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Das Bild ohne Kopf

I.

Um die Ecke der Straße bogen zwei Schatten. Scharf zeichneten sie sich in der klaren, hellen Mondnacht vom Pflaster ab. Still, schlafend lagen in ihren grünen Gärten die eleganten Villen, und wie um sie nicht zu stören, verlangsamten der Mann und das Mädchen, jene Schatten, ihren Schritt.

Nun blieben sie ganz stehen. Sie drückten sich in den Schutz einer hohen Mauer und horchten in die Nacht hinein. Zwei, drei Minuten hielten sie sich so. Plötzlich krampfte sich die Hand des Mädchens um den Arm des Begleiters – von der anderen Straße her klang dumpf hallend ein schwerer Schritt – gleichmäßig, amtsgewichtig.

Keine zwanzig Schritte vor ihnen tauchten zwei Polizisten aus der Seitenallee auf, blieben einen Moment stehen, schauten prüfend nach allen Seiten, schlenderten weiter – gleichmäßig, schwerfällig. Mählich verhallten ihre zusammenfallenden Tritte in der Nacht.

Das Paar an der Mauer rührte sich nicht. Das Fauchen eines heranfahrenden Autos hielt es noch an der schützenden Mauer zurück. Bis auch diese Gefahr verschwunden war.

»Jetzt!« flüsterte das Mädchen. »Drüben die zweite Villa links!«

Sie huschten über die Straße und glitten an dem hohen Eisengitter des Gartens entlang, zwischen dessen Bäumen und Büschen das Gemäuer einer kleinen, in jonischem Stil erbauten Villa schimmerte – ihr Ziel, das Heim des Malers Julius Garwey. Schlank und frei strebten die Säulen des Portikus empor, wie Marmor strahlend im weich darüberfließenden Mondlicht.

Aber die zwei am Gittertore hatten kein Auge für architektonische Schönheiten. Sie hatten sich in dieser Nacht hergeschlichen, um in die schöne Villa einzubrechen, und hielten sich nicht lange mit der Betrachtung ihrer künstlerischen Reize auf.

Nun, da sie in freiem Lichte standen, konnte man erkennen, daß sie beide jung waren und gar nicht wie gewerbsmäßige Nachtraubvögel aussahen. Das Mädchen, etwa neunzehn Jahre, trug sich mit einer gewissen bescheidenen Eleganz, die ihrer schlanken und geschmeidigen Gestalt überaus gut stand. Unter dem dunkelroten Strohhut sah ein pikantes, von schwarzem Haar umrahmtes Köpfchen durch die Stäbe des Gitters zu dem schweigenden Hause hinüber. Leben und Temperament waren in dem Geschöpf, wie es jetzt, am ganzen Körper bebend vor verhaltener Erregung und Angst, sich an das Gitter preßte. Der Begleiter, einige Jahre älter, machte den Eindruck eines gutsituierten Handwerkers und war ein mittelgroßer, breitschultriger Bursche mit einem entschlossenen, beinahe brutal geschnittenen Gesicht. Auch er war erregt und unsicher – das beste Zeichen dafür, daß er kein kaltblütiger Gewohnheitsdieb, sondern ein blutiger Dilettant war. Den Mangel an fachmännischer Erfahrung mußte sein Mut ersetzen.

»Machen wir vor allem, daß wir hineinkommen«, brummte er. »Sonst fassen sie uns noch in der letzten Minute ab. Vorwärts, Polly!«

Das Mädchen war mit der Örtlichkeit wohlvertraut. Es griff von rückwärts durch das Gitter an das Schloß, das sonst nur vom Hause aus zu öffnen war und schob den versteckten Riegel zurück. Im Nu waren sie beide im Garten und krochen seitwärts, in die Büsche geduckt, zu dem Hause hin. Plötzlich fuhren sie zu Tode erschrocken zusammen – mit dumpfem Dröhnen holte die Uhr der nahen St. Nikolauskirche zum Schlage aus. Polly fühlte das Herz bis zum Halse hinauf klopfen.

Sie zählte die Schläge: drei Uhr.

Etwas weiter entfernt setzte die Uhr einer anderen Kirche ein – dann breitete sich wieder Schweigen über die vornehme Villenkolonie.

Polly holte tief Atem und kicherte in ihrer Nervosität. Mit Robert hielt sie jetzt leise getuschelten Kriegsrat.

»Das Fest muß schon seit zwei Stunden aus sein. Der alte Max schläft auch schon.«

Sie zeigte zur Mansarde hinauf, deren kleine Fenster ebenso finster waren wie alle übrigen, und zog Robert zur Hinterfront, an der das große Atelier lag. Hier, dicht unter dem mächtigen Fenster, gab sie ihm die letzten Instruktionen.

»Paß auf! Wenn du hineinkommst, hältst du dich rechts. Dort steht in der Ecke bei der Tür so ein großer, altertümlicher Schrank ein riesiges Ding! Wie ein Haus, weißt du? Da ist das Bild drinnen. Der Schlüssel steckt sicher. Ich habe wenigstens gestern noch gesehen, daß er ihn nicht abzog. Ist ja auch so ein Ungetüm von Schlüssel.«

»Und wenn er nicht steckt? So alte Schränke haben ganz verzwickte Schlösser. Im Handumdrehen, wie du meinst, krieg' ich das Ding sicher nicht auf. Hast du eine Ahnung, wo der Kerl den Schlüssel vielleicht aufhebt?«

Polly schüttelte etwas betreten über die plötzlich auftauchende Schwierigkeit den Kopf. »Woher soll ich das wissen?« Doch in derselben Sekunde schürzte sie verächtlich die roten Lippen. »Ach, weißt du, er hat sicher heute abend wieder so viel geraucht und getrunken und gespielt! – Ich wette, er schläft wie ein Stück Holz und wacht nicht auf, wenn du ihn mitsamt seinem Bett wegträgst.«

»Hm! Du sagst, er schläft in dem Zimmer, das an das Atelier stößt?«

»Ja! Aber soviel ich weiß, macht er nie die Tür zu. Siehst du, das sind die Fenster des Schlafzimmers – da!« Sie zeigte auf die beiden sich an das große Atelierlicht anschließenden Fenster. »Doch ich sage dir ja, der liegt bestimmt betrunken anstatt auf dem Bett auf dem Diwan und rührt sich nicht. Soll ich mit –?«

Die Worte erstarken ihr jedoch auf den Lippen. Mit weit aufgerissenen Augen starrten sie auf das Fenster auf der rechten Seite.

Das Fenster stand weit offen –

»Da schau«, flüsterte sie, und die Erregung sprang wieder in ihre Stimme. »Das Fenster ist offen. Es geht auch in das Atelier. Warum ist es denn offen?«

Robert nahm die Sache etwas ruhiger. Immerhin überschaute er prüfend die ganze Front. Dieses offene Fenster, aus dem fast greifbar die Dunkelheit des Raumes in die helle Nacht hinausströmte –! Hm –

»Sicher hat der alte Esel von Diener vergessen, es zuzumachen, und der besoffene Herr hat es reicht gemerkt.«

Diese Erklärung klang zwar ganz glaubhaft, doch Pollys Nerven waren schon wieder drauf und dran, durchzugehen. Sie begann zu zittern und klammerte sich an Robert, als dieser nun mit entschlossenem Ruck unter das offene Fenster trat.

»Robert«, stammelte sie. »Ich habe solche Angst –«

»Dann hättest du uns nicht herschleppen sollen. Der Teufel soll dein blödes Bild holen!«

Der Gedanke an das Bild gab dem Mädchen doch sein bißchen Mut zurück.

»Das Bild – wir müssen es haben. Aber Robert, wenn er uns vielleicht erwartet und zu dem Zweck das Fenster offen gelassen hat –?«

Der junge Mann redete nicht mehr viel, sondern rüstete sich zur Tat. Er holte eine kleine Blendlaterne aus der Tasche, untersuchte sie sorgfältig und zog dann einen Bund fein gearbeiteter Dietriche hervor.

»Wenn er aber doch –? Der ist zu allem imstande!«

»Na – dann –«

Und Robert steckte das Bund mit den Dietrichen ein. Dafür zog er aus der Brust einen kurzstieligen Hammer heraus, eine furchtbare Waffe in der Hand eines kräftigen und entschlossenen Burschen.

Das gab Polly den Rest. »Um Gottes willen«, stieß sie fiebernd hervor. »Das nicht – nur das nicht Robert, ich bitte dich – Robert –!«

Aber der hörte sie nicht mehr. Mit dem Hammer zwischen den Zähnen hatte er sich bereits an der Fensterbrüstung hochgezogen und schob sich vorsichtig in das Zimmer, indem er an seiner Blendlaterne einen ganz kleinen Spalt öffnete.

Polly stand unten am Fenster und reckte sich auf die Zehenspitzen. Die Zähne klapperten ihr vor Angst, und ihre Beine hielten sie kaum. Jeden Augenblick erwartete sie Lärm: den Schuß eines Revolvers –. Mein Gott, sie hatte ja ganz vergessen, Robert zu sagen, daß Garwey stets einen geladenen Revolver auf seinem Nachttisch liegen hatte! Und nun stand er sicher irgendwo im Dunkeln, sah Robert in das Zimmer kommen und lauerte nur darauf, ihn niederzuknallen.

»Robert! Robert!« rief sie beinahe ganz laut in ihrer sinnlosen Angst –

Doch der war längst in das finstere Zimmer untergetaucht. Höher und höher streckte sich das fiebernde Mädchen, klammerte sich mit den Händen an die kalte Mauer.

Nichts – Nichts –

Kein Laut kam aus der furchtbaren Finsternis.

Sie trat ein paar Schritte zurück, um besser hineinsehen zu können. Finster – finster – und immer noch kein Laut!

Da – da – ein ganz dünner Lichtstreifen blitzte auf! Polly preßte unbewußt die Hand auf den Mund, um nicht aufzuschreien. Nach rechts züngelte das Licht. Ja, jetzt kam Robert zu dem Schrank. Gott sei Dank!

Natürlich – sie hatte es ja gewußt, dieser wüste Kerl, der Garwey, war wieder einmal sinnlos betrunken. Sie atmete erleichtert auf.

Oben verschwand das Licht. Hatte Robert schon das Bild? Sie glitt zum Fenster zurück, um ihm beim Hinunterklettern zu helfen. Aber er kam nicht. Sekunde um Sekunde verrann – Minute um Minute –

Was lag vor? Vielleicht war der Schrank verschlossen und Robert bastelte an ihm herum? Sie lauschte mit zum Reißen gespannten Nerven in die Höhe. –

Robert –.

Totenstill war es in dem Zimmer über ihr. Und kein Licht. – – Sie sprang wieder von der Mauer weg. Aber da – da –! Robert erschien im Fenster. Ehe sie noch bei ihm war, stand er unten.

Trotzdem gerade an dieser Stelle der Schatten des Hauses lag, sah sie auf den ersten Blick, daß etwas Entsetzliches geschehen sein mußte. Totenbleich war er – sein Gesicht verzerrt. –

Das Bild hatte er nicht. Er packte sie bei der Hand und riß sie mit sich fort.

»Komm!«

Sie wollte fragen. Er ließ ihr keine Zeit. Ehe sie es noch merkte, waren sie aus dem Garten draußen, auf der Straße. Mit weiten, hastigen Schritten eilte der junge Mann davon. Als hetzte etwas hinter ihm drein. –

Polly, aufgelöst, zum Umsinken erschreckt, lief neben ihm her. Sie konnte nichts denken, nichts ahnen. Ihr Kopf schwamm in einem Nebel eisiger Angst.

So kamen sie hinunter an die Brücke. Weit hinter ihnen lag schon das vornehme Villenviertel. Und zum Glück waren sie auf ihrer Flucht keiner Menschenseele begegnet.

Auf der Brücke, unter der leise gurgelnd der Fluß dahinströmte, blieb Robert endlich stehen. Es war, als ob das monotone Rauschen des Wassers sich beruhigend auf seine außer Rand und Band geratenen Nerven legte. Er lehnte sich mit gewaltigem Atemzug an die Brüstung und nahm den Hut ab. Polly sah, daß ihm dichter Schweiß auf der Stirne stand.

»Am Jesu Christi willen«, kreischte sie. »Was ist passiert?«

Und da bemerkte sie erst, daß er das Bild gar nicht hatte.

»Das Bild – das Bild?«

»Das Bild? Was für ein Bild?«

Er starrte geistesabwesend an ihr vorbei den Weg zurück, den sie gekommen waren. Dort oben auf der baumbestandenen Höhe lag das Haus.

Ein Schauer lief durch seinen starken Körper.

Dann sprach er langsam, jedes Wort aus dem Bewußtsein mühsam herausholend: »Das Bild? Ja – ja. Das Bild war nicht mehr da.«

»Nicht mehr da –.« Sie umkrampfte seine beiden Hände. »Nicht mehr da? Was willst du damit sagen?«

»Das muß der andere genommen haben –

»Der andere? Welcher andere? Mensch, Robert, so sprich doch endlich!«

»Der, der vor mir da war und Garwey ermordet hat. Der liegt mit eingeschlagenem Schädel mitten in seinem Atelier –

 

II.

Polly schwankte, und Robert griff rasch zu, um sie zu halten.

»Erschlagen – erschlagen –« wiederholte sie mit tonloser Stimme ganz mechanisch.

Plötzlich griff ihr ein Gedanke, entsetzlicher als alles andere, ans Herz.

Sie wich von Robert, der sie noch immer im Arm hielt, zurück und stammelte: »Robert – Robert –! Du hast ihn –?«

»Ich?« Er lachte grell auf. »Mir scheint, dir hat die Angst den Kopf vollkommen verdreht, Mädel. Garwey war schon mausetot, als ich – Ja, zum Teufel, was hast du denn?«

Mit ausgestrecktem Finger deutete sie auf seine Hose. Er bückte sich nach der Stelle und entdeckte, daß auf dem Knie des linken Beinkleides sich ein großer dunkelbrauner Fleck abzeichnete – Blut!

Die Gedanken des armen Burschen fuhren bei diesem unheilvollen Anblick wild durcheinander. Vollkommen fassungslos stand er da und rieb mit täppischer, zitternder Hand an dem Fleck herum. Als ob er ihn sogleich auf der Stelle fortwischen könnte.

Und dabei machte er noch die weitere Entdeckung, daß seine Ärmel und seine Manschetten gleichfalls mit Blut bespritzt waren.

Auch Polly sah dies – ihr Schrecken und ihr Entsetzen wuchsen. Weiter und weiter wich sie vor Robert zurück, immer noch mit krampfhaft vorgestreckten Fingern auf die Zeugen des furchtbaren Geschehnisses deutend.

Robert stand und rieb bald die Hose, bald den Ärmel – rieb und rieb – Er hatte noch nicht erfaßt, was sich mit ihm zugetragen haben mußte.

Von der Stadtseite her kamen mehrere Personen auf die Brücke zu. Verspätete Nachtschwärmer, die singend und johlend ihren feuchtfröhlichen Rausch nach Hause trugen. Der Lärm, den sie machten, gab den beiden jungen Leuten wenigstens für den Moment ein bißchen Fassung wieder. Sie eilten von der Brücke, auf der helle Laternen brannten, herunter und verzogen sich vor der herankommenden Gesellschaft aus den mit Bäumen bestandenen Kai.

Endlich hatte Robert sich so weit gefaßt, daß er erzählen konnte.

»Also ich stieg in das Zimmer. Zunächst konnte ich ja gar nichts sehen, aber um so besser gesehen werden. Deshalb verhielt ich mich in den ersten Minuten ganz ruhig hinter dem großen Vorhang am Fenster. Nichts rührt sich – schön, ich denke, ich kann's riskieren. Ich habe immer darauf gelauert, den Kerl schnarchen zu hören. Aber gar nichts war zu hören, gar nichts. Weißt du, Polly, mir ist in dieser Totenstille ordentlich unheimlich geworden –«

»War ja auch eine Totenstille«, warf das Mädchen schaudernd ein.

»Vielleicht ist etwas daran, was die Leute sagen, daß man einen toten Mann eher spürt, als einen lebendigen –. Ich weiß nicht, aber ich hatte so ein ganz verdammtes Gefühl, und wenn ich dir's nicht versprochen hatte, Polly, meiner Seel', ich hätte am liebsten gemacht, daß ich wieder zum Fenster hinauskomme!«

»Armer Robert«, sagte Polly.

Nein, so sprach keiner, der eben einen Menschen getötet hatte. Sie fühlte die heftigste Reue, daß sie ihn beschuldigt hatte. Wo er doch nur ihretwegen –

Und sie schob ihren Arm unter den seinigen und schmiegte sich liebevoll an ihn an.

Das tat ihm wohl, und er fuhr bedeutend ruhiger fort: »Schließlich habe ich mir gesagt, nun bist du einmal da, nun gehst du auch bis ans Ende. Ich also hin zu dem Schrank. Wie eine Maus so leise. Da – der Schrank steht offen – und kein Bild drinnen.«

»Kein Bild –? Ja, um Gottes willen, wo soll es denn sein? Ich habe ja selber gestern gesehen, wie er es hingestellt hat!«

Robert zuckte die Achseln.

