußten nicht mehr aus noch ein. Die beiden Großen, die allein zur Mutter durften, schwiegen so geheimnisvoll. Sie sagten gar nichts, wie es um die Mutter stünde. Ach, und: was wollten nur all die fremden Herren, die selbst das Krankenzimmer der armen Mama nicht mehr respektierten, indes die Kleinen so beharrlich und so heftig ferngehalten wurden.

Dauernd mußten Spione an die Königin Abfahrt, Aufenthalt, Entfernung, Rückkehr ihres Gatten melden. Die Kleinen hörten von dem Vater flüstern wie von etwas Unheimlichem, Drohendem. Ohne zu wissen, warum, erschraken sie, wenn er nur in den Schloßhof einfuhr.

Es kam vor, daß der Vater dann wortlos das Zimmer der Mutter durchschritt und gleich danach im Hirschsaal maßlos erregt auf den Minister Grumbkow einsprach, um darauf wieder jäh und nun für den ganzen Tag zu verstummen. Grumbkow ließ immer von neuem seine ganze Meisterschaft in der Behandlung des »Chefs« spielen; er verstand es immer ausgezeichneter, »Jupiter« zu beschwichtigen oder seinen Zorn zum Sieden zu bringen, je nach Bedarf; er »machte mit dem Dicken, was er wollte«. Gleichzeitig hatte er auch schon wieder – von Seckendorffs Gelde – »zwei seiner Kreaturen angestellt, um dem Kronprinzen Possen zu spielen«. Er war zu einem der Durchtriebensten geworden, die in den europäischen Kabinetten saßen, ohne Prinzipien, ohne Treue, ein Söldling des kaiserlichen Hofes. Er ließ sich teuer vom Kaiser bezahlen; aber er leistete auch viel für seine jährliche Pension und die außerordentlichen Geschenke, die er obendrein erhielt und die von ihm wohl fest mit einkalkuliert, ja, in ihrem politischen Gegenwert genau bestimmt waren. Es war nun so weit, daß die Geschäftsberichte des preußischen Gesandten in England von Grumbkow in Berlin verfaßt und nach Britannien geschickt, vom Londoner Residenten König Friedrich Wilhelms nur in ein anderes Kuvert gesteckt und mit der Aufschrift »Berlin« versehen wurden. Dafür war ihm aber im Notfalle bereits ein Geheimratsposten in Wien zugesichert. Sein Jahressold stieg von sechshundert auf neunhundert Taler. So billig war ein Gewissen. Grumbkow aber schrieb jetzt des öfteren Briefe lediglich zu dem Zweck, aufgefangen und gelesen zu werden.

Während Jupiter und sein großer Minister sich berieten, war Freund Seckendorff, der biedere, auf der Jagd. Abends gedachte er dann den König in der Tabagie mit naiven Aventuren zu ermuntern und im Trinkspruch sich mit Grumbkow über die Taktik und den Augenblick der nächsten Attacke zu verständigen.

Von alledem besaß der Herr nur ungenaue Kenntnis. Er wurde nur von dumpfen Ahnungen bedrückt. Er konnte es nicht nennen und bezeichnen, was da an seinem Tische und unter seinem Dache geschah. Solchen Betrug vermochte der Lautere, wenn auch sein Mißtrauen erwacht war und wuchs, sich noch nicht vorzustellen. Nicht nur die eigene Familie war am Werk; auch Grumbkows Sippschaft half, selbst die militärischen Geheimnisse des Königs von Preußen an Frankreich und England zu verraten. Aus London waren dem König Briefe aus der Feder Grumbkows zugeleitet worden. Der König hatte sie nicht einmal angesehen, aber es bedrückte ihn sehr, daß Grumbkow jetzt immer wieder von einem neuen Clement sprach, der, Briefe fälschend, zwischen den Höfen Europas hin und her reise. Dem König blieb es unfaßlich, daß dieser klügste unter seinen Dienern der treuloseste sein sollte; und daß jenes große Werk, das er für seines Königs Land vollbrachte, nur dazu diente, seinen Verrat zu maskieren.

Am Hofe und vor allem auf dem alten Jagdkastell war durch die erneuten Sparmaßnahmen des Herrn und durch das unablässige Werben fremder Staaten um die Großen und Kleinen des Königs so ziemlich jeder wieder bestechlich oder schon bestochen.

Vielleicht war nirgends ein verschlungeneres Ränkespiel im ganzen Erdenrund zu entdecken, als es hier im stillen, abgeschiedenen Jagdschloß von Kammer zu Kammer sich angesponnen hatte. Und vielleicht war nirgends in der Welt mehr Haß, mehr Feindschaft, mehr Erbitterung aufgespeichert als in dem nüchternen, strengen Hirschsaal von Wusterhausen, in dem der König an langer Tafel mit den Seinen speiste.

Ins bittere Widerspiel verkehrt, war seine Sehnsucht nun erfüllt. Immer, wenn er heimkam von der weiten, schweren Landfahrt eines Königs, sammelten sich in dem abgelegenen Schloß der Knabenjahre alle die Seinen um seinen Tisch: Frau und Kinder, Generale und Minister, Pastoren und Gesandte, Gäste von nah und fern.

Nun war es erreicht. Sie drängten sich nach Wusterhausen, das doch einmal so verachtet war als unwürdig eines Hofes. Aber es geschah, den Raub zu holen, für jeglichen seinen besonderen Raub.

Die Wünsche der Lebendigen vermögen sich zu erfüllen, völlig und getreu. Aber wenn nun die Erfüllung da ist, haben sich alle Bedingungen geändert, unter denen einst der Wunsch als lichtes Bild im Herzen blühte. Vor der Erfüllung liegt die Zerstörung. Und die eigene Sehnsucht, wenn sie ihr Ziel gefunden hat, verlangt danach, widerrufen zu werden. Noch war ein heller Schein von blankem Zinn über der jagdlich geschmückten Tafel. Noch strahlte und spiegelte das silberne Gedeck auf dem Platz der königlichen Frau.

Noch betete der kleine Sohn am Tische des Vaters. Noch schenkte der König einem Gaste von seinem eigenen Weine ein und gab ihm von seinem Brot. Denn so pflegte er Gäste auszuzeichnen.

Aber die sakramentale Weihe des Mahles war zerstört. Sie aßen und tranken sich das Gericht.

Wie in einer großen Angst blickte der König manchmal jeden seiner Tischgefährten einzeln an, ob eines einzigen Herz ihm noch gehöre. Und was schon seit Wochen nicht mehr geschehen war: er dachte in den flüchtigen Augenblicken vor dem Mahl über ein anderes Kind nach als seinen ältesten Sohn; denn seinem Hulla gehörte ja kein Gedanke. Ihn umarmte er nur, die Gedanken gerade erstickend, so jäh und so erschreckend.

War es nicht seine alte Ike, von der man ihm sagte, sie sondere sich gern von dem Hofstaat der Mutter und sogar von ihren Schwestern ab; sie trage auf den Festen von Monbijou mit Vorliebe die Weihnachtskleider von preußischem Stoffe; sie befinde sich durch ihre Rauheit in stetem Widerspruch zu allem Höfischen; sie liebe das Jagdschloß, die Hunde, die Bären, das Brunnenwasser und schenke den Grotten, Laubengängen und mit Kupferstichen beklebten Galerien von Monbijou keine Beachtung?

Hulla hatte gebetet. Der König, unvorstellbar, hatte die Hände heute ohne Andacht gefaltet und dem Tischgebet nicht zugehört. Er wartete ungeduldig darauf, sich mit seiner zweiten Tochter zu unterhalten. Er wendete sich zu ihr; man war sehr befremdet; sie saß recht entfernt, und er neigte sich über die Tafel hinweg weit zu ihr vor, beinahe seine streng gewahrten Gepflogenheiten vorzüglicher Haltung vergessend.

»Wenn du einmal heiratest, Ike, wird dir der eigene Haushalt dann Freude bereiten? Wie willst du dir deine Wirtschaft einmal einrichten?«

Erst gab es eine kleine Pause. Dann warf die zweite Prinzeß den Kopf fast ungehörig zurück. Dem Widerspruch gegen alle und alles verschworen, wurde die Tochter sehr kühn.

»Wenn ich meinen Haushalt einrichte, so halte ich mir einen guten, wohlbesetzten Tisch, der sicher besser sein soll als der Ihrige. Und habe ich Kinder, so quäle ich sie nicht, wie Sie die Ihrigen, indem Sie sie zwingen, Dinge zu essen, die ihnen widerstehen, so ärmlich und derb sind sie gekocht.«

»Was fehlt meinem Tisch?« fragte der Vater beängstigend ruhig. Aber die Erstarrten an der Tafel nahmen wahr, wie dem König alles Blut aus seinen Wangen wich.

»Was ihm fehlt?« versetzte die Verwegene, »– alles, was auf eine königliche Tafel gehört. Vielleicht ist manchmal sogar nicht einmal genug Essen darauf. Und was da ist, können wir nicht ausstehen. Vor Ekel nähren wir uns ja meist nur noch von Milch und Kaffee.«

»Könnt ihr nicht ausstehen«, äffte ihr der König nun doch nach, »könnt ihr nicht ausstehen. Das also ist deine Neigung zu dem Jagdschloß deines Vaters und den Sitten der Jagdzeit; das also: nur Protest gegen die Tafel der Damen in Monbijou. Meine Kinder haben nicht genug zu essen. Und was auf meinen Tisch kommt, widersteht den Feinen!«

Gedankenlos hielt er im Zorn den Tellerrand mit beiden Händen. Und plötzlich packte er den Teller und warf ihn – gegen Friedrich! Und er riß den nächsten Teller zu sich hin und schleuderte ihn – gegen Wilhelmine!

Die Frevlerin ging leer aus. Doch waren die wahrhaft Schuldigen getroffen. Der entsetzten und verwirrten Tischgesellschaft aber war nun klar, was Ewersmann bereits von dem Potsdamer Baukapitän und dem Direktor der Gewehrfabrik erfuhr: der König war nicht mehr richtig im Kopf.

Der Vorgang war um so peinlicher, als diesmal der Kreis der Gäste noch größer war als sonst. Es waren wieder Ärzte eingetroffen. Und Gundling, lange übergangen, gab vor, er habe von neuen Forschungen zu berichten. Nun rettete er die Situation. Denn während die anderen sich mühsam wieder zu sammeln suchten, sprach er geschwätzig auf den König ein und erzählte ihm von historischen Anekdoten, die er ganz neuerdings entdeckte.

