Heinrich von Kleist
Briefe
Heinrich von Kleist

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1793 – 1799

1. An Auguste Helene von Massow

Frankfurt am Main, den 13. (–18.) März 1793

Gnädigste Tante!

Was soll ich Ihnen zuerst beschreiben, zuerst erzählen? Soll ich Ihnen den Anblick schöner Gegenden, oder den Anblick schöner Städte, den Anblick prächtiger Paläste oder geschmackvoller Gärten, fürchterlicher Kanonen oder zahlreicher Truppen zuerst beschreiben? Ich würde das eine vergessen und das andere hinschreiben, wenn ich Ihnen nicht von Anfang an alles erzählen wollte. Ich fahre also in der Beschreibung meiner Reise fort.

Es war 10 Uhr als ich den Brief an Gustchen zusiegelte, und ihn dem Aufwärter übergab. Ich legte mich im Bette. Es war seit 3 Tagen die erste ruhige Nacht. Folgenden Tags am Donnerstag war es noch nicht bestimmt wenn wir abreisen wollten, und der Kaufmann beschloß bis Freitag früh um 7 Uhr auf Briefe zu warten, und dann abzureisen. Ich besah mir noch die Pleissenburg und die umliegende Gegend; ich kann Ihnen aber dieses unmöglich genau beschreiben, ich hätte zuviel zu tun; denn je näher ich nach Frankfurt kam, je schöner je romantischer wurde die Gegend. – Ein Feuer das in unsere Nähe entstand, hielt uns bis 11 Uhr wach; wir schliefen aus und fuhren den Freitag, da noch keine Briefe kamen, von Leipzig ab. Kapaun und Kuchen war aufgezehrt; ein Kalbsbraten ersetzte die Stelle. Auch riet man mir, mich wegen herumstreifenden Franzosen in der Nähe von Frankfurt in Acht zu nehmen; mein Mantel wurde also umgekehrt und die Sporen abgemacht. Wir kamen über Alt-Ranstädt, einem Städtchen wo einst ein wichtiger Friede geschlossen ward, über Lützen bei den Stein vorbei, welcher uns an den großen meuchelmördrisch gefallenen Gustav Adolf erinnerte, und endlich nach Rippach. Hier sah ich im Posthause den Stuhl auf welchen Friedrich nach der Bataille von Roßbach ausruhte. Dieser Stuhl steht noch so, wie er stand als König Friedrich davon aufstand; über ihm ist ein Aschenkrug mit der Inschrift gemalt: Place de repos de Fréderic II R. d. P. après la bataille de Roßbach. Von hier fuhren wir über das Schlachtfeld von Roßbach, durch das Schloß Weißenfels an dem Ufer der prächtigen Saale nach Naumburg. Was ich hier für Gegenden sah, Tantchen das kann ich Ihnen gar nicht beschreiben. Die Gegenden an der Saale sind die schönsten in ganz Sachsen. Ich habe nie geglaubt daß es in der Natur so schöne Landschaften geben könne, als ich sie gemalt gesehen habe; jetzt aber habe ich grade das Gegenteil erfahren. Vor Naumburg liegt ein hoher Felsen; eine alte Burg stand darauf. Man erzählte mir ein hundertjähriger Greis sei der einzige Bewohner dieses Ritterschlosses; dies hören, und den Entschluß gefaßt zu haben ihn zu sehen, war eins. Alles Protestierens des Herrn Romerio, der sich nicht gern aufhalten wollte, ungeachtet, fing ich an den schroffen Felsen hinanzuklettern. Ein Tritt auf einen losen Stein welcher abbrach, und ein darauffolgender 5 Fuß hoher Fall, schreckte mich von meinem Vorhaben ab, und hätte schlimmere Folgen für mich haben können, wenn unser zweiter Begleiter Herr Meier mich nicht aufgefangen hätte. Wir sahen immer noch die Saale an unserer Seite, ein Gegenstand der uns den ganzen Tag sehr amüsierte. Jetzt passierten wir eine Saline (Salzwerk) und von hier aus konnten wir nun schon den Thüringer Wald sehen. Um 8 Uhr abends trafen wir in Auerstädt ein. Hier übernachteten wir, waren aber um 3 Uhr wieder in den Wagen und kamen ohne viel gesehen zu haben in Buttelstädt an. Je weiter wir nun reisten, je majestätischer zeigte sich uns das prächtige Gebürge. In Erfurt sah ich die große Glocke, und die ersten Mainzischen und Kaiserl. Truppen. In Gotha sprach ich abends um 6 Uhr den Generalsuperintendenten Löffler; er trug mich auf ihm bei Ihnen zu empfehlen, und erinnerte sich unsers Hauses mit vielem Vergnügen. Hinter Gotha kamen wir nun wirklich in das mit Schnee bedeckte Gebürge. Nur schade daß es finster war und daß ich also nichts gesehen habe, folglich nichts erzählen kann. Wir begegneten auf der Fahrt von Gotha nach Eisenach einem Menschen im tiefsten Gebürge, der uns mit einem Straßenräuber nicht viel Unähnliches zu haben schien. Er klammerte sich heimlich hinten an den Wagen; und da dies der Postillion bemerkte so schlug er nach ihm mit der Peitsche. Ganz still blieb er sitzen und ließ schlagen. Der Postillion trat im Fahren auf den Bock, und hieb mit der Peitsche so lange bis er herunter war. Nun fing der Mensch gräßlich an zu schreien. Denken Sie sich nur ein Gebürge; wir ganz allein in dessen Mitte, hier wo man jeden Laut doppelt hört, hier schrie dieser Mensch so fürchterlich. Uns schien es nicht eine Stimme, uns schienen es ihrer 20 zu sein; denn an jedem Berge tönte das Geschrei doppelt stark zurück. Die Pferde, dadurch scheu gemacht, gingen durch, der Postillion der auf dem Bock noch immer stand, fiel herunter, der Mensch brüllte immer hinter uns her – bis endlich einer von uns der Pferde Zügel haschte. Dem Räuber (denn dies war er ganz gewiß) zeigten wir nun den blanken Säbel, und frugen ihm was er eigentlich wollte; er antwortete mit Schreien und Toben und Lärmen. Der Postillion fuhr scharf zu, und wir hörten den Menschen immer noch von weitem pfeifen. Unter diesem charmantem Konzert kamen wir des Nachts um 12 in Eisenach an, fuhren aber um 3 Uhr schon wieder ab. Die Chaussee die sich schon von Gotha anfing die reizte uns, sie zu benutzen; ohne ihr hätten wir es nicht gewagt im Gebürge herumzuirren. Nach einer zweistündigen Reise ohngefähr passierten wir die Wartburg. Sie entsinnen sich gewiß noch Friedrichs mit der gebißnen Wange? und seiner Burg? – Da wir ohnedem wegen der steilen Berge neben den Wagen gingen, so kletterte ich heimlich den Felsen zur Burg hinan. Ein steiler Fußweg zeigte mir die Öffnung zum Schloß. Auf dem höchsten Felsen liegt hier weiter nichts als ein altes eingefallnes Haus und 2 Türme. So eine antike eingefallne bemooste Burg können Sie sich auf einem steilen Felsen beinah vorstellen; die Aussicht aber die man hier genießt kann man sich unmöglich denken. Hier sieht man über alle beschneite Gebürge weg; hundertjährige Tannen und Eichen verschönern es. In der Ferne sehen Sie eine meilenlange Wiese, in dessen Mitte das Postamt Berka liegt, und in noch weiterer Ferne bemerken Sie Berge die Sie aber gleichsam nur wie durch einen blauen Flor sehen. Über sie ging eben die Sonne auf! – (Sonderbar ist es was solch ein Anblick bei mir für Wirkungen zeigt. Tausend andere heitert er auf; ich dachte an meine Mutter und an Ihre Wohltaten. Mehr darf ich Ihnen nicht sagen. –) Ich eilte dem Wagen nach der schon eine Strecke voran war, und in Abwechselungen der schönsten Gegenden kamen wir in dem obenbenannten Postamt (das heißt in dem letzten sächsisch-thüringischen) an. Auf unserer Reise begegneten wir viele Kuriere, und grade einer der hier von Frankfurt a. Main abstieg brachte Nachricht, daß die Franzosen von den Kaiserlichen aufs Haupt geschlagen, und viele Kanonen, Fahnen, und Soldaten erbeutet worden sind – Nach einem kleinen Frühstück traten wir die Reise nach Vach an; es verlor hier zwar schon das Gebürge, allein Ritterschlösser, Wiesen, Felsen und überhaupt schöne Gegenden sahen wir dennoch. Zwar vermißten wir den Anblick nie; denn auf unserer ganzen Reise war keine Minute die uns Langeweile gewährte, außer die doppelt langen Minuten der Nacht. Aus dem Fuldischen Postamt, kamen wir in dem Hessischen Schüchtern und von hier wieder in dem erstern, in Fulda selbst an, die schönste, nein die angenehmste Stadt die ich je gesehen – (doch ich entsinne mich Ihnen Leipzig als die schönste angepriesen zu haben. Sie werden mir diesen Fehler verzeihen, denn zuletzt weiß ich selbst das Schönste was ich gesehen habe nicht zu nennen.) – Von Fulda kamen wir nach Westminster, von hier nach Kellnhausen, und nach Hanau. Hier fanden wir schon Preußen und Hessen und sahen schon lauter Kriegsbewegungen, das heißt hier Kanonen, dort Munitionswagens auf dem Felde herumfahren. Ich konnte nicht erwarten nach Frankfurt zu kommen, und wir eilten also etwas und waren den 11. März anno 1793 um halb zwölf Uhr in Frankfurt am Main (und also grade 8 Tage auf der Reise).