»Ich sage dir ja,« meinte er, »das hat der mitgenommen, der – vor mir dagewesen ist. Doch, um zum Ende zu kommen – ich denke mir, vielleicht hat der Garwey das Bild in seinem Schlafzimmer versteckt. Ich drehe mich also um – und schalte die Laterne beinahe voll ein – und da – da, Polly, ich glaube, mich rührt der Schlag – da sehe ich den Malfritzen auf dem Teppich liegen. Hab' gleich gesehen, daß er tot war. Sein Schädel sah grauenhaft aus. Hab' zuerst gedacht, mir müßte übel werden. Aber da habe ich mich doch zusammengerappelt und wollte an ihm vorbei ins Schlafzimmer. Dabei muß ich ausgerutscht sein – ich konnte mich ja kaum auf den Beinen halten. Ist wahrhaftigen Gottes kein schöner Anblick, Mädel, so ein stummer Mann mit eingeschlagenem Hirnkasten –. Weiß Gott, ich hab' mich gegraust – aber das Malheur war einmal geschehen – vielleicht konnte ich jetzt das Bild besser finden. Ich versichere dir aber – es war nicht da. Ich habe in der Geschwindigkeit jeden Winkel durchstöbert – da waren mindestens an die dreißig Bilder, große und kleine, aber nicht eines, das dem, das du haben willst, auch nur entfernt ähnlich sieht.«

Polly antwortete nicht. Stumm lief sie neben ihm her, und ihr Arm, der in seinem lag, zitterte.

»Kennst du die Dame, die das Bild darstellt?« fragte Robert.

»Natürlich, Robby! Ich – ich werde dir schon sagen, wer sie ist –!« gab sie zögernd zurück. »Und was jetzt, Robert, wenn das Bild doch in die Ausstellung kommen sollte?«

»Du hast getan, was du konntest, Mädel. Hast wie ein anständiger Kerl gehandelt, und wer weiß, ob diese vornehme Dame, die du hast schützen wollen, dasselbe für dich riskiert hätte –«

»Du hast alles riskiert, Robert. Nicht ich. Und das macht mich gerade so verzweifelt, daß wir alles umsonst gewagt haben.«

»Ach, der Garwey hat sein Teil, das er sicher reichlich verdient. Wir müssen aber jetzt schauen, daß wir nach Hause kommen, damit ich den verdämmten Anzug vom Leibe kriege.«

Zehn Minuten später stiegen sie die vier Stockwerke in der großen Mietskaserne hinauf, in der sie zusammen eine kleine Wohnung innehatten. Im Zimmer angekommen, besah Polly mit Kennermiene die bösen Flecke und erklärte, daß sie mit ein bißchen kaltem Wasser leicht abzuwaschen wären.

»Zieh dich nur gleich aus«, sagte sie. »Ich will das sofort machen.«

Eifrig ging sie an die Arbeit. Um nicht die Aufmerksamkeit der Nachbarn zu erregen, huschte sie auf den Zehen in die Küche, um das Waschbecken mit Wasser zu füllen. Robert begann inzwischen, sich auszukleiden.

Als sie mit der vollen Schüssel zurückkam, sah sie ihn mit dem Rock in der Hand am Tische stehen und ganz entgeistert auf etwas starren, was er in der Hand hielt. Rasch trat sie näher – und hätte beinahe die Schüssel fallen lassen.

Was Robert so fassungslos anstierte, war ein großer Haufen Banknoten. Hunderter, Tausender.

»Was ist das?« stieß sie hervor.

Sein Blick hob sich von den Scheinen zu ihr empor, ein unsäglich erschreckter, gequälter Blick.

»Ich – ich –« stammelte der Bursche, und das Blut wich Tropfen um Tropfen aus seinem gebräunten Gesicht. »Ich erinnere mich, – das Geld lag auf dem Sekretär im Schlafzimmer – noch viel, viel mehr. Ich werde es wohl in meiner Kopflosigkeit eingesteckt haben – es lag da, ich – ich – mein Gott!« stöhnte er mit unterdrücktem Schluchzen auf.

»Robert,« rief sie, »du hast ihn doch ermordet! Du hast ihn beraubt!«

»Nein – nein – tausendmal nein! Ich schwöre es dir bei allem, was mir heilig ist. Ich habe ihn nicht angerührt! Nur das Geld – das Geld – das lag so da –«

Plötzlich unterbrach er sich, und sein Gesicht verzerrte sich in namenloser Angst.

»Ich habe meinen Hammer dort liegen lassen«, ächzte er.

 

III.

Der Erste Staatsanwalt, Herr Albert Moran, saß in seinem Bureau und wartete auf den Untersuchungsrichter Lionel Serrues, den tüchtigsten und energischsten seiner Beamten. Lionel Serrues, obwohl erst dreißig Jahre, galt als der kommende Mann in der Staatsanwaltschaft. Sogar seine Kollegen sagten ihm in neidloser Anerkennung eine Karriere voraus, die ihn zu den höchsten Stellen führen mußte, die für einen Juristen im Lande zu erreichen waren.

Herr Moran war sehr ungeduldig und nervös, als der junge Mann bei ihm erschien.

»Ich habe soeben die Meldung erhalten,« rief er, »daß der bekannte Maler Garwey ermordet worden ist. Vor einer halben Stunde hat ihn sein Diener in seinem Atelier mit zertrümmertem Schädel ausgefunden. Die Persönlichkeit Garweys ist derart, daß wir dem Fall erhöhte Aufmerksamkeit widmen müssen. Ich möchte daher, daß Sie ihn übernehmen, Herr Serrues.«

»Selbstverständlich, Herr Moran!«

»Ich hoffe, Sie werden sich dabei mit neuen Lorbeeren bedecken,« sagte der Chef, »so daß ich dann sofort Ihre Ernennung zum Staatsanwalt beantragen kann.«

Serrues verbeugte sich. Viele Worte zu machen, war nicht seine Art. Er setzte sich in das Amtsautomobil und fuhr an den Tatort.

Hier hatte man alles so gelassen, wie es gewesen war, als der alte Mann die Leiche seines Herrn fand. Der Tote lag mit dem Gesichte nach unten neben dem Tische in einer furchtbaren Blutlache, die den hellen Perser in weitem Umkreise ganz dunkelrot gefärbt hatte. Auf dem Tische standen eine leere Kognakflasche und ein Wasserglas. Der Teppich wies mehrere große Falten auf, die Garwey wahrscheinlich beim Sturz verursacht hatte.

Die Kommission des Polizeipräsidiums, mit dem Zentralinspektor Ström an der Spitze, war gerade dabei, einen detaillierten Bericht aufzusetzen, als Serrues das Mordzimmer betrat. Man begrüßte ihn, und Ström machte ihn sofort mit den bisherigen Ergebnissen der Untersuchung bekannt.

»Das hier ist das Atelier, daneben das Schlafzimmer. Die Fenster gehen in den Garten hinaus, und durch das äußerste rechts muß der Mörder eingestiegen sein. Ohne Ihrem Urteil vorgreifen zu wollen, Herr Untersuchungsrichter, möchte ich mir erlauben, folgende Meinung auszusprechen: Garwey hat, wie aus dem Zustande des Bettes zu ersehen ist, bereits gelegen, als er den Mörder durch das Fenster einsteigen hörte. Er sprang auf und stürzte aus dem Schlafzimmer in das Atelier hinaus, wo es zwischen ihm und dem Eindringling zum Kampfe kam. Als Garwey niedergeschlagen war, suchte der Mörder die Räume ab – aber was er gesucht haben mag, weiß ich nicht, denn auf dem Sekretär liegt ein ganzer Haufen großer und kleiner Banknoten, die der Mann doch unbedingt gesehen haben muß. Warum hat er sie nicht mitgenommen? Der Schmuck Garweys ist ebenfalls unberührt.«

»Woher wissen Sie, daß der Mörder im Schlafzimmer war?«

»Wir haben ganz deutliche Fußspuren gefunden, die vom Fenster durch das Atelier in das Schlafzimmer führen. Sie verraten auch, wo der Mann überall gesucht hat. So war er auch dort an dem alten vlämischen Schrank in der Ecke.«

Vorsichtig tat Ström einen Bogen Papier auseinander, der mehrere Krümelchen Erde enthielt.

»Diese Erde haben wir auf dem Fußboden vor dem Schrank und im Schlafzimmer gefunden. Sie ist genau dieselbe wie die des Gartens, speziell vor dem Fenster, durch das der Mörder meiner Meinung nach eingestiegen ist.«

»Haben Sie Fußspuren gefunden?«

»Der Mörder muß ein Anfänger gewesen sein – er hat uns beinahe seine Photographie dagelassen. Zudem war er nicht allein. Wenn Sie mitkommen wollen, Herr Untersuchungsrichter, kann ich Ihnen alles zeigen.«

Man begab sich in den Garten, wo man die Fußabdrücke eines Mannes und einer Frau von der Gittertür bis zum Atelierfenster und zwar hin und zurück verfolgen konnte. Es waren die Pollys und Roberts.

»Fällt Ihnen an diesen Spuren nichts auf, Herr Untersuchungsrichter?« fragte Ström.

Serrues ging den Rasen, der den Kiesweg einsäumte, von Anfang bis zu Ende entlang, ihn scharf untersuchend. Vor dem Fenster, an dem ein Schutzmann in Zivil von dem vorsichtigen Ström aufgestellt war, um die wichtigen Beweise vor ungeschickter Zerstörung zu bewahren, machte er halt und sagte: »Man sieht aus diesen Fußabdrücken, daß ein Mann und eine Frau in den Garten eingedrungen sind und sich hierher geschlichen haben. Während der Mann dann durch das Fenster einstieg, ist die Frau davor stehengeblieben, augenscheinlich, um Wache zu halten. Sie ist einmal dicht herangetreten, dann wieder zurückgegangen. Hier ist der tiefe Eindruck, den der Mann gemacht hat, als er von dem Fenster wieder heruntersprang. Er und seine Begleiterin sind dann Hals über Kopf davongelaufen. Das sieht man an den flüchtigen, halb verwischten Spuren, die zum Tor zurückführen. Sie müssen in großer Angst oder sogar in panischem Schrecken gewesen sein, sonst hätten sie sich Zeit genommen, diese verräterischen Spuren zu verwischen. Selbst der naivste Anfänger hätte bei klarer Besinnung daran gedacht, denn solche Spuren führen direkt zum Galgen. Sie haben doch Abgüsse machen lassen, Herr Ström?«

»Selbstverständlich.«

Der junge Untersuchungsrichter nickte.

»Haben die guten Leutchen in ihrer Eile vielleicht sogar das Mordinstrument zurückgelassen?« fragte er.

Das klang wie ein Scherz. War aber keiner. Lionel Serrues machte nicht viel Scherze in seinem Leben, am allerwenigsten während der Ausübung seines Berufes. Ström lächelte trotzdem.

»Stimmt«, erwiderte er. »Das Mordinstrument ist gefunden worden. Neben dem alten Schrank. Ein kleiner Schmiedehammer.«

»So?«

Zum ersten Male zeigte sich Bewegung in dem schmalen kalten Gesicht des Richters. Er zog die Augenbrauen hoch und blickte den Polizisten eine Minute lang wie überrascht an.

Man ging in das Atelier zurück, und Ström wies seinen Fund vor. Es war der Hammer, den Robert aus der Hand gelegt hatte, um den Schrank zu öffnen. Er war am Stiel und am Kopf mit Blut beschmiert.

»Wir brauchen bloß den Eigentümer dieses Dinges da zu eruieren,« sagte der Inspektor, »seine Schuhnummer mit unseren Gipsabgüssen zu vergleichen, und der Fall ist erledigt. Der Kerl gehört ja schon wegen seiner Dummheit an den Galgen.«

Serrues hatte währenddessen das Instrument mit einer Lupe eingehend betrachtet und wendete sich nun, ohne Ström zu antworten, an den Polizeiarzt, der seinem Sekretär den Bericht über den Leichenfund diktierte.

»Herr Doktor, ich erbitte die Antwort auf einige Fragen. Erstens, wann ist Garwey getötet worden?«

»Die Leichenstarre ist bereits vollständig eingetreten. Man kann also annehmen, etwa um ein Uhr nachts.«

»Die genaue Zeit können Sie nicht präzisieren?«

»Sagen wir ein Uhr dreißig.«

»Gut. Zweitens: ist Ihrer Meinung nach Garwey mit diesem Hammer da getötet worden?«

»Das ist sehr wohl möglich. Allerdings, ganz bestimmt möchte ich es nicht behaupten. Wenn Sie die Wunde ansehen wollen, Herr Untersuchungsrichter –

Ström zog den Kelim beiseite, mit dem man die Leiche bedeckt hatte: man drehte sie um und Serrues trat heran, um sie zu besichtigen. Der Tote war ein hübscher Mann gewesen, groß, schlank, mit einem interessanten, rassigen Gesicht. Jetzt war dieses kaum erkenntlich. Der Mund weit aufgerissen, wie zu einem letzten Todesschrei. Die Augen farblos, gebrochen. Und die Stirn grauenvoll zerstört. Mit leiser Stimme erklärte der Arzt die Wunde.

»Der Schlag hat ihn direkt von vorn mit furchtbarer Gewalt getroffen. Die Wunde ist fast eine Spanne lang und geht sehr tief. Dieser Hammer könnte es vielleicht gewesen sein – aber dann müßte der Schlag nicht mit dem stumpfen Kopfende, sondern mit dem spitzen geführt worden sein.«

Er wischte mit einem feuchten Lappen die zerschmetterte Stirn ab. Die Wunde zeigte sich mit merkwürdig zackigen, unregelmäßigen Rändern –. Mit der Pinzette holte der Arzt mehrere Knochensplitter heraus.

»Eine seltsame Wunde –!«

Kopfschüttelnd nahm der Doktor den Hammer und verglich sein spitziges Ende mit dem klaffenden Spalt.

»Es könnte ja sein –«, meinte er. »Nun, ich werde mir einmal die Wunde genau ansehen. Eins steht fest, der Schlag hat ihn sofort getötet.«

Nach den Worten des alten Mannes fiel Stille über den Raum, durch dessen Fenster helle Morgensonne hereinflutete. Ihre Strahlen spielten um die Leiche, legten ihren Schimmer um den zerstörten Kopf. Aber ihr leuchtendes Gold milderte nicht den grauenhaften Anblick. Machte ihn nur noch grauenhafter und griff so selbst den abgehärteten Polizeimenschen an die Nerven.

»Armer Teufel!« sagte der ehrliche Ström. »Er war ein so hübscher Kerl!«

Und von einer plötzlichen Idee gepackt, fügte er hinzu: »Wissen Sie, was ich glaube, meine Herren? Das ist gar kein Raubmord. Garwey war ein bekannter Don Juan; er hat immer Abenteuer gehabt, darunter ein paar recht wüste. Ob da nicht eine Frau dahinter steckt?«

»Als Mörderin?« fiel der Arzt ein. »Ausgeschlossen. Einen solchen Hieb kann keine Frau führen. Selbst in allergrößtem Affekt nicht.«

»Nein, daran denke ich auch nicht, aber –« Ström ließ sich von seiner Idee weiter und weiter ziehen. »Wir haben doch die Spuren eines Mannes und einer Frau! Also! Da ist doch die Sache klar!«

»Bis auf ein Moment, Herr Ström«, sprach Serrues, der als der einzige ruhig und gelassen neben der Leiche stand. »Wenn der Hammer da diesem Mann mit der Frau gehört, dann ist er nicht der Mörder. Denn Garwey ist nicht mit diesem Hammer getötet worden. Trotz des Blutes, das daran klebt.«

»Ah – das wäre doch – !« Und Ström griff hastig nach dem Instrument.

»Sehen Sie sich ihn nur genau an, Herr Ström! Glauben Sie nicht, daß bei dem dichten Haar Garweys und der Gewalt des Schlags ein paar Haare an dem Eisen kleben müßten – wenn nicht schon ganze Haarbüschel? Nehmen Sie Ihre Lupe, und Sie werden sehen, daß an dem ganzen Hammer nicht ein einziges Haar zu finden ist.«

Ström eilte ans Fenster und untersuchte das Instrument mehrere Minuten lang. Dann kam er zu Serrues zurück, betreten und ärgerlich darüber, daß ihm der so viel Jüngere einen solchen Schnitzer nachweisen konnte.

»Sie haben recht, Herr Untersuchungsrichter!« sagte er. »Mit diesem Hammer da ist die Tat nicht verübt worden. Teufel – Teufel, die Sache fängt an, verwickelt zu werden.«

»Wir wollen den Diener verhören!« sagte Serrues.

 

IV.

Man trug den Ermordeten in das Schlafzimmer, wo sich der Polizeiarzt daran machte, die Wunde zu untersuchen. Dann wurde Marx gerufen, der Diener Garweys.

Er war ein alter, mürrisch und verschlossen dreinblickender Mann und trat ohne Scheu und Ängstlichkeit den Beamten gegenüber. Wenn ihm vielleicht auch der schreckliche Tod seines Herrn naheging, so zeigte er doch nichts von solchen Gefühlen. Klar und bestimmt gab er Bescheid.

Er erzählte: »Gestern abend hatte Herr Garwey »wie jede Woche, seine Bridgepartie.«

»Wer nahm daran teil?«

»Dieselben Herren, die immer dabei sind, Herr Doktor Snyders, Professor Moll und der Bankier Van Goot. Die Partie dauerte wie gewöhnlich bis zwölf Uhr, worauf ich die Herren hinausließ.«

»Ihr Herr scheint nach dem Haufen Geld, der auf dem Sekretär liegt, stark gewonnen zu haben?«

»Ja. Als ich zurückkam, war er im Begriff das Geld zu zahlen, und er nannte mir auch die Summe – ich glaube etwas über 6800 Mark.«

»Alle Achtung!« rief Ström.

»Haben Sie das Geld zählen lassen?« fragte ihn der Untersuchungsrichter.