Der König lehnte sich, indes von dem völlig verstörten Personal der nächste Gang serviert wurde, ein wenig in seinen Armstuhl zurück und neigte sich zur Seite, zu Gundling; die Augen kniff er seltsam zusammen; er hörte aufmerksam zu.

Nach Tisch, die Unruhe noch zu vermehren, winkte er Friedrich zu sich heran, den – genau wie die Schwester – der über die Tafel geschmetterte Teller nicht einmal gestreift hatte. Etwas schnarrend, etwas näselnd sprach er mit dem Sohn wie mit einem fremden jungen Herrn. »Professor von Gundling hat mir da eben etwas äußerst Fesselndes erzählt. Sie lieben ja solche antikische Historien. Hören Sie? In Karthago ward ein Mann mehrerer Verbrechen wegen zum Tode verurteilt. Als er zum Richtplatz geführt wurde, verlangte er, seine Mutter zu sehen. Sie kam. Er näherte sich ihr unter dem Vorwande, leise mit ihr reden zu müssen; und biß ihr ein Stück vom Ohr ab und sagte: ›So behandle ich dich, damit du allen Müttern zum Beispiel dienst, die ihre Kinder nicht in der Übung der Tugend erziehen.‹ Mein Sohn –, so können Sie auch tun.«

 

Morgens, als die Ramen die schweren Fichtenholzläden an den Fenstern in der Kammer Ihrer Majestät zurückschlug, nahm sie mit Befremden wahr, daß ihre Herrin entgegen aller Gewohnheit aufrecht im Bett saß, als wäre sie schon lange wach. Das Haar hing ihr ungeordnet um Schultern und Stirn, und regungslos sah Frau Sophie Dorothea vor sich hin. Sie achtete nicht auf das silberne Brett, das ihr die Kammerfrau entgegenhielt, dicht bestellt mit Puderdosen, Schokoladenkännchen, Rosenwasserbecken, Flakons und Etuis aus Monbijou; aber in dem einbrechenden Lichte des späten Morgens warf sie einen fremden, flüchtigen Blick auf das längst gewohnte Bild über ihrem Kamin, das der einzige fürstliche Schmuck ihrer Kammer war; es stellte die »Toilette der Venus« dar.

Unwirsch schlug sie ihre Bettdecke zurück. Die Ramen setzte das funkelnde Tablett ab, eilte nach dem Morgenrock, den seidenen Schuhen; aber die Königin, im weiten, bauschigen Nachthemd, schritt barfuß auf der kalten, harten Diele durch das Zimmer, zu dem Spiegel über dem Frisiertisch. Ganz nahe lehnte sie sich an das Spiegelglas, die Hände schwer auf ihren Toilettentisch aufgestützt.

Die Ramen, über all das Neue verzweifelt, hielt ihr die Perücke hoch entgegen. Die Königin, verändert und gewandelt, ließ sie stehen. Sie ergriff nun eine Strähne ihres vollen Haares und hielt sie dicht an den Spiegel.

Die entsetzte Kammerfrau sah den grauen Schimmer in dem vollen Braun. Sie stürzte nach Bürsten und Kämmen. Die Königin wehrte der Kammerfrau schweigend ab. Unverwandt blickte sie in den Spiegel, suchte jede Falte im zu voll gewordenen Gesicht, preßte die blühendroten, stolzgeschwungenen Lippen hart aufeinander und zog in finsterem Grübeln die Brauen zu tiefer Furche zusammen; dann trat sie vom Spiegel zurück, ihr ganzes Bild mit dem Blick zu umfangen, und tastete mit bleichen, kalten Händen nach den schweren Brüsten und Hüften. – Aber endlich: sie sprach.

»Ich werde alt.«

Und im gleichen Augenblick schluchzte sie fassungslos auf, zornig und voll Ungestümes.

»Und ich bin schwanger.«

Die Kammerfrau Ramen verneigte sich voller Demut und schloß im Senken ihres Hauptes sanft die Augen.

Hätte der König seine Königin zu dieser Morgenstunde gesehen, wie sie die grauen Strähnen ihrer braunen Locken in das herbstliche Licht hielt und den zu schweren, formlos gewordenen Leib betastete und jede Falte des Gesichtes in dem Spiegelbild erspürte; hätte der König dies erblickt, wie seine Königin ihr Verblühen und ihre unversiegliche Fruchtbarkeit in einem begriff, er würde ihre bleichen, kalten Hände mit Küssen bedeckt und um des einen Augenblicks und Anblicks willen die Zerrüttung langer Jahre jäh vergessen haben.

Er hätte auch den Zorn in ihrem Schluchzen nicht vernommen. Noch einmal wäre die einstige Andacht in ihm übermächtig geworden.

 

Nun war der große Herbst gekommen, mit unruhevoller Sonne, Sturm und Blätterfall, früher Dämmerung, abendlichem Regen und täglich wachsender Weite. Dauernd fielen Kastanien im Nebel in sanftem und gedämpftem Aufschlag ihrer blanken, braunen Holzfrucht, die ihr grünes Gehäuse zersprengte, wenn sie die Erde berührte. Letzte Vögel zwitscherten in all der Lichtlosigkeit wie fern und vergangen.

Die Blumen wurden seltsam entfärbt, ja fast weiß. Zum ersten Male lag Geruch von Laub und Regen über dem Dorf und dem Jagdschloß. Die dunklen Bäume, kaum daß nun der Sturm verrauscht war, standen völlig unbewegt. Der Garten, die Brücke, der Hof bedeckten sich mit nassem Laub. An den Büschen, an den jungen Ahornschößlingen wehten lose, letzte, gelbe große Blätter. Vor dem Dunkel des Kiefernsaumes verblaßte eine Birke in hellster, goldener Tönung. Vereinzelte Buchen standen noch vollbelaubt und kupferrot; am längsten blieben die rostroten Eichen, die ihr Laub als Pergament behalten sollten, als müßte der Nekrolog des sterbenden Jahres auf ihre Blätter geschrieben sein. Wildenten schnäbelten und tauchten im klaren, tiefblauen, vom Herbstwind bewegten Teich. In einer Lichtung der fahlen, gelben Kastanien war der Himmel jetzt manchmal bleigrau, als käme ein letztes Gewitter oder schon der erste Schnee. Die Dunkelheit fiel früher aufs Land, und ihr entgegen stieg unablässig wachsend der Nebel. Die Laternen ums alte Gemäuer warfen nur sehr schwachen Schein. Und ergreifender als je im Glanz des hohen, vollen Jahres waren in dem Meer von Dunkelheit und Versunkenheit die nahen Abendglocken. Aber die im Schlosse packte Entsetzen, daß die Zeit der frühen Dämmerung nun da war, die fürchterlichen Abende zu bringen, die langen, langen Abende in quälender Enge, die ständige Begegnung erbitterter Feinde; die stetig drohende Nähe des verhaßten Schloßherrn!

Der Kronprinz wollte solch stündlicher Begegnung mit dem Vater aus dem Wege gehen. Seine Klagen vor den jungen Gouverneuren wurden, wenn ein Tag sich neigte, immer bitterer, immer müder, immer niedergeschlagener: »Ich bin heute um fünf Uhr früh aufgestanden, und jetzt ist es Mitternacht. Ich bin alles dessen, was ich sah, so satt, daß ich es aus meinem Gedächtnis auslöschen möchte, als wäre es nie geschehen. Die täglichen verfluchten Auftritte sind mir so über, daß ich lieber betteln wollte, als noch länger in dieser Weise zu leben.«

Der Sohn des Bettelkönigs wollte betteln gehen. – Die drei herrlichen Reiche, die er sich schuf: die Welt der Bücher, des Luxus, der Diplomatie vermochten ihn nicht mehr zu halten. Er wollte reisen, um Länder kennenzulernen und seinen Wissensdurst zu stillen, mehr noch, um Verbindungen anzuknüpfen, am allermeisten, um von Hause fortzukommen und in der Fremde wieder als Kronprinz behandelt zu werden wie damals in Dresden. Aber das wagte er nicht mehr: selbst den Vater um seine Erlaubnis zu bitten.

Der Leutnant von Borcke brachte Friedrichs Wunsch bei einer Unterhaltung mit dem König an. Der König schlug die Bitte ab. Und statt eine genauere Begründung zu geben, rief er sich den Sohn heran. Was er zu ihm sagte, klang nicht ungefährlich und wiederum auch nicht völlig unväterlich.

»Ich weiß alles, kleiner Halunke, was du tust, um dich meiner Zuchtrute zu entziehen. Aber glaube nur nicht, es werde dir glücken. Ich werde dich an der Leine halten und dich noch eine Weile schurigeln.«

Dem Prinzen drohte der Herzschlag zu stocken. Der Vater wußte alles, was er tat –?! Es konnte sich nur auf die diplomatischen Aktionen beziehen –.

Aber der Vater meinte Friedrichs neue Schulden, von denen er gestern erfuhr, Schulden, nicht mehr nur für Bücher und Noten gemacht. Ein Bankier hatte gestern durch den Präsidenten Creutz eine Forderung von siebentausend Talern präsentiert, die ihm angesichts der politischen Lage vom König von Preußen doch noch besser gesichert schienen als vom König von England.

Auch Friedrichs junge Gouverneure erblaßten. Doch der König geriet nicht in Wut. Er sagte ganz ruhig: »Ich bezahle es mit Pläsier. Denn an Gold fehlt es mir nicht. Wenn Ihr Eure Konduite und Aufführung nur ändert und ein honettes Herz bekommt.«

Friedrich sollte ihm die Höhe aller seiner Schulden sagen.

 

Auch die vertrauten jungen Gouverneure erfuhren nicht, ob der Kronprinz nun die richtige Summe nannte. Die Hoheit ging ein wenig leichtfertig über die Sache hinweg. Papa dürfte wohl leider nicht bald wieder so splendid sein – wie andere Könige es sicher immer wären, schloß der Prinz dann die Gespräche seufzend ab. Die jungen Gouverneure packte Verzweiflung. Preisgeben konnten sie den Prinzen nicht; dann wäre alles verloren gewesen. Nur der Page von Keith bewunderte den kühnen Prinzen ganz ehrlich. Etwas war nicht in Ordnung mit dem jungen Keith. Selbst Wilhelmine, den Bruder vergötternd als die große Hoffnung auf Befreiung, hegte diese Meinung von dem Pagen.