Mein erster Gang war natürlich zum Cap. v. Franckenberg. Er glaubte mich nicht so früh zu sehen, doch freut' es ihm. Seine Verwundrung nahm aber ab, als ich ihm sagte daß Frankfurt a. Oder für mich, seitdem ich keine Mutter besitze, kein Aufenthalt der Freude mehr sei. Er nahm wahren Anteil an meinen Verlust und wünschte mir Glück, wenigstens keine verlassne Waise zu sein, und versprach sich meiner nur um desto mehr anzunehmen. Ich eilte nun mein Quartier zu besuchen; man stellte es mir frei mich eins auszusuchen. Ein Unteroffizier ging mit mir herum und ich besah mich eins nach dem andern. Aber eh ich alles in Ordnung brachte war es finster, und es war 7 Uhr und hatte noch kein Quartier. Mein letzter Versuch gelang. Der Kaufmann Romerio erlaubte mir eine Nacht in seiner Stube zu schlafen. Den andern Tag meldete ich mir bei die Herrn Stabsoffizier, und alles auf der Parade freute sich, mich so bald wieder bei ihnen zu sehen – Nun fand ich auch ein Quartier. Ein Vorzimmer und eine Stube mit einer wirklich schönen japanischen Tapete und mit schönen Malereien ausgeziert gehört mir und meinen Burschen ganz allein. Zwar ist sie so finster, daß ich dies was ich hier schreibe kaum erkennen kann; zwar dringt keine Sonnenstrahl in die Mitte der Stube, allein ich wäre zufrieden und wenns ein Keller wäre. Was mich aber über alle Maßen sonderbar vorkommt, ist dies, daß ich für ein eigenes Bette, worum ich meine Wirtin gebeten habe, wöchentlich – 1 Rth. sage einen Reichsthaler geben muß. Es ist unerhört; allein ich müßte es ihr geben und wenn sie auch nicht einen Pfennig abließe. Eigentlich muß ich mit dem Burschen zusammenschlafen, und dies geschähe auch recht gern; denn wenn der Mensch reinlich ist, so ist dies gar nicht sonderbar. Allein auch er hat nur einen Strohsack und eine Decke. Ich könnte dies meinem Capitaine sagen, und er wäre gewiß so gütig für mich besser zu sorgen; ich mag mich aber das nicht aussetzen, daß es heißt, ich bin mit nichts zufrieden und es käme mir nur ungewohnt vor. Das Mittagessen besteht in einer Suppe und Gemüse, öfters als zum Beispiel heute fehlt die Suppe. Kaffee und Zucker hab ich selbst. Abendbrot eß ich bei den Wirt einer meiner Kameraden, bei einen herzensguten Mann, sehr gut und wohlfeil. Was ich aber in meinem Quartier verzehre muß ich aufs teuerste bezahlen. Glauben Sie etwa nicht daß dies ein Appendix zu dem Gespräch sei was wir einmal hatten, nämlich daß die Söhne ihren Eltern öfters von Unglücksfällen vorlügen; dies ist der Fall nicht und wird es nie sein. Jetzt darf ich zu dem Mittel meine Zuflucht noch nicht nehmen, und für die Folge da werden Sie, gnädigste Tante, schon sorgen. Gott sei Dank daß es nicht mehr lange dauern wird, denn wir marschieren Donnerstag oder Freitag (d. 21. oder 22.) ganz gewiß. Vier Esquadrons von Golz haben eine französische Batterie von 18 Kanonen bei Rüremonde erobert; 12 Stück zwölfpfündige stehen schon als Siegstrophäen auf dem hiesigen Römerplatz. Die Franzosen oder vielmehr das Räubergesindel wird jetzt allerwärts geklopft. Mastricht ist entsetzt, die Feinde sind von den Österreichern an drei Orten zurück geschlagen worden. Täglich ziehen Kaiserliche, Sächsische, Hessische und allerlei Truppen hier durch die Stadt. Täglich kommen schwere Batterien auf Frachtwagen aufgepackt hier nach Frankfurt. Bereits sind 180 schwere östreichsche Batterien hier, ohne die preuß'schen und ohne die, die noch kommen. Man erwartet täglich den Anfang des Bombardements von Mainz, und so ganz ohne Nutzen wird die Garde hier wohl nicht sein. Übermorgen ohngefähr (denn heute schreiben wir schon den 18.) marschieren wir, wohin? das weiß kein Mensch noch nicht, und wenn bestimmt, ebensowenig. Wahrscheinlich sollen wir eine Meile von hier die Stelle des Korps von Hohenlohe mit ersetzen was über den Rhein setzen soll. Sollte ich bald mit Briefe von Ihnen, gnädiges Tantchen, oder von meinen lieben Schwestern beglückt werden, so adressieren Sie nur, wenn Sie nicht genau den Ort unsers Aufenthalts wissen, den Brief nach Frankfurt a. Main, und so werd ich ihn wohl bekommen. – Haben Sie die Güte und empfehlen Sie mich der Frau Landrätin v. Gloger zu Gnaden; ihren Herr Sohn hab ich gesund und wohl gesprochen und bereits Brief und Pack abgegeben. – Ich gefalle mich also hier in Frankfurt sehr gut, und meiner völligen Zufriedenheit fehlt nichts als das gewisse Bewußtsein Ihrer aller Gesundheit. In den vergnügtesten Augenblicken stört mich freilich öfters der Gedanke beinahe 100 Meilen von Ihnen entfernt zu sein; von Ihnen allen, die einzigen, die ich noch lebhaft liebe und schätze, und an deren Liebe ich noch natürlichen Anspruch machen darf. Der Gedanke an Ihnen, beste Tante, erpreßt mir Tränen, indem ich zugleich an eine verlorne zärtliche Mutter denke, und der Gedanke an Ihre Wohltaten tröstet mich indem ich nun keine verlaßne Waise zu sein glaube. Dies alles, Tantchen, Schmerz und Freude, ist bei der Neuheit dieses unglücklichen Vorfalls natürlich; die beste Trösterin aller Leiden, die Zeit, wird nach und nach auch mich trösten, aber vergessen werd ich die Ursach nie.

Bei dem Auspacken meines Felleisens erinnerte mich jede Kleinigkeit an Ihre Sorgfalt, und viele von die Sachen die Sie so vorsorgend mir mitgaben, muß ich zurücklassen. Kaum daß ich das Kaffeezeug mitnehmen kann. Mein Capitaine hätte gewiß meinen ganzen Mantelsack mitgenommen, wenn er noch wie sonst fahren dürfte. Es ist aber bei Kassation verboten, und darf bloß gepackt werden; die Stelle meines Bettsacks den ich nun wohl verkaufen werde, wird ein 2. Turnister ersetzen, wo ich denn alles höchst Notwendige einpacken und ihn so dem Capitaine übergeben werde. Alles Überflüssige bleibt hier in Frankfurt am Main in sicherer Verwahrung.

Nun, bestes Tantchen, ist auch meine ganze Erzählungs-Suade erschöpft, denn in diesen Augenblick fällt mir nichts bei was ich Ihnen noch mitteilen könnte, und doch bin ich überzeugt noch vieles vergessen zu haben. Um Ihnen nun aber alles mitzuteilen, was mir und die jetzige Lage der Dinge anbetrifft, so werde ich immer fortfahren Ihnen meinen hiesigen Lebenswandel zu beschreiben. Mir verschafft das Beschäftigung und Vergnügen, und vielleicht ist dies Ihnen auch nicht ganz unangenehm. Freilich, lange werde ich Beschäftigung nicht mehr suchen dürfen; die wird sich auf einem baldigen Marsch schon von selbst einfinden. –

Allen meinen Angehörigen, Teilnehmern und Freunden bitte ich meine Empfehlung zu machen, und mit der Bitte, ja meinen Mischmasch von Brief nicht zu kritisieren und genau zu betrachten, habe ich die Ehre mit der schuldigsten Ehrfurcht und aufrichtigsten Liebe mich zu nennen

gnädigstes Tantchen

Ihr gehorsamer Knecht
Heinrich v. Kl.    

P. S.

Beinahe hätte ich vergessen das Wichtigste Ihnen zu melden. Ich bin nämlich durch einen gewißen Lieut. v. Haak der bei der Suite mit Avantage versetzt ist um eine Stufe avanciert, und habe Hoffnung zu mehr. – Wenn Sie die Gnade haben mich bald mit der Nachricht Ihres Wohlbefindens zu beglücken, so erbitte ich mich von Ihnen mir doch den Eindruck zu beschreiben, den die Nachricht des Verlusts unsrer Mutter bei die 4 Cousins gemacht hat. – Dieses einzige Mal, Tantchen, würken Sie nur noch bei Gustchen Verzeihung aus, daß ich ihr nicht schreibe; ich könnte wohl noch auf den künftigen Posttag warten, allein der Marsch übereilt uns. Ich erwarte und hoffe aber von beiden lieben Schwestern Briefe.

*

2. An Ulrike von Kleist

Eschborn, den 25. Febr. 1795

Liebe Ullrique,

Ein Geschenk mit so außerordentlichen Aufopferungen von Seiten der Geberin verknüpft, als Deine für mich gestrickte Weste, macht natürlich auf das Herz des Empfängers einen außerordentlichen Eindruck. Du schlägst jede Schlittenfahrt, jede Maskerade, jeden Ball, jede Komödie aus, um, wie Du sagst, Zeit zu gewinnen, für Deinen Bruder zu arbeiten; Du zwingst Dir eine Gleichgültigkeit gegen die für Dich sonst so reizbaren Freuden der Stadt ab, um Dir das einfachere Vergnügen zu gewähren, Deinen Bruder Dich zu verbinden. Erlaube mir daß ich hierin sehr viel finde; mehr, – als gewöhnlich dergleichen Geschenke an wahren inneren Wert in sich enthalten. Gewöhnlich denkt sich der Geber so wenig bei der Gabe, als der Empfänger bei dem Danke; gewöhnlich vernichtet die Art zu geben, was die Gabe selbst vielleicht gut gemacht haben würde. Aber Dein Geschenk heischt einen ganz eignen Dank. Irre ich nicht, so hältst Du den Dank für überflüssig, für gleichgültig, oder eigentlich für geschmacklos. Auch hast Du in gewisser Rücksicht recht, wenn Du von jener Empfindung sprichst, die in dem Munde einer gewissen Art von Menschen, weiter nichts als der Klang einer hohlen Schelle ist. Was mich dahin leitet Dir zu danken, ist aber eine sehr natürliche Empfindung, ist bloß Folge Deines glücklich gewählten Geschenks. Es flößt mir die wärmste Erkenntlichkeit gegen eine Schwester ein, die mitten in dem rauschenden Gewühl der Stadt, für deren Freuden sie sonst ein so fühlbares Herz hatte, an die Bedürfnisse eines weit entfernten Bruders denkt, nach einem jahrelangen Schweigen an ihn schreibt, und mit der Arbeit ihrer geschickten Hand, den Beweis ihrer Zuneigung ihm gibt. Du siehst wenigstens, liebe Ullrique, daß ich den Wert Deines Geschenkes zu schätzen weiß, und ich wünsche mir Glück, wenn ich Dich davon überzeugt habe. –

Gustchens Brief, und der Brief von der Tante Massow und der Nogier haben mir ein gleich lebhaftes Vergnügen gemacht. Sie beweisen mir alle eine gleiche Teilnahme an meine Lage, und ich muß meine Erkenntlichkeit teilen. Der Brief von der gnädigen Tante enthält die Verwunderung daß ich das Geld durch den Kaufmann Meyer noch nicht erhalten habe; auch mir ist der Vorfall unbegreiflich, und ich würde den Rat der Tante, an ihn zu schreiben, gern befolgen, wenn ich nur den Ort seines Aufenthaltes wüßte. Das Paket, worin die Strümpfe von der Nogier, und noch andere Wäsche war, nebst die Briefe vom 21. Dezbr. 1794, habe ich durch die Post erhalten; um so mehr ist es mir unerklärbar, warum der Kaufmann Meyer nicht zugleich das Geld abgeschickt hat. Ich verliere dabei zwar nichts, denn der Cap. v. Franckenberg ist so gnädig mir meine Zulage, selbst in seiner Abwesenheit auszahlen zu lassen; allein ich fürchte für eine Verwirrung mit den Geldern. Doch wird sich das alles wohl mit der nächsten Messe heben. –

Die Nähe unserer Abreise nach Westfalen hindert mich daran, die Briefe von der Tante und der Nogier zu beantworten; einige nicht unwichtige Geschäfte erhalten mich diese kurze Zeit über, so ziemlich in Bewegung. Dagegen wird die erste Zeit der Ruhe, die wir in Westfalen genießen, mir Gelegenheit geben, meine Pflicht zu beobachten. Ich hoffe auch von da aus zugleich die Nachricht von meinem Avancement abschicken zu können; der Marsch hat eine Änderung darin gemacht, sonst wäre ich vielleicht jetzt schon Offizier. Es macht mir indessen eine herzliche Freude, zu hören, daß Leopold schon so früh zum Offizier reift. Der Stand, in den er bisher gelebt hat, führt so manches Unangenehme, so manche Unbequemlichkeit mit sich, die sein junges Alter, vielleicht zu sehr angreifen würden. Auch hat ihm der Feldzug gegen die Polen genug mit Erfahrungen bereichert um einige Ansprüche auf diese Stelle machen zu können. Gebe uns der Himmel nur Frieden, um die Zeit, die wir hier so unmoralisch töten, mit menschenfreundlicheren Taten bezahlen zu können! –

Und nun nur noch ein paar Worte: ein Auftrag, mich der gnädigen Tante, der Fr. und Frl. v. Gloger, dem Protzenschen Hause, der Bonne, Martinin, Gustchen, mit deren Brief ich für diesmal nicht ganz zufrieden bin, und allen meinen Geschwistern zu empfehlen: die Bitte, mein jetziges Schreiben bald zu beantworten, und: die Versicherung, meiner unveränderlichen herzlichen Freundschaft.

Heinrich.