Wieder wurde Ström ärgerlich. Dieser junge Mensch dachte doch an alles.

»Nein«, erwiderte er kleinlaut und eilte in das Schlafzimmer, um das Versäumte nachzuholen.

Nach wenigen Minuten kam er mit erstauntem Gesicht zurück.

»Dort sind nur 2700 Mark«, sagte er.

Serrues bohrte seinen Blick in den Diener.

»Wissen Sie etwas über den Verbleib des Restes?« fragte er.

Marx senkte nicht den Blick.

»Nein«, erwiderte er.

Ström wollte einen seiner Leute abordnen, um im Hause, vor allem im Zimmer des Dieners, nachsuchen zu lassen. Doch sein Vorgesetzter hielt ihn zurück.

»Wenn der Mann wirklich das Geld genommen hat,« sagte Serrues, »so hat er Zeit genug gehabt, um es so zu verstecken, so daß wir es nie und nimmer finden können. Zudem glaube ich ihm auch, daß er nichts damit zu tun hat. Er hätte ja gar nicht die Summe zu nennen brauchen – nicht wahr?«

Ström zuckte die Achseln und fügte sich. Er hatte viel zu großen Respekt vor diesem jungen, schmächtigen, so unscheinbar aussehenden Richter, als daß er auch nur die leiseste Gegenrede versucht hätte.

Serrues fuhr im Verhör fort.

»Wissen Sie etwas über den Verlauf der Partie? Es wurde doch sehr hoch gespielt – vielleicht hat es da Streit gegeben?«

Marx schüttelte den Kopf.

»Ich habe nichts bemerkt, Herr Untersuchungsrichter. Gerade gestern abend ging es sehr ruhig zu, denn Herr Garwey war im Gewinn und da war er guter Laune.«

Wollen Sie damit sagen, daß er übelgelaunt war oder vielleicht gar Streit anfing, wenn er verlor?«

»Ja; er konnte sogar sehr heftig werden. Bei der Partie in der vorigen Woche bekam er Streit mit Professor Moll. Aber die anderen Herren legten sich ins Mittel, so daß er sich mit dem Professor wieder versöhnte.«

»So? Gestern also verlief die Partie ohne Streit? Und – Sie wollen etwas sagen?«

»Jawohl, Herr Untersuchungsrichter, mir fällt eben ein, Herr Garwey hatte gestern doch einen Streit –

»Mit einem der Herren von der Partie?«

»Nein, am Vormittag, mit einem Modell.«

»Ein berufsmäßiges Modell? Ja? Wie heißt sie?«

»Polly Burgherr.«

»Wissen Sie ihre Adresse?«

»Sie muß sich dort auf dem Adressenblock befinden.«

Ström hatte den Block schon in der Hand.

»Ganz recht, hier ist sie«, rief er. »Polly Burgherr, Seestraße 21.« Er gab zweien seiner Leute einen Wink, sich bereitzuhalten.

Marx berichtete von dem Streite.

»Das Mädchen kam sehr oft her. Sie saß ihm zu allen möglichen Bildern, und soviel ich weiß, bezahlte er sie ganz anständig.«

»Hatte er auch noch andere Beziehungen zu ihr?«

Marx schüttelte den Kopf, während so etwas wie ein Lächeln über seine dünnen Lippen glitt.

»Sie ist sehr hübsch, aber ich glaube nicht,« meinte er, »daß er mit ihr etwas gehabt hat. Die Polly ist, soweit ich sie kenne, keine solche, und Herr Garwey hatte auch andere Beziehungen –.«

»Ah – wissen Sie etwas darüber?« fragte Serrues.

Ström reckte sich vorwärts, gierig, eine Spur auftauchen zu sehen. Doch Marx enttäuschte ihn.

»Nichts. Sie können sich denken, Herr Untersuchungsrichter, daß Herr Garwey mich diesbezüglich nicht zu seinem Vertrauten gemacht hat.«

»Aber Sie müssen doch die Damen kennen, die zu ihm gekommen sind? Er war doch der gesuchteste Porträtmaler der vornehmen Gesellschaft. Ist Ihnen nicht bei der einen oder anderen etwas aufgefallen, was darauf schließen ließ, daß ihre Beziehungen zu Herrn Garwey intimer waren als die der anderen Besucherinnen?«

Scharf und eindringlich klang bei dieser Frage die Stimme des Untersuchungsrichters. Seine dunklen Augen hielten die des Dieners fest.

Der wurde unsicher.

»Mein Gott, es blieb einmal wohl die eine oder andere zu einer Tasse Tee – aber –

»Aber?«

»Herr Garwey bereitete dann den Tee selbst, und ich kam nie ins Zimmer.«

Serrues' Gesicht wurde hart und eisig kalt.

»Hören Sie an!« sagte er, »ich kann die Diskretion, mit der Sie über die Beziehungen Ihres Herrn sprechen, verstehen und sogar würdigen. Aber es handelt sich jetzt darum, den Mörder Ihres Herrn zu finden, und da hat alle Diskretion ein Ende. Sie wissen, daß ich Sie zwingen kann, alles auszusagen, was Ihnen bekannt ist.«

Der alte Mann wurde störrisch.

»Sehr wohl, Herr Untersuchungsrichter,« knurrte er, »das können Sie. Tun Sie ja auch. Aber Sie können mich nicht zwingen, mehr auszusagen, als ich weiß.«

»Das werden wir sehen. Fahren Sie in der Schilderung des Streites mit dem Modell – wie heißt die Person? Polly Burgherr? – fort! Sie glauben mit Bestimmtheit sagen zu können, daß Herr Garwey kein Verhältnis mit ihr hatte? Warum stritt er dann mit ihr?«

»Das allerdings kann ich nicht sagen. Sie war am Vormittag hier, und ich kam gerade zu dem Streit, als ich ihm das Gabelfrühstück hereinbrachte. Das Mädchen war in heftiger Erregung und schrie: »Du wirst mich noch kennenlernen, du Lump!« Dann packte sie ihren Hut und lief davon.«

»Sollten diese Worte nicht gerade darauf schließen lassen, daß der Streit doch seinen Grund in einem intimeren Verhältnis hatte?«

»Ich glaube es nicht, Herr Untersuchungsrichter. Denn ich sah, daß Herr Garwey Geld auf dem Tische liegen hatte – die Polly scheint es nicht genommen zu haben. Und was das Duzen anlangt – er duzte sich mit allen seinen Modellen. Das ist in Künstlerkreisen gang und gäbe.«

»So? Und Sie sagen, er hat ihr Geld angeboten? Wofür?«

»Ich glaube es – die ganze Situation ließ darauf schließen. Wofür weiß ich nicht. Nein, bestimmt nicht, Herr Untersuchungsrichter! Aber als die Polly fort war, steckte Herr Garwey das Geld – es mögen so ein paar hundert Mark gewesen sein – in die Tasche zurück und sagte lachend dabei: »Dumme Gans!«

Serrues schwieg einen Augenblick. Dann sagte er zu Ström: »Jetzt können Sie mir Polly Burgherr vorführen lassen. Ins Bureau, bitte! Und man soll, wenn sie einen Geliebten hat, diesen gleich mitbringen. Vielleicht ist er der Mann mit dem Hammer.«

Die zwei Detektive machten sich auf den Weg und Serrues wendete sich zu Marx zurück:

»Haben Sie sonst noch etwas auszusagen?« forderte er den Alten auf. »Denken Sie gut nach, besonders über die Liste der Damen, die in dieses Haus kamen!«

»Ich weiß wirklich nicht –« murmelte der Diener.

»Ich will jetzt nicht in Sie dringen. Vielleicht ergibt das Verhör mit Polly Burgherr volle Klarheit, so daß man an diese diskreten Dinge nicht zu rühren braucht. Ich möchte es gern vermeiden, unnötigen Skandal aufzuwirbeln, aber, Marx, wenn es notwendig ist, werden Sie mir antworten müssen! So, jetzt können Sie gehen. Oder – Herr Ström, haben Sie noch eine Frage an den Mann?«

»Wir könnten uns ja auf jeden Fall die Liste der Damen geben lassen –« meinte der Inspektor.

»Die weiß ich nicht aus dem Kopf«, sagte Marx.

»Hat Herr Garwey denn keine geschäftlichen Aufzeichnungen geführt?« drängte Ström.

»Ja«, gab der Diener unwillig zur Antwort. »In seinem Sekretär ist das Buch darüber.«

»Schön, wir werden es also ansehen. Sonst hätte ich vorläufig nichts, Herr Untersuchungsrichter.«

Marx wendete sich zur Tür, blieb plötzlich stehen und kam zurück.

»Da fällt mir etwas ein«, sagte er. »Es ist ja einer der Herren nach der Partie noch zurückgekommen.«

»Was der Teufel?« rief Ström, und selbst Serrues zeigte Überraschung.

»Ja,« sprach Marx, »während ich hier noch aufräumte, zog sich Herr Garwey in seinem Schlafzimmer bereits aus. Da läutete es –.«

»Halt – der Reihe nach! Wissen Sie, wieviel Uhr es da war?«

»Auf den Kopf, Herr Untersuchungsrichter, denn mein erster Blick war natürlich nach der Uhr, als ich das Läuten hörte. Es war fünf Minuten nach halb eins. Ich fragte Herrn Garwey, ob ich öffnen sollte. Er kam aus dem Schlafzimmer heraus, lachte und sagte: »Das wird sicher Doktor Snyders sein! Der hat sein ganzes Geld verspielt und wird mich jetzt anpumpen. Lassen Sie ihn nur herein – kriegen tut er doch nichts von mir!«

»Noch eine wichtige Frage, ehe wir es vergessen! Hatte Herr Garwey damals schon seinen Pyjama an? Ja? Er war also genau so angezogen, wie Sie ihn heute morgen gefunden haben?«

»Genau so, Herr Untersuchungsrichter!«

»Schön. Wer war an der Tür? Doktor Snyders?«

»Nein, Herr Untersuchungsrichter –

Marx holte tief Atem und sah den Beamten unter seinen buschigen Brauen hervor merkwürdig lauernd an.

»Herr Van Goot, der Bankier«, sagte er dann langsam.

 

V.

Einen Moment lang herrschte lautlose Stille in dem Atelier. Aus dem Schlafzimmer klang das Hantieren des Arztes, der Wasser in eine Schüssel goß. Im Garten begann auf einem der Bäume dicht vor dem geöffneten Fenster ein Buchfink sein Lied zu trillern –.

Stumm schauten Serrues und Ström einander an. Dem Inspektor schoß die Erregung ins Gesicht. Der andere, so viel jüngere, blieb ruhig, kalt, überlegen.

»Bedenken Sie jetzt jedes Wort«, sprach er zu dem Diener. »Ihre Aussage kann Leben oder Tod bedeuten. Sie ließen Herrn Van Goot ein? War er aufgeregt? Schien er zornig? Oder kam er nur zurück, weil er etwas vergessen hatte?«

»Das weiß ich nicht. Er schien mir sehr aufgeregt, obwohl er sich nichts anmerken ließ. Er fragte mich, ob Herr Garwey noch auf sei –.«

»Einen Moment«, unterbrach Ström. »Ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß Herr Van Goot zurückkommen konnte? Wie gelangte er denn in den Garten zurück? Das Gittertor hat doch, wie ich gesehen habe, einen vom Hause aus zu öffnenden Verschluß?«

Marx zuckte die Achseln. »Daran habe ich nicht gedacht –.«

»Vielleicht hatte Herr Van Goot«, warf Serrues ein, »von vornherein die Absicht zurückzukehren und lehnte daher beim Fortgehen die Gartentür nur an. Doch das ist für den Moment von unwesentlicher Bedeutung. Die Hauptsache ist die Unterredung selbst. Wie benahm sich Herr Garwey, als Sie ihm Herrn Van Goot meldeten?«

»Er war überrascht und machte ein ärgerliches Gesicht. Zuerst wollte er ihn gar nicht empfangen, aber dann sagte er mir schließlich, ich sollte ihn hereinlassen. Lassen Sie den Kerl in Teufels Namen herein! So ungefähr!«

»Sie hatten also den Eindruck, daß ihm der Besuch ebenso unerwartet wie unerwünscht kam?«

»Jawohl.«

»Haben Sie eine Erklärung dafür?«

»Nein, Herr Untersuchungsrichter. Sie hatten doch in aller Ruhe den ganzen Abend zusammen gespielt!«

»Ist es nicht möglich, daß die beiden Herren eine Ursache des Streites hatten, die sie vor den anderen geheimhalten wollten?«

Aber das Gesicht des Dieners legte sich etwas wie ein Schleier. Selbst für den Richter wurde es undurchdringlich.

»Möglich ist es schon, aber ich weiß nichts davon«, murmelte er.

Ström wollte auffahren, doch Serrues winkte ihm ab. Verwundert blickte ihn der Polizist an – was in aller Welt hatte dieser so schneidige, oft rücksichtslos und brutal auf sein Ziel losgehende Untersuchungsrichter im Sinn, daß er den störrischen alten Burschen da so nachsichtig behandelte?

»Gehen wir weiter!« sagte Serrues zu Marx. »Sie ließen also Herrn Van Goot ein? Und dann?«

»Herr Garwey schickte mich fort, und ich ging zu Bett. Was die Herren miteinander verhandelt haben, und wann Herr Van Goot das Haus verließ, habe ich nicht mehr gehört. Ich habe einen festen Schlaf und war außerdem sehr müde.«

»Sie können sich bestimmt an nichts erinnern? Haben Sie nicht irgendein Geräusch gehört? Einen Wortwechsel oder den Fall eines schweren Körpers?«

»Nein, Herr Untersuchungsrichter.«

»Wo schlafen Sie?«

»Nach vorn hinaus in einer Mansarde.«

»Ist außer Ihnen sonst noch jemand in der Villa?«

»Niemand. Ich besorgte das Frühstück, und die anderen Mahlzeiten nahm Herr Garwey außerhalb des Hauses ein, zumeist in seinem Klub.«

»Gut. Wir werden jetzt miteinander auf Ihr Zimmer gehen, und einer Ihrer Leute, Herr Ström, wird hier in diesem Raume einen recht schweren Gegenstand zu Boden werfen. Dann werden wir einmal feststellen, ob man dort oben etwas hört oder nicht.«

Serrues, Ström und Marx begaben sich in die Mansarde des Dieners. Unten vollführten zwei Detektive einen wahren Höllenspektakel, warfen den schweren Renaissancetisch um, sprangen mit beiden Füßen zugleich in die Höhe – in dem Zimmer des Dieners war nichts zu hören. Der dicke Kurdenteppich, der den Boden des Ateliers bedeckte, mußte überdies jeden Lärm dämpfen.

Marx wurde mit dem Befehl, sich jederzeit zur Verfügung des Untersuchungsrichters zu halten, entlassen, und Serrues kehrte mit Ström in das Atelier zurück. Hier hatte inzwischen der Polizeiarzt seine traurige Arbeit beendet.

»Ich bin mir noch immer nicht recht klar«, sagte er. »Die Wunde geht sehr tief, verringert sich aber nach unten zu immer mehr.«

»Welchen Befund würden Sie also abgeben, Herr Doktor?« fragte der Untersuchungsrichter.

»Getötet durch einen Schlag mit einem breiten, spitz zulaufenden Gegenstand«, lautete die Antwort.

»Also mit diesem Hammer auf keinen Fall?«

Der Arzt zögerte einen Moment und warf noch einen letzten Blick auf das Instrument, das ihm Serrues hinhielt.

»Nein«, sagte er dann mit Entschiedenheit.

»Ich danke, Herr Doktor!« erwiderte Serrues und legte den Hammer beiseite.

»Die Leiche kann abgeholt werden, meine Herren.«

Der Polizeiarzt packte seine Instrumente zusammen, diktierte seinem Assistenten den Bericht zu Ende und entfernte sich.

»Wir hätten hier eigentlich auch nichts mehr zu tun«, meinte Serrues. »Ich hoffe, die Burgherr ist schon in meinem Bureau.«

Er wandte sich zum Gehen, doch Ström hielt ihn zurück.

»Die Liste dürfen wir nicht vergessen, Herr Serrues,« rief er, »und dann wäre es auch ganz gut, wenn wir nachsähen, ob wir nicht in der Privatkorrespondenz Garweys einen Anhaltspunkt finden können. Je länger ich mir die Sache überlege, desto klarer scheint es mir, daß eine Frau hinter den Kulissen steckt.«

»Meinen Sie?« fragte Serrues trocken, während er seine Handschuhe anzog.

»Sie nicht, Herr Serrues?«

Der Untersuchungsrichter hob gleichmütig die Achseln und sagte: »Ich habe, offen gestanden, noch gar keinen Eindruck. Aus einmal sind zwei Verdächtige da: Polly Burgherr mit ihrem Begleiter – notabene, wenn die beiden es waren, deren Spuren da draußen sind, – und Van Goot. Das stimmt mich immer mißtrauisch.«

»Ich verstehe nur nicht, Herr Serrues, warum Sie den Marx so – nehmen Sie mir's nicht übel – so mit Samthandschuhen angefaßt haben? Der Kerl weiß doch bestimmt mehr, als er sagt.«

»Zweifellos, und ich habe ihn gerade deshalb nicht auf die Streckbank gelegt, um ihn sicher zu machen. Es wäre gut, wenn Sie ihn beobachten ließen.«

»Soll geschehen, Herr Serrues!« nickte Ström befriedigt. »Und jetzt wollen wir uns einmal die zärtlichen Geheimnisse des Herrn Garwey ansehen.«

Sie traten in das Schlafzimmer. Dort lag jetzt, steif und still, mit einem Laken zugedeckt, der Tote.