Sie sagte es dem Bruder auch ins Gesicht. Der entschuldigte sich damit, daß der Page ihm als Spion diene und ihm große Hilfe leiste.

Die anderen drei, der von Rochow, der von Keyserlingk und der von Borcke, gestanden einander den Wunsch, sie möchten ihr Amt niederlegen, genau so wie die alten Erzieher gegangen wären. Aber dann lieferten sie den Kronprinzen dem Unglück aus! Das vermöchte König Friedrich Wilhelm nicht zu ertragen, daß die von ihm erwählten ehrlichen, klugen, jungen Männer sich nach so kurzer Zeit von seinem Sohne wendeten!

Sie blieben. Die Not von Wusterhausen machte sie zu Lügnern. Sie litten. Ein Wall von Lügen war vor ihnen zwischen der Kammer des Prinzen und der Stube des Königs aufgetürmt.

Der Prinz besah sich einige neue Juwelen, die er heimlich zu tragen gedachte. Nebenan saß der Vater am Fenstertisch und schrieb die Anweisung über siebentausend Taler für den Prinzen an die Generalrechenkammer aus. Auf dem nächsten Blatt erließ er ein Edikt wider das Geldleihen an Minderjährige, mit dem besonderen Hinweis, daß, wer einem Mitglied der königlichen Familie Geld leihe, zu Zwangsarbeit und nach Befinden auch mit dem Tode bestraft werden solle.

So hart und drohend wurde das Gesetz. Und von Wusterhausen ging es aus, wo Sohn und Vater einander stündlich begegneten.

Als Letztes an diesem Abend verfügte der König die Versetzung des Pagen Keith zu dem Regiment in Wesel. Er mußte sich wohl unablässig mit dem Sohn befassen – oder er hatte Spione im eigenen Hause wie der Kronprinz.

Der von Rochow hatte tiefe Schatten um die Augen. Er war nicht Spion, aber Wächter und Warner des gegenwärtigen und des künftigen Königs von Preußen. Er sah sie beide immer schwerer leiden.

Der Stolz des Königs litt am meisten unter dem Zwang, seinem Zorn nur in halben Andeutungen eine schwache Befreiung schaffen zu dürfen. Er litt, daß er sich durch Versprechen binden lassen mußte. Eben erfuhr er von den Schulden des Sohnes, und gleich danach hatte ihm Seckendorff die Kenntnis von dem heimlichen Schreiben an die Königin von England vermittelt und vom König ein Schweigegelübde verlangt. Der König war fest einbezogen in das Gespinst der Eide und Verrate.

 

Auf Wusterhausen begann man in eigentümlicher Weise und sonderbarer Häufigkeit zu erkranken. Doch fragte man nicht, wie es kam, daß jetzt immer die ersten Ärzte zur Hand waren. Wahrscheinlich machte der König wieder einmal furchtbar viel her mit seinem Sanitäts-Rat für die Volksgesundheit. Er mußte ja seine Untertanen auch noch im Krankenbette kontrollieren. Aber auch die Herren des Sanitäts-Rates versagten vor den Wusterhausener Rätseln. War es der Herbst? Kam es vom kalten Gemäuer? War das Übermaß an Aufregung der Grund? Unternahm man den Versuch, sich in den Schutz der Krankenstube zu flüchten?

Wer wollte es gerade bei der Schwächsten von allen, der überklugen, überzarten, ewig lernenden und ewig leidenden ältesten Prinzessin ermessen?! Die Spannung zwischen Hoffnung und Verzweiflung war zu groß für sie geworden. Solch junges Menschenkind ertrug es nicht, von früher Kindheit an täglich die Verheißung der strahlendsten Krone Europas zu vernehmen, um – wenn nun die Zeit der bräutlichen Krönung sich nahte – vor versammelter Tischgesellschaft Teller an den Kopf geworfen zu bekommen! Die Familienauftritte wechselten zwischen Lächerlichkeit und Graus. Unter dem Lächerlichen litt Prinzessin Wilhelmine mehr.

Erst gestern war es gewesen. Der König kam von der Jagd heim und überraschte sie und Fritz um ein Haar bei der Königin, zu der sie – Höhepunkt des Mißtrauens und der Tyrannei! – neuerdings nun nicht mehr gehen sollten. Die beiden Ältesten durften mit Vater und Mutter nur noch bei der Tafel zusammentreffen! Die Mutter sollte allein nicht mehr gesprochen werden! Mit Friedrich konnte niemand mehr reden, wenn er es nicht mit dem König verderben wollte!

Und nun saß man bei ihr bei Kaffee und Tee, und der König – ein neuer, teuflischer Einfall! – kehrte wider Erwarten zeitig zurück. Der Kronprinz versteckte sich in der kleinen Klosettkammer der Königin, die der König ihr, die Unbequemlichkeiten des Jagdschlosses zu erleichtern, neben ihrem Schlafzimmer hatte mauern, zimmern und sogar austapezieren lassen. Die Prinzessin kroch unter das sehr niedrige Bett der Königin. Sohn und Tochter mußten in ihren Verstecken verharren, solange der König auf dem Lehnstuhl bei der Gattin saß; er wollte ganz allein mit ihr sprechen. Aber es kam nur zu flüchtigen Redensarten. Vor plötzlicher Erschöpfung schlief er tief und lange ein.

Der Kronprinz hockte auf dem Klosettsitz und biß sich die Nägel vor Wut. Die Prinzessin, im zerquetschten Reifrock unterm Bett, wurde von empörtem Lachen und Weinen geschüttelt. Die Königin, die Augenbrauen hochgezogen und die Hände stumm ringend, saß dem schlafenden Ungeheuer, vor Ungeduld zerspringend, gegenüber. Wie konnte da einer von ihnen Zeit zu der Frage gewinnen, warum wohl der König verfrüht die Jagd abbrach und nun, dick und bleich und erschöpft, schnarchend in dem Lehnstuhl hing?! Ah, er wog jetzt zwei und einen halben Zentner. Die Kreideziffern auf der schwarzen Tafel in der Gewehrkammer verzeichneten alljährlich, wenn er wieder auf der Jagdburg eintraf, sein Gewicht und kriegerisches Maß. Die Königin bedachte es mit Hohn und Haß, als der Koloß sich mühselig erhob.

Nachher meinte die Tochter müde zur Mutter: »Nun erleben wir einen der romans comiques, Mama, die wir als Bücher so lieben.«

Dieser Ausspruch gab der Mutter Anlaß zu der Bemerkung: »Wollen Sie dauernd seinen Demütigungen ausgesetzt sein? Wissen Sie auch, wie er es nennt, wenn Sie durch Ihre geistreichen Gespräche und mit einem Aperçu wie diesem die entsetzlichen Situationen unserer Tafelrunde zu retten suchen und wahrhaft die Gewandtheit und Gelassenheit einer künftigen Prinzeß von Wales beweisen –? Turlupinaden nennt es der König; Turlupinaden!! Und das vor einer buntscheckigen, törichten und höchst übel erlesenen Gesellschaft, in der nicht einmal eine zusammenhängende Unterhaltung möglich ist!«

Die Prinzessin trat ans Fenster, um die Adler zu verscheuchen, die gerade in der Höhe dieses Erdgeschosses ihre Kugeln um das Schloß zu schleifen vermochten, als sollten sie wie ewige Lauscher nahe sein. Höher ließ die Kette sie nicht fliegen. Aber, Gott sei Dank, der Abend kam, und die Adler suchten ihre Stangen.

Hier, wo die Qualen sich häuften, war selbst das schon Erleichterung. In Berlin war das Fegefeuer, in Wusterhausen aber die Hölle zu erdulden. Der Turm schon war ein alter Diebswinkel, von einer Bande Räuber erbaut! Das schwarze, faulige Wasser des Schloßgrabens hinter dem Erdwall, der an eine Reihe von Gräbern gemahnte, war der Styx! Und das Grausige, Quälende, Närrische dieses elenden Erdenwinkels vollkommen zu machen, hörte sie droben in der Prinzessinnenkammer die dicke Ulrike wild und martialisch eine Trommel schlagen, mit der die Brüder nichts zu beginnen vermochten.

An diesem Tage hatte der Vater den König von England einen kleinen Geist von niedrigem Schlage genannt. Und er hatte noch Furchtbareres gesagt: »Alles wohl bedacht, ist es mir einerlei, ob man meine Tochter Königin nennt oder nicht. Dieser Titel könnte zum Ruhm und zur Macht meines Hauses nichts hinzufügen.«

Die schwangere Königin raste. Das war lächerlich! Das war verwerflich! Wie war das Haus des Gatten mit dem ihren überhaupt noch zu vergleichen! Und solche Narrheit, solcher Starrsinn, solche Vermessenheit und solcher Dünkel zerstörte ihr Lebenswerk! Der Gatte drohte die Tochter zwangsweise anderweitig zu verheiraten, wenn er von England nicht Genugtuung erhielt – Preußen Genugtuung Von England!

Die Königin wurde nicht hin und her gerissen zwischen Gatten und Bruder. Es drängte sie allein zum großen König überm Meer. Sie kannte nur den König von England.

Am folgenden Morgen befand die Prinzessin sich derart ermattet und elend, daß sie sich bei der Königin für diesen Tag entschuldigen ließ. Die Mutter, die sich auf Krankheitskomödien verstand, hielt es anfangs für Verstellung und war ganz außerordentlich aufgebracht. Wechselte Wilhelmine die Partei? War sie durch Versprechung der anderen Seite bestochen? Auf Wusterhausen konnte nichts mehr geschehen, was nicht Ranküne, Politik, Partei war.

Die Königin ließ ihrer Tochter sofort zurücksagen, tot oder lebendig müsse sie zu ihr kommen. Die Prinzessin meldete zurück, sie habe einen Ausschlag, der es untunlich mache. Aber die Königin wiederholte ihren Befehl. Man brachte die Prinzeß zu vieren in das Zimmer ihrer Mutter, wo sie von einer Ohnmachtsanwandlung in die andere fiel. Dennoch schleppte man sie auch noch zum König; ihr kläglicher Zustand schien als politisches Mittel nicht einmal ungeeignet. Auf Wusterhausen hatte man auch keinen Ausschlag mehr, für den nicht der Schloßherr verantwortlich gemacht worden wäre.