*

3. An Christian Ernst Martini

Potsdam, den 18. (und 19.) März 1799

Halten Sie mich für keinen Streitsüchtigen, mein Freund! weil ich diesen Brief mit jener Streitfrage anfange, die wir in unserer Unterredung wegen Kürze der Zeit unentschieden lassen mußten. Es ist nötig, mich hierüber zu erklären, um den Gesichtspunkt festzustellen, aus welchem ich die Absicht dieses Briefes beurteilt wissen will. Ich ersuche Sie im voraus, sich bei Lesung desselben mit Geduld zu rüsten; weil er in der Voraussetzung, daß der festzustellende Gesichtspunkt gefaßt und gebilligt wird, eine möglichst vollständige Darstellung meiner Denk- und Empfindungsweise enthalten soll. – Die Frage war die: ob ein Fall möglich sei, in welchem ein denkender Mensch der Überzeugung eines andern mehr trauen soll, als seiner eigenen? Ich sage: ein denkender Mensch, und schließe dadurch alle Fälle aus, in welchen ein blinder Glaube sich der Autorität eines andern unterwirft. Unter dieser Einschränkung scheint für unsere Streitfrage der einzige mögliche Fall der zu sein, wenn sich die Überzeugung des andern vorzugsweise auf die Erfahrung und die Weisheit des Alters gründet. Aber was heißt es: der Überzeugung eines andern trauen? Aus Gründen einsehen, daß seine Meinung wahr ist, das heißt, seine Meinung zur meinen machen, und ist es dann nicht immer nur meine eigene Überzeugung, welcher ich traue und folge? – Alles, was ein denkender Mensch tun soll, wenn die Überzeugung eines älteren und weiseren der seinigen widerspricht, ist, daß er gerechte Zweifel gegen die Wahrheit seiner Meinung erhebe, daß er sie streng und wiederholt prüfe und sich hüte, zu früh zu glauben, daß er sie aus allen Gesichtspunkten betrachtet und beleuchtet habe. Aber gegen seine Überzeugung glauben, heißt glauben, was man nicht glaubt, ist unmöglich.

Wenn man also nur seiner eigenen Überzeugung folgen darf und kann, so müßte man eigentlich niemand um Rat fragen, als sich selbst, als die Vernunft; denn niemand kann besser wissen, was zu meinem Glücke dient, als ich selbst; niemand kann so gut wissen, wie ich, welcher Weg des Lebens unter den Bedingungen meiner physischen und moralischen Beschaffenheit für mich einzuschlagen am besten sei; eben weil dies niemand so genau kennt, niemand sie so genau ergründen kann, wie ich. Alle diejenigen, die so schnell mit Ratgeben bei der Hand sind, kennen die Wichtigkeit und Schwierigkeit des Amtes nicht, dem sie sich unterziehen, und diejenigen, die sein Gewicht genug einsehen, scheuen sich, es zu verwalten, eben weil sie fühlen, wie schwer und selbst wie gefährlich es ist. Es ist also ein wahres Wort: daß man nur den um Rat fragen soll, der keinen gibt.

Aus dem Grunde schreib ich an Sie, mein Freund! Aus diesem Grunde? Ja, mein Teurer! so paradox das auch klingen mag. Als ich Ihnen meinen Entschluß, den Abschied zu nehmen, um mich den Wissenschaften zu widmen, eröffnete, äußerten Sie mir zwar eine herzliche Teilnahme; aber Sie hüteten sich eben so sehr, diesen Entschluß zu erschüttern, wie ihn zu befestigen; Sie taten nichts, als mich zu einer neuen, strengen Prüfung desselben einzuladen. Ich erkenne aus dieser klugen Behutsamkeit, daß Sie das Geschäft eines Ratgebers genug zu würdigen wissen. Sie hielten mir nur Ihr Urteil zurück, weil Sie den Gegenstand dieses Urteils noch nicht genau kannten; wenn ich Sie aber in den Stand gesetzt habe, ihn zu beurteilen, werden Sie mir Ihre Meinung über denselben nicht verweigern, und ich kann sicher und gewiß sein, daß sie geprüft und überlegt ist.

Unterdes fühle ich die Notwendigkeit, mich einem vernünftigen Manne gerade und ohne Rückhalt mitzuteilen, und seine Meinung mit der meinigen vergleichen zu können. Allen, die um meinen Entschluß wissen, meiner Familie, mit Ausschluß meiner Schwester Ulrike, meinem Vormunde, habe ich meinen neuen Lebensplan nur zum Teil mitgeteilt, und daher trafen auch alle Einwürfe von ihrer Seite denselben nur halb. Mich ihnen ganz zu eröffnen, war aus Gründen, deren Richtigkeit Sie nach vollendeter Durchlesung dieses Briefes einsehen werden, nicht ratsam.

Alle diese Leute schiffen ins hohe Meer und verlieren nach und nach die Küste mit ihren Gegenständen aus den Augen.

Gefühle, die sie selbst nicht mehr haben, halten sie auch gar nicht für vorhanden. Dieser Vorwurf trifft besonders meine sonst sehr ehrwürdige Tante, die nichts mehr liebt, als Ruhe und Einförmigkeit, und jede Art von Wechsel scheut, wäre es auch die Wanderung aus einer Wohnstube in die andere.

Um Sie aber in den Stand zu setzen, ein richtiges Urteil zu fällen, werde ich etwas weiter ausholen müssen, und ich wiederhole daher meine Bitte um Geduld, weil ich voraussehe, daß der Gegenstand und die Fülle seiner Betrachtung mich fortreißen wird.

Ohne die entfernteren Gründe meines Entschlusses aufzusuchen, können wir sogleich bei dem verweilen, aus welchem er zunächst fließt: bei dem Wunsche, glücklich zu sein.

Dieser Grund ist natürlich und einfach und zugleich in gewisser Rücksicht der einzige, weil er im richtigen Sinn alle meine anderen Gründe in sich faßt.

Unsere ganze Untersuchung wird sich allein auf die Untersuchung dieses Wunsches einschränken, und um Sie in den Stand zu setzen, darüber zu urteilen, wird es nötig sein, den Begriff von Glück und wahrem Vorteil festzustellen. Aber ich stoße hier gleich auf eine große Schwierigkeit; denn die Begriffe von Glück sind so verschieden, wie die Genüsse und die Sinne, mit welchen sie genossen werden. Dem einen ist es Überfluß, und wo, mein Freund! kann dieser Wunsch erfüllt werden, wo kann das Glück sich besser gründen, als da, wo auch die Werkzeuge des Genusses, unsere Sinne, liegen, worauf die ganze Schöpfung sich bezieht, worin die Welt mit ihren unendlichen Reizungen im Kleinen sich wiederholt. Da ist es auch allein unser Eigentum, es hangt von keinen äußeren Umständen ab; kein Tyrann kann es uns rauben, kein Bösewicht es stören; wir tragen es mit uns in alle Weltteile umher.

Diese Betrachtungen, die ich mir häufig und mit Vergnügen wiederhole, entzücken mich bei jeder meiner Vorstellung von denselben, weil ich mit ganzer Seele fühle, wie wahr sie sind und wie kräftig sie meinen Entschluß begünstigen und unterstützen. So übe ich mich unaufhörlich darin, das wahre Glück von allen äußeren Umständen zu trennen und es nur als Belohnung und Ermunterung an die Tugend zu knüpfen. Da erscheint es in schönerer Gestalt und auf sicherem Boden.

Zwar wenn ich so das Glück als Belohnung der Tugend aufstelle, denke ich mir das erste als Zweck und das andere nur als Mittel. Dabei fühle ich aber, daß in diesem Sinne die Tugend nicht in ihrer höchsten Würde erscheint, ohne jedoch angeben zu können, wie das Mißverhältnis in der Vorstellung zu ändern sei. Es ist möglich, daß es das Eigentum einiger wenigen schöneren Seelen ist: die Tugend allein um der Tugend willen zu lieben.

Aber mein Herz sagt mir, daß auch die Erwartung und Hoffnung auf ein sinnliches Glück und die Aussicht auf tugendhafte, wenn gleich nicht mehr so reine Freuden nicht strafbar und verbrecherisch sei. Wenn Eigennutz dabei zum Grunde liegt, ist es der edelste, der sich denken läßt, der Eigennutz der Tugend selbst.

Und dann dienen und unterstützen sich diese beiden Gottheiten so wechselseitig, das Glück als Ermunterung zur Tugend, die Tugend als Weg zum Glück, daß es den Menschen wohl erlaubt sein kann, sie neben einander und in einander zu denken. Es ist kein besserer Sporn zur Tugend möglich, als die Aussicht auf ein nahes Glück, und kein schönerer und edlerer Weg zum Glücke denkbar, als der Weg der Tugend.

Sie hören mich so viel und lebhaft von der Tugend reden – – – Lieber! ich schäme mich nicht zu gestehen, was Sie befürchten: daß ich nicht deutlich weiß, wovon ich rede, und tröste mich mit unseren Philistern, die unter eben diesen Umständen von Gott reden. Sie erscheint mir nur wie ein hohes, erhabenes, unnennbares Etwas, für das ich vergebens ein Wort suche, um es durch die Sprache, vergebens eine Gestalt, um es durch ein Bild auszudrücken. Und dennoch strebe ich diesem unbegriffenen Dinge mit der innigsten Innigkeit entgegen, als stünde es klar und deutlich vor meiner Seele. Alles, was ich davon weiß, ist, daß es die unvollkommenen Vorstellungen, deren ich jetzt nur fähig bin, gewiß auch enthalten wird; aber ich ahnde noch etwas Höheres, und das ist es wohl eigentlich, was ich nicht ausdrücken und formen kann.

Mich tröstet die Erinnerung dessen, um wie viel dunkler, verworrener als jetzt, in früheren Zeiten der Begriff von Tugend in meiner Seele lag, und nur nach und nach, seitdem ich denke und an meiner Bildung arbeite, auch das Bild der Tugend für mich an Gestalt und Bildung gewonnen hat; daher hoffe und glaube ich, daß, so wie es sich in meiner Seele nach und nach mehr aufklärt, auch das Bild sich in immer deutlicheren Umrissen mir darstellen, und, je mehr es an Wahrheit gewinnt, meine Kräfte stärken und meinen Willen begeistern wird.

Wenn ich Ihnen mit einigen Zügen die undeutliche Vorstellung bezeichnen sollte, die mich als Ideal der Tugend, im Bilde eines Weisen umschwebt, so würde ich nur die Eigenschaften, die ich hin und wieder bei einzelnen Menschen zerstreut finde und deren Anblick mich besonders rührt, zum Beispiel Edelmut, Standhaftigkeit, Bescheidenheit, Genügsamkeit, Menschenliebe, zusammenstellen können; aber freilich, eine Definition würde es immer noch nicht und mit nichts als einer Scharade zu vergleichen sein (verzeihen Sie mir das unedle Gleichnis!), der die sinnreiche Bezeichnung des Ganzen fehlt.

Es sei mit diesen wenigen Zügen genug. – Ich getraue mir zu behaupten, daß, wenn es mir gelingt, bei der möglichst vollkommenen Ausbildung meiner geistigen und körperlichen Kräfte, auch diese benannten Eigenschaften einst fest und unerschütterlich in mein Innerstes zu gründen, ich, unter diesen Umständen, nie unglücklich sein werde.

Ich nenne nämlich Glück nur die vollen und überschwenglichen Genüsse, die – um es Ihnen mit einem Zuge darzustellen – in dem erfreulichen Anschauen der moralischen Schönheit unseres eigenen Wesens liegen. Diese Genüsse, die Zufriedenheit unsrer selbst, das Bewußtsein guter Handlungen, das Gefühl unserer durch alle Augenblicke unseres Lebens, vielleicht gegen tausend Anfechtungen und Verführungen standhaft behaupteten Würde sind fähig, unter allen äußern Umständen des Lebens, selbst unter den scheinbar traurigsten, ein sicheres, tiefgefühltes, unzerstörbares Glück zu gründen. Und verdienen wohl, bei diesen Begriffen von Glück, Reichtum, Güter, Würden und alle die zerbrechlichen Geschenke des Zufalls diesen Namen ebenfalls?