Leise flüsterten sie miteinander, während sie den offenstehenden Sekretär untersuchten. Briefe fanden sich keine vor, doch in einer Lade stöberten sie ein kleines Notizbuch auf, in dem verschiedene Namen mit Daten notiert waren, augenscheinlich die Arbeitsteilung des Malers für seine Sitzungen.

Meistens waren es Frauennamen, die auf dieser Liste standen, und zwar die besten und vornehmsten der Gesellschaft. War es doch höchster Chic gewesen, sich von Julian Garwey porträtieren zu lassen, und je höhere Honorare er gefordert hatte, desto eifriger war ihm die Kundschaft zugelaufen.

Schöne Frauen waren unter diesen Namen; Frauen, die eine Rolle in der Gesellschaft spielten, und von denen so manche in Verbindung mit dem interessanten Künstler durch die Fangzähne der chronique scandaleuse geschleift worden war.

»Na, ich danke!« sagte der Inspektor. »Wenn wir diese ganze Liste absuchen sollen – Er stockte, sein dicker Zeigefinger preßte sich auf einen Namen –.

»Da – Gina Genelli!« rief er. »Das ist doch die große Primadonna der Oper! Herrgott – Herr Serrues, es fängt an zu dämmern!«

»Wieso?«

»Nun – wissen Sie denn nicht? Garwey hat doch die Genelli gemalt, als Brunhilde oder Walküre oder sonst irgendein klassisches Frauenzimmer. Das hat doch in der Zeitung gestanden.«

»Ja, ich erinnere mich. Das Bild soll im diesjährigen Salon ausgestellt werden. Die Blätter waren ja ganz voll davon!«

»Das glaube ich, die Genelli ist ein verteufelt schönes Weib, und – und wissen Sie das denn wirklich nicht? Sie ist ja mit Van Goot verlobt.«

»So? Das wußte ich allerdings nicht. – Daß ichs nicht vergesse – Herr Ström, ich rechne darauf, daß Sie Van Goot zu mir bringen. Wenn Sie selbst es täten, wäre es mir am liebsten, so unauffällig wie möglich.«

Serrues bestieg sein Auto und fuhr ins Justizpalais zurück. Verwundert schaute ihm der Zentralinspektor nach.

»Seine Ruhe möchte ich mir wünschen«, brummelte er.

 

VI.

Vor der Tür des Büros warteten bereits zwischen zwei Kriminalbeamten Polly Burgherr und Robert Smitt. Es hatte gar keine Schwierigkeiten gemacht, sie zu verhaften. Das Mädchen war zu Hause gewesen, und den Burschen hatte man aus der nahe gelegenen Fabrik geholt.

Polly war ganz gebrochen; Robert saß mit geballten Fäusten, dumpf vor sich hinbrütend, da. Scham nagte an seinem Herzen – so aus der Arbeitsstatt herausgeschleppt zu werden – den Fleck wurde er nie wieder los! Und das Geld! Das Geld, das er mitgenommen hatte!

Serrues ließ sie sofort vorführen. Sein strenger, scharfer Blick umfaßte diese unseligen jungen Menschenkinder.

»Setzen Sie sich!« sagte er zu ihnen.

»Hören Sie mich zunächst einmal ruhig an!« fuhr er dann fort. »Ich habe Sie beide hierher führen lassen müssen, weil Sie des Mordes an dem Maler Julian Garwey verdächtig erscheinen.«

Mit wildem Satze fuhr Robert in die Höhe.

»Ich habe ihn nicht getötet!« schrie er. »Ich schwöre es, bei allem, was mir heilig ist. Als ich –.«

»Lassen Sie mich aussprechen!« Die sonst so schneidende Stimme des Untersuchungsrichters klang merkwürdig mild, weich war sie beinahe. »Ich habe ja nicht gesagt, daß Sie den Mord begangen haben. Ich glaube es auch gar nicht – aber – aber Fräulein!«

Polly war um den Tisch herumgestürzt, hatte seine Hand ergriffen und einen heißen Kuß des Dankes darauf gepreßt. Ihre Tränen machten ihm Ärmel und Hand naß. Mit brüsker Bewegung machte er sich frei.

»Wir wollen keine dramatischen Szenen aufführen!« sagte er, indem er seine Verlegenheit hinter der gewöhnlichen Harte zu verbergen suchte. »Ich habe Sie beide vorführen lassen, weil Sie des Mordes an Julian Garwey verdächtig erscheinen, und es meine Pflicht ist, dies klarzustellen. Es ist daher in Ihrem ureigensten Interesse, daß Sie mir ohne alle Umschweife die Wahrheit sagen. Und zwar die volle Wahrheit! Wollen Sie das?«

»Ja«, antworteten sie wie aus einem Munde.

»Gut. Sie geben also zu, in das Atelier eingebrochen zu sein?«

Wieder ein gleichzeitiges Ja.

»Was haben Sie dort gesucht?«

»Nicht das Geld!« rief Polly. »Herr Untersuchungsrichter, nicht das Geld! Mein Bräutigam hat es eingesteckt – ohne sich etwas dabei zu denken –«

»Es lag da«, verteidigte sich der Bursche selbst. »Ich – ich war so – benommen – ich habe zugegriffen. Wenn's mir wirklich auf das Geld angekommen wäre, hätte ich ja alles genommen. Wir haben ja nicht einmal gewußt, wieviel es war. Die Polly hat es gleich weggetan, und wir wollten es heute ans Gericht senden –.«

»Das ist natürlich eine furchtbare Dummheit gewesen,« sagte Serrues, »und Sie hätten –«

Doch Polly ließ ihn nicht ausreden. »Ich habe ja auch, wie die Herren von der Polizei gekommen sind, das Geld gleich herausgegeben, ohne daß sie mich lange zu fragen brauchten. Ich – das heißt, wir beide waren so froh, daß wir es so schnell los wurden. Es hat uns auf den Fingern gebrannt wie höllisches Feuer. Es war – oh mein Gott – Robby –.« Die Erregung, die Angst schnürten ihr die Kehle zu. Sie brach in wildes, fassungsloses Schluchzen aus.

Robert gelang es besser, sich in der Gewalt zu halten. Er brachte es sogar fertig, das Mädchen zu beruhigen.

»Aber Polly – Polly – Mädel«, flüsterte er ihr zu, indem er den Arm um ihre zuckenden Schultern legte. »Du siehst doch, der Herr Untersuchungsrichter meint es gut mit uns. Wegen der Dummheit mit dem Geld wird man mir schon nicht den Kopf abschlagen. Nicht wahr, Herr Untersuchungsrichter?«

Treuherzig blickte er in das kalte, unbewegliche Gesicht des ihm Gegenübersitzenden.

Nein – der Mann hatte keinen Mord begangen. Ruhig wartete Serrues, bis Polly sich beruhigt hatte. Langsam legte sich der Tränenstrom, die Seufzer kamen weniger stoßartig, Polly schneuzte sich resolut, packte ihr Herz in beide Hände und war bereit, sich ausfragen zu lassen. Sie war ein so hübsches, rassiges Ding – trotz ihres Berufes ehrlich, frisch und unverdorben wie ihr Liebster.

»Schön, die Sache mit dem Geld wäre erledigt«, begann Serrues von neuem. »Ich weiß nicht, wie das Gericht sie ansehen wird, jedenfalls – ich glaube euch und werde mich für euch einsetzen, wenn ihr mir ehrlich weiterhelft. Was habt ihr also bei Garwey gesucht?«

Die beiden wechselten einen raschen Blick. Die Augen des Mädchens wurden wieder ängstlich, unsicher. Doch Robert zuckte ungestüm die Achseln.

»Jetzt hilft's nichts, Polly. Jetzt mußt du's sagen, es geht um unsere Haut, die wir für deine Dame da riskiert haben.«

»Dame? Was für eine Dame?« schnitt die Frage des Untersuchungsrichter dazwischen.

»Ich weiß nicht. Den Namen hat mir Polly nicht gesagt.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Serrues. »Wollen Sie etwa angeben, Sie sind bei Garwey eingedrungen, weil Ihre Braut einer Ihnen unbekannten Dame helfen wollte?«

»Ja, Herr Untersuchungsrichter, akkurat so ist es«, nickte Robert eifrige Bestätigung. »Die Polly hat mich hineingeschickt, damit ich ein Bild holen sollte, das der Garwey von dieser Dame gemalt hat.«

»Ein Bild? Was für ein Bild?«

Der Bursche war mit seinem Latein zu Ende. Hilflos starrte er für einige Augenblicke den Beamten an, dann erinnerte er sich und gab Polly einen aufmunternden Ellbogenstoß.

»Jetzt rede du endlich!« brummte er schüchtern.

»Ich glaube auch, daß es an der Zeit ist«, fügte der Untersuchungsrichter hinzu.

»Ich will ja alles sagen«, rief das Mädchen.

»Wie heißt die Dame?«

Noch einen letzten Moment zögerte Polly. Dann unterdrückte sie einen Seufzer – ging es wirklich nicht um Roberts Kopf?

»Es ist Madame Genelli von der Oper«, sagte sie leise, kaum verständlich.

 

VII.

Wie ein von oben herabfallendes Tuch legte sich lautlose Stille über den nüchternen Raum. Selbst die Feder des Protokollführers hörte auf dem Papier zu kratzen auf, und der Mann blickte überrascht zu seinem Vorgesetzten hinüber, als getraue er sich nicht recht, diesen Namen niederzuschreiben.

Gelassen wie immer saß Serrues da. Mit starren, ausdruckslosen Augen vor sich hin starrend, ließ er das stählerne Lineal, das er in der Hand hielt, hin und her schnellen. Robert hockte stumm auf seinem Sessel und preßte die Fäuste auf den Knien zusammen.

Dem Mädchen aber riß dieses Schweigen an den Nerven. Das auf und nieder fahrende Lineal tat ihr weh. Sie sprang auf.

»Darf ich erzählen?« Wie ein Schrei um Hilfe klang das.

Der Blick des Untersuchungsrichters kam zu ihr zurück – scharf, prüfend.

»Ich erwarte nichts anderes«, sagte er.

Der Protokollführer räusperte sich, spaltete die Feder auf seinem linken Daumennagel, um sie für die große Niederschrift zu prüfen, und rückte sich zurecht. Stockend zuerst, dann fließender, ruhiger, redete sich Polly ihre Last vom Herzen herunter.

»Ich bete Madame Genelli an, nicht nur, weil sie eine große Künstlerin ist, sondern noch mehr deshalb, weil sie ein guter Mensch ist. Wenn sie nicht wäre – Robert – dann hätten wir uns nie kennengelernt. Dann hätten wir uns nie verloben können. Denn dann wäre ich schon längst irgendwie auf dem Straßenmist zugrunde gegangen. Ich hab' dir das alles nie sagen wollen, – ich hab' mich ja geschämt und gekränkt. Aber ja – ja, so ist es nun einmal!« fuhr sie fort, und so etwas wie Trotz kam ihr in Stimme und Augen, als sie das überraschte Gesicht des Untersuchungsrichters sah. »Sie werden dann verstehen, warum ich das getan habe, weswegen wir jetzt hier sitzen, und – und was ich jederzeit wiedertun würde. Ich weiß nicht, wer meine Eltern sind. Bis heute weiß ich es nicht! So weit ich mich zurückerinnern kann, sehe ich mich nur bei einer alten, bösen Vettel draußen im Norden – ich will lieber gar nicht sagen, wo! Das war ein böses Tier – ja, das war sie. Ich mußte für sie und ihren Sohn betteln gehen. Schon als zehnjähriges Kind haben sie mich auf die Straße geschickt. Ich bin ja nicht das einzige, elternlose Wurm, dem es so geht. Nichts gelernt habe ich. Gar nichts. Nur immer auf der Straße herumlaufen und Leute anbetteln.

Einmal bin ich ihnen durchgebrannt. Aber die Polizei hat mich wieder zurückgeholt. Dann habe ich mich ins Wasser geworfen – man hat mich herausgezogen, und da wurden die Herren auf der Polizei doch aufmerksam und wollten mich der alten Vettel nicht zurückgeben. Aber sie hat ihnen so vorgejammert, mich als so einen erzschlechten, verdorbenen Lügenbold hingestellt. Stinkfaul wäre ich. Wollte nicht in die Schule. Nicht zu Hause arbeiten – nichts – nichts! Kurz, die Herren ließen sich zum Narren halten und warfen mich der Alten wieder hin. Da habe ich's denn aufgegeben – mir war schon alles eins – ich hab' sogar nicht einmal mehr geweint. Bis mich eines Abends Madame Genelli gefunden hat. Sie kam gerade in großer Gesellschaft aus einem feinen Restaurant. Dort hatte ich immer meinen Standplatz. Und wie ich mich mit meinen Streichhölzchen an einen der Herren heranmache, da sieht sie mich – und von der Sekunde an hat mein anderes Leben begonnen. Schmutzig war ich, verwahrlost, ja, heute kann ich's ja sagen, voll Ungeziefer. Sie aber hat mich auf den Arm genommen und hat geweint – und hat – mich nicht mehr losgelassen –

Die Erinnerung kam über das Mädchen. Sie faltete die Hände im Schoß und schwieg, während schwere Tränen über ihre weichen, runden Wangen hinunterrollten. Ihr Bräutigam zog sie an sich, und sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Es war etwas unendlich Rührendes in der Selbstverständlichkeit, mit der er seinen Arm um das schluchzende Mädchen legte.

»Man wird uns sicher bestrafen, Robby«, flüsterte sie zu ihm empor, als ob sie beide allein im Zimmer wären. »Aber ich sag' dir, das ist nicht zuviel für das, was sie für mich getan hat. Denn wenn ich jetzt als ehrliches, anständiges Mädel mit dir an den Altar treten darf, wem danken wir das? Nur ihr – ihr die dieser Schuft, dieser ehrlose Kerl, der Garwey, in Schande und Unglück hat stürzen wollen –.«

Ihr Temperament flammte jäh auf. Sie legte die beiden zusammengekrampften Fäuste zur Besiegelung ihrer heftigen Worte auf den Tisch.

»Es mag eine Sünde sein, was ich da sage,« rief sie, »aber das behaupte ich auch den Herren vom Gericht ins Gesicht. Wenn einer den Tod verdient hat, so ist es Julian Garwey, der einer Frau, wie Nina Genelli, die Ehre hat stehlen wollen. Er hat –«

Serrues hatte sie bis jetzt nicht mit einer Handbewegung, nicht mit einem Worte unterbrochen. Die kühlen grauen Augen auf das leidenschaftlich zuckende Gesicht Pollys geheftet, hatte er nicht den geringsten Versuch unternommen, ihren Wutausbruch einzudämmen. Menschliche Gefühle und Erregungen ließen ihn kalt. Interessierten ihn nur in dem Maße, als sie für den »Fall« selbst in Frage kamen. Das Schicksal dieses verwaisten, verlotterten Straßenmädels, die romantische Laune einer großen Künstlerin – ihm waren sie nur wichtig als Motive für die Handlungsweise des Mädchens.

Doch jetzt unterbrach er Polly. »Wir sind noch nicht ganz fertig«, sagte er. »Sie waren dabei, zu erzählen, daß Frau Genelli Sie auf den Arm nahm und nicht mehr losließ. Sie hat Sie dann wohl von der alten Hexe losgekauft und erziehen lassen? Ja? und weiter? Wie kommen Sie zu – zu dem Beruf eines Modells? Hat Frau Genelli keinen anderen für Sie gewußt?«

»Sie hat mich zuerst in die Schule geschickt und wollte mich dann zum Theater geben. Aber ich habe gar kein Talent. Ach, gar keines – wie ein Stock habe ich immer dagestanden. Und – und da hat mich einmal der alte Professor Goldt bei ihr gesehen, und der hat gerade so einen Kopf gebraucht, wie meiner ist. Und da habe ich ihm gesessen – und so hat es angefangen. Ich habe auch Aktmodell gestanden, aber – niemand, niemand kann mir auch nur soviel nachsagen.«

Sie schnippte herausfordernd Daumen und Zeigefinger, um das »soviel« zu illustrieren. Robert nickte dazu und drückte ihr aufmunternd die Hand.

»Voriges Jahr bin ich dann auch«, fuhr sie fort, »zu Julian Garwey gekommen. Madame Genelli hat mich ihm empfohlen. Ich habe ihm zu verschiedenen Bildern gesessen. Mit dem einen »Das Mädchen aus dem Traumlande« hat er in Paris die goldene Medaille bekommen. Ja, das bin ich, und alle Zeitungen haben damals über mich geschrieben –.«

Ein anderer Untersuchungsrichter wäre bei diesem Zickzackkurs ungeduldig geworden. Serrues nicht. Er hatte das Mädchen einfach auf den Weg geschoben, nun ließ er sie gehen, so wie sie ihn gehen wollte. Einmal mußte sie ja doch zum Ziel kommen. Auf diesen Umwegen, die sie machte, rang sich auch mehr aus der Tiefe heraus. Wenn er gehetzt, getrieben hätte, wäre manches verlorengegangen.

»Er hat mich sehr gut bezahlt«, sprach sie weiter. »Das muß man sagen, schmutzig war er nicht. Und er war auch so kein schlechter Mensch – nein, obwohl, na – das gehört ja nicht hierher. Und da hat er nun vor vier Wochen das Bild von Madame Genelli begonnen – als Brunhilde – und da fing es an –.«

Der Untersuchungsrichter blickte überrascht auf.