»Du siehst sehr schlimm aus«, sagte der König mit sehr bedenklichem Ernst zur Tochter, »aber ich werde dich heilen.«

Und er ließ ihr einen großen Becher alten, sehr starken Rheinweines bringen, den sie, wie die Umstehenden erzählten, mit Gewalt trinken mußte.

Selbstverständlich trat auf diesen Wein hin der Ausschlag in verhängnisvoller Weise zurück, und die Prinzessin mußte mit dem Tode ringen. Kaum hatte sie den Wein getrunken, so fing sie auch schon an zu phantasieren. Die Leidende wurde ins Zimmer der Mutter gebettet, obwohl diese doch eigentlich Kranke durchaus nicht leiden konnte. Die Prinzeß beschwor die Königin, sich hinwegbegeben zu dürfen. Aber nur unter der Bedingung, daß sie abends – da Engländer und Franzosen erwartet wurden – wieder auszugehen verspräche, wurde es ihr endlich erlaubt. Die Prinzessin legte sich sogleich, mit ihrem Kopfputz, nieder.

»Schwerstes Fieber«, hieß es. »Lebensgefahr –«, flüsterte man sich vor dem König zu, damit es der recht deutlich höre, »– die ständigen Erregungen –.« Der König überhörte es. Aber den Kopf hielt er, am Schreibtisch sitzend, merkwürdig tief und lange gesenkt.

Dann waren es verspätete Kinderpocken. Der König lachte kurz auf. Niemand spürte, wie befreit er sich fühlte. Im Gegenteil: ein neuer Beweis seiner Hartherzigkeit war geliefert. Der König ließ Arrest für die Kranke verfügen. Dem Hof ging der Gesprächsstoff nicht aus.

Es waren aber noch kleinere Kinder im Hause, die die Blattern noch nicht durchgemacht hatten, und darum hatte der Herr die Isolierung der ältesten Tochter befohlen.

Keine Gelegenheit wurde ausgelassen, sich zu quälen, zu beleidigen, zu bedrohen, anzuklagen und zu verdächtigen.

Aber der König war in der Abwehr. Er, der die Teller warf.

 

Die leidende Prinzessin hatte nur ihre sanfte Hofmeisterin, das Fräulein von Sonsfeld, zur Verfügung. Aber die war eine »Kreatur des Königs«.

Der Arzt stand in der Gunst des Herrn. Das genügte, um ihn abzuweisen. Außerdem hatte ihn die Prinzessin wiederholt im Gespräch mit Seckendorff gesehen. Also war er von den Kaiserlichen bestochen; die Bestechung der Ärzte lohnte sich wohl, schließlich schienen sie jetzt in der Umgebung des Königs eine wichtige Rolle zu spielen.

Friedrich kam heimlich zu Besuch, sobald er sich; nur vom König und den Gouverneuren entfernen durfte. Er hatte die Kinderpocken schon im rechten Alter gehabt und brauchte nicht zu befürchten, sich durch Ansteckung zu verraten. Sie waren ungestörter beisammen denn je! Sie konnten wieder ihre Turlupinaden treiben! Sie schwelgten in Literatur und in Bosheit! Sie waren beschwingt und beseligt – bis ihr frühes Leid die Stunden in der Bodenkammer mehr und mehr erfüllte. Es war nicht mehr so, daß Friedrich kam und alle Enge zerriß und alle Weite erschloß. Die Geschwister waren voller Angst und Argwohn.

Manchmal redeten sie auch sehr hart. Der Vater hatte einen Jagdunfall gehabt. Er war mit den Pikeuren in den Sumpf geraten.

»Es fehlte nur ein Daumenbreit, und der König wäre mit der ganzen Bagage ertrunken«, sagte Friedrich zur Schwester.

Manchmal wollte es mit der geschwisterlichen Konversation auch gar nicht gelingen. Dann entschuldigte sich der Bruder, daß er die Kranke nicht aufheitere: »Ich bedürfte selbst der Aufheiterung, um meine Melancholie zu zerstreuen.«

Wußten sie ganz fest, daß der König und die Kaiserlichen nicht im Schlosse waren, so holten sie heimlich Flöte und Laute hervor. Friedrich stützte die Schwester mit Kissen; er selber hockte auf dem Bettrand.

Dann waren ihnen ihre Instrumente verzauberte Seelen: die Laute »Der Principe«, die Flöte »Die Principessa«. Die sangen. Die hielten sich zart und nahe umschlungen. Die entschwebten. Die waren leicht und unbeschwert.

Aber der Knabe und das Mädchen, die da die Flöte und die Laute spielten, hatten die große Trauer zu früher Enttäuschung in den überklaren, blaugrauen Augen.

Das war wohl eine wunderliche Musik: so süß und so heiter; und die Spieler waren so ernst.

Und daß sie Königskinder waren, die ängstlichen Musikanten in der Dachkammer der alten Diebsburg – Königskinder!

 

Die Pläne, die sie droben geschmiedet hatten, waren nicht gut gewesen. Außerdem hatte ihn die Prinzessin wiederholt im Gespräch stärkt, der besser nie geschlossen worden wäre.

Es war schlimmer denn je mit dem Sohn und dem Vater.

Das Briefschreiben auf Schloß Wusterhausen hatte seine letzte Erfüllung gefunden. Vater und Sohn schrieben sich unter einem Dach von Zimmer zu Zimmer. Wochen vergingen darüber, das Jahr umdunkelte sich. Aber die grausige Jagdzeit wollte nicht enden. Der wachsende Haß blieb in so engem Winkel aufgespeichert, und die Enge trieb ihn nur noch, rascher empor. Die in dem Jagdschloß vergaßen jetzt manchmal, daß draußen noch eine Welt war.

Der einundvierzigjährige Mann und der siebzehnjährige Jüngling saßen, durch wenige Stufen, Wände und Balken getrennt, am Schreibtisch und klagten sich in Briefen an, als gelte es, aller Welt und künftigen Zeit die Dokumente solcher Erbitterung zu überliefern. Es war, als sollte niemals ein Zweifel darüber entstehen, daß in der Reihe der Friedrich Wilhelm und der Friedrich von Hohenzollern zwei im Jahre 1729 zur Herbstzeit tödliche Feinde geworden waren über dem Gebot ›Des Königs von Preußen‹, jenes nirgends zu fassenden Tyrannen, dem der Vater sich verschrieben hatte, als sähe er ihn – und immer nur ihn: in Anspruch, Forderung, Notwendigkeit und Auftrag. Der Sohn jedoch erblickte noch in Stunden, in denen der Vater fern von ihm war, eine weite Erde, auf der Könige, glücklich, unbelastet und reich, ruhmbeglänzte Kronen trugen und ein Schauspiel, das herrlichste aller Schauspiele gaben, das dem Weltgeschehen seinen hellen Sinn verlieh. Der Vater beharrte auf dem Beispiel.

Da stießen Traum und Wirklichkeit, Verlockung und Notwendigkeit aufeinander, und alle Bitterkeit des Irdischen erfüllte das Jagdschloß.

 

Dem Kronprinzen war es lästig, daß er sich nicht nur über die Taktik, sondern – er, der Gewandte! – nun gar auch noch über die Sprache seiner Briefe an den Vater drunten im Hirschsaal den Kopf zerbrechen mußte. Widerwillig mühte er sich mit dem Deutschem ab. Drei- und viermal mußte der schreibfertigste aller Prinzen die Feder ansetzen: »Mein lieber Papa, ich habe mich lange nicht unternehmen mögen, zu meinem lieben Papa zu kommen, teils weil es mir abgeraten, vornehmlich aber weil ich mich noch einen schlechteren Empfang als den ordinären sollte vermuten sein. Ich bitte also meinen lieben Papa, mir gnädig zu sein, und kann hierbei versichern, daß, nach langem Nachdenken, mein Gewissen mir nicht das mindeste gezeigt hat, worin ich mir etwas zu reprochieren haben sollte. Ich fasse denn das beste Vertrauen, und hoffe, daß mein lieber Papa dies alles nachdenken und mir wieder gnädig sein wird ...«

Dieses alles nachdenken –

Dem zergrübelten König zitterte beim Schreiben der Antwort die Rechte vor Zorn.

Dieses alles nachdenken –

Das war getan. Das war getan. Das war wahrhaftig getan.

»– er eigensinniger, böser Kopf, der nicht seinen Vater liebet«, klagte die Feder des Königs nun an, »denn wenn man nun Alles tut, absonderlich seinen Vater liebet, so tut man, was er haben will, nicht wenn er dabei steht, sondern wenn er nicht Alles sieht. Zum Anderen weiß er wohl, daß ich keinen effeminierten Kerl leiden kann, der keine männliche Inclinationen hat, der sich nicht schämt, weder reiten noch schießen zu können, und dabei malpropre an seinem Leibe, seine Haare wie ein Narr sich frisieret und nicht verschneidet, und ich Alles dieses tausendmal reprimanieret, aber Alles umsonst und keine Besserung in Nichts ist. Zum Anderen hoffärtig, recht bauernstolz ist, mit keinem Menschen spricht, als mit Welschen, und nicht populär und affable ist, und mit dem Gesichte Grimassen macht, als wenn er ein Narr wäre, und in nichts meinen Willen tut, als mit der Force angehalten; nichts aus Liebe, und er Alles dazu nichts Lust hat, als seinen eigenen Kopf folgen, sonsten Alles nichts nütze ist. Dieses ist die Antwort!«

 

Nicht genug, daß Sohn und Vater sich unter einem Dache Briefe schrieben. Über ihre Briefe gingen nun auch wiederum noch Briefe der Mutter und der Schwester des Prinzen von Wusterhausen in die Welt hinaus, in viele Länder vieler Sprachen. Gewiß, sie waren sämtlich im Französisch á la mode geschrieben. Aber dieses Französisch war ein wenig salopp geworden und wurde in London um diese und jene Nuance anders verstanden als in Wusterhausen und in Dresden wieder anders als in Hannover und Paris.

Maltraiter nun war ein Modewort wie das berühmte »á la cascade«. Man konnte es so oder so verwenden, wie dem König einst in einem diplomatischen Diskurs erläutert worden war, in dem er ein so auffallend lebhaftes Interesse an dem neuen französischen Sprachgebrauch zeigte. –

Die Königin und die älteste Prinzessin taten durchaus nichts dagegen, daß man sich draußen in der Welt die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten des Wortes maltraiter wahrnahm. So ging die Kunde durch die Welt, König Friedrich Wilhelm mißhandle seinen ältesten Sohn seit Jahr und Tag. Niemand machte sich die Mühe einer Klärung. Es schien beinahe, als wäre diese Wirkung beabsichtigt.