So arm an Nüancen ist unsere deutsche Sprache nicht. Ich finde vielmehr leicht ein paar Worte, die, was diese Güter bewirken, sehr passend ausdrücken: Vergnügen und Wohlbehagen. Um diese angenehmen Genüsse sind Fortunens Günstlinge freilich reicher als ihre Stiefkinder, und es sei! Die Großen der Erde mögen den Vorzug vor den Geringern haben, zu schwelgen und zu prassen. Alle Güter der Welt mögen sich ihren nach Vergnügen lechzenden Sinnen darbieten, und sie mögen ihrer vorzugsweise genießen. Nur, mein Freund! das Vorrecht, glücklich zu sein, wollen wir ihnen nicht einräumen. Mit Gold sollen sie den Kummer, wenn sie ihn verdienen, nicht aufwiegen können. Es waltet ein großes unerbittliches Gesetz über die ganze Menschheit, dem der Erste wie der Bettler unterworfen ist. Der Tugend folgt die Belohnung, dem Laster die Strafe. Kein Gold besticht ein empörtes Gewissen, und wenn der lasterhafte Fürst auch alle Blicke, Mienen und Reden besticht, wenn er auch alle Künste des Leichtsinns und der Üppigkeit herbeiruft, um das häßliche Gespenst vor seinen Augen zu verscheuchen – umsonst! Ihn quält und ängstigt sein Gewissen wie den Geringsten seiner Untertanen. Vor diesem größten der Übel mich zu schützen und jenes einzige Glück mir zu erhalten und zu erweitern, soll allein mein innigstes und unaufhörliches Bestreben sein, und wenn ich mich bei der Sinnlichkeit der Jugend nicht entbrechen kann, neben den Genüssen des ersten und höchsten innern Glückes mir auch die Genüsse des äußern zu wünschen, will ich wenigstens in diesen Wünschen so bescheiden und genügsam sein, wie es einem Schüler der Weisheit ansteht.

Auf diese Begriffe von Glück und Unglück gründet sich zuerst und zunächst der Entschluß, den Mittelpfad zu verlieren, teils, weil die Güter, die er als Belohnung an jahrelange Anstrengung knüpft, Reichtum, Würden, Ehren, eben durch sie unglaublich an Vorteil und Reiz verlieren; teils, weil die Pflichten und Verhältnisse, die er gibt, die Möglichkeit einer vollkommenen Ausbildung und daher auch die Gründung des Glückes zerstören, das allein und einzig das Ziel meines Bestrebens sein soll. – –

Was man nach der gemeinen Regel Glück und Unglück nennt, ist es nicht immer; denn bei allen Begünstigungen des äußern Glückes haben wir Tränen in den Augen des Ersten und bei allen Vernachlässigungen desselben ein Lächeln auf dem Antlitze des andern gesehen.

Wenn also das Glück sich nur so unsicher auf äußere Dinge gründet, wo wird es sich dann sicher und unwandelbar gründen? Ein Traum kann diese Sehnsucht nach Glück nicht sein, die von der Gottheit selbst so unauslöschlich in unserer Seele erweckt ist und durch welche sie unverkennbar auf ein für uns mögliches Glück hindeutet. Glücklich zu sein ist ja der erste aller unsrer Wünsche, der laut und lebendig aus jeder Ader und jedem Nerv unsres Wesens spricht, der uns durch den ganzen Lauf unsres Lebens begleitet, der schon dunkel in den ersten kindischen Gedanken unsrer Seele lag, und den wir endlich als Greise mit in die Gruft nehmen werden – – – – – –

Dem einen Ruhm, dem andern Vergessenheit, dem einen ein Szepter, dem andern ein Wanderstab! Auch zeigt sich uns das Ding in den wunderbar ungleichartigsten Gestalten, wird vermißt, wo alle Präparate sein Dasein verkündigen, und gefunden, wo man es am wenigsten vermutet haben würde.

So sehen wir, zum Beispiel, die Großen der Erde im Besitze der Güter dieser Welt. Sie leben in Gemächlichkeit und Überfluß: alle Schätze der Natur scheinen sich um sie und für sie zu versammeln, und darum nennt man sie Günstlinge des Glücks. Aber der Unmut trübt ihre Blicke, der Schmerz bleicht ihre Wangen, der Kummer spricht aus ihren Zügen. Dagegen sehen wir einen armen Tagelöhner sich im Schweiße seines Angesichts sein Brot erwerben. Mangel und Armut umgeben ihn; sein ganzes Leben scheint ein ewiges Sorgen und Schaffen und Darben. Aber die Zufriedenheit blickt aus seinen Augen, die Freude lächelt aus seinem Antlitz, Frohsinn und Vergessenheit umschweben die ganze Gestalt. – – –

Den 19. März

Lesen Sie diesen Brief, wie ich ihn geschrieben habe, an mehreren hintereinanderfolgenden Tagen. Ich komme nun zu einem neuen Gegenstande, zu der Natur des Standes, den ich jetzt zu verlassen entschlossen bin, und es ist nötig, Ihnen auch hierüber meine Denkweise mitzuteilen, weil sie Ihnen einigen Aufschluß über die Ursachen meines Entschlusses gewähren wird.

Ich teile Ihnen zu diesem Zwecke einen Brief mit, den ich bei dem Eifer für die Güte meiner Sache vor einem Jahre in der Absicht an den König schrieb, um denselben an ihn abzuschicken; aber, nach Vollendung desselben, abzuschicken nicht für gut fand, weil ich fühlte, daß die Darstellung des Gegenstandes so fehlerhaft wie unvollständig ist, und daß die Sprache, die ich darin führe, nicht besonders geschickt ist, um zu überzeugen und einzunehmen. Dennoch werden Sie unter vielen Irrtümern notwendig auch manche Wahrheit entdecken, und auf jeden Fall einsehen, daß der Gesichtspunkt, aus welchem ich den Soldatenstand betrachte, ein neuer, entscheidender Grund ist, ihn so bald wie möglich zu verlassen.

Denn eben durch diese Betrachtungen wurde mir der Soldatenstand, dem ich nie von Herzen zugetan gewesen bin, weil er etwas durchaus Ungleichartiges mit meinem ganzen Wesen in sich trägt, so verhaßt, daß es mir nach und nach lästig wurde, zu seinem Zwecke mitwirken zu müssen. Die größten Wunder militärischer Disziplin, die der Gegenstand des Erstaunens aller Kenner waren, wurden der Gegenstand meiner herzlichsten Verachtung; die Offiziere hielt ich für so viele Exerziermeister, die Soldaten für so viele Sklaven, und wenn das ganze Regiment seine Künste machte, schien es mir als ein lebendiges Monument der Tyrannei. Dazu kam noch, daß ich den übeln Eindruck, den meine Lage auf meinen Charakter machte, lebhaft zu fühlen anfing. Ich war oft gezwungen, zu strafen, wo ich gern verziehen hätte, oder verzieh, wo ich hätte strafen sollen; und in beiden Fällen hielt ich mich selbst für strafbar. In solchen Augenblicken mußte natürlich der Wunsch in mir entstehen, einen Stand zu verlassen, in welchem ich von zwei durchaus entgegengesetzten Prinzipien unaufhörlich gemartert wurde, immer zweifelhaft war, ob ich als Mensch oder als Offizier handeln mußte; denn die Pflichten beider zu vereinen, halte ich bei dem jetzigen Zustande der Armeen für unmöglich.

Und doch hielt ich meine moralische Ausbildung für eine meiner heiligsten Pflichten, eben weil sie, wie ich eben gezeigt habe, mein Glück gründen sollte, und so knüpft sich an meine natürliche Abneigung gegen den Soldatenstand noch die Pflicht, ihn zu verlassen.

Das, mein teurer Freund! ist die getreue Darstellung der Gründe, die mich bewogen, den Soldatenstand zu verlassen. Welche Gründe ich für die Wahl eines anderen Standes habe, braucht nicht untersucht zu werden; denn wenn ich mich den Wissenschaften widmen will, ist das für mich kein neuer Stand, weil ich schon, seit ich in Potsdam, mehr Student als Soldat gewesen bin. Ich habe mich ausschließlich mit Mathematik und Philosophie, – als den beiden Grundfesten alles Wissens, beschäftigt und als Nebenstudien die griechische und lateinische Sprache betrieben, welche letztere ich nun zur Hauptsache erheben werde. Ich habe außer einer nicht sehr bedeutenden Hülfe eines übrigens gescheuten Mannes, des Konrektors Bauer, jene beiden Wissenschaften und besonders die Philosophie ganz allein studiert, und bin daher auch in den zwei Jahren, welche ich der Mathematik, und in dem halben Jahre, welches ich der Philosophie gewidmet habe, nicht weiter vorgerückt, als in jener Wissenschaft bis zur Vollendung der gemischten Arithmetik –, mit Einschluß der Lehre von den geometrischen Reihen und einigem der Geometrie, sowie in dieser nicht ganz bis zur Vollendung der reinen Logik. Dagegen aber darf ich mich getrauen zu behaupten, daß ich das, was ich betrieben habe, weiß und fühle, nicht bloß über fremder Herren Länder gewandelt zu sein, sondern es zu meinem Eigentume gemacht zu haben. Sie fragten mich in Frankfurt, welcher Grund mich bei dem schon lange gebildeten Entschlusse, den Dienst zu verlassen, besonders bestimmt habe, es in diesem Zeitpunkte zu tun, und luden mich ein, ihn zu prüfen. An den Grund, den ich Ihnen vortragen werde, knüpft sich noch die nahe Exerzierzeit, die mir eine kostbare Zeit rauben würde, wenn ich ihr nicht zu entgehen suchte, und, Lieber! dieser Grund ist an sich so zufällig und scheinbar unbedeutend, daß Sie sich so ganz in meine Denkungsart versetzen müssen, um ihn wichtig genug zu finden, diese Folge zu bestimmen. Vergessen Sie auch nur nicht, daß der Wille, den Dienst zu verlassen, schon längst in meiner Seele lag.

Mich fesselte nichts in Potsdam als das Studium der reinen Mathematik, das ich hier zu beendigen wünschte, und ich glaubte, daß mir ohne alle Hülfe meines Lehrers dieses Studium, besonders für die Zukunft die Algebra, zu schwer fallen oder wenigstens durch diese Hülfe erleichtert werden würde. Haben Sie aber Lust, eine Geschichte zu hören, so will ich Ihnen den Vorfall erzählen, der mich von meiner irrigen Meinung heilte.

Ich studierte die Wissenschaft gesellschaftlich mit einem jüngeren Freunde vom Regiment. Wir hatten bei unserm Lehrer Bauer den Unterricht in der Geometrie angefangen, und, um schneller fortzurücken, die Einrichtung getroffen, daß wir uns zu jeder Stunde präparierten und in den Stunden selbst, ohne weiteren Vortrag von Seiten unseres Lehrers, abwechselnd der Reihe nach die Wahrheiten der Lehrsätze erwiesen, so daß unserem Lehrer kein anderes Geschäft, als die Beurteilung übrig blieb, ob wir die Resultate richtig gefaßt hätten. Schon diese Einrichtung war nicht viel mehr als eigenes Studium. Aber daß auch das wenige, was wir von der Hülfe unseres Lehrers genossen, nicht wert sei, darum die Ausführung meines Entschlusses zu verschieben, ward mir klar, als wir kürzlich zu dem Beweise kamen, daß auch irrationale Verhältnisse der Linien wie rationale angesehen werden können, weil das Maß jeder Linie kleiner als jede denkbare Größe ist. Der Beweis war indirekt und so weitläufig geführt, daß ich bei einiger Übereilung den Schlüssen nicht ganz folgen konnte, wie denn überhaupt Kästners indirekte Beweise keine Einsicht in die Natur der Sache gewähren und immer mir auch unglaublich sein werden, weil ich mich unaufhörlich sträube, als wahr vorauszusetzen, was ich für falsch erkennen muß. Kurz, ich erschien für diesen Beweis unvorbereitet in den Stunden, und unglücklicherweise traf mich die Reihe, ihn zu führen. Ich konnte es nicht. Mein Lehrer demonstrierte mir ihn; aber was ich nicht verstehen kann, wenn ich es lese, verstehe ich noch weit weniger, wenn ich es höre; wenn ich einen Beweis lese, gehe ich nicht eher zur Folgerung, als bis ich den Grund einsehe, und baue nicht fort, ehe ich nicht den Grundstein gelegt habe. Nichts stört mich in meiner Betrachtung, und wenn mich irgend ein sich ergebender Umstand zum Nachdenken verführt, erkläre ich mich über diesen auch und gehe von dannen weiter, wo ich stehen blieb. Wie ganz anders ist es dagegen, wenn ich höre! Der Lehrer folgert und schließt nach dem Grade seiner Einsicht, nicht nach dem Grade der meinigen. Der Gang, den er nimmt, kann der beste sein; aber in meiner Seele bildete sich einmal der Entwurf eines anderen, und die Abweichung von diesem macht eine störende Diversion in meinem Denkgeschäfte, oder ich falle mit Lebhaftigkeit über einen uns merkwürdigen Umstand her, der noch nicht berührt worden ist, und mich unwillkürlich beschäftigt, meine Aufmerksamkeit vom Ziele abzieht, das mein Lehrer, taubes Ohren predigend, mir indessen entgegenrückt. Kurz, ich begriff zum zweiten und dritten Male nicht, was der Lehrer demonstrierte, und es blieb, zu meiner nicht unempfundenen Schande, kein ander Mittel übrig, als meinem Freunde das Geschäft des Demonstrierens zu übertragen, der sich dessen auch vollkommen gut entledigte. Zu meinem Troste gestand er mir, als wir das Zimmer unsers Lehrers (diesmal für mich ein Inquisitions-Tribunal, weil ich bei jeder Frage heiße Tropfen schwitzte,) verlassen hatten, daß er den Beweis schon vor der Stunde vollkommen eingesehen habe und ohnedies mit mir ein gleiches Schicksal gehabt haben würde, weil auch er gleich mir aus derselben Ursache der Demonstration des Lehrers (für deren Richtigkeit ich übrigens stehe) nicht habe folgen können. Ich eilte mit meinem Lehrbuche nach Haus, las, verstand, führte Beweis, streng systematisch, für die verschiedenen Fälle, und in zwei Tagen war ich in Frankfurt, um keinen Augenblick mehr die Erfüllung meines Entschlusses aufzuschieben. Man machte mir Einwürfe, fragte mich, welche Brotwissenschaft ich ergreifen wolle; denn daß dies meine Absicht sein müsse, fiel niemanden ein, zu bezweifeln. Ich stockte. Man ließ mir die Wahl zwischen Jurisprudenz und der Kameralwissenschaft.