»Da fing es an? Was fing an?«

»Ich – ich weiß nicht. Ich kann's nicht so sagen, beim besten Willen nicht. Es ist nur so mehr Gefühlssache – Herr Richter. Ich glaube, Garwey hat Madame Genelli den Hof gemacht und – und – sie hat ihn zurückgewiesen. Das glaube ich.«

»So? War es das erstemal, daß sich Madame Genelli von Herrn Garwey malen ließ?«

»Ja, das erstemal.«

»Aber sie kannten sich doch – wenigstens haben Sie mir vorhin gesagt, Madame Genelli selbst hätte Sie ihm als Modell empfohlen?«

»Sie kannten sich gesellschaftlich. Ich glaube, sie haben sich bei Professor Goldt kennengelernt und – und Madame Genelli hat mir dann einmal gesagt, der Garwey sei ein netter und interessanter Mensch, aber er sei furchtbar zudringlich.«

»Wollen Sie damit sagen, daß Herr Garwey Madame Genelli mit Liebesanträgen verfolgt hat?«

Das Mädchen lachte höhnisch auf. »Liebesanträge! Der! Von Liebe hat der nicht viel gewußt. Er hat immer mit dreien zugleich etwas gehabt – ich will nur gleich sagen, mich hat er in Ruhe gelassen; ich habe ihm einmal meine Meinung gesagt und gedroht, daß ich ihm nicht mehr sitzen würde. Da hat er bei mir klein beigegeben – aber sonst! O du mein Gott! besonders, wie er dann auf einmal so berühmt wurde, da haben sie sich fast an seiner Tür geschlagen. Pah – die Damen der sogenannten feinen Gesellschaft!«

Und das Achselzucken, mit dem Polly diese letzten Worte begleitete, war Vernichtung, Ausrottung für die sogenannte »feine Gesellschaft«.

»Wieso ist denn Madame Genelli dazu gekommen, sich von ihm malen zu lassen?«

»Sie hat ja das Bild gar nicht bestellt.«

»Wer denn?«

»Herr Van Goot, der Bankier, mit dem sie doch verlobt war.«

»Und dieses Bild haben Sie heute nacht durch Ihren Bräutigam stehlen lassen wollen?«

»Nein, dieses Bild nicht, Herr Richter, sondern das andere. Das Bild, mit dem er eben Madame Genelli um Ehr' und Ruf hat bringen wollen.«

 

VIII.

»So?«

Kalt und unbewegt war die Stimme des Untersuchungsrichters. Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und ließ wieder das Lineal spielen. Auf und ab schnappte der geschmeidige Stahl. Sonst – war es still im Zimmer.

»Was ist das für ein Bild?« klang endlich die Frage zu Polly hin.

Sie riß sich zusammen.

»Es ist – ich – ich weiß gar nicht, wie ich das erklären soll, Herr Untersuchungsrichter. Ich weiß – einmal, da kam ich gerade dazu, wie er mit Madame Genelli einen Streit hatte. Sie muß ihn furchtbar angelassen haben, denn er stand da mit hochrotem Kopf und biß sich auf die Fingernägel. Als sie dann weg war, ist er eine Zeitlang auf und ab gelaufen und hat immerzu mit sich selber geredet. Schließlich hat er gelacht und hat so getan, als ob nichts wäre. Oh, gar nichts. Mir hat er gesagt, ich sollte am nächsten Tage wiederkommen, er wollte ein neues Bild anfangen.«

Polly machte eine Pause. Es war, als wollte sie besonderen Mut sammeln zu dem, was sie jetzt zu sagen hatte. Sie tastete nach der Hand ihres Bräutigams. Hielt sie fest.

»Und sehen Sie, Herr Richter, – das – das Bild war's«, begann sie dann wieder. »Das Bild! – Oh – wenn ich gewußt hätte, was er damit wollte, nie hätte ich auch nur 'n Schuh ausgezogen, um ihm dafür zu sitzen! Ich wollte im Anfang überhaupt nicht – es, es war mir zu – zu gemein – zu unanständig! ›Der Rausch‹, hat er gesagt, ›soll's heißen.‹ Ja – und es war ein Weib, so eine Bacchantin – und – Robert!«

Das Mädchen, das einen Beruf daraus gemacht hatte, seinen entblößten Körper für Geld Maleraugen zur Schau zu stellen, schämte sich jetzt vor dem Manne, den sie liebte. »Robert, ich schwöre dir – fuhr sie gegen ihn fort, »ich hab's nur gemacht, weil er mir das Doppelte zahlte als sonst – und wir können es doch so gut brauchen –.«

Robert, gutherzig und vertrauend, nickte und lächelte.

»Ich weiß schon,« brummte er, »Polly, ich kenn' dich schon!«

Das half dem Mädchen etwas über die schamvolle Erinnerung hinweg, und sie fuhr beherzter fort, allmählich sich in die frühere Entschlossenheit zurückfindend.

»Oh – es war so gemein – das Bild. Ich hab's ja nicht so gemacht, wie er es haben wollte. Nein, Robert – da hätte er mir alles Gold hinlegen können! Das – nicht! Aber ich – ich hab' es erst später gesehen, ganz anders gemalt hat er es! Deshalb hat er es mich auch nie sehen lassen wollen. Bis es fast fertig war. Und da habe ich mich ordentlich erschreckt, als er es mich hat anschauen lassen. Gemalt war es fabelhaft! Ich sage Ihnen, Herr Richter, der Kerl, der Lump – hat nie was Besseres gemalt als dieses Bild. Ich hab' es bewundern müssen – so gemein es auch war –.«

Der Untersuchungsrichter beugte sich langsam vor. Ein Bild, das ein Modell – mochte das Mädchen so anständig und brav sein wie es wollte, Modell ist Modell – als gemein klassifizierte –! Der Protokollführer kniff die Äuglein zusammen und ließ erwartungsvoll die Feder sinken.

»Nun?«

Ruhig, kalt die Stimme des Richters. Ruhig, kalt sein Blick. Nur der des Mannes, der die Wahrheit wissen will.

»Es war – es war – nun ja – ein furchtbar betrunkenes Weib, das sich auf ein Tigerfell wirft und – als wollte sie schreien: Da, da nehmt mich! Jeder, der da kommt! So – so war das Bild!«

Wieder eine Pause. Serrues wartete.

»Das Tollste aber kommt erst«, nahm Polly ihren Bericht wieder auf. »Das Bild hatte keinen Kopf.«

»So?«

Überrascht blickte sie den Untersuchungsrichter an. Sie hatte erwartet, ihn gepackt zu sehen. Nichts? Mein Gott – war der denn aus Holz und Stein?

»Und dieses Bild haben Sie stehlen wollen?« fragte Serrues.

»Ja.«

»Warum?«

Polly würgte und würgte, schluckte die aufspringende Erregung hinunter.

»Weil – weil er auf dieses Bild als Kopf den von Madame Genelli malen und das Bild dann heute in die Ausstellung schicken wollte.«

»Woher wissen Sie das?«

Langsam begann das Stahllineal wieder auf und nieder zu wippen.

»Sofort, Herr Richter – sofort! Ich – bin nur so aufgeregt. Darf ich mich einen Moment ausruhen?«

»Bitte schön.«

Polly ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Sie war wirklich erschöpft und lehnte mit geschlossenen Augen an der breiten Schulter ihres Verlobten, der sie mit scheuer Zärtlichkeit an sich drückte.

Der Untersuchungsrichter ließ sich inzwischen das Protokoll geben, las es durch, besserte da und dort etwas aus. Als er fertig war, gab er es dem Schreiber zurück und fragte Polly, ob sie vielleicht ein Glas Wasser wollte. Ja, darum würde sie bitten. Ein Diener brachte das Verlangte; sie trank und wollte sich erheben.

»Bleiben Sie ruhig sitzen, Fräulein!« sagte Serrues. »Es wird schon Vorbeigehen.«

Polly erzählte weiter.

»Gestern um zehn kam ich zu ihm. Zur letzten Sitzung. Es ging sehr rasch und nach dreiviertel Stunden war ich wieder angezogen. Da zeigte er mir endlich das Bild. Ich – ich habe ja schon gesagt, wie erschrocken ich war, als ich es sah, und ich habe ihm furchtbare Grobheiten gesagt, weil er es so ganz anders gemalt hat, als ich gesessen habe. – ›Dumme Gans,‹ lachte er, ›siehst du denn nicht, daß das Bild keinen Kopf hat?‹ ›Keinen Kopf?‹ schrei' ich, und da sehe ich, daß an Stelle des Kopfes nur so ein vager Umriß da ist. ›Was heißt das?‹ frage ich. ›Der Kopf, der zu dem Bilde gehört, kommt schon drauf‹, lacht er. ›Deiner ist es nicht.‹ ›Wollt' ich mir auch ausgebeten haben!‹ sage ich. Aber er hat nur gelacht und sich Vor das Bild hingestellt und hat mich gefragt, ob es nicht ein famoses Stück Arbeit sei. Der Ton des Fleisches, die Bewegung, die Linie der Beine – ja, ja, – es war ein Meisterstück – ein Meisterstück der Gemeinheit! – Da kommt auf einmal der alte Marx herein und meldet Madame Genelli. Garwey erschrickt, schaut auf die Uhr und sagt: »Schön!« Dann wirft er ein Tuch über das Bild und befiehlt mir, durch die Hintertür ins Schlafzimmer zu gehen. Er war auf einmal ganz aufgeregt, hat gar nicht gelacht, und seine Augen – die haben nur so gefunkelt! Ich weiß nicht, wieso – auf einmal schießt mir die Idee in den Kopf, das Bild hat etwas mit der Madame Genelli zu tun. Am Ende habe ich gar noch mitgeholfen, eine Schurkerei an ihr zu verüben. Ich gehe also, wie er mich fortschickt, gehorsam in das Schlafzimmer, mache auch die Tür zum Korridor recht laut auf und zu, damit er glaubt, ich sei auch wirklich hinaus. Aber dann schleiche ich mich zurück und verstecke mich hinter der Portière, die an der Ateliertüre hängt.«

»Ich weiß schon«, nickte Serrues, als Polly sich unterbrach und ihn fragend anblickte.

»Madame Genelli trat ein,« fuhr sie fort, »und da habe ich dann mit meinen eigenen Ohren gehört, was Garwey für eine Schurkerei im Sinne hatte. Er wollte –«

»Können Sie sich nicht auf den Wortlaut der Unterredung besinnen?« fiel der Untersuchungsrichter hier ein. »Die Unterredung scheint mir von so großer Wichtigkeit, daß ich sie gern so genau wie möglich haben möchte. Also Fräulein, denken Sie einmal ein paar Augenblicke nach, rufen Sie sich alles ins Gedächtnis zurück, und erzählen Sie dann weiter! Wort für Wort womöglich!«

Pollys Wangen begannen zu glühen. Alle ihre Müdigkeit schwand. Sie konnte sich aus ihrem Stuhl nicht halten, sondern sprang auf.

»Oh, ich habe noch alles ganz genau im Kopfe!« rief sie. »Alles! Und ich will alles erzählen. Also sie kommt herein. Er geht ihr entgegen und will ihr die Hand küssen, aber sie bleibt drei Schritte vor ihm stehen, schaut ihn von oben bis unten an und sagt: ›Herr Garwey, Sie haben mir heute morgen telephoniert, ich möchte zu Ihnen kommen, um ein Bild anzusehen, das für mich und meine Stellung von größter Bedeutung sei. Sie haben dieser Einladung, wenn ich sie so nennen kann, die Form einer Drohung gegeben. Ich kenne Sie zu gut, um nicht zu wissen, daß Sie mir schaden werden, wenn Sie es für gut befinden. Ich bin also gekommen, habe aber meinem Bräutigam von diesem Besuche Mitteilung gemacht.‹ Ja, Herr Richter, das hat sie gesagt, und mit eisiger Verachtung hat sie ihn dabei angeschaut.«

Polly sprach langsam, jedes ihrer Worte genau überlegend und aus dem Gedächtnis hervorholend. Emsig kratzend, fuhr des Schreibers Feder über das Papier.

»Garwey lachte. Oh, er hat so ein gemeines, tückisches Lachen gehabt. ›Ich hoffe, meine Gnädigste,‹ sagte er, ›Ihr Porträt hat Herrn Van Goot gefallen. Ich habe es ihm gestern abend noch in die Wohnung geschickt, damit er es noch sieht, bevor es in die Ausstellung kommt.‹ ›Es hat ihm sehr gut gefallen‹, antwortete sie, ›und er hat mich gebeten, Ihnen gleich den Scheck dafür mitzubringen. Hier ist er!‹ Und sie hält ihm den Scheck hin mit einem Gesicht, Herr Richter, mit einem Gesicht, sage ich Ihnen! Ich hätte den Fetzen Papier nicht genommen! Aber der Garwey lachte nur! Er schaut den Scheck an, sagt: ›In Ordnung!‹ und steckt ihn ein. Madame Genelli steht daneben und rührt sich nicht. Dann fängt er wieder an, mit einem so hinterlistigen Lächeln, einer so giftsüßen Höflichkeit, daß ich nur hätte vorspringen und ihm mit beiden Händen zugleich ins Gesicht fahren mögen. ›Ich habe Sie hierher gebeten, meine Gnädige,‹ sagt er, ›um Ihnen dieses Bild da zu zeigen, das ich gleichfalls morgen auf die Ausstellung schicken will.‹ Und er führt sie vor – nun vor das Bild, zu dem ich ihm gesessen habe – und reißt das Tuch herunter. ›Nun, was sagen Sie zu diesem Bilde?‹ fragte er sie. Madame Genelli antwortete nicht. Sie steht vor dem Bilde ohne Kopf und schaut es an. Ich merke, daß die Angst über sie kommt. Sie fühlt, daß er irgend etwas Furchtbares vorhat, aber sie weiß nicht, was. Sie fürchtet sich. Und ich fürchte mich mit ihr. Ich zittere. Kaum, daß ich mich hinter meiner Portiere halten kann – die Knie schlottern mir. Der Mensch, der Garwey, aber lacht sein gemeines, höhnisches Lachen. Dann sagt er: ›Wie wäre es, meine Gnädige –‹ oh, ich habe mir jedes Wort gemerkt, – ›wie wäre es, meine Gnädige,‹ sagt er, ›wenn ich auf diesen entzückenden, bezaubernden Leib nun als Schlußeffekt Ihren entzückenden, bezaubernden Kopf malen und das Gemälde dann zusammen mit dem andern in die Ausstellung schicken würde? Angemeldet ist es schon.‹ Sie antwortete nichts. Aber sie wird totenbleich, und ich glaube, sie muß jeden Augenblick umsinken. ›Die beiden Bilder nebeneinander!‹ faucht er weiter! ›Denken Sie nur, meine Gnädigste! Gina Genelli als Brünhilde – als Künstlerin! Und Gina Genelli als Bacchantin – als Weib!‹ Sie schaut ihn an mit einem Blick – mit einem Blick! Ich presse die Hand auf meinen Mund, sonst hätte ich losgeschrien, so hat alles in mir gekocht! ›Welche Überraschung für Herrn Van Goot, Ihren beneidenswerten Bräutigam‹, fängt der Schurke von neuem an. ›Für Ihre Anbeter, für alle, sowohl die Anbeter Ihrer Schönheit wie Ihrer Kunst!‹ sagt er und lacht. ›Die große, berühmte, auf ihre Tugend so stolze Genelli als trunkene Bacchantin! Und so trunken! So!‹

Herr Richter, wie er dabei lacht! ›Das ist zu infam ‹, schreit Gina Genelli endlich ›Kein Mensch wird das glauben!‹ »Warum nicht gar!‹ gibt er zurück ›Jeder wird es nur zu gern glauben. Und am allerersten Herr Van Goot! Die Welt liebt es nun einmal, das Strahlende zu schwärzen.‹ Ja, das sagt er und stellt sich vor sie hin und blickt sie an mit seinen glühenden, gemeinen Augen ›Nennen Sie Ihren Preis,‹ ruft sie, ›Herr Van Goot wird ihn bezahlen. Und wenn er ihn nicht bezahlt, können Sie meinen letzten Diamanten dafür haben.‹ ›Nein – nein –‹, schreit sie und schlägt die Hände vor's Gesicht. Ganz gebrochen, hilflos steht sie da, die stolze, schöne Gina Genelli! Er aber packt sie an – so an beiden Schultern und flüstert ihr etwas zu – ich hab' es nicht verstanden, – aber sie reißt sich mit einem Ruck los und haut ihn mit ihrem Schirm ins Gesicht. Ah – das hat geklatscht, Herr Richter! Er prallt zurück – und sie geht ohne ein Wort, ohne ihn auch nur anzusehen, zur Tür hinaus.«

»So? Und dann?«

Die tonlose Stimme des Untersuchungsrichters legt sich als Ruhepause in den erregten Bericht Pollys. Sein Lineal beginnt wieder auf- und niederzuschnellen.

»So? Und dann?«

Das Mädchen holte tief Atem.