Hätte einer den Wortsinn nachgeprüft, die Lüge und der Unfug wären gleich ans Licht gekommen. Denn dann würde, ad exemplum, die Königin das sanfte Fräulein von Sonsfeld tagtäglich mißhandeln; denn wie sie mit der Guten verfuhr, das war denn doch wohl reinstes maltraiter. Demnach würde aber auch der König gar nicht selten die fremden Gesandten tätlich bedrohen. Oder der Kronprinz, maßlos erregbar, schlüge die kleinen Geschwister und das gesamte Personal; oder Minister von Grumbkow den Professor von Gundling; oder das gesamte Kirchenkonsistorium den Prediger Roloff; oder die Damen der Königin die bürgerliche Umgebung Seiner Majestät. Es wäre eine allgemeine Prügelei am preußischen Hofe gewesen.

Der Irrtum wurde nicht aufgeklärt. Nach Meinung der Kabinette und Höfe mißhandelte also der König von Preußen seit Jahr und Tag seinen ältesten Sohn.

Indessen sagte der Kronprinz seiner Schwester, die Mißhandlungen würde er immer mit Ehrerbietung ertragen; käme es aber zu Schlägen, so liefe er davon; denn die gedächte er nie zu ertragen.

Seit gestern ging der Herr an einem Stock.

Seit vorgestern fuhr er nicht mehr zur Jagd, nachdem er schon die Tage zuvor immer früher heimgekehrt war und einen weidmännischen Mißerfolg nach dem anderen zu verzeichnen hatte.

Geheimzuhalten war es nun nicht mehr. Darum also saßen die Ärzte am Tische. Darum also traf er täglich jetzt gar so zeitig wieder im Schloß ein, und nicht aus Argwohn geschah es. Aber, meinten die Kreise von Monbijou auf Wusterhausen, mochte doch diese Auffassung ruhig auch weiterhin bestehen bleiben. Sie machte die Königin und ihre erwachsenen Kinder zu noch bejammernswerteren Märtyrern. Auch dieser Irrtum wurde nicht aufgehellt.

Der König hatte den Stock hingenommen, wie einem ein Kreuz auferlegt wird. Er konnte ohne Stock nicht mehr gehen und stehen. Die Gicht hatte seine Füße wund und schwach und schmerzend gemacht. Und der Leib war so schwer.

Die Ärzte setzten den König im Stuhl fest. Nun hockte er – ein wenig unheimlich für einen, dessen Cito! Cito! man fürchtete – im Sessel und tastete unruhevoll mit dem Stock hin und her, immerzu. Alle sahen ihn neugierig an, und er blickte scheu und sehr bedrückt zu ihnen auf.

In sein Schicksal war etwas Neues getreten. Dessen war er sich bewußt. Und er vermochte nicht mehr zu verbergen, was gestern noch geheim war. Er drehte den Stock in der Hand. Der ist ein harter Schlag, dachte der König; der ist ein schwerer, schwerer Schlag. Der ist eine Mahnung; der ist eine drückende Mahnung. Du wirst vor der Zeit alt. Du mußt sehr früh die Grenzen deiner Kraft erfahren – vielleicht gar schon das Maß deiner Zeit –?! Wo ist dann einer, der dich vertritt bei ›Dem König von Preußen‹? Wo?

Verfallen und dick hockte König Friedrich Wilhelm im Lehnstuhl. Und wenn der Sohn vorüberging, so drohte er ihm mit dem Stock – sehr langsam, sehr sinnend, wie aus einer weiten Feme.

Aber die Stube war eng. Da nahm die Drohung sich gefährlich aus.

Der König stellte den Stock, der ihm nur beim Erheben und beim Gehen dienen sollte, nicht aus der Hand. Er hielt ihn einen Tag lang in der Rechten. Er war nur mit dem Stock befaßt. Er arbeitete heute nicht, wie er auch nicht jagte. Vielleicht vermochte er es auch vor Schmerzen nicht.

Es war, als nehme er den Stock für immer an sich; als wolle er, qualvolle Stunden hindurch, am ersten Tage schon endgültig mit ihm verwachsen.

Er ergriff sein auferlegtes Kreuz. Er begriff es. Das Schicksal des Großen Kurfürsten dämmerte über ihm herauf. Wieder war ihm der Große in einem neuen, bisher nie verstandenen Sinne das Vor-Bild.

Es wäre nur ein Anfall, so hatten die Ärzte gesagt; und der Stock, der diene nur zu ganz gelegentlicher Unterstützung und Erleichterung. Bald werde er wieder in den Winkel fliegen. Der König glaubte ihnen nicht.

Der Herr, als er sich unbeachtet fühlte, umklammerte den Stock mit beiden Händen leidenschaftlich fest und senkte den Kopf über die Fäuste. Vielleicht, daß er grübelte. Vielleicht, daß er weinte. Vielleicht, daß er betete.

Hier war kein »Anfall«. Die letzten Nächte waren zu furchtbar gewesen. So betete er wohl.

»Ob ich schon wandere im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück. Denn du bist bei mir. Dein Stecken und Stab trösten mich.«

Alles wurde dem König zum Bilde; auch: der Stock. Er war Zeichen des Gerichtes und der Hilfe.

 

Es war nun noch ein neuer Gast auf Wusterhausen eingetroffen. Er sollte ganz bei Hofe bleiben. Er war der Ersatz für den Pagen von Keith und für die engste Umgebung des Thronfolgers bestimmt.

Der König hatte sich von neuem um den Tüchtigsten. Fähigsten, Gebildetsten bemüht, besonders beharrlich sogar, nachdem er die Enttäuschung an dem jungen Keith erlebte. Aber dem Bedürfnis des Königs, Klugheit und Tapferkeit und Schönheit in einem an den Gefährten des Sohnes zu finden und die Blühendsten unter den jungen Männern seines Landes ihm zuzugesellen, war dieses Mal nicht mehr Genüge getan.

Der von Rochow, der von Keyserlingk und der von Borcke waren schön. Der Neue war es nicht. In seiner Heimat hatten die Kinder ihn als Knaben mit dem Spottverse gehänselt: »Wer Augenbrauen hat wie der Ritter Katt, kommt an den Galgen oder aufs Rad!« Er hatte Pockennarben im Gesicht. Er war mager, schmal und klein. Und als er der genesenen Prinzessin Wilhelmine vorgestellt wurde, erschrak sie vor »dem dunklen Blick, der etwas Unheimliches hatte«, zumal die Augenbrauen dicht zusammenstanden. So sehr erhöhte ihr der Umstand, daß er stark schielte, das Grauen der Diebsburg am Styx. Die Königin jedoch erhielt auf ihre unerläßliche Frage »Ist er von Familie?« diesmal endlich befriedigenden Bescheid. Unmöglich konnte sie etwas Abfälliges sagen. Mütterlicherseits stammte der junge Mann aus dem Haus der Grafen Wartensleben, die unter dem alten König gar so angesehen waren. Der gegenwärtige König trug dem Enkel nicht nach, daß sein Urgroßvater einer der drei war im Dreifachen Weh.

Mit den mächtigen und aufsässigen Bismarck auf Schönhausen, die gerne mit dem Kreis von Monbijou politisierten und Hannover besser denn Brandenburg dienten, war der junge Offizier so eng verschwägert, daß sein Wappen, die Katze, über dem Kirchstuhl der Bismarck in der alten Wehrkirche von Schönhausen mit angebracht war. Sein väterliches Haus am Domhof zu Brandenburg trug über dem Portal reichen heraldischen Schmuck. Also begegnete die Königin von Preußen dem Leutnant von Katte sehr gnädig. Und der König setzte großes Vertrauen in ihn, obwohl er das Blut der Wartensleben und der Bismarck in sich trug wie sein Sohn das welfische Geblüt.

Kronprinz Friedrich hielt sich vorerst noch zurück.

Aber die ungewöhnliche Gewandtheit des neuen Gesellschafters wirkte alsbald bezwingend auf ihn, und er gedachte Kattes Einführung in der Tabagie zum Anlaß seiner Rückkehr in die Tabaksrunde zu nehmen. Die fremden Herren stellten es als unerläßlich hin, unerläßlich für die diplomatische Zusammenarbeit.

Schließlich war ja gerade Sankt-Hubertus-Tag!

Sämtliche Tischgenossen mußten nach wie vor gleichen Zug im Trinken mit dem König halten, der immer noch den Kräftigen spielen wollte. Nur Herrn von Katte ließ er etwas nach; er war zu geringerem Quantum begnadigt, da er als neuer Gast nach Beendigung der Jagd bereits die Wusterhausener Taufe für Neulinge erhalten hatte, eine erhebliche Zecherei also bereits überstand.

Der Kronprinz trank viel, aber nur mit Widerwillen; er versicherte seinem Nachbarn sogar, er werde wohl am nächsten Tage krank sein. Plötzlich begann das schwere Gebräu zu wirken. Er sprach ziemlich laut von all den Gründen, die er habe, mit seinem Schicksal unzufrieden zu sein. Die Königin, die über jeden ungewöhnlichen Vorgang in der Tabagie sofort geheime Botschaft erhielt, ließ Herrn von Katte bedeuten, er möge den Prinzen sogleich zum Schweigen bringen; und der gewandte junge Herr sagte auch sogleich alles mögliche Gescheite, um das zu erreichen; aber es verfing nicht mehr. Nun bat er den Prinzen ein wenig erregt, das bißchen Vernunft, das ihm noch geblieben wäre, zusammenzunehmen; es sei nicht auszudenken, welche Verwicklungen – noch sei der König durch die Unterhaltung abgelenkt – doch wenn er nun herüberhöre –.

Aber es half alles nichts: im Gegenteil, der Kronprinz wandte sich ganz zu Herrn von Katte hin und sprach alles aus, was ihm nur auf die Zunge kam; und dabei wiederholte er am Ende jedes Satzes, indem er auf den König wies: »Und doch habe ich ihn lieb!«

Da die Tafel sehr schmal war, mußte man überzeugt sein, daß ein Teil seiner Äußerungen auch auf der anderen Seite völlig verständlich war, besonders der stets wiederkehrende Schlußsatz, der mehr Anklage enthielt, als mancher Fluch und mancher Brief, der von Wusterhausen ausgegangen war. Da fragte auch schon der König den neuen Gast: »Was sagt er?« und sah zu Friedrich hinüber. Katte erwiderte, die Königliche Hoheit sei betrunken und könne nicht mehr die rechte Haltung wahren. Der König meinte ruhig: »Oh, er stellt sich nur so. Aber was sagt er denn?« Nun mußte ihm Katte gestehen. Königliche Hoheit habe ihn fortwährend in den Arm gekniffen und gerufen, obgleich sie Königliche Majestät zwinge, zuviel zu trinken, habe Königliche Hoheit Königliche Majestät doch lieb.