Ich zeigte mich derselben nicht abgeneigt, ohne mich jedoch zu bestimmen. Man fragte mich, ob ich auf Konnexionen bei Hofe rechnen könne? Ich verneinte anfänglich etwas verlegen, aber erklärte darauf, um so viel stolzer, daß ich, wenn ich auch Konnexionen hätte, mich nach meinen jetzigen Begriffen schämen müßte, darauf zu rechnen. Man lächelte, ich fühlte, daß ich mich übereilt hatte. Solche Wahrheiten muß man sich hüten, auszusprechen. Man fing nun an, nach und nach zu zweifeln, daß die Ausführung meines Planes ratsam sei. Man sagte, ich sei zu alt, zu studieren. Darüber lächelte ich im Innern, weil ich mein Schicksal voraus sah, einst als Schüler zu sterben, und wenn ich auch als Greis in die Gruft führe. Man stellte mir mein geringes Vermögen vor; man zeigte mir die zweifelhafte Aussicht auf Brot auf meinem neuen Lebenswege; die gewisse Aussicht auf dem alten. Man malte mir mein bevorstehendes Schicksal, jahrelang eine trockene Wissenschaft zu studieren, jahrelang und ohne Brot mich als Referendar mit trockenen Beschäftigungen zu quälen, um endlich ein kümmerliches Brot zu erwerben, mit so barocken Farben aus, daß, wenn es mir, wenn auch nur im Traume, hätte einfallen können, meine jetzige, in vieler Hinsicht günstige Lage darum mit diesem Lebensplane zu vertauschen, ich mich den unsinnigsten Toren hätte schelten müssen, der mir je erschienen wäre.

Aber alle diese Einwürfe trafen meinen Entschluß nicht. Nicht aus Unzufriedenheit mit meiner äußern Lage, nicht aus Mangel an Brot, nicht aus Spekulation auf Brot, – sondern aus Neigung zu den Wissenschaften, aus dem eifrigsten Bestreben nach einer Bildung, welche, nach meiner Überzeugung, in dem Militärdienste nicht zu erlangen ist, verlasse ich denselben. Meine Absicht ist, das Studium der reinen Mathematik und reinen Logik selbst zu beendigen und mich in der lateinischen Sprache zu befestigen, und diesem Zwecke bestimme ich einen jahrelangen Aufenthalt in Frankfurt. Alles was ich dort hören möchte, ist ein Kollegium über literarische Enzyklopädie. Sobald dieser Grund gelegt ist – und um ihn zu legen, muß ich die benannten Wissenschaften durchaus selbst studieren –, wünsche ich nach Göttingen zu gehen, um mich dort der höheren Theologie, der Mathematik, Philosophie und Physik zu widmen, zu welcher letzteren ich einen mir selbst unerklärlichen Hang habe, obwohl in meiner früheren Jugend die Kultur des Sinnes für die Natur und ihre Erscheinungen durchaus vernachlässigt geblieben ist und ich in dieser Hinsicht bis jetzt nichts kann, als mit Erstaunen und Verwunderung an ihre Phänomene denken.

Diesen Studienplan lege ich Ihrer Prüfung vor und erbitte mir darüber Ihren Rat, weil ich hierin meine Vernunft nicht als alleinige Ratgeberin anerkennen, nicht vorzugsweise meiner Überzeugung trauen darf, und es einen Gegenstand betrifft, dessen ich unwissend bin, und über den andere aufgeklärt sind. – Welche Anwendung ich einst von den Kenntnissen machen werde, die ich zu sammeln hoffe, und auf welche Art und Weise ich mir das Brot, das ich für jeden Tag, und die Kleidung, die ich für jedes Jahr brauche, erwerben werde, weiß ich nicht. Mich beruhigt mein guter Wille, keine Art von Arbeit und Broterwerb zu scheuen, wenn sie nur ehrlich sind. Alle Beispiele von ungeschätztem Verstande und brotlosen, wiewohl geschickten Gelehrten und Künstlern, von denen es freilich, leider! wimmelt, erschrecken mich so wenig, daß ich ihnen vielmehr mit Recht dies Schicksal zuerkenne, weil niemand zu hungern braucht, wenn er nur arbeiten will. Alle diese Leute (mit Ausschluß der Kranken und Unvermögenden, welche freilich kein hartes Schicksal verdienen) sind entweder zu unwissend, um arbeiten zu können, oder zu stolz, um jede Art von Arbeit ergreifen zu wollen. Brauchbare und willige Leute werden immer gesucht und gebraucht. Diese Überzeugung beruht nicht auf der Tugend der Menschen, sondern auf ihrem Vorteile, und um so weniger soll sie mir, zu meinem Glücke, jemand rauben. Vielleicht ist es möglich, daß Zeit und Schicksale in mir Gefühle und Meinungen ändern; denn wer kann davor sicher sein! Es ist möglich, daß ich einst für ratsam halte, eine Bedienung, ein Amt zu suchen, und ich hoffe und glaube auch für diesen Fall, daß es mir dann leicht werden wird, mich für das Besondere eines Amtes zu bilden, wenn ich mich für das Allgemeine, für das Leben gebildet habe. Aber ich bezweifle diesen möglichen Schritt; weil ich die goldne Unabhängigkeit, oder, um nicht falsch verstanden zu werden, die goldne Abhängigkeit von der Herrschaft der Vernunft mich gewiß stets zu veräußern scheuen würde, wenn ich erst einmal so glücklich gewesen wäre, sie mir wieder erworben zu haben. Diese Äußerung ist es besonders, die ich zu verschweigen bitte, weil sie mir ohne Zweifel viele Unannehmlichkeiten von Seiten meines Vormundes verursachen würde, der mir schon erklärt hat, ein Mündel müsse sich für einen festen Lebensplan, für ein festes Ziel bestimmen. Sobald ich aber nur erst meinen Abschied erhalten habe, um dessen Bewilligung ich bereits nachgesucht, werde ich freimütig und offen zu Werke gehen. Welcher Erfolg dieses Schrittes im Hintergrunde der Zukunft meiner wartet, weiß allein der, der schon jetzt wie in der Zukunft lebt. Ich hoffe das Beste; wiewohl ich auch ohne Bestürzung an schlimme Folgen denke. Auch in ihnen ist Bildung, und vielleicht die höchste Bildung möglich, und sie werden mich nicht unvorbereitet überraschen, wenigstens mich unfehlbar nicht meinen Entschluß bereuen machen. Ja, täten sie dies, müßte ich dann nicht dasselbe fürchten, als wenn ich bliebe, wo ich bin? Man kann für jeden Augenblick des Lebens nichts anderes tun, als was die Vernunft für ihren wahren Vorteil erkennt.

Ein zufälliger Umstand schützt mich vor dem tiefsten Elende, vor Hunger und Blöße in Krankheiten. Ich habe ein kleines Vermögen, das mir in dieser Rücksicht – und weil es mir manchen Vorteil für meine Bildung verschaffen kann – sehr teuer ist, und das ich mir, aus diesem Grunde, möglichst zu erhalten strebe. Mein Glück kann ich freilich nicht auf diesen Umstand gründen, den mir ein Zufall gab, und ich will es daher nur wie ein Geschick, nicht wie eine angeborne Eigenschaft genießen, um mich, wenn ich es verlieren sollte, wenigstens nicht ärmer zu fühlen, als ich war. Ich sinne oft nach, welchen Weg des Lebens ich wohl eingeschlagen haben würde, wenn das Schicksal mich von allen Gütern der Erde ganz entblößt hätte, wenn ich ganz arm wäre; Und fühle eine nie empfundene Freude Kopf und Herz wechselseitig kräftigen, daß ich dasselbe, ganz dasselbe getan haben würde.

Ja, Lieber! Nicht Schwärmerei, nicht kindische Zuversicht ist diese Äußerung. Erinnern Sie sich, daß ich es für meine Pflicht halte, diesen Schritt zu tun; und ein Zufall, außerwesentliche Umstände können und sollen die Erfüllung meiner Pflicht nicht hindern, einen Entschluß nicht zerstören, den die höhere Vernunft erzeugte, ein Glück nicht erschüttern, das sich nur im Innern gründet. In dieser Überzeugung darf ich gestehen, daß ich mit einiger, ja großer Gewißheit einer fröhlichen und glücklichen Zukunft entgegensehe. In mir und durch mich vergnügt, o, mein Freund! wo kann der Blitz des Schicksals mich Glücklichen treffen, wenn ich es fest im Innersten meiner Seele bewahre? Immer mehr erwärmt und begünstigt mein Herz den Entschluß, den ich nun um keinen Preis der Könige mehr aufgeben möchte, und meine Vernunft bekräftigt, was mein Herz sagt, und krönt es mit der Wahrheit, daß es wenigstens weise und ratsam sei, in dieser wandelbaren Zeit so wenig wie möglich an die Ordnung der Dinge zu knüpfen.

Diese getreue Darstellung meines ganzen Wesens, das volle unbegrenzte Vertrauen, dessen Gefühle mir selbst frohe Genüsse gewähren, weil eine zufällige Abgezogenheit von den Menschen sie so selten macht, wird auch Sie nicht ungerührt lassen, soll und wird mir auch Ihr Vertrauen erwerben, um das ich im eigentlichsten Sinne buhle. Den Funken der Teilnahme, den ich bei der ersten Eröffnung meines Plans in Ihren Augen entdeckte, zur Flamme zu erheben, ist mein Wunsch und meine Hoffnung. Sein Sie mein Freund im deutschen Sinne des Worts, so wie Sie einst mein Lehrer waren, jedoch für länger, für immer!

Es wird mir lieb sein, wenn dieser Brief nebst beiliegendem Aufsatz meiner Schwester Ulrike zur Lesung überschickt wird. Sie ist die einzige von meiner Familie, der ich mich ganz anzuvertrauen schuldig bin, weil sie die einzige ist, die mich ganz verstehen kann. Diesen Aufsatz bitte ich aufzubewahren, bis ich ihn mir in Frankfurt selbst abfordere.

Ihr Freund Kleist.

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Königl. Kabinettsorder an Kleist

An den vom Rgt. Garde verabschiedeten Lieut. v. Kleist in Potsdam.

13. April 1799

Ich habe gegen Euern Vorsatz, Euch den Studien zu widmen, nichts einzuwenden, und wenn Ihr Euch eifrig bestrebet, Eure Kenntnisse zu erweitern, und Euch zu einem besonders brauchbaren Geschäftsmanne zu bilden, so werde Ich dadurch auch in der Folge Gelegenheit erhalten, Mich zu bezeigen als Euer p. p.