»Er hat zuerst dagestanden wie erschlagen. Ich aber heraus aus meinem Versteck und auf das Bild los. In Fetzen wollte ich es reißen, doch ich war nicht schnell genug ›Bist du noch da, Canaille?‹ schreit er und stürzt auf mich. Ich habe mich gewehrt – und wie gewehrt! Aber er ist starker – er wirft mich zurück, packt das Bild und sperrt es in den großen alten Schrank, der in der Ecke in seinem Atelier steht. ›Da ist es gut aufgehoben‹, sagt er gelassen und lacht ›Madame Genelli wird ihre Freude haben!‹ Herr Richter, ich habe ihm alles gesagt, was ich in meiner Jugend an Schimpf- und Schandwörtern bei der alten Vettel gelernt habe. Doch ihn hat das nur alles amüsiert ›Ich zeig' dich an bei der Polizei‹, hab' ich geschrien ›Kannst du nicht. Ich werde sagen, du hast mir dabei geholfen‹, gibt er mir zurück. ›Jeder weiß, daß du mein Modell bist!‹ Dann kommt er auf mich zu und redet ganz ruhig und sagt: ›Ich gebe dir tausend Mark, wenn du den Mund hältst.‹ ›Schurke!‹ schrei ich ›Zweitausend!‹ Und er zählt das Geld auf den Tisch! Ich hab' ihm das Geld ins Gesicht geworfen und hab' ihm zugeschrien: ›Du wirst mich schon noch kennenlernen.‹ Oder so etwas Ähnliches! Und dann bin ich hinaus – gerade, wie der Diener, der alte Marx, hereingekommen ist.«

»Der hat also gehört, wie Sie Ihre Drohung Garwey zugerufen haben?«

Polly überlegte in ihrer Erregung nicht lange.

»Natürlich muß er es gehört haben! Ich habe so geschrien, daß man es auf der Gasse hat hören müssen.«

Der Schreiber kicherte leise vor sich hin, doch der Blick seines Vorgesetzten machte seiner Heiterkeit ein rasches Ende.

»Sie sind fortgelaufen in Zorn und Aufregung?« fragte Serrues das Mädchen. »Und was haben Sie dann gemacht?«

»Ich weiß nicht recht, Herr Richter, ich bin wohl am Fluß auf und ab gegangen, bis ich einigermaßen meine Gedanken wieder beisammen hatte. Dann bin ich zu Robert hin und – habe ihn gebeten, mir heute nacht das Bild zu holen. Ich habe gewußt, daß Garwey gestern wieder einen Herrenabend hatte; wir haben also die Zeit so abgepaßt, daß wir nicht zu früh hingekommen sind.«

Robert fuhr auf, als ob er etwas sagen wollte. Der Untersuchungsrichter blickte ihn erwartungsvoll an.

»Gerade, wie wir in den Garten gekommen sind,« sagte der junge Mann, »hat es auf der St. Nikolauskirche drei Uhr geschlagen.«

»Drei? Wissen Sie das genau?«

Die beiden befragten sich mit Blick und Gegenblick. Dann nickten sie.

»Genau drei Uhr, Herr Richter!« wiederholte Robert.

Er erzählte nun, wie ihn, Polly zu dem Einbruch beredete. Den Namen der Dame wollte sie ihm nicht nennen, aber da er sah, wie sehr ihr daran gelegen war, der Unbekannten zu helfen, ging er darauf ein. Es war ja auch gar nicht schwer, hatte die Polly versichert. »Im großen Schrank in der Ecke steht das Bild. Der Schlüssel steckt.« – »Der Schlüssel steckte – Herr Richter. Aber das Bild war fort. Dafür lag der Mensch mitten in seinem Atelier – tot – mit eingeschlagenem Schädel –«

Und jetzt noch trat dem armen Burschen der Schweiß auf die Stirn, als er von dem Entsetzlichen sprach.

Ein lautes Klopfen an der Korridortür ertönte.

»Herein!« rief der Untersuchungsrichter.

Zentralinspektor Ström trat ins Zimmer, schwer, breitschultrig, maß mit Kennerblick die beiden vor dem Richtertische stehenden jungen Leute.

»Aha, das sind wohl die Burgherr und ihr Freund?« fragte er.

Das Mädchen, des Schutzes durch den Richter gewiß, warf trotzig den hübschen Kopf zurück. Robert, noch im Banne des schrecklichen Bildes, zuckte ängstlich zusammen.

»Ja, das sind die beiden«, antwortete Serrues. »Und was bringen Sie, Herr Ström?«

»Draußen steht Bankier Van Goot.«

 

IX.

Gina Genelli zog fröstelnd die weichen Falten ihres Schlafrockes um den Körper. Sie sah wie ihr eigener Schatten aus. Unter ihren großen braunen Augen lagen dunkle Ringe. Das Gesicht, dessen feiner, seidenweicher Haut nicht einmal Schminke und Puder des Theaters etwas anhaben konnten, war matt und grau, der sonst so volle, rote Mund schlaff, blutleer. Ihre ganze Erscheinung müde, gebrochen.

Es war alles so hoffnungslos.

Sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Immer sah sie dieses Bild vor sich. Dieses entsetzliche Bild, das so abstieß – und doch wieder so packte. Die Schamlosigkeit darin, die Glut! Sie brannte auch in den Augen Garweys, als er – Das Blut kochte ihr auf, dachte sie an seine Worte, an den brutalen Griff seiner Hände!

Van Goot hatte noch in der Nacht angerufen.

»Hast du das Bild?« hatte sie ihn gefragt, zitternd, atemlos.

»Nein. Ich habe ihm zwanzigtausend Mark geboten. Er hat sie nicht genommen. Damit ist die Sache für mich erledigt.«

Feindselig, abweisend hatte die Stimme des Mannes geklungen. Erledigt! Die Sache! Und sie selbst.

Und jetzt war das Bild vielleicht schon in der Ausstellung. Um eins wurde sie eröffnet. Ihr schwindelte! Ruiniert, ehrlos gemacht durch einen Bubenstreich! Garwey hatte ja recht. Von einer Frau, noch dazu, wenn sie schön ist, glaubt die Welt immer das Schlechte. War nicht Van Goot, der Mann, den sie in einer Woche hätte heiraten sollen, der erste, der zweifelte?

Die Intendanz war erbarmungslos. Hoftheater! Man sah zuerst auf den Ruf, dann auf die Kunst! Sie wußte es, wenn um eins das Bild in der Ausstellung zu sehen war, hatte sie drei Stunden später ihre Entlassung! Prinz Hektor und Prinzessin Maria eröffneten die Ausstellung. Sie kannte die Prinzessin. Häßlich, hager, die Reizlosigkeit selbst – die geschworene Todfeindin aller schönen Frauen!

Um Gottes willen – was tun? Irgend etwas mußte geschehen! Sie konnte sich doch nicht so wehrlos abschlachten lassen! Nochmals griff sie nach dem Telephon. Rief Van Goot in seinem Büro an.

»Du wünschest?« fragte er.

»Ich – ich –« stammelte sie, fassungslos, vernichtet durch die Verachtung, die sie zu hören glaubte.

»Bitte schnell!« sagte er. »Ich bin stark beschäftigt.«

Mit fast übermenschlicher Anstrengung raffte sie sich zusammen.

»Henryk – das Bild, das Bild!« stöhnte sie. »Es geht doch um meine Ehre, um meine Stellung! So glaube mir doch, Henryk!«

»Ich habe dir bereits heute nacht gesagt, daß ich alle meine Möglichkeiten erschöpft habe und mich daher mit dieser Angelegenheit nicht mehr zu beschäftigen gedenke –«

Er mochte die Qual hören, die aus ihrer Brust in die Höhe quoll. Seine Stimme wurde freundlicher. So etwas wie Teilnahme klang in ihr durch. »Ich habe natürlich alles getan, was ich konnte,« sagte er, »aber ich kann beim besten Willen nicht weiter gehen. Auf einen Skandal kann ich mich nicht einlassen. Ich bin der Bankier des Hofs, der Aristokratie – das wirst du doch einsehen – so leid es mir tut –«

»Ja, ich sehe es ein«, hauchte sie tonlos und ließ den Hörer sinken.

Lea, ihre Zofe, trat ein. »Gnädiges Fräulein,« meldete sie, »ein Mann ist draußen, der Sie zu sprechen wünscht.«

»Schicke ihn fort! Ich kann niemand sehen!«

Das Mädchen ging hinaus, kam aber gleich wieder zurück. »Er sagt, er sei der Marx, der Diener des Malers Garwey.«

Gina sprang auf. Ihre eingesunkenen Augen erhellten sich. In ihre bleichen Wangen schoß ein jähes Rot wahnwitziger Hoffnung. Er schickte seinen Diener! Vielleicht – doch noch!

»Führen Sie den Mann herein!« befahl sie dem Mädchen.

Marx trat ein, blieb an der Türe stehen und drehte seinen runden, altmodischen Hut in seinen Händen.

Sie lief ihm entgegen – die eine große Frage auf den Lippen und in den Augen.

»Herr Garwey schickt Sie –?«

Marx schüttelte den Kopf. Sein Blick bohrte sich unter den buschigen Brauen hervor in das schöne, von maßloser Erregung erfüllte Frauengesicht. Lauernd, fragend war der Blick. Wollte ergründen, ob sie wußte –

Sie blieb dicht vor ihm stehen, die Hände auf die wogende Brust gepreßt, starrte ihn an. Das Rot der Hoffnung auf ihren Wangen verblich. Der Blick des Alten flößte ihr unsägliche Angst ein –

»Was ist?« rief sie.

»Herr Garwey ist tot!« sprach Marx, tonlos, bleiern.

»Nein«, gellte ihr Schrei.

»Heute morgen fand ich ihn im Atelier – ermordet. Und ich weiß, warum er ermordet wurde. Und ich weiß, wer ihn ermordet hat.«

Gina Genelli antwortete nicht. Ein dumpfer Laut entrang sich ihrem Munde. Sie warf die Arme in die Höhe, drehte sich um sich selbst und fiel schwer zu Boden.

Tief war ihre Ohnmacht. Die Nerven der gemarterten Frau waren am Reißen gewesen – unter den harten Worten des Alten mußte sie zusammenbrechen.

Die Zofe wollte einen Arzt rufen; doch Marx hatte kein Interesse daran, einen Dritten in seine Unterhaltung mit Gina Genelli zu mengen. Er beruhigte das erschreckte Mädchen, und sie brachten dann auch nach einiger Zeit die Bewußtlose wieder zur Besinnung zurück. Bleich, zitternd, mit zuckendem Munde lehnte Gina Genelli in den weichen Kissen ihrer Chaiselongue – ihre Augen, durch die Angst unnatürlich vergrößert, suchten den Blick des alten Mannes, der langsam, seines Opfers sicher, zu ihr hinschlich, nachdem sie das Mädchen hinausgeschickt hatte.

»Was wissen Sie?«

»Das ist kurz gesagt: gestern um halb eins kam nach der Partie Herr Van Goot noch einmal zurück. Ich habe ihm geöffnet –«

Er machte eine Pause, um die Folter zu vergrößern, in der er die Frau hielt.

»Weiter – weiter!« ächzte sie.

»Er blieb lange – sehr lange. Sie stritten sehr laut miteinander. Es gab im Atelier einen furchtbaren Spektakel, und einmal hörte ich ganz deutlich, wie etwas umfiel. Und dann ging Herr Van Goot fort –«

»Weiter! Haben Sie ihn fortgehen sehen?«

»Nein. Ich hielt mich auf der Treppe, oben im Stock. Aber ich hörte ihn fortgehen. Und am nächsten Morgen lag mein Herr mit zertrümmertem Kopf im Atelier – und das Bild war fort!«

»Das Bild – fort?«

»Ja, das Bild, um derentwillen Herr Van Goot Herrn Garwey ermordet hat!«

Sie konnte nichts denken. Nichts entgegnen. Sie hörte nur diese grauenhaften, erbarmungslosen Worte! Um Gottes willen! Wozu hatte sie ihn getrieben?

»Was – was wollen Sie jetzt?« fragte sie atemlos, wieder nahe am Zusammenbrechen.

Der alte Marx hielt sie mit seinem Raubtierblick fest. Aber sein faltiges Gesicht zog so etwas wie der Schimmer eines Grinsens.

»Ich habe der Polizei nur gesagt, daß Herr Van Goot zurückgekommen ist. Das mußte ich sagen. Aber sonst nicht ein Wort. Nicht von dem Streit, nicht von dem Fall. Nicht von dem Bild. Meinen Sie nicht auch, gnädiges Fräulein, daß Herrn Van Goot meine Verschwiegenheit etwas wert sein muß?«

Sie starrte ihn an, wortlos, ganz in seiner Gewalt. Das Wort, das sie auf den Lippen hatte, um sein Vorgehen zu bezeichnen, drängte sie zurück. Sie durfte den Wisser des furchtbaren Geheimnisses nicht reizen.

»Ich werde sofort mit Herrn Van Goot sprechen«, stammelte sie endlich.

Marx wurde durch diese Zusage sichtlich milder gestimmt.

»Sehen Sie, gnädiges Fräulein,« knurrte er, »Herr Van Goot ist doch eigentlich verpflichtet, mir zu helfen – nicht wahr? Er hat doch meinen Herrn getötet und mich auf diese Weise um meine Stellung gebracht. Acht Jahre war ich bei Herrn Garwey, und jetzt soll ich mir auf meine alten Tage noch etwas Neues suchen. Deshalb habe ich mir gedacht, wenn ich nicht alles sage, was ich weiß –«

»Ja – ja«, nickte sie, fast unbewußt in ihrer Angst. »Ich ziehe mich jetzt gleich an und gehe zu Herrn Van Goot. Wollen Sie hier auf mich warten?«

Der Alte schob sich zur Tür.

»Nein. Ich muß nach Hause. In einer Stunde soll die Leiche abgeholt werden. Ich – ich meine, ich will nicht unbescheiden sein. So dreißigtausend Mark würden mir genügen. Da könnte ich mir ein kleines Anwesen kaufen –

Sie fieberte. Sie wollte, mußte fort.

»Ja, ja!« rief sie ihm zu. »Ich komme von Herrn Van Goot sofort zu Ihnen zurück. Aber gehen Sie jetzt! Gehen Sie!«

Marx dienerte hinaus.

Sie lief in ihr Toilettenzimmer hinüber und kleidete sich hastig an, während die Zofe ihr in der Zwischenzeit ein Auto besorgen mußte.

Als sie vor dem Spiegel stand, erschrak sie vor sich selbst. Kaum, daß sie sich erkannte. Die graue, wankende Frau – das war sie? Hatte sie nicht selbst? War sie nicht die Mörderin? Sie selbst –?

Nein – nein! Ihre Gedanken gingen irre. War sie denn wirklich so nahe am Wahnsinn?

Van Goot? Also doch? Er hatte das Bild! Natürlich! Wer sollte es denn haben? Sie sah die Szene der Nacht vor sich, deutlich, schmerzhaft deutlich, wie wenn sie sie miterlebt hätte! Van Goot bot Geld. Garwey lachte. Oh – sie kannte dieses Lachen! Ihr selbst wühlte es noch in der Seele.

Van Goot, gewohnt, aller Welt gegenüber seinen Willen durchzusetzen, und von dem Wunsche getrieben, sie vor Schmach und Schande zu bewahren, wird heftig. Droht. Garwey lacht. Van Goot – sie weiß, wie jähzornig er ist! wirft sich auf den andern, schlägt zu. Nimmt das Bild –! Fort, hinaus in die Nacht –!

Aber warum sagt er ihr nichts? Warum verschanzt er sich vor ihr hinter Verachtung und Abweisung?

Ihr Herz schreit in plötzlicher Freude auf.

Muß er es denn nicht? Kann er sich denn selbst vor ihr verraten? Er hat das Bild und wird es in sicherer Hut halten. Bis alle Gefahr geschwunden ist! Er will sie schützen! Will sie nicht in sein furchtbares Geheimnis ziehen!

Ah – Van Goot – Henryk! Also doch! Alle ihre Hoffnung stand aus. Drückte ihre Verzweiflung, ihre Demütigung, ihre Enttäuschung nieder. Sie fühlte mit einem Male den ganzen Stolz der Frau in sich, um deretwillen ein Mann Großes gewagt und vollbracht hatte! Er – er, dieser kühle, berechnende Zahlenmensch! Ihretwegen! Ein Mörder!

Das Auto hielt kaum – da war sie schon draußen.

Atemlos, unbekümmert um die gaffenden Angestellten, rannte sie die breite, mit Teppichen belegte Treppe empor.

Oben stand ein Diener.

»Bitte, melden Sie mich sofort Herrn Van Goot!«

Jetzt erst sah sie des Mannes bestürztes, verlegenes Gesicht.

»Herr Van Goot –« stammelte er, »ist soeben verhaftet worden.«

 

X.

Hochmütig, selbstbewußt, ohne nach rechts oder links zu blicken, trat Van Goot an den Tisch des Untersuchungsrichters. Sein brutales, massiges Kinn schob sich drohend vor und in der Verbeugung, mit der er den Untersuchungsrichter begrüßte, war deutlich verächtlicher Hohn zu fühlen.

War er nicht Henryk Van Goot, der Bankier des Hofs, des Erzbischofs, des Adels, der ganzen Industrie? Und was wollten diese kleinen Beamten von ihm?

Kühl maß ihn der Untersuchungsrichter mit prüfendem, wägendem Blick. Der Mann war unsympathisch. Aber an dieser Stelle gab es keine Sympathie und keine Antipathie, gab es nur eines, kalte Gerechtigkeit.

»Bitte nehmen Sie Platz!« begann Serrues.

Van Goot setzte sich, zog sorgfältig die Bügelfalten seiner Hose hoch und spielte nachlässig mit seinem goldumränderten Monokel.

»Ist Ihnen bekannt, warum Sie hier sind, Herr Van Goot?«

Der Bankier blickte den jungen Untersuchungsrichter überrascht an. In dessen Frage klirrte es wie messerscharfer Stahl. Henryk Van Goot war solchen Ton nicht gewöhnt.

»Der Herr Inspektor, der mir Ihre liebenswürdige Einladung überbrachte, hat mir nichts gesagt«, erwiderte er, indem er das Monokel einklemmte und den Mann am Richtertische mit ironischer Erwartung anblickte.