Der König wiederholte, der Kronprinz stelle sich nur betrunken. Der neue junge Gesellschafter beharrte dabei, er könne dafür einstehen, daß der Prinz es wirklich sei; er habe ihn so in den Arm gezwickt, daß er ihn nicht mehr rühren könne, und dennoch habe Königliche Hoheit keinerlei Schmerzempfindung zugegeben.

Der Kronprinz wurde einen Augenblick ganz ernst. Dann fing er von neuem an zu schwatzen. General Graf Seckendorff, da er nicht wußte, was der ganze Vorgang für die Politik der Kaiserliehen bedeuten konnte, stellte dem Kronprinzen das Ansinnen, zu Bette zu gehen; er war wirklich nicht mehr imstande, sich aufrecht zu halten.

Der Kronprinz fing an zu schreien, er wolle erst dem König die Hand küssen. Die anderen riefen, das sei recht. Der König lachte auf, als er sah, in welchem Zustand der Kronprinz nun tatsächlich war, und reichte ihm die Hand über die Tafel hinüber. Aber der Kronprinz wollte auch die andere haben, küßte dann beide abwechselnd, schwor, er liebe den Vater von ganzem Herzen, und brachte den König dazu, sich herüber zu beugen, damit er ihn umarmen könne.

Einige, wohl nicht die Besten, riefen: »Es lebe der Kronprinz!« Das regte ihn noch mehr auf; er erhob sich, ging um die Tafel herum, umarmte innig den König, ließ sich auf ein Knie nieder und verharrte lange in dieser Stellung, indem er fortwährend zu dem König sprach.

Da war der Vater sehr gerührt und wiederholte fortwährend: »Nun, es ist schon gut; werde du nur ein ehrlicher Kerl; sei nur ehrlich« und solche Reden immer mehr. Der ganze Vorgang schien ihn außerordentlich zu ergreifen. Endlich wurde der Kronprinz aufgerichtet. Katte und mehrere Offiziere führten den Prinzen in sein Zimmer und brachten ihn ins Bett. Der junge Oberstleutnant von Rochow hatte Tränen in den Augen.

Es war ein seltsames Hubertusfest gewesen. Der Schloßherr hatte nicht mitgejagt. Er hatte auch nicht, wie sonst in manchem Jahr, mit den Offizieren von Malplaquet getanzt.

Er hatte sich über die Tafel geneigt und sich von seinem Sohne umarmen lassen.

Etwas in den trunkenen Reden des Sohnes mußte wahr gewesen sein. Das hatte den Lieblingstag des Herrn nun doch zum Feste gemacht.

Der Kammerdiener Ewersmann beobachtete den König unablässig. Wenn er ihm neu eingeschenkt, wenn er die Lichter geputzt und jedes Stäubchen Tabakasche, jeden Tropfen Bierschaum auf dem Platz des Königs weggewischt hatte, wie der es begehrte, ging er schnell für einen Augenblick ans Zimmer der Königin zur Kammerfrau Ramen hinüber.

Die Königin glaubte die Stunde gekommen, in der sie die Mitteilung von ihrer Schwangerschaft erfolgreich als politisches Mittel einzusetzen vermochte. Sie bat den König, als er mit den holländischen Zeitungen aus der Tabagie kam, für einen Augenblick zu sich.

Sie sprach zu ihm in der Phrase: »Ich bin guter Hoffnung.«

Unendlich siegesgewiß stand sie vor ihm. Er saß dicht vor ihr. Er legte beide Hände auf den weiten Reifrock der Königin. Er sah zu ihr auf. »Auch ich bin guter Hoffnung, liebe Frau.«

 

Da kam der Krieg. Da wurde die Verwirrung vollkommen. Da erreichte die Politik der Königin ihr letztes Ziel. Der offene Bruch zwischen dem Hohenzollern Friedrich Wilhelm und dem Welfen Georg, den Söhnen der vielfach verschwisterten und verschwägerten Fürstenhäuser, schien unvermeidlich geworden und Englands Triumph nunmehr unaufhaltsam.

Das ganze Jahr hatte die preußisch-englische Sache sich hingezogen. Regelrechte Verhandlungen ließ die gespannte Lage gar nicht mehr zu. Beide Parteien verharrten in ihrer Haltung. Da fand der König von England das Mittel, die Reichspolitik des Königs von Preußen zu hemmen, zu stören, abzulenken und Rache zu nehmen für Unbill, die er nicht erlitt; Strafe zu üben für Unrecht, das ihm nicht geschah; Abwehr zu schaffen, wo Bedrohung nicht vorlag. Als Kurfürst von Hannover erließ er ein Edikt, alle Werber des Kurfürsten von Brandenburg zu verhaften, die sich in den Kurlanden sehen ließen. Er gab für alle Nachbarn den Auftakt. Das ärgste an seinem Edikt aber war, daß zwischen den militärisch-diplomatischen Floskeln und Formeln dem König von Preußen viel Hohn angetan wurde um seines tyrannischen Planes von der Wehr-Pflicht aller jungen Mannschaft willen. Wozu bedurfte Herr Friedrich Wilhelm noch der Werbung? War sein kühner Traum zur Narretei geworden? Hatte sein Befehl keine Kraft mehr? Drang sein Wille nicht mehr durch? Litt er Schiffbruch mit der großen Forderung, die Knaben seiner Lande seien zu Dienst und Wehr und in feste Ordnung geboren? Nicht nur die Mindensche Kammer hatte gemeldet: »Wenn fünfzig Rekruten geliefert werden sollen, gehen hundert junge Leute außer Landes.« König Georg schien über die Weite des Meeres hinweg die Wunden des neuen Preußen sehr klar zu erkennen. Er versagte dem Preußenkönig das Ansehen. Er erklärte seine wichtigsten Entwürfe für Bagatellen. Er proklamierte seine schmerzlichsten Enttäuschungen vor aller Welt. Er gab den Reichen und Potentaten des Erdballs unendlich hoheitsvoll und sieghaft die klare Kunde: Gerät der Welfe Georg mit Friedrich Wilhelm von Hohenzollern in Streit, so steht hinter dem Kurfürsten von Hannover als allmächtiger Beschützer der große König von Britannien. Der einzige Rückhalt des Brandenburgers aber ist König Ragotin, Herrscher und Gebieter über die Einöden und Sümpfe Litauens.

König Friedrich Wilhelm ließ neunzehn Regimenter bis an die Elbe vorrücken. Vierzigtausend Mann der neuen Armee waren mobil gemacht. Der roi sergeant erklärte sich für bedroht. Die fremden Staaten und die eigenen Länder verlachten ihn. Wer anders als er hatte Städte zu Kasernen und Dörfer zu Heeresmagazinen gemacht?! In Berlin sah und hörte man nur noch von Kriegsrüstungen.

König Georg mahnte seine Freunde in Wolfenbüttel, Kassel, Kopenhagen und rief sie gegen den Brandenburger auf. Hitzig, hochfahrend, schroff und quecksilbrig, dazu empört über seine Abhängigkeit im freien, großen Inselreich, wollte er als Kurfürst von Hannover den Ministern des Königs von England zeigen, daß er zu regieren und den Augenblick wohl zu ergreifen wisse.

»Habe ich es nicht gesagt«, fragte der Preußenkönig den Erdteil, »daß alle Friedensbeteuerungen und Traktatsangebote Betrügereien sind? Also lasset euch die Stiefel schmieren. Das Maß ist voll. Ich will erst mit ihnen bataillieren, dann conferieren. Man darf nur nicht zum Kriege wie zu einem Fähnrichsduell laufen wollen, zumal andere Leute nur darauf lauern, an unserem Feuer ihre Eier zu kochen!«

Die Heere deutscher Fürsten rückten im Herzen Deutschlands aufeinander zu.

Der Kurprinz von Brandenburg machte sich mit seinen Gouverneuren reisefertig. Er hatte sich als Oberst bei dem schlagbereiten Heer zu stellen. Es ging in den Krieg gegen den Kurfürsten von Hannover, den Oheim und künftigen Herrn Schwiegervater!

Der Kronprinz von Preußen ließ den König von England sowie den Prinzen von Wales in aller Heimlichkeit seiner Freundschaft versichern. Er sei, sprach er, fest überzeugt, daß man seiner Gesinnung stets Gerechtigkeit widerfahren lassen werde, ungeachtet der gegenwärtigen Lage.

Friedrich paktierte mit dem Feinde des Vaters. Dem, gegen den er ins Feld zog, machte er brüderliche Zusicherungen, genauso wie er der ältesten englischen Prinzeß schriftlich die Zusicherung gegeben hatte, sie und nur sie zu heiraten, nachdem der Vater die Verhandlungen schon abbrach. Er kannte die Prinzeß nicht. Aber er kannte seine Politik.

»Wo kann man ein Mensch lieb haben, das man niemals gesehen! Possen!« So hatte der Vater gesagt.

Aber die von Friedrich geliebt wurde, war die Prinzessin von England, und England war die Zukunft, die Weite, der Glanz – das königliche Leben nach der Wusterhausener Knechtschaft!

Als sie die Uniform in seinen Koffer packten, erfaßte den Prinzen ein ohnmächtiger Zorn. Nichts kam vom Vater als Zwang und Hemmung und Verwirrung. Er zog in den Krieg gegen das welfische Haus seiner Mutter! Dem Prinzen war es gleich, wer ihn hörte.

»Sterbekittel!« sagte er auf die Uniform, die sie ihm brachten; er sagte es bebend.

 

Leider waren nicht nur die jungen Gouverneure zugegen gewesen, als der Kronprinz das bittere Wort vom Sterbekittel aussprach. Leider waren auch seine Boten nach London, denen er anvertraut hatte, was als Inhalt seines Briefes zu gefährlich schien, nicht sicherere Garanten gewesen als Feder, Tinte und Papier.