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4. Revers

Nachdem Sr. Königlichen Majestät von Preußen mir Endesunterschriebenem den aus freier Entschließung und aus eignem Antriebe um meine Studia zu vollenden alleruntertänigst nachgesuchten Abschied aus Höchstdero Kriegsdiensten in Gnaden bewilliget: so reversiere ich mich hierdurch auf Höchstdero ausdrücklichen Befehl: daß ich weder ohne Dero allerhöchsten Konsens jemals in auswärtige Krieges- oder Zivildienste treten, noch in Höchstdero Staaten wiederum in Königl. Kriegsdienste aufgenommen zu werden, anhalten will; dagegen ich mir vorbehalte, nach Absolvierung meiner Studia Sr. Majestät dem Könige und dem Vaterlande im Zivilstande zu dienen. Diesen wohlüberdachten Revers habe ich eigenhändig ge- und unterschrieben. So geschehen Frankfurt a. Oder, den 17. April 1799.

Heinrich v. Kleist          
vormals Lieut. im Regt. Garde

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5. An Ulrike von Kleist

[Frankfurt a. d. Oder, Mai 1799]

Wenn ich von jemandem Bildung erhalte, mein liebes Ulrikchen, so wünsche ich ihm dankbar auch wieder einige Bildung zurückzugeben; wenn ich aus seinem Umgange Nutzen ziehe, so wünsche ich, daß er auch in dem meinigen einigen Nutzen finde; nicht gern möchte ich, daß er die Zeit bei mir verlöre, die ich bei ihm gewinne.

Wie lehrreich und bildend Dein Umgang mir ist, wie vielen wahren Vorteil Deine Freundschaft mir gewährt, das scheue ich mich nicht, Dir offenherzig mitzuteilen; vielmehr es ist recht und billig, daß ein Wohltäter den ganzen Umfang seiner Wohltat kennen lernt, damit er sich selbst durch das Bewußtsein seiner Handlung und des Nutzens, den sie gestiftet hat, belohne. Du, mein liebes Ulrikchen, ersetzest mir die schwer zu ersetzende und wahrlich Dich ehrende Stelle meiner hochachtungswürdigen Freunde zu Potsdam. Ich scheue mich auch nicht Dir zu gestehen, daß die Aussicht auf Deine Freundschaft, so sehr ich sonst andere Universitäten zu beziehen wünschte, mich dennoch, wenigstens zum Teil, bestimmte, meinen Aufenthalt in Frankfurt zu wählen. Denn Grundsätze und Entschlüsse wie die meinigen, bedürfen der Unterstützung, um über so viele Hindernisse und Schwierigkeiten unwandelbar hinausgeführt zu werden. Du, mein liebes Ulrikchen, sicherst mir den guten Erfolg derselben. Du bist die einzige die mich hier ganz versteht. Durch unsere vertraulichen Unterredungen, durch unsere Zweifel und Prüfungen, durch unsere freundlichen und freundschaftlichen Zwiste, deren Gegenstand nur allein die Wahrheit ist, der wir beide aufrichtig entgegenstreben und in welcher wir uns auch gewöhnlich beide vereinigen, durch alle diese Vorteile Deines Umgangs scheidet sich das Falsche in meinen Grundsätzen und Entschlüssen immer mehr von dem Wahren, das sie enthalten, und reinigen sich folglich immer mehr, und knüpfen sich immer inniger an meine Seele, und wurzeln immer tiefer, und werden immer mehr und mehr mein Eigentum. Deine Mitwissenschaft meiner ganzen Empfindungsweise, Deine Kenntnis meiner Natur schützt sie um so mehr vor ihrer Ausartung; denn ich fürchte nicht allein mir selbst, ich fürchte nun auch Dir zu mißfallen. Dein Beispiel schützt mich vor alle Einflüsse der Torheit und des Lasters, Deine Achtung sichert mir die meinige zu. – Doch genug. Du siehst, wie unaufhaltsam mir Dein Lob entfließt, mit wie vielem Vergnügen ich mich als Deinen Schuldner bekenne. Ich schätze Dich als das edelste der Mädchen, und liebe Dich, als die, welche mir jetzt am teuersten ist. Wärst Du ein Mann oder nicht meine Schwester, ich würde stolz sein, das Schicksal meines ganzen Lebens an das Deinige zu knüpfen.

Doch genug hiervon. So viele von Dir empfangene und innig empfundene Wohltaten will ich dadurch zu belohnen suchen, daß ich unaufgefordert und mit der Freimütigkeit der Freundschaft bis in das Geheimste und Innerste Deines Herzens dringe; und finde ich es nicht, wie ich es wünsche, finde ich Dich unentschieden, wo Du längst entschieden sein solltest, finde ich Dich schlummern, wo Du längst wach sein solltest, dann will ich mit der Kühnheit der Freundschaft Dich wecken.

Traue mir zu, daß es meine innige Überzeugung ist, auf welcher sich das jetzt Folgende gründet. Bei so vielen Fähigkeiten, die Deinen Verstand, bei so vielen herrlichen Tugenden, die Dein Herz schmücken, scheint es lieblos und unedel eine dunkle Seite an Dir dennoch auszuspüren. Aber grade diese dunkle Seite, ist keine unbedeutende, gleichgültige. Ich denke, sie würde Deinem Wesen die Krone aufsetzen, wenn sie im Lichte stünde, und darum wünsche ich, sie zu erhellen. Und wenn auch das nicht wäre, – wenn jemand so nahe am Ziele steht, so verdient er schon allein um der seltnen Erscheinung willen, daß man ihn ganz hinaufführe.

Tausend Menschen höre ich reden und sehe ich handeln, und es fällt mir nicht ein, nach dem Warum? zu fragen. Sie selbst wissen es nicht, dunkle Neigungen leiten sie, der Augenblick bestimmt ihre Handlungen. Sie bleiben für immer unmündig und ihr Schicksal ein Spiel des Zufalls. Sie fühlen sich wie von unsichtbaren Kräften geleitet und gezogen, sie folgen ihnen im Gefühl ihrer Schwäche wohin es sie auch führt, zum Glücke, das sie dann nur halb genießen, zum Unglücke, das sie dann doppelt fühlen.

Eine solche sklavische Hingebung in die Launen des Tyrannen Schicksal, ist nun freilich eines freien, denkenden Menschen höchst unwürdig. Ein freier, denkender Mensch bleibt da nicht stehen, wo der Zufall ihn hinstößt; oder wenn er bleibt, so bleibt er aus Gründen, aus Wahl des Bessern. Er fühlt, daß man sich über das Schicksal erheben könne, ja, daß es im richtigen Sinne selbst möglich sei, das Schicksal zu leiten. Er bestimmt nach seiner Vernunft, welches Glück für ihn das höchste sei, er entwirft sich seinen Lebensplan, und strebt seinem Ziele nach sicher aufgestellten Grundsätzen mit allen seinen Kräften entgegen. Denn schon die Bibel sagt, willst du das Himmelreich erwerben, so lege selbst Hand an.

So lange ein Mensch noch nicht im Stande ist, sich selbst einen Lebensplan zu bilden, so lange ist und bleibt er unmündig, er stehe nun als Kind unter der Vormundschaft seiner Eltern oder als Mann unter der Vormundschaft des Schicksals. Die erste Handlung der Selbständigkeit eines Menschen ist der Entwurf eines solchen Lebensplans. Wie nötig es ist, ihn so früh wie möglich zu bilden, davon hat mich der Verlust von sieben kostbaren Jahren, die ich dem Soldatenstande widmete, von sieben unwiederbringlich verlornen Jahren, die ich für meinen Lebensplan hätte anwenden gekonnt, wenn ich ihn früher zu bilden verstanden hätte, überzeugt.

Ein schönes Kennzeichen eines solchen Menschen, der nach sichern Prinzipien handelt, ist Konsequenz, Zusammenhang, und Einheit in seinem Betragen. Das hohe Ziel, dem er entgegenstrebt, ist das Mobil aller seiner Gedanken, Empfindungen und Handlungen. Alles, was er denkt, fühlt und will, hat Bezug auf dieses Ziel, alle Kräfte seiner Seele und seines Körpers streben nach diesem gemeinschaftlichen Ziele. Nie werden seine Worte seinen Handlungen, oder umgekehrt, widersprechen, für jede seiner Äußerungen wird er Gründe der Vernunft aufzuweisen haben. Wenn man nur sein Ziel kennt, so wird es nicht schwer sein die Gründe seines Betragens zu erforschen.

Ich wende mich nun zu Dir, mein liebes Ulrikchen. Deiner denkenden Seele stünde jener hohe Charakter der Selbständigkeit wohl an. Und doch vermisse ich ihn an Dir. Du bist für jeden Augenblick des Lebens oft nur zu bestimmt, aber Dein ganzes Leben hast Du noch nicht ins Auge gefaßt. Aus diesem Umstande erkläre ich mir die häufigen Inkonsequenzen Deines Betragens, die Widersprüche Deiner Äußerungen und Handlungen. Denn ich sinne gern bei Dir über die Gründe derselben, nach, aber ungern finde ich, daß sie nicht immer übereinstimmen.

Du äußerst oft hohe vorurteilsfreie Grundsätze der Tugend, und doch klebst Du noch oft an den gemeinsten Vorurteilen. Nie sehe ich Dich gegen wahren echten Wohlstand anstoßen, und doch bildest Du oft Wünsche und Pläne, die mit ihm durchaus unvereinbar sind. Ich hoffe Du wirst mich überheben, diese Urteile mit Beispielen zu belegen. Du bist entweder viel zu frei und vorurteillos, oder bei weitem nicht genug. Die Folge davon ist, daß ich nicht bestimmen kann, ob das, was Du willst und tust, recht sei, oder nicht, und ich muß fürchten, daß Du selbst darüber unentschieden bist.

Denn warum hättest Du mir, als ich Dir gestern die rasche Frage tat, ob Du Dir einen bestimmten Lebensplan gebildet hättest, mit Verwirrung und Schüchternheit, wenigstens nicht mit jener Dir eigentümlichen Reinheit und Gradheit geantwortet, Du verstündest meine Frage nicht? Meine simple Frage deren Sinn doch so offen und klar ist? Muß ich nicht fürchten, daß Du nur in der Notwendigkeit mir eine Antwort geben zu müssen, die Deiner nicht würdig ist, lieber diesen – Ausweg gewählt hast?

Ein Lebensplan ist – – Mir fällt die Definition vom Birnkuchen ein, die Du einst im Scherze Pannwitzen gabst, und wahrlich, ich möchte Dir im Ernste eine ähnliche geben. Denn bezeichnet hier nicht ebenfalls ein einfacher Ausdruck einen einfachen Sinn? Ein Reisender, der das Ziel seiner Reise, und den Weg zu seinem Ziele kennt, hat einen Reiseplan. Was der Reiseplan dem Reisenden ist, das ist der Lebensplan dem Menschen. Ohne Reiseplan sich auf die Reise begeben, heißt erwarten, daß der Zufall uns an das Ziel führe, das wir selbst nicht kennen. Ohne Lebensplan leben, heißt vom Zufall erwarten, ob er uns so glücklich machen werde, wie wir es selbst nicht begreifen.

Ja, es ist mir so unbegreiflich, wie ein Mensch ohne Lebensplan leben könne, und ich fühle, an der Sicherheit, mit welcher ich die Gegenwart benutze, an der Ruhe, mit welcher ich in die Zukunft blicke, so innig, welch ein unschätzbares Glück mir mein Lebensplan gewährt, und der Zustand, ohne Lebensplan, ohne feste Bestimmung, immer schwankend zwischen unsichern Wünschen, immer im Widerspruch mit meinen Pflichten, ein Spiel des Zufalls, eine Puppe am Drahte des Schicksals – dieser unwürdige Zustand scheint mir so verächtlich, und würde mich so unglücklich machen, daß mir der Tod bei weitem wünschenswerter wäre.

Du sagst, nur Männer besäßen diese uneingeschränkte Freiheit des Willens, Dein Geschlecht sei unauflöslich an die Verhältnisse der Meinung und des Rufs geknüpft. – Aber ist es aus Deinem Munde, daß ich dies höre? Bist Du nicht ein freies Mädchen, so wie ich ein freier Mann? Welcher andern Herrschaft bist Du unterworfen, als allein der Herrschaft der Vernunft?