Das Lineal, das vorhin die arme Polly so gemartert hatte, fing wieder an, auf und ab zu wippen.

»Der Maler Julius Garwey ist heute morgen in seinem Atelier ermordet aufgefunden worden.«

Van Goot hatte sich ausgezeichnet in der Gewalt. Seine über der Stuhllehne liegende Hand krampfte sich für einen Moment zusammen. Das war alles. Sein dunkles, energisches Gesicht blieb unbeweglich. Nicht einmal das Monokel rührte sich.

»Das ist das erste, was ich höre«, sprach er langsam, vorsichtig seine Worte abwägend.

Ström, der hinter Serrues stehend, dem Verhör folgte, machte eine rasche Bewegung, als wollte er sich einmischen. Doch Serrues blickte zu ihm auf – und er schwieg. Er mochte fühlen, daß der junge Mann da vor ihm diesem hochmütigen, auf seine Stellung und seinen Einfluß pochenden Börsenfürsten wohl besser gewachsen war als er, der sich als Polizeibeamter doch nicht so frei bewegen konnte.

»Darf ich um nähere Details bitten?« fragte Van Goot, der nun doch seine Gleichgültigkeit aufgab und sich interessiert vorbeugte. Ström konnte nicht umhin, die Kaltblütigkeit zu bewundern, mit der er den Kampf aufnahm. Mußte er doch jetzt wissen, um was dieser Kampf ging.

»Herr Julius Garwey«, gab Serrues sachlichen Bescheid, »wurde heute morgen neun Uhr dreißig von seinem alten Diener Marx mit eingeschlagenem Schädel in seinem Atelier aufgefunden. Die Leichenstarre war, als die Untersuchungskommission an dem Tatort anlangte, bereits eingetreten, so daß die Zeit für die Tat selbst nach der Schätzung des Arztes auf etwa ein Uhr dreißig zu legen ist. Garwey war durch einen von vorn mit großer Kraft geführten Schlag mit einem stumpfen Instrument getötet worden.«

Langsam, fast unmerklich, aber doch stetig, schwand unter den Worten des Untersuchungsrichters die überlegene Sicherheit Van Goots. Sein dunkles Gesicht wurde dunkler, seine etwas kleinen, scharfen Augen zogen sich zusammen. Das Monokel fiel herab – er machte keinen Versuch, es wieder einzusetzen. Ab und zu fuhr er sich mit der breiten, wohlgepflegten und mit dicken Ringen besetzten Hand durch das volle Haar, das an den Schläfen graue Streifen zeigte.

Als Serrues' Bericht zu Ende war, blickte er einige Minuten zu Boden. Er will dem Untersuchungsrichter nicht ins Gesicht sehen, sagte sich Ström, der kein Auge von ihm ließ.

Gelassen wartete Serrues, bis Van Goot wieder sprach.

»Ich müßte lügen,« sagte der Bankier, und seine Stimme klang einigermaßen gepreßt, »wenn ich behaupten wollte, Herr Garwey sei mir übermäßig sympathisch gewesen. Aber ein solches Ende ist denn doch zu furchtbar! Hat man noch keine Anhaltspunkte für die Täterschaft oder wenigstens für das Motiv der Tat?«

»Wir glauben, das Motiv der Tat zu kennen, Herr Van Goot«, antwortete der Untersuchungsrichter.

Die Blicke der beiden Männer kreuzten sich. Klirrten aneinander wie zwei scharfe Säbel. Diesmal senkte Van Goot den seinigen nicht. Er fühlte, daß nun der entscheidende Angriff des Richters kommen mußte, und er machte sich bereit, ihm zu begegnen.

»Wir sind auch noch über verschiedene andere, mehr oder minder wichtige Umstände orientiert«, fuhr Serrues fort. »So wissen wir, Herr Van Goot, daß Sie der letzte waren, der Herrn Garwey lebend gesehen hat.«

»Wissen Sie das bestimmt?«

Wieder spannte und öffnete sich die breite, ringgeschmückte Hand. Ganz klein wurden für einen Moment die schwarzen Augen. Doch sonst gab nicht das geringste Zeichen Kunde von der Erregung, die in Van Goot kochte. Er nahm sogar sein Monokel wieder auf und ein süffisantes Lächeln zog seinen vollen, sinnlichen Mund etwas auseinander, als er den Stoß des Untersuchungsrichters mit seiner Frage parierte.

Und wie geschickt parierte! Mit der Objektivität des Fachmannes gestand Ström sich dies zu. Ihn, den Polizeimenschen, abgehärtet, nervensicher, packte die Spannung des Kampfes zwischen diesen beiden, einander augenscheinlich würdigen Gegnern –.

»Ihre Frage ist berechtigt, Herr Van Goot«, erwiderte Serrues, ohne eine Miene zu verziehen. »Nein, das wissen wir nicht bestimmt. Was wir aber mit aller Bestimmtheit wissen, ist das folgende: Sie kamen fünf Minuten nach halb eins in das Haus Garweys zurück und verlangten in ziemlich erregter Stimmung den Maler zu sprechen. Stimmt das?«

Van Goot neigte bejahend den Kopf, langsam, hochmütig.

Serrues fuhr fort: »Sie hatten diese Absicht bereits, als Sie mit den anderen beiden Teilnehmern der Partie das Haus verließen, denn Sie ließen die Gittertür des Gartens offen, die nur durch einen pneumatischen Drücker vom Hause aus zu öffnen ist.«

»Auch das stimmt.«

»Dürfte ich Sie nach dem Grunde fragen, der Sie bewog, diese Unterredung mit Garwey herbeizuführen?«

»Eine geschäftliche Angelegenheit. Ich – ich –« zum ersten Male stockte Van Goot, suchte nach Worten. »Ich – ich wollte ihm ein Bild abkaufen.«

»Warum kamen Sie dann heimlich zurück? Bilderkäufe sind ja keine Angelegenheiten, die nur unter dem Schleier der Nacht erledigt werden können.«

»Ich hatte meine Gründe, diese Angelegenheit diskret zu behandeln.« Und mit brutalem Hohn im Gesicht fügte er hinzu: »Sie können es sich daher, Herr Untersuchungsrichter, ersparen, mich nach der Unterredung selbst zu fragen. Ich müßte auf diese Frage gleichfalls die Antwort verweigern.«

»Das steht in Ihrem Belieben, Herr Van Goot. Gestatten Sie mir jedoch, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Ihre Lage eine äußerst schwierige ist. Sie sind allein und heimlich wiedergekommen –.«

»Heimlich? Das bestreite ich. Ich habe ganz ungeniert an der Haustür geläutet und bin nicht durch das Küchenfenster eingestiegen. Marx, der Diener, hat mir übrigens geöffnet.«

»Ganz recht. Aber er hat Sie nicht mehr hinausgelassen. Wie lange hat übrigens diese Unterredung gedauert?«

»Genau kann ich es nicht sagen. Auf keinen Fall lange.«

»Sie scheint sehr erregt gewesen zu sein, da Sie nicht einmal gemerkt haben, wie lange sie gedauert hat.«

»Ja, sie war sehr heftig.«

»Was machten Sie dann, Herr Van Goot?«

Da schien es, als ob der Bankier seine Selbstbeherrschung verlieren wollte. Mit einem Ruck beugte er sich vor, weit über den Tisch hinüber, und sein breites Kinn reckte sich herausfordernd dicht vor das Gesicht des Untersuchungsrichters.

»Finden Sie nicht, mein Herr,« stieß er zwischen den Zähnen hervor, »daß Ihre Fragen etwas zu sehr ins Detail gehen? Oder halten Sie mich für den Mörder Garweys?«

Das war ein grober Fehler. Temperamentssache. Die kühlen und härteren Nerven des Untersuchungsrichters gewannen über die reizbaren des Bankmenschen die Oberhand.

Serrues gab Van Goot gelassen den drohenden Blick zurück. Ein, zwei Minuten maßen sie sich stumm, erbittert. Ström hielt den Atem an. Er fühlte, daß sich zwischen die beiden Männer etwas schob, was nicht recht hierher gehörte. So etwas wie persönliche Gegnerschaft. Ganz deutlich glaubte er aus der wie immer ruhigen Stimme Serrues' zielbewußte Feindseligkeit herauszuhören.

Was zum Teufel? Die beiden kannten ja einander gar nicht. Hatten sich bestimmt vorher noch nie gesehen –.

In die Stille hinein schrillte das Telephon auf dem Schreibtisch des Untersuchungsrichters.

Ström wurde von einem seiner Leute verlangt. Er nahm die Meldung entgegen und flüsterte dann Serrues ins Ohr: »Der alte Marx ist vor einer Stunde zur Genelli gegangen und etwa zwanzig Minuten bei ihr geblieben.«

»So? Ich habe so etwas Ähnliches erwartet. Jetzt wollen wir ihn kommen lassen.«

Van Goot war während der Unterbrechung sichtlich ruhiger geworden. Als der Untersuchungsrichter sich ihm wieder zuwandte, holte er sein goldenes Zigarettenetui hervor und bat um die Erlaubnis, ein paar Züge tun zu dürfen.

»Es ist zwar nicht der Brauch, in diesen Räumen zu rauchen,« erwiderte Serrues, »aber ich sehe keinen Grund, warum wir nicht einmal eine Ausnahme machen können. Bitte, Herr Van Goot –.«

»Ich danke«, erwiderte dieser mit leichter Verbeugung und zündete sich eine Papyros an.

Mit tiefem Behagen sog er den köstlichen Rauch in die Lungen. Sichtlich wohl tat er ihm und seinen Nerven.

Ström wunderte sich. Ström verstand den Untersuchungsrichter nicht. Serrues hatte doch bereits sichtlich das bessere Ende des Kampfes für sich; sein Gegner wurde schwach! Beging einen solchen Temperamentsfehler wie den vorhin! Die Nerven Van Goots hielten nicht mehr. Nur ein ganz klein wenig sie weiter anspannen, und sie mußten reißen! Dieser harte, nüchterne, ganz und gar phantasielose Polizeimensch kannte solchen Prozeß, dessen Resultat das ist, was sich nachher in den Zeitungsberichten so schön als »Zusammenbruch« liest. Serrues hatte mit meisterhafter Schärfe seinen Gegner so eng an die Wand gedrückt, daß der Zusammenbruch kommen mußte! Und nun ließ er ihn auf einmal aus der Gewalt! Gab ihm mehr als eine bloße Atempause! Ließ ihm Zeit, sich zu sammeln, zu stärken –.

Zentralinspektor Ström fand diese Großmut überaus deplaciert. Wollte Serrues sich zur Objektivität zwingen, gerade weil seine persönlichen Gefühle ihm in die Verhandlung hineinredeten? Dieser übertriebene Gerechtigkeitssinn konnte schließlich bei einem Manne wie Serrues nicht überraschen! Aber zum Teufel mit solchen Erwägungen! Auf die Knie mit dem Mörder!

Van Goot rauchte die Zigarette nicht zu Ende. Tat wirklich nur ein paar Züge und zerdrückte dann den Stumpf in einer kleinen Federschale. Er selbst nahm den Kampf wieder auf.

»Ich gebe zu,« sagte er, »daß meine Situation eine überaus schwierige ist, aber es gibt gewisse Rücksichten, die ich nicht verletzen kann. Ich muß über die Veranlassung und den Verlauf der Unterredung schweigen – komme, was wolle! Ich habe Garwey nicht getötet – kein Mensch auf der Welt wird den Beweis dafür erbringen können – und auf der anderen Seite zweifle ich nicht daran, daß es Ihnen, meine Herren, binnen kurzem gelingen muß, den wahren Mörder zu entdecken. Ich kann also den Ereignissen in ziemlicher Ruhe entgegensehen.«

Dem Zentralinspektor schoß die Galle ins Blut. Das war der Dank für die Großmut!

»Ihr Vertrauen ehrt uns!« knurrte er. »Wir werden uns bemühen, es nicht zu enttäuschen. Aber wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, würde er darin bestehen, sich doch mehr für die eigene Lage als für unsere beruflichen Fähigkeiten zu interessieren.«

Van Goot hatte nur ein süffisantes Lächeln zur Antwort.

Serrues griff ein.

»Wir können die Beweggründe vollauf würdigen, die Sie zum Schweigen veranlassen«, sagte er mit seiner kalten, beinahe ausdruckslosen Stimme. »Um so mehr, als wir die Ursache Ihrer Unterredung mit Garwey zu kennen glauben. Stellte das Bild, das Sie ihm abzukaufen wünschten, nicht eine trunkene Mänade dar, und wollte durch dieses Bild der Maler nicht die Ehre einer Ihnen nahestehenden Dame in unflätiger Weise kompromittieren?«

Van Goot verlor beinahe die Fassung, und er starrte Serrues an, ohne ein Wort der Entgegnung finden zu können. Ström bat dem Untersuchungsrichter alle Zweifel, alles Mißtrauen, ab – – meisterhaft geradezu diese Taktik! Den Gegner in Sicherheit wiegen, dadurch aus seiner Achtlosigkeit herauslocken – und dann vernichtend zuschlagen. In dieser Minute begriff Ström, warum die gesamte Justizwelt des Landes solchen Respekt vor diesem jungen Richter hatte!

Van Goot hatte die Schlacht verloren. Rettungslos. Für Ström war er zerbrochen. Überführt. Erledigt.

Der Bankier erhob sich, trat an den Tisch heran, suchte nach Worten. Er erkannte, um wieviel schlimmer seine Lage wurde, da man den Grund kannte, der ihn nach der Partie in das Haus Garweys zurückgeführt hatte. Nun hatte die Justiz etwas, woran sie sich halten konnte. Das Motiv! Und welch ein zwingendes Motiv! Er war zurückgekommen, um die Ehre seiner Braut zu verteidigen!

»Ich hatte kein anderes Mittel«, sagte er. »Ich mußte unter allen Umstanden einen Skandal vermeiden. Nicht nur mit Rücksicht auf die Dame, sondern auch auf mich. In meiner Stellung mußte ich besonders vorsichtig sein –.

Ich wandte mich zuerst an meinen Rechtsanwalt, um eine einstweilige Verfügung zu erwirken, die eine Ausstellung des Bildes verhindern sollte. Aber es war zu spät. Vor 48 Stunden im besten Falle wäre diese Verfügung nicht zu erlangen gewesen. Was konnte ich also anderes tun? Ich habe ihm Geld geboten – viel Geld geboten. Er hat es nicht genommen –.«

Van Goot stockte. Er fühlte mit einem Male die Überlegenheit des Untersuchungsrichters, dieses schmächtigen, unscheinbaren Menschen, der zehn, zwanzig Jahre jünger sein mochte als er. Sein Wort von vorhin: »Komme was da wolle!« zerstäubte jetzt, da er zu sehen glaubte, was da kommen mußte – Verhaftung, Schwurgericht – am Ende gar –

Serrues sprach: »Sie sind um halb eins etwa zurückgekommen, Herr Van Goot. Garwey war bereits im Pyjama, als er Sie empfing –.«

»Ja – ja, ich erinnere mich –«, gab Van Goot zu, zögernd, sichtlich bemüht, nicht viel zu sagen, Zeit zum Nachdenken zu gewinnen –

»In demselben Pyjama wurde er am Morgen tot aufgefunden.«

»Ich – ich habe ihn nicht getötet! Ich gebe zu, wir gerieten im Verlaufe der Unterredung sehr hart aneinander, denn ich sagte ihm ins Gesicht, daß er ein Schurke ist. Er stürzte sich auf mich, bedrohte mich – da brach ich die Unterredung ab und ging fort.«

»Sie können sich nicht genau daran erinnern, wann Sie das Garweysche Haus verließen?«

»Nein – ich war viel zu erregt.«

»Hat niemand von Ihrer Dienerschaft Sie bei sich zu Hause erwartet?«

»Nein. Ich lasse mich nie erwarten, wenn ich nachts nach Hause komme.«

»So? Sie können also niemand nennen, der Ihre Angaben bestätigen könnte?«

»Nein.«

»Ist Ihnen bekannt, Herr Van Goot, daß das Bild, um das es sich bei Ihrer Unterredung handelte, verschwunden ist?«

Van Goot tastete sich nach seinem Stuhle zurück.

»Das weiß ich nicht, aber –« Ein Gedanke der Hoffnung schoß ihm durch den Kopf, gab ihm einen Teil seiner hochmütigen Sicherheit wieder. »Es steht Ihnen ja frei, in meinem Hause danach suchen zu lassen.«

Das Lineal begann in der Hand des Untersuchungsrichters wieder auf- und abzuschnellen. Er blickte zu Ström hinüber und nickte auf die stumme Frage, die er in dessen Augen las, bejahende Antwort.

Der Inspektor trat zu ihm.

»Suchen Sie sowohl im Hause Van Goots wie bei dem Mädchen und dem Burschen nach!« sagte ihm Serrues leise.

Ström verließ das Zimmer, kam aber gleich wieder zurück.

»Wissen Sie, wer draußen ist und Sie zu sprechen wünscht?« flüsterte er dem Untersuchungsrichter ins Ohr. »Gina Genelli. Der Amtsdiener wollte sie nicht hereinlassen.«

 

XI.

Serrues empfing die Diva in seinem kleinen Privatbüro. Im Amtszimmer saß Van Goot, im Schreibzimmer warteten Polly Burgherr und ihr Bräutigam. Also ließ er sie in den schmalen, kahlen und nüchternen Raum führen, in dem er sonst für sich allein arbeitete.