Nichts blieb dem König erspart. Er erfuhr alles, auch das Wort vom Sterbekittel; auch die Zusicherungen an den König von England und den Prinzen von Wales. Noch auf Wusterhausen, am Vorabend des Aufbruchs zur Armee, wußte er alles. Angesichts des Kriegsanfanges konnte er es nicht zu großen Auseinandersetzungen kommen lassen. Er ging allein in das Zimmer des Sohnes. Er riß den Kleiderschrank auf, in dem die wunderschönen Sachen hingen, die der junge Herr ins Lager nicht mitnehmen konnte. Er griff sich einen pfauenblauen Morgenrock – digne d'un prince – heraus, riß an ihm herum, zerknüllte ihn und schleuderte ihn ins offene Feuer.

Seit Wochen heizten sie nun im Jagdschloß die Kamine. Es war spät im Jahr geworden, und Wusterhausen war kälter als andere Schlösser. Schweigend standen Vater und Sohn vor den Flammen. Der Vater hatte überhaupt noch nichts gesagt. Er hatte im Bilde gesprochen.

Dann begann er höhnisch dem Sohne zu empfehlen, er solle doch, wenn er nun keine schönen seidenen Röcke mehr habe, für die englische Verwandtschaft gemalt zu werden, einfach statt seiner eine große Meerkatze Modell stehen lassen.

»Denn das ist sein Porträt«, schloß der Vater. So tief war der Haß.

Es war im Schlosse nicht, als bereite eine so plötzliche, so gefahrvolle und ernste Abreise sich vor. Im Gegenteil, die engen Zimmer füllten sich mit neuen Gästen. Und alle begehrten sie schleunigst den König zu sprechen. Denn das wußten sie ja nun: Briefe übten keine Gewalt mehr über den König. Er mißtraute ihnen von vornherein. Aller unmittelbaren Sprache der Menschen aber vermochte er nur sehr schwer zu widerstehen. Den Menschen war er immer wieder ausgeliefert. Menschen gewannen immer wieder Macht über ihn. Menschen erhielten immer wieder ein Recht auf ihn. Nur Graf Rothembourg, der französische Gesandte, fehlte; er wollte lieber Kartäuser werden, als an diesem Hofe bleiben. Vermittlungsversuche, Vergleiche, Vorschläge, Angebote umschwirrten den König.

Die Vermittler oder Zwischenträger waren aber immerhin, die Gäste des Hauses. Also mußten die Formen gewahrt sein. Also mußte man an der gleichen Tafel dinieren. Die Verräter und Verschacherer Europas waren am Tische des Königs versammelt. Die Welt hatte sich unter die Seinen gemischt. Er selber saß im Hirschsaal ein wenig von der Tafel abgerückt. Er konnte die Knie nicht biegen; er mußte die schmerzenden Beine ausgestreckt halten.

Sehr still mußte er halten, wenn die Schacherer alle um ihn waren. Sie konnten ihn ängstigen, reizen, verwirren. Das Übermaß seiner Schmerzen kam ihnen zu Hilfe. Die Familie, alle Peinlichkeiten zu überbrücken und im Grunde sehr belebt von dem neuen diplomatischen Getriebe – die Familie, bestehend in der Mutter, dem ältesten Sohn und der ältesten Tochter, trieb Konversation wie noch nie. Die Königin vergaß, dem drohenden Kriege zwischen Gatten und Bruder einige Tränen zu widmen. Wieder stand sie im Mittelpunkt! Keiner Fürstin Lage war jetzt so beachtet wie die ihre!

Der König, von seinen Ärzten festgesetzt und über die Möglichkeiten seiner Abreise noch völlig im unklaren gelassen, lehnte in dem großen Stuhl, sah zu den eleganten Plauderern hin und hörte zu. Aufzustehen von der Tafel – das vermochte er nicht mehr. Er mußte sitzen bleiben, bis alle gingen, sonst nahmen sie zuviel wahr. – Denn zu dem Stock brauchte er auch noch Gehilfen. –

Lebhaft sich unterhaltend und lachend verließen die Gruppen den Hirschsaal, nachdem der Herr im Sitzen die Tafel für aufgehoben erklärte.

Voran ging die Königin. Die Königskinder waren die letzten.

Der Vater saß nahe an der Tür.

Als Fritz und Wilhelmine an seinem Lehnstuhl vorüber wollten, schlug er mit seinem Stock nach ihnen. Im Sessel aufgerichtet, schlug er durch die Luft – wie einer, der sich auf das Letzte wehren muß gegen den ungeheuerlichsten Überfall.

Aber die Ängste des Königs sahen sie nicht.

Sie waren hinausgeeilt. Sie klagten und barmten entsetzlich darüber, was geschehen wäre, wenn der furchtbare Hieb sie getroffen hätte. Die Königin kam zu den Kindern zurück. Sie tröstete sie. Sie tat ihr möglichstes, um beide zu bewegen, daß sie zum König zurückgingen; es müsse geschehen, müsse. Mitleid sollten sie zeigen, damit die Welt es endlich erkenne: König Ragotin ist in Wahnsinn gefallen.

Vom Hirschsaal ließ der Vater einen Brief hinauf ins Zimmer seines Sohnes schicken. Der Brief enthielt den Befehl, daß der Oberst Friedrich von nun an wieder Fähnrichsdienste in der preußischen Armee zu leisten habe.

Prinzessin Wilhelmine verbrachte den Abend und die Nacht im Fieber. Als Fähnrich würde nun der Bruder dem König von England und dem Prinzen von Wales entgegenziehen, dem Oheim und dem Vetter, dem künftigen Schwiegervater und dem Schwager, den Spendern seines, ihres, ihrer Mutter Glückes!

Das Schauspiel entbehrte jedoch in Wahrheit sowohl des Dramatischen wie des Tragischen. Der König von England und der Prinz von Wales gedachten kaum, auf schäumendem Schlachtroß den Brandenburgern entgegenzutosen. Sie wußten längst, daß der Krieg nicht stattfinden würde; daß der diplomatische Zweck schon erreicht, das Augenmerk der Nachbarstaaten auf alle Vergehen preußischer Werber gelenkt und der König diskriminiert war. Mehr lag in niemandes Absicht.

Während Friedrich Wilhelm, in Schmerzen im Lehnstuhl hockend, alles Grauen des Krieges in den Bildern steingewordener Totentücher und Hekatomben vor sich aufstehen sah und die Sinnlosigkeit alles Wollens und Wünschens und Wirkens durchlitt, ließen der König von England und seine Mätressen sich von ihren Maklern in ihren Silberflotten-Spekulationen beraten.

Die Königin von England, einst Wilhelmine von Ansbach-Brandenburg genannt, begann jedoch von diesen Tagen an, ihre kühnen und starken Pläne nachdenklich zu überprüfen. Sie hatte nicht vermocht, eine bloße Kronenträgerin zu sein, die um des schönen Diadems willen all ihr verlorenes Frauenglück vergaß. Gab es kein Glück, so war doch noch das Werk, das Welfenhaus in der noch immer widerstrebenden Nation zu verankern! Aber ach, in der wachsenden Macht war niemals ein Trost für verlorene Liebe zu finden! Seit sie von der Verwirrung des dicken, kranken Königs hörte, entsann sie sich noch einmal einer Nacht, in der sie, engumschlungen mit Frau Sophie Dorothea, in der Tür zum Zimmer Friedrich Wilhelms von Brandenburg stand. – Die Diener hatten die Frauen gerufen. Denn der junge Herr saß spät nach Mitternacht noch wach am Tisch, den Leuchter neben sich, die Arme um das Särglein seines Sohnes geschlungen.

Aber dieser Abend war schwerer, bedrückter und kränker, als die Nacht am Sarge des Kindes gewesen war.

Bei Tische hatte der König von Puppenspielern, die das Dorf durchzogen, eine Komödie aufführen lassen, in welcher Polichinelle die Marionettenkönigin von England zum Throne führte und ihr in unflätiger Rede mit Branntwein zutrank. Der englische Gesandte überhörte die rohen deutschen Knittelverse. Der König übersetzte sie ihm ins Französische und rief: »Hören Sie, Ihre Königin ist gemeint!« Und statt daß nun nach diesem grimmigen Zwischenspiel ein neuer Gang aufgetragen wurde, ließ der König einen lebendigen Fisch vor allen Augen schuppen und von den Jägerburschen, die den grausigen Dienst verrichteten, verzehren! Die Tischgefährten sollten es begreifen, was Ohnmacht, Qual und Ekel war, wie er sie durchlitt! So handelte jener König, der einst im gleichen Schlosse den Gästen das Fischmahl mit eigenen Händen bereitete! Dann, in dem gelähmten Schweigen, hatte der König sein Essen hinuntergeschlungen, wie immer, ohne es zu zerbeißen, und endlich das Mahl beendet, indem er zum Vorabend seiner Rückfahrt nach Berlin alle Tischgäste – auf den baldigen Umsturz ganz Europas trinken ließ.

Nach der Tafel verlangte er noch einmal durch Hof und Garten von Wusterhausen zu gehen. Er sagte: »Es ist mild« und »Es tut mir recht gut.« Doch trieb ihn nur namenlose Unruhe aus den Mauern.

Er vermochte wieder zu laufen. So reichten sie ihm denn den Stock. Ewersmann, der nicht mehr von ihm wich und für die Diplomaten darum hoch im Preise stieg, stützte den Herrn am linken Arm. Der König stapfte durch das aufgehäufte nasse Laub. Der Oberchirurg blieb in der Nähe. Die Pikeure trugen Laternen und Fackeln voran. Der novemberliche Garten lag in tiefer Dunkelheit und trübem, feuchtem Dunst. Morgen mochte es regnen oder schneien.

Die im Hirschsaal wurden etwas ratlos. Man hatte doch wohl diesen absonderlichen Rundgang Seiner Majestät als eine Art offizieller Abschiedspromenade aufzufassen. Dahin kamen sie nun überein. Sie beschlossen, den Herrn zu begleiten. Man konnte sehr wohl einen König bis auf den Tod beleidigen, bedrohen, ängstigen und quälen. Aber unmöglich war, einen höfischen Verstoß zu begehen.