Aber dieser sollst Du Dich auch vollkommen unterwerfen. Etwas muß dem Menschen heilig sein. Uns beide, denen es die Zeremonien der Religion und die Vorschriften des konventionellen Wohlstandes nicht sind, müssen um so mehr die Gesetze der Vernunft heilig sein. Der Staat fordert von uns weiter nichts, als daß wir die zehn Gebote nicht übertreten. Wer gebietet uns aber die Tugenden der Menschenliebe, der Duldung, der Bescheidenheit, der Sittsamkeit zu üben, wenn es nicht die Vernunft tut? Der Staat sichert uns unser Eigentum, unsre Ehre, und unser Leben; wer sichert uns aber unser inneres Glück zu, wenn es die Vernunft nicht tut?

So innig ich es nun auch wünsche, Dich überhaupt für die Annahme irgend eines Lebensplans zu bestimmen, weil ich Dir gern das Glück gönne, das die Kenntnis unsrer Bestimmung, der sichere Genuß der Gegenwart und die Ruhe für die Zukunft gewähren, so möchte ich doch nicht gern einen Einfluß auf die Annahme eines bestimmten Lebensplanes haben. Das möge allein das Werk Deiner Vernunft sein. Prüfe Deine Natur, beurteile welches moralische Glück ihr am angemessensten sei, mit einem Worte, bilde Dir einen Lebensplan, und strebe dann seiner Ausführung entgegen. Dann wird nie wieder geschehen, was ich vorher an Dir tadelte, dann werden sich Deine Wünsche und Deine Pflichten, Deine Worte und Deine Handlungen nie widersprechen.

Aber noch weit mehr als ich fürchte, Du möchtest noch bisher keinen Lebensplan gebildet haben, muß ich fürchten, daß Du grade den einzigen Lebensplan verworfen hast, der Deiner würdig wäre. Laß mich aufrichtig, ohne Rückhalt, ohne alle falsche Scham reden. Es scheint mir, – es ist möglich daß ich mich irre, und ich will mich freuen, wenn Du mich vom Gegenteile überzeugen kannst, – aber es scheint mir, als ob Du bei Dir entschieden wärest, Dich nie zu verheiraten. Wie? Du wolltest nie Gattin und Mutter werden; Du wärst entschieden, Deine höchste Bestimmung nicht zu erfüllen, Deine heiligste Pflicht nicht zu vollziehen? Und entschieden wärst Du darüber? Ich bin wahrlich begierig die Gründe zu hören, die Du für diesen höchst strafbaren und verbrecherischen Entschluß aufzuweisen haben kannst.

Eine einzige simple Frage zerstört ihn. Denn wenn Du ein Recht hättest, Dich nicht zu verheiraten, warum ich nicht auch? Und wenn wir beide dazu ein Recht haben, warum ein Dritter nicht auch? Und wenn dieses ist, warum nicht auch ein Vierter, ein Fünfter, warum nicht wir alle? Aber das Leben, welches wir von unsern Eltern empfingen, ist ein heiliges Unterpfand, das wir unsern Kindern wieder mitteilen sollen. Das ist ein ewiges Gesetz der Natur, auf welches sich ihre Erhaltung gründet.

Diese Wahrheit ist so klar, und das Interesse, das sie bei sich führt, dem Herzen des Menschen so innig eingepflanzt, daß es schwer wird zu glauben, sie sei Dir unbekannt. Aber was soll ich glauben, wenn Dir der, nicht scherzhafte, nur allzu ernstliche Wunsch entschlüpft, Du möchtest die Welt bereisen? Ist es auf Reisen, daß man Geliebte suchet und findet? Ist es dort wo man die Pflichten der Gattin und der Mutter am zweckmäßigsten erfüllt? Oder willst Du endlich wenn Dir auch das Reisen überdrüssig ist, zurückkehren, wenn nun die Blüte Deiner Jahre dahingewelkt ist, und erwarten, ob ein Mann philosophisch genug denke, Dich dennoch zu heiraten? Soll er Weiblichkeit von einem Weibe erwarten, deren Geschäft es während ihrer Reise war, sie zu unterdrücken?

Aber Du glaubst Dich trösten zu können, wenn Du auch einen solchen Mann nicht fändest. Täusche Dich nicht, Ulrickchen, ich fühle es, Du würdest Dich nicht trösten, nein, wahrlich, bei Deinem Herzen würdest Du Dich nicht trösten. Gesetzt, es wäre Dein Wille, Dich nach der Rückkehr von Deiner Reise irgendwo in einer schönen Gegend mit Deinem Vermögen anzukaufen. Ach, dem Landmann ist ein Gatte unentbehrlich. Der Städter mag seiner entbehren, ich will es glauben, das Geräusch der Stadt kann seine geheimen Wünsche unterdrücken, er lernt das Glück nicht vermissen, das er entbehrt. Aber der Landmann ist ohne Gattin immer unglücklich. Da fehlt ihm Trost und Hülfe in Widerwärtigkeiten, da ist er in Krankheiten ohne Wartung und Pflege, da sieht er sich allein stehen in der weiten lebendigen Natur, er fühlt sich unvermißt und unbeweint, wenn er an den Tod denkt. Und selbst wenn seine Bemühungen gedeihen und mit Früchten wuchern, – wo will er hin mit allen Erzeugnissen der Natur? Da fehlen ihm Kinder, die sie ihm verzehren helfen, da drückt er wehmütig fremde Kinder an seine Brust und reicht ihnen von seinem Überflusse. – Täusche Dich daher nicht, Ulrikchen. Dann erst würdest Du innig fühlen, welches Glück Du entbehren mußt, und um so tiefer würde dies dich schmerzen, je mehr Du es selbst mutwillig verworfen hast.

Und was würde Dich für so vielen Verlust schadlos halten können? Doch wohl nicht der höchst unreife Gedanke frei und unabhängig zu sein? Kannst Du Dich dem allgemeinen Schicksal Deines Geschlechtes entziehen, das nun einmal seiner Natur nach die zweite Stelle in der Reihe der Wesen bekleidet? Nicht einen Zaun, nicht einen elenden Graben kannst Du ohne Hülfe eines Mannes überschreiten, und willst allein über die Höhen und über die Abgründe des Lebens wandeln? Oder willst Du von Fremden fordern, was Dir ein Freund gern und freiwillig leisten würde?

Aus allen diesen Gründen deren Wahrheit Du gewiß einsehen und fühlen wirst, gib jenen unseligen Entschluß auf, wenn Du ihn gefaßt haben solltest. Du entsagst mit ihm Deiner höchsten Bestimmung, Deiner heiligsten Pflicht, der erhabensten Würde, zu welcher ein Weib emporsteigen kann, dem einzigen Glücke, das Deiner wartet.

Und wenn Mädchen wie Du sich der heiligen Pflicht Mütter und Erzieherinnen des Menschengeschlechts zu werden, entziehen, was soll aus der Nachkommenschaft werden? Soll die Sorge für künftige Geschlechter nur der Üppigkeit feiler oder eitler Dirnen überlassen sein? Oder ist sie nicht vielmehr eine heilige Verpflichtung tugendhafter Mädchen? – Ich schweige, und überlasse es Dir, diesen Gedanken auszubilden. –

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6. An Ulrike von Kleist

Frankfurt a. d. Oder, den 12. November 1799

Ich war zuerst willens, der langen Verspätung dieses Briefes eine Rechtfertigung voranzuschicken; aber es fällt mir ein, daß doch eben nicht viele Billigkeit dazu gehört, sie zu entschuldigen, wenn man mich und die Absicht meines Hierseins kennt. Ich habe mir ein Ziel gesteckt, das die ununterbrochene Anstrengung aller meiner Kräfte und die Anwendung jeder Minute Zeit erfordert, wenn es erreicht werden soll. Ich habe besonders in diesem meinem zweiten akademischen Kursus eine Masse von Geschäften auf mich geladen, die ich nicht anders als mit dem allermühsamsten Fleiße bearbeiten kann; eine Masse von Geschäften, die selbst nach dem Urteile Hüllmanns zu schwer für mich ist, und von der ich daher, wenn ich sie dennoch trage, mit Recht sagen kann, daß ich das fast Unmögliche möglich gemacht habe. Unter diesen Umständen siehst Du wohl ein, daß es bisher nötig war, mich oft mit einem augenblicklichen Andenken an Dich zu begnügen; und daß mir selbst jetzt die Zeit einer schriftlichen Unterhaltung mit Dir noch nicht geworden wäre, wenn durch den Eintritt der Messe die akademischen Vorlesungen nicht ausgesetzt worden wären. Diese vierzehn Tage der Ruhe, diesen Sonntag für meine lange geschäftsvolle Woche, benutze ich, um mich einmal nach Herzenslust zu vergnügen; und dieses Vergnügen soll ein Brief an Dich sein.

Wenn man sich so lange mit ernsthaften abstrakten Dingen beschäftigt hat, wobei der Geist zwar seine Nahrung findet, aber das arme Herz leer ausgehen muß, dann ist es eine wahre Freude, sich einmal ganz seine Ergießungen zu überlassen; ja es ist selbst nötig, daß man es zuweilen ins Leben zurückrufe. Bei dem ewigen Beweisen und Folgern verlernt das Herz fast zu fühlen; und doch wohnt das Glück nur im Herzen, nur im Gefühl, nicht im Kopfe, nicht im Verstande. Das Glück kann nicht, wie ein mathematischer Lehrsatz bewiesen werden, es muß empfunden werden, wenn es da sein soll. Daher ist es wohl gut, es zuweilen durch den Genuß sinnlicher Freuden von neuem zu beleben; und man müßte wenigstens täglich ein gutes Gedicht lesen, ein schönes Gemälde sehen, ein sanftes Lied hören – oder ein herzliches Wort mit einem Freunde reden, um auch den schönern, ich möchte sagen den menschlicheren Teil unseres Wesen zu bilden.

Dieses letzte Vergnügen habe ich seit Deiner Abwesenheit von hier gänzlich entbehren müssen, und grade dieses ist es, dessen ich am meisten bedarf. Vorsätze und Entschlüsse wie die meinigen bedürfen der Aufmunterung und der Unterstützung mehr als andere vielleicht, um nicht zu sinken. Verstanden wenigstens möchte ich gern zuweilen sein, wenn auch nicht aufgemuntert und gelobt, von einer Seele wenigstens möchte ich gern zuweilen verstanden werden, wenn auch alle andern mich verkennen. Wie man in einem heftigen Streite mit vielen Gegnern sich umsieht, ob nicht einer unter allen ist, der uns Beifall zulächelt, so suche ich zuweilen Dich; und wie man unter fremden Völkern freudig einem Landsmann entgegenfliegt, so werde ich Dir, mein liebes Ulrikchen entgegenkommen. Nenne es immerhin Schwäche von mir, daß ich mich so innig hier nach Mitteilung sehne, wo sie mir so ganz fehlt. Große Entwürfe mit schweren Aufopferungen auszuführen, ohne selbst auf den Lohn verstanden zu werden Anspruch zu machen, ist eine Tugend, die wir wohl bewundern, aber nicht verlangen dürfen. Selbst die größten Helden der Tugend, die jede andere Belohnung verachteten, rechneten doch auf diesen Lohn; und wer weiß, was Sokrates und Christus getan haben würden, wenn sie voraus gewußt hätten, daß keiner unter ihren Völkern den Sinn ihres Todes verstehen würde. Willst Du es doch eine Schwäche nennen, so ist es höchstens die Schwäche eines Münzensammlers z. B. der zwar hauptsächlich für sich und zu seinem Vergnügen, zu seinem Nutzen sammelte, und daher auch nicht zürnt, wenn die meisten gleichgültig bei seiner sorgfältig geordneten Sammlung vorübergehen, aber eben deswegen um so viel lieber einmal einen Freund der Kunst in sein Kabinett führt. Denn meine Absichten und meine Entschlüsse sind solche Schaumünzen, die aus dem Gebrauche gekommen sind und nicht mehr gelten; daher zeige ich sie gern zuweilen einem Kenner der Kunst, damit er sie prüfe und mich überzeuge, ob, was ich so emsig und eifrig sammle und aufbewahre, auch wohl echte Stücke sind, oder nicht.

– Ich überlese jetzt den eben vorangegangnen Punkt, und finde, daß er mir mißfallen würde, wenn ich ihn, so wie Du hier, aus dem Munde eines jungen Menschen hörte. Denn mit Recht kann man ein Mißtrauen in solche Vorsätze setzen, die unter so vielen Menschen keinen finden, der sie verstünde und billigte. Aber doch ist es mit den meinigen so; verstanden werden sie nicht, das ist gewiß, und daher, denke ich, werden sie nicht gebilligt. Wessen Schuld es ist, daß sie nicht verstanden werden – das getraue ich mich wenigstens nicht zu meinem Nachteil zu entscheiden. Wenn ein Türke und ein Franzose zusammenkommen, so haben sie wenigstens gleiche Verpflichtung, die Sprache des andern zu lernen, um sich verständlich zu machen. Tausend Bande knüpfen die Menschen aneinander, gleiche Meinungen, gleiches Interesse, gleiche Wünsche, Hoffnungen und Aussichten; – alle diese Bande knüpfen mich nicht an sie, und dieses mag ein Hauptgrund sein, warum wir uns nicht verstehen. Mein Interesse besonders ist dem ihrigen so fremd, und ungleichartig, daß sie – gleichsam wie aus den Wolken fallen, wenn sie etwas davon ahnden. Auch haben mich einige mißlungene Versuche, es ihnen näher vor die Augen, näher ans Herz zu rücken, für immer davon zurückgeschreckt; und ich werde mich dazu bequemen müssen, es immer tief in das Innerste meines Herzens zu verschließen.

Was ich mit diesem Interesse im Busen, mit diesem heiligen, mir selbst von der Religion, von meiner Religion gegebnen Interesse im engen Busen, für eine Rolle unter den Menschen spiele, denen ich von dem, was meine ganze Seele erfüllt, nichts merken lassen darf, – das weißt Du zwar nach dem äußern Anschein, aber schwerlich weißt Du, was oft dabei im Innern mit mir vorgeht. Es ergreift mich zuweilen plötzlich eine Ängstlichkeit, eine Beklommenheit, die ich zwar aus allen Kräften zu unterdrücken mich bestrebe, die mich aber dennoch schon mehr als einmal in die lächerlichsten Situationen gesetzt hat.

Die einzige Gesellschaft, die ich täglich sehe, ist Zengens, und ich würde um dieser peinlichen Verlegenheit willen, auch diese Gesellschaft schon aufgegeben haben, wenn ich mir nicht vorgenommen hätte, mich durchaus von diesem unangenehmen Gefühl zu entwöhnen. Denn auf meinem Lebenswege werden mir Menschen aller Art begegnen, und jeden muß ich zu nutzen verstehen. Dazu kommt, daß es mir auch zuweilen gelingt, recht froh in dieser Gesellschaft zu sein; denn sie besteht aus lauter guten Menschen, und es herrscht darin viele Eintracht, und das Äußerste von Zwanglosigkeit. Die älteste Zengen, Minette, hat sogar einen feineren Sinn, der für schönere Eindrücke zuweilen empfänglich ist; wenigstens bin ich zufrieden, wenn sie mich zuweilen mit Interesse anhört, ob ich gleich nicht viel von ihr wieder erfahre. Aber von allem diesen ist nichts, wenn der ganze Haufen beisammen ist. Ein Gespräch kann man ihr sich durchkreuzendes Geschwätz nicht nennen. Wenn ein Gespräch geführt werden soll, so muß man bei dem Gegenstande desselben verweilen, denn nur dadurch gewinnt es Interesse; man muß ihn von allen seinen Seiten betrachten, denn nur dadurch wird es mannigfaltig und anziehend. Aber hier – doch Du kennst das. Ich wollte Dir nur zeigen, daß das Interesse, das mir die Seele erfüllt, schlecht mit dem Geiste harmoniert, der in dieser Gesellschaft weht; und daß die Beklommenheit, die mich zuweilen ergreift, hieraus sehr gut erklärt werden kann.

Ich sage mir zwar häufig zu meinem Troste, daß es nicht die Bildung für die Gesellschaft ist, die mein Zweck ist, daß diese Bildung, und mein Zweck, zwei ganz verschiedne Ziele sind, zu denen zwei ganz verschiedne Wege nach ganz verschiednen Richtungen führen – denn wenn man z. B. durch häufigen Umgang, vieles Plaudern, durch Dreistigkeit und Oberflächlichkeit zu dem einen Ziele kommt, so erreicht man dagegen nur durch Einsamkeit, Denken, Behutsamkeit und Gründlichkeit das andere usw. Auch soll mein Betragen jetzt nicht gefallen, das Ziel, das ich im Sinne habe, soll für töricht gehalten werden, man soll mich auf der Straße, die ich wandle, auslachen, wie man den Colomb auslachte, weil er Ostindien in Westen suchte. Nur dann erst bewunderte man ihn, als er noch mehr gefunden hatte, als er suchte – usw. Das alles sage ich mir zu meinem Troste. Aber dennoch möchte ich mich gern von dieser Beklommenheit entwöhnen, um so viel mehr, da ich mit Verdruß bemerke, daß sie mich immer öfter und öfter ergreift.

Aber ich fürchte, daß es mir in der Folge wie den meisten Gelehrten von Profession gehen wird; sie werden in ihrem äußern Wesen rauh, rêche, wie der Franzose sagt, und für das gesellige Leben untauglich. Ich finde das aus vielen Gründen sehr natürlich. Sie haben ein höheres Interesse lieb gewonnen, und können sich nicht mehr an dem gemeinen Interesse erwärmen. Wenn ein anderer z. B. ein Buch, ein Gedicht, einen Roman gelesen hat, das einen starken Eindruck auf ihn machte und ihm die Seele füllte, wenn er nun mit diesem Eindruck in eine Gesellschaft tritt, er sei nun froh oder schwermütig gestimmt, er kann sich mitteilen, und man versteht ihn. Aber wenn ich einen mathematischen Lehrsatz ergründet habe, dessen Erhabenheit und Größe mir auch die Seele füllte, wenn ich nun mit diesem Eindruck in eine Gesellschaft trete, wem darf ich mich mitteilen, wer versteht mich? Nicht einmal ahnden darf ich lassen, was mich zur Bewunderung hinriß, nicht einen von allen Gedanken darf ich mitteilen, die mir die Seele füllen. – Und so muß man denn freilich zuweilen leer und gedankenlos erscheinen, ob man es gleich wohl nicht ist.

Der größte Irrtum ist dann wohl noch der, wenn man glaubt, ein Gelehrter schweige aus Stolz, etwa, weil er die Gesellschaft nicht der Mitteilung seiner Weisheit wert achtet. Ich wollte schwören daß es meistens grade das Gegenteil ist, und daß es vielleicht grade der äußerste Grad von Bescheidenheit ist, der ihm Stillschweigen auferlegt. Ich rede hier besonders von großen Gelehrten, die ihr Lob in allen Zeitschriften lesen. Man besucht sie häufig um den Giganten doch einmal in der Nähe zu betrachten; man erwartet von ihnen, das wissen sie selbst, lauter Sentenzen, man glaubt, daß sie wie in ihren Büchern reden werden. Sie reden aber nur wenige gemeine Dinge, man verläßt sie mit dem Verdacht, daß sie aus Stolz geschwiegen haben, ob sie zwar gleich nur aus Bescheidenheit schwiegen, weil sie nicht immer in den erwarteten Sentenzen reden konnten, und doch nicht gern, die gute Meinung, die man von ihnen hatte, zerstören wollten.

In solchen Lagen hat man die gelehrtesten Männer oft in der größten Verlegenheit gesehen. Unser gescheuter Professor Wünsch, der gewiß hier in Frankfurt obenan steht und alle übersieht, würde doch gewiß, des bin ich überzeugt, durch die abgeschmacktesten Neckereien des albernsten Mädchens in die größte Verlegenheit gesetzt werden können. Du weißt, wie es Rousseau mit dem Könige von Frankreich ging; und man braucht daher weder dumm noch feig zu sein, um vor einem Könige zu zittern. Ein französischer Offizier, der, als Ludwig der 14. ihn heranrief, sich zitternd seinem Könige näherte, und von ihm mit kalter königlicher Überlegenheit gefragt wurde, warum er so zittere; hatte dennoch die Freimütigkeit zu antworten: Sire, ce n'est pas devant vos ennemis, que je tremble ainsi.


Meine Briefe werden lang, mein liebes Ulrikchen; und was das Schlimmste ist, ich rede immer von mir. Verzeihe mir diese kleine menschliche Schwachheit. Vieles verschweige ich noch, das ich bis zu Deiner Rückkunft aufbewahre. Ob Dich Neuigkeiten mehr interessiert hätten, als der Inhalt dieses Briefes? – Wer weiß. Aber auf alle Fälle gab es keine Neuigkeiten, außer die alte Leier, daß die Messe schlecht sei. Die Kleist aus Schernewitz war hier, und hat mir gut gefallen. Sie will künftiges Jahr nach Flinzberg ins Bad reisen, und wünschte eine Reisebegleiterin – wen habe ich ihr wohl vorgeschlagen? Sie hat mir also förmlich aufgetragen, Dich zu dieser Reise einzuladen.

Bis dahin denke ich wirst Du doch noch einmal nach Frankfurt kommen? Was in aller Welt machst du denn in Werben? Niemand von uns, ich selbst nicht, kann begreifen, was dir den Aufenthalt dort auf viele Monate so angenehm machen kann. Wenn es kein Geheimnis ist, so schreibe es mir. Grüße Schönfeld und Frau, Onkel und Tante Pannwitz, kurz alles was Pannwitz heißt, auch Caroline. Ist sie noch böse? – Adieu.

Dein treuer Bruder Heinrich.

N. S. Hier kommen noch einige Supplemente, die ich Dir zur Bekanntmachung an Pannwitz, den das interessieren wird, mitteile. Schätzel hat das 3. Batl. bekommen aber ausgeschlagen und verlangt Pension. Gaudy ist Major geworden und hat Schätzels Kompanie. Welchen Eindruck dies gemacht hat, und in welchem Tone die Grumbkow spricht, kannst Du Dir denken. Das Sonderbarste hierbei ist, daß Gen. Kleist an Hagen geschrieben hat, es täte ihm dieser Einschub, von dem er auf sein Ehrenwort nichts wüßte, sehr leid. Wir wollen nicht glauben, daß hier eine Falschheit zum Grunde liege, ob ich Dir zwar gleich in der folgenden Neuigkeit ein Beispiel von einer unerhörten, unmenschlichen Falschheit geben werde. Der Kaufmann Scholz ist seines Arrests entlassen, statt seiner sitzt seine Frau – warum? das hast Du schon zu Anfange der ganzen Geschichte vorausgesehen. Die Sache ist keinem Zweifel mehr unterworfen. Sie hat sich selbst verraten. Ein Fragment aus einem Briefe von ihrem Manne, worin sie das Wort Geld in Gift umgefälscht hat, um den Verdacht gegen ihn zu verstärken, hat sie verraten. Einige Zeugen, ein Student und zwei Mädchen, die sie bewegt hatte, einen falschen Eid für ihren Betrug zu schwören, haben sie verraten. Sie selbst hat es schon eingestanden, daß sie einen Betrug gespielt habe. – Ist es wohl glaublich, daß dies ein Weib sei; – –

Zweite Nachschrift.

Ich liefre Dir noch ein Supplement zum Supplement. Schätzel ist Gen. Major geworden, erhält 800 Rth. Pension und bleibt nun in Frankfurt.

Noch eine Hauptnachricht, die Dich vielleicht bewegen wird, sogleich nach Frankfurt zu kommen. Zengens und unsre Familie nebst viele andere Damen Frankfurts nehmen ein Kollegium über Experimentalphysik bei Wünsch. Nehmen, sagte ich? Das klingt ja beinah, als wäre von Medizin die Rede. So übel schmeckt es indessen nicht. Es ist eine Brunnenkur zum Nutzen und Vergnügen. Du wirst sie nicht verschmähen. Willst du die Vorlesung von Anfang an beiwohnen, so mußt Du auf irgend eine Art suchen, sogleich nach Frkft. zu kommen.

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