Sie folgten dem König nach, kopfschüttelnd und achselzuckend. Der König war, so langsam er auch vorwärts kam, nun doch schon ein gutes Stück Weges voraus. Er wußte nicht, daß man ihn suchte. Er sprach laut vor sich hin. Auch stöhnte er. Vielleicht hatte ihn, daß er das Stöhnen nicht mehr unterdrücken konnte, aus dem Hirschsaal vertrieben. Er stöhnte so laut und so hemmungslos, daß die Pikeure erschraken. Sie blieben mit den Fackeln und Laternen um ihn stehen. Da begann er zu singen. Es klang langgezogen und ächzend; aber sie sollten glauben, er habe vor sich hingesungen. Nun sah er auch die Herren des Hofes und die Gäste in den Schein der Fackeln treten. Die kahlen Äste warfen große, harte Schatten auf ihre Gestalten.

»So singen Sie doch noch ein Jagdlied zum Abschied«, rief der Herr zu ihnen hinüber und stimmte an und wendete sich ab uns schritt vor seinen Fackelträgern her ins Dunkel. Denn er schämte sich.

Die anderen überflog ein Grauen. Es war weit mit König Ragotin gekommen. Aber anders hätte man ihn ja nicht in der Tasche gehabt. Das war ein tröstlicher Gedanke. Daraufhin sangen sie mit.

 

Sie brachen auf. Es ging zurück nach Berlin. Im Schloßhof stauten sich die Truhen, Kästen, Reisetaschen. Die Pferdeknechte mußten Säcke darüber hängen, so schneite und regnete es durcheinander. Die Kutschen waren, über die Brücke hinweg, bis ins Dorf hinein aufgefahren. Die Damen drängten sich am Aufgang der Wendeltreppe im Turm. Sie zogen ihre Wagenmäntel eng um sich, aber obwohl sie ziemlich fröstelten, waren sie doch recht vergnügt. Es ging fort von Wusterhausen, wirklich und wahrhaftig fort! Das Ende dieses Schreckensherbstes war nun greifbar nahe! Man kam zurück an den Hof! Man sollte wieder Weite haben! Man würde einiges von Noblesse spüren – und vor allem befreit sein von dem ständigen engen Zusammenleben mit dem König! Die Bedrücktheit der vergangenen Wochen, die Erwartung des Krieges, die Lage des Kronprinzen – alles war vergessen. Das war ein Stimmenschwirren und Lachen über dem ganzen Hof, als stünde man im Gartensaal von Monbijou. Die fremden Gesandten überboten sich in Galanterien und Drolerien. Ganz ausgezeichnet war die allgemeine Stimmung.

Nicht mehr die Bären! Nicht mehr die Adler! Das sagten die königlichen Damen mehr als einmal, mehr als deutlich. Der König hörte es als letztes, ehe seine Gattin ihre Karosse bestieg. Er sah ihr sehr nachdenklich zu. Sie und seine beiden großen Kinder hatte er über dem Herbst von Wusterhausen verloren. Der Sinn des stillen Schlosses war zerstört. Die Nähe, die er ersehnte, hatte Feindschaft und Ferne gebracht. Ein König hatte nichts, was nahe war; auch nicht den einen Menschen, der des Menschen Vorrecht und Notwendigkeit ist; diesen besaß er am wenigsten.

Und dennoch sollte ihm ein neuer Mensch geboren werden aus dem Leidensherbst in Wusterhausen. Die Frau lehnte schwanger in den Polstern ihrer Karosse. Dies eine war Zukunft, wo sonst nur Zerstörung zurückblieb.

Und noch ein Zweites wies ins Künftige: der Wille, aus Friedrich noch einen völlig neuen Menschen zu machen – aus ihm, der zum Malplaquetfest als Oberst auf dem väterlichen Jagdschloß eingetroffen war und der es nun nach Sankt-Hubertus-Tag als Fähnrich wieder verließ. So wenig also war ihm daran gelegen gewesen, in Preußens neuem Heer den gleichen Rang mit dem Vater zu bekleiden; er hatte des Königs Rock seinen Sterbekittel genannt.

Alles war Haß und Zwiespalt geworden. Und selbst die leichten, boshaften Reden der Frauen waren in Wahrheit voller harten und bitteren Zornes; selbst die Adler und die Bärin verfluchten sie, als wäre der böse Geist des alten Jagdkastells in die Tiere des Zaren gebannt.

Der König stand unter dem Tor und sah den davonrollenden Wagen nach. Er konnte heute wieder stehen. Er schien nicht einmal den Stock zu seiner Stütze zu benötigen; denn unablässig stieß er mit dem Stock auf den Boden. Als nach der Abfahrt der Damen und Kinder die eigene Kutsche anrückte, beugte der König sich zu seinem Pferdeknecht zurück.

Die Bärin sollte mit nach Berlin! Die Adler in ihren Käfigen sollten auch nachfolgen! Aber es sollte erst nach dem Aufbruch der letzten Kutschen geschehen.

Nun wußten es auch die niedrigsten Burschen: der König war nicht mehr richtig im Kopf.

Einer meinte, er habe, wenn er spät abends von der Liebsten kam, nicht selten wahrgenommen, daß der König, bevor sein Leiden begann, beim Anbruch der Nacht noch im Schloßhofe stand und immer wieder am Bärenzwinger verweilte und der schwarzen Bösen das Fell zauste; dann pflegte er, sich unbeobachtet glaubend, auf die Bärin einzusprechen, als wäre sonst kein Wesen für ihn da.

Aber es klang so zornig und hart, als er es eben sagte: die Bärin und die Adler sollten mit?!

 

Auf der Fahrt nach Berlin saß der König allein in seiner Kalesche und schrieb, das Blätterbündel auf den Knien haltend. Er schrieb kaum unleserlicher als sonst. – Es waren ja doch nur immer noch Krickeln und Kleckse; und niemand als der Geheimrat von Marschall war in der Lage, die Schrift des Königs zu lesen; so sehr hatte sich seine schöne, klare, überdeutliche Handschrift gewandelt.

Traurig bedachte der Schreibende, wie diesen Herbst die »Habakuks« und »Mazarins« auf Wusterhausen eingedrungen waren und der Dessauer fernblieb. So eng ihr Bund war – niemals kam er ungeladen.

Aber der König hatte ihn bis zum letzten Tage nicht gerufen.

Friedrich hatte nun in Herrn von Katte einen nahen Freund gefunden. Das war viel, wenn man das Los seines Vaters bedachte. Der hatte nur den Fürsten Leopold von Anhalt-Dessau zum Gefährten seiner Mühen; und den mied er seit langem schon. Er hatte ihn nicht nach Wusterhausen gebeten, als scheue er sich, Wusterhausens Zerfall gerade vor diesem einen Manne zu offenbaren. Er hatte nicht wie sonst zur Jagdzeit nach Dessau geschrieben: »Und bringen sie mir ein Pahr von Ihre Printzen mit.« –

Weil er die tiefsten Leiden dieses Herbstes verschwieg und doch dem Kumpan eine Erklärung für manches Rätselhafte und Befremdliche in seinem Verhalten zu schulden meinte, schrieb er nun auf der Rückfahrt, das Blätterbündel auf den Knien haltend, von der Krankheit. Der Kabinettssekretär Thulmeier, der in Polterhansen Bleusets Schenke einmal Der Schweigsame hieß, mochte es dann säuberlich abschreiben und aus dem alten Wusterhausener Stallknechtsdeutsch in die rechte Orthographie übertragen: »Mit meinem Fuß ist es leider zum Podagra ausgeschlagen. Eure Liebden kennen mich ja und können versichert sein, wie nahe mir das geht. Ich habe gute Zeit gehabt, also muß ich hiermit auch vorlieb nehmen. So steht meine Gesundheit. Gott bewahre jeden ehrlichen Mann davor, Invalide zu werden ... Mit allem, was Gott will, bin ich zufrieden; ich kann nichts gegen Gottes Willen tun, muß alles mit Geduld tragen. Gott gebe Geduld.«

Die Blätter ruhten auf seinem Schoß. Er schrieb nicht mehr. Seine Lippen sprachen immer noch: »Gott gebe Geduld. Gott gebe Geduld.«

 

In Berlin erwartete den König die Nachricht, daß von den Prinzen von Anhalt-Dessau des Vaters und des Königs liebster unter den fürstlichen Söhnen gestorben sei: er, für den der König »eine personelle Liebe hatte« und für den er, als er schon einmal todkrank gewesen war, betete. Der König, den Reisemantel noch umgehängt, wanderte in seinem Zimmer auf und ab, den Brief des Fürsten noch in der Hand. Nun lag des Dessauers Sohn im Sterbekittel aufgebahrt, jener vollkommene Sohn: im Sterbekittel! Das Wort ließ den König gar nicht mehr los. Seit der Sohn es ausgesprochen hatte, ging es ihm nicht mehr aus Ohr und Sinn, nicht eine Stunde.

Er sei durch Gedanken verwundbar, hatte der Abenteurer Clement damals im Spandauer Kerker zum König gesagt. Darin liegt Wahrheit, dachte König Friedrich Wilhelm jetzt, als er mit dem Ende des Herbstes in seine Hauptstadt zurückkehrte.

Der Herr war sehr verwundet heimgekommen in sein großes Winterschloß. Manchmal glaubte er, das Herz sei ihm nur noch eine einzige heiße, dunkle Wunde.

Es vermochte den König nicht einmal mehr zu erfreuen, als die Diplomaten und Minister ihn um eine eilige Sonderaudienz ersuchten, in der sie ihm dann erklärten, daß der Krieg mit Hannover nicht stattfinden könne.

Die großen Worte durchströmten erhaben den Raum: Um Gottes willen! Um des Reiches willen! Um der von Ewigkeit gesetzten Bruderschaft der beiden Fürstenhäuser willen! Um alles dessen willen lenke der großmütige Kurfürst von Hannover ein.

Zwischen den Phrasen waren Vergleichsvorschläge von größerer Nüchternheit eingefügt.

Der König ließ sich den Reiseumhang abnehmen. Er legte seinen Hut beiseite und strich sich die Haare glatt. Er ging an den Schreibtisch. Stehend stützte er die Hände auf; es war eine Geste, als wolle er eine große Rede, wahrscheinlich vom wiederhergestellten ewigen Friedenszustand, vor den Diplomaten und Ministern halten.

So ruhig er dastand – sein Gesicht war heiß und gerötet, und die Adern zeichneten sich an seinen Schläfen ab. Auch waren die Adern seiner Hände sehr geschwollen.

»Meine Herren«, hob er langsam an. Und dann sagte er nur: »Der Fürst von Anhalt-Dessau hat seinen liebsten Sohn verloren« und starrte vor sich hin auf den Schreibtisch.


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