»Verzeihen Sie, Herr Doktor,« begann sie mit kaum hörbarer Stimme, »wenn ich Sie zum zweitenmal mit meinen traurigen Angelegenheiten belästige –«

»Bitte, wollen Sie sich nicht setzen, Fräulein Genelli? Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Mein Bräutigam ist verhaftet worden. Ich beschwöre Sie, Herr Doktor, könnten Sie es mir nicht möglich machen, daß ich ihn spreche? Ich muß ihn sprechen! Oh – helfen Sie mir!«

Wenn sie absichtliche Koketterie hätte spielen lassen wollen, hätte sie nicht unwiderstehlicher sein können. Wie sie, von ihrer Angst getrieben, jetzt auf Serrues zukam, langsam, zagend, die großen Augen in Tränen verschleiert, rührend in ihrem Flehen um Beistand, bot sie ein hinreißendes Bild. Jeder andere Mann wäre diesem Zauber, der keine Kunst war, sondern aus der Tiefe dieser gequälten Frauenseele emporstieg, rettungslos unterlegen – Serrues blieb kalt, unnahbar, unnachgiebig.

Immerhin klang seine Stimme wärmer als sonst, als er ihr jetzt antwortete: »Ich bedaure unendlich, Ihnen abermals Ihre Bitte abschlagen zu müssen, Fräulein Genelli. Herr Van Goot ist als des Mordes an Julian Garwey verdächtig verhaftet worden und wird soeben vom Untersuchungsrichter vernommen. Ich selbst bin der Untersuchungsrichter und kann Ihnen unmöglich diese Unterredung gestatten.«

Gina sank auf ihren Stuhl und schlug die Hände vors Gesicht.

»Was soll ich tun? Was soll ich tun?« klagte sie.

Serrues trat zu ihr und legte ihr die Hand auf die zuckende Schulter.

»Sprechen Sie sich mir gegenüber offen aus, gnädiges Fräulein! Sie haben mich ja nicht als Untersuchungsrichter, sondern als Ihren persönlichen Freund rufen lassen. Ich bitte Sie, Vertrauen zu mir zu haben, – vielleicht kann ich Ihnen aber helfen, wenn Sie mir alles sagen, was Sie wissen, und was Sie bedrückt.«

Sie blickte zu ihm auf, ergriff mit beiden Händen die seinige und hielt sie fest.

»Ich weiß nicht, Herr Doktor«, sagte sie leise. »Ich kenne Sie doch fast gar nicht, und doch – doch – ich habe das Gefühl in mir, Sie – Sie sind mir ein Freund –«

»Ich will alles tun, was in meiner Macht steht. Ich glaube zu wissen, warum Sie jetzt hierhergekommen sind. – Der alte Marx war bei Ihnen, hat er nicht eine Erpressung versucht? An Ihnen? An Herrn Van Goot?«

Sie sah ihn mit fast abergläubischer Scheu an.

»Woher wissen Sie?« stammelte sie.

»Das war nicht schwer zu kombinieren, wenn man sein Gesicht sah, als ich ihn heute morgen am Tatort verhörte. Es war uns sofort klar, daß er mehr wußte, als er aussagte. Und nun will er dieses Wissen an Sie verkaufen?«

Sie konnte nur nicken.

»Was behauptet er zu wissen?«

»Oh – Herr Doktor! Das kann ich unmöglich sagen. Ich – ich – Geht es wirklich nicht, daß ich Herrn Van Goot spreche?«

»Es geht wirklich nicht. Wenn Sie sich mir aber nicht anvertrauen wollen, Fräulein Genelli, dann sehe ich wirklich kein Mittel, wie ich Ihnen helfen soll.«

Er zog sich von ihr zurück. Sein Gesicht wurde kühl, abweisend.

Sie kämpfte schwer mit sich.

»Ich kann nicht – ich kann nicht –« hauchte sie endlich. »Ich bin das Opfer eines Schurkenstreiches. Herr Van Goot hat das Äußerste gewagt, um mich vor den Folgen dieses Streiches zu bewahren, Herr Doktor –«

»Sehen Sie denn nicht ein, daß Sie die Lage Ihres Bräutigams nur verschlimmern, wenn Sie ihn dazu bewegen wollen, das Schweigen des alten Marx zu erkaufen? Der Mensch kann doch nicht behaupten, er habe gesehen, wie Herr Van Goot den Maler getötet hat?«

»Nein das nicht. Aber er sagt, er hätte sie streiten hören. Ein schwerer Fall sei gefolgt, und er habe Herrn Van Goot dann fortgehen hören.«

»Ist das alles? Das bestreitet ja Herr Van Goot gar nicht –«

»Marx sagt, er weiß, daß Herr Van Goot Garwey wegen je – jenes Bildes ermordet hat.«

»So? Das weiß er. Nun, das ist ja gut. Dann kann er es mir ja auch sagen, denn ich erwarte ihn jede Minute.«

»Sie wollen ihn ausfragen – Herr Doktor! Sie haben mich ausgehorcht – Sie – Sie haben mein Vertrauen mißbraucht!«

Ihre Tränen versiegten. Ihre Augen begannen zu flammen, hoch aufgerichtet trat sie zu Serrues hin –

Der hob die Hand. Und zum ersten Male, seit er sich mit diesem Morde beschäftigte, lächelte er.

»Natürlich muß ich ihn ausfragen,« sprach er, »und ich denke, ich werde aus ihm schon die Wahrheit herausbekommen.«

Gina Genelli senkte den Kopf. »Verzeihen Sie!« flüsterte sie. »Ich weiß, Sie wollen mir helfen. Aber das Ganze ist so furchtbar! Eine anständige Frau hat ja keine Waffen, sich gegen die Gemeinheit zu wehren!«

Stumm, mit zusammengepreßten Lippen, stand Serrues da –

Marx stand vor dem Tisch des Untersuchungsrichters.

Der machte kurzen Prozeß mit ihm.

»Sie haben heute morgen«, sagte er zu dem Alten, »nur einen Teil dessen ausgesagt, was Sie wissen. Mit dem anderen Teil wollten Sie an Herrn Van Goot und Fräulein Genelli eine Erpressung verüben. Ich werde Ihnen etwas sagen: Wenn Sie jetzt nicht mit der vollen Wahrheit herausrücken, verlassen Sie dieses Zimmer nur, um ins Untersuchungsgefängnis zu spazieren. Ich habe mich bis jetzt überdies noch gar nicht mit der Frage beschäftigt, daß ja eigentlich auch Sie als Mörder in Betracht kommen könnten.«

»Nein – nein –« kreischte der Alte, der sich in dieser erbarmungslosen Faust wand wie ein Wurm, der vergebens zu entkommen sucht.

»Auf Grund Ihres Erpressungsversuches kann ich Sie auf jeden Fall in Haft behalten«, fuhr Serrues fort. »Also antworten Sie mir jetzt klipp und klar auf jede meiner Fragen, oder schreiben Sie sich selbst die Verantwortung für das zu, was Ihnen dann passiert.«

Marx warf einen scheuen Seitenblick auf Gina Genelli, die Serrues gebeten hatte, dem Verhör beizuwohnen. Sie saß etwas abseits vom Fenster, bleich und zitternd noch, aber ruhiger und doch gefaßter. Die ernste Kälte des jungen Untersuchungsrichters flößte ihr immer größeres Vertrauen ein. Ihr feiner Fraueninstinkt sagte ihr, daß das ein Mann war, der seinen Weg zu Ende ging, ohne sich durch das größte Hindernis aufhalten zu lassen. Die Kraft eines nicht einzuschüchternden Willens fühlte sie in ihm, und an diesen Willen lehnte sie sich in ihrer Hilflosigkeit.

»Sie haben mir heute morgen gesagt, Sie hätten von der Unterredung zwischen den beiden Herren nichts gehört«, sprach er zu Marx weiter. »Sie haben aber Fräulein Genelli gegenüber behauptet, Sie wüßten, worüber die beiden Herren gestritten haben. Ja, mehr, Sie haben gesagt, Sie wüßten, daß Herr Van Goot Herrn Garwey um eines Bildes willen ermordet hätte. Ich frage Sie kurz und bündig, wollen Sie hier vor mir, vor diesem Kruzifix da, diese Behauptung aufrecht erhalten?«

Marx zitterte am ganzen Leibe. Des Richters Blick bohrte sich tief und tiefer in sein armseliges Bewußtsein. Immer mehr sank er in sich zusammen.

»Ich – ich –« stotterte er.

»Ja oder nein?«

Der Untersuchungsrichter beugte sich weit über den Tisch. Fast schien es, als zöge er mit seinen Augen den alten Mann an sich heran.

»Wissen Sie, was Sie verdienen?« packte er ihn an. »Daß ich Sie momentan abführen und vor die Geschworenen stellen lasse! Heraus mit der Wahrheit! Haben Sie die Unterredung der beiden Herren gehört?«

»Nein, wirklich nicht, Herr Richter. Ich stand oben auf der Treppe –.«

»Sahen Sie Herrn Van Goot fortgehen?«

»Ja, Herr Richter.«

»Hatte er einen Gegenstand in der Hand, der aussah wie ein Bild?«

»Nein, Herr Richter.«

»Haben Sie das deutlich gesehen?«

»Ja, ja, – Und – und –

»Und –?«

» Kaum war Herr Van Goot fort, rief mich Herr Garwey

»Er war also noch am Leben, als Herr Van Goot sich entfernt hatte?«

Marx würgte und würgte an dem »Ja«. Jetzt erst kam ihm ins Gehirn, welche furchtbare Schändlichkeit er begangen hatte.

»Und da gehen Sie hin und haben die Stirn, Fräulein Genelli diese Lüge hinzuhalten? Sie sind ja schlimmer als der Mörder!«

Gina konnte nicht länger auf ihrem Stuhle sitzen bleiben. Eine wahnsinnige Freude glühte in ihr auf. Van Goot hatte also doch kein Blut an den Händen! Sie hatte ihn nicht zum Mörder gemacht!

Und wieder! Ganz in der Tiefe ihres stolzen Frauentums regte sich von neuem die Demütigung. Alles, was er für sie gewagt hatte, waren – zwanzigtausend Mark! Mehr nicht! Erschöpfte Möglichkeiten! Affäre erledigt!

Sie wollte Serrues bitten, den Alten nachsichtiger zu behandeln. Er war ja ein Greis, der sich vielleicht durch eine plumpe List wirklich nur einen Ersatz für die verlorene Stellung sichern wollte!

»Ich verzeihe ihm«, sagte sie und heftete ihre schönen braunen Augen auf den Richter.

Der zuckte die Achseln.

»Das ist Ihre ureigenste Angelegenheit, Fräulein Genelli«, sagte er. »Ich muß mir natürlich vorbehalten, gegen den Mann die mir erforderlich scheinenden Schritte zu unternehmen. Zunächst bin ich mit ihm noch nicht fertig.«

Er wandte sich zu dem Diener zurück: »Was wollte Herr Garwey von Ihnen, als er Sie zu sich hereinrief?«

»Ich sollte ihm helfen, das Bild in den Rahmen zu tun.«

»So spät in der Nacht fiel ihm das noch ein?«

»Ja, er war ja immer so launenhaft. Mir schien es, als hätte er sich über Herrn Van Goot sehr geärgert, und da begann er Kognak zu trinken.«

»Trank er denn viel?«

»Das kann man wohl sagen.«

»War er oft betrunken?«

Marx wollte nicht recht mit der Sprache heraus. Der Tote, wie und was er auch gewesen sein mochte – war ja für lange Jahre sein Herr gewesen.

Serrues aber kannte keine solche Rücksichten.

»Antworten Sie, Marx!« drängte er. »Ich stelle meine Fragen nicht aus Neugierde, sondern ich weiß, was ich will. Also?«

»Ja«, knurrte der alte Mann widerwillig, wie eine Bulldogge unter der Peitsche.

»War er gestern auch betrunken?«

»Nicht gleich, aber wahrend wir an dem Rahmen arbeiteten, trank er beinahe die ganze Flasche leer, die er auf dem Tische stehen hatte. Er war furchtbar aufgeregt, denn das Bild wollte zuerst gar nicht in den Rahmen passen.«

»Was war das für ein Rahmen?«

»Ein breiter, schwer vergoldeter Eichenrahmen. Herr Garwey sagte, er sollte sehr auffallend wirken, damit gleich aller Augen auf das Bild fielen.«

Gina Genelli stieß einen Seufzer aus und trat ans Fenster, um die Männer ihre Erregung nicht sehen zu lassen. Serrues blickte ihr nach, und das Lineal bog sich wieder in seinen Händen hin und her –.

»Können Sie den Rahmen näher beschreiben?« fragte er den Diener.

»Er war sehr breit und mit reicher Schnitzerei versehen. Herr Garwey hat ihn extra für das Bild anfertigen lassen.«

»Was geschah, als das Bild im Rahmen war?«

»Da schickte mich Herr Garwey fort. Ich ging sofort zu Bett.«

»Wissen Sie nicht, was Herr Garwey noch machte?«

»Nein.«

»Hat er weiter getrunken?«

Marx, der seine Antworten gab, den Blick mürrisch auf den Boden geheftet, sah jetzt überrascht auf. Was wollte der Richter denn, daß er immer wieder von dem Trinken redete?

»Er schenkte sich gerade ein Glas ein,« gab er dann zu, »als ich das Zimmer verließ.«

»Wieviel Uhr war es?«

»Ich glaube so nach eins.«

»Noch eine Frage: Hat Herr Garwey das Bild wieder in den Schrank zurückgestellt, während Sie noch bei ihm waren?«

»Nein. Er lehnte es an den Tisch und betrachtete es. Er – er hat dabei –.«

Marx unterbrach sich und warf einen halb entschuldigenden Blick auf die Künstlerin, die wieder an ihren Platz zurückgekehrt war.

»Er hat noch in seiner Betrunkenheit ungeziemende Bemerkungen gemacht? Nur heraus mit der Sprache, Marx – wir müssen alles wissen.«

»Hm – Herr Richter – er war wirklich sehr betrunken! – Ich muß sagen, ich war froh, daß ich aus dem Zimmer kam.«

* * *

Ström kehrte nach einer halben Stunde zurück, ärgerlich, enttäuscht.

»Wir haben sowohl bei Van Goot wie bei den zwei jungen Leuten das unterste zu oberst gekehrt! Nichts zu finden.«

»Habe ich mir gedacht«, sagte Serrues. »Da lesen Sie einmal die Aussage des Dieners. Sie wird Sie interessieren.«

Ström las das Protokoll.

»Das verstehe ich nicht recht«, brummte er dann.

»Rahmen, Rahmen! Wo zum Teufel kommt denn der Rahmen her? Und wo zum Teufel ist er hingekommen? Die Sache wird ja immer komplizierter.«

Der Untersuchungsrichter gönnte sich den Luxus eines Lächelns.

»Nein, lieber Ström, sie beginnt sich zu klären.«

 

XII.

Spät am Nachmittag.

Der Untersuchungsrichter erstattete seinem Vorgesetzten, dem Ersten Staatsanwalt, Bericht.

»Von den bis jetzt Vernommenen kommt niemand als Mörder in Frage. Das ist das vorläufige Ergebnis der Untersuchung.«

Herr Moran strich nachdenklich seinen wohlgepflegten weißen Bart.

»In bezug auf Van Goot und den Diener mögen Sie recht haben, Serrues,« sagte er, »aber bei dem Mädchen und dem Burschen liegt der Fall denn doch nicht so einfach.«

»Zugegeben, Herr Moran, aber ich glaube Menschen einschätzen zu können. Weder das Mädchen noch der junge Mann sind fähig, eine solche Tat zu planen, geschweige denn auszuführen.«

»Er hat doch das Geld genommen!«

»Seine Verteidigung klingt so plausibel, daß ihn kein Mensch deshalb des Mordes verdächtigen kann. Die Schwäche eines Augenblickes! Und, Herr Moran! Weshalb hat das Mädchen den Einbruch ausführen lassen? Um das Bild zu bekommen! Hätte sie es erlangt, wäre es nicht ihr erstes gewesen, der von ihr so angebeteten Frau die quälende Sorge vom Herzen zu nehmen und ihr das Bild zurückzubringen?«

»Das hat etwas für sich. Aber woher wissen Sie, daß die Genelli das Bild nicht tatsächlich schon in ihrem Besitz hat und Ihnen nur eine Komödie vorspielt, um das Mädchen zu schützen?«

»Dann müßte sie eine noch größere Künstlerin sein, als sie schon ist, und ich ein schlechterer Menschenkenner, als ich bin, Herr Moran.«

Der Erste Staatsanwalt lächelte. Er zweifelte keinen Moment lang an der Richtigkeit dessen, was sein junger Untergebener anführte. Instinktiv wehrte er sich nur dagegen, Verdächtige, die er bereits in der Hand hatte, wieder freizugeben.

»Wir können doch unmöglich die ganze Gesellschaft entlassen«, sprach er. »Irgendein Opfer müssen wir der Öffentlichkeit hinwerfen.«

»Müssen wir das wirklich, Herr Moran?«

Scharf, unerbittlich schnellte die Frage durch das Zimmer. Herr Moran wußte dem Jüngeren nichts zu erwidern und blickte hilfesuchend auf Ström, der, die Beine lang ausgestreckt, in einem der tiefen Sessel lag und mit verbissenem Gesicht an einer längst erkalteten Zigarre kaute.

»Nun, Herr Zentralinspektor,« wandte der Chef sich an ihn, »was ist denn Ihre Meinung?«

»Ich habe keine Meinung in der Sache«, knurrte Ström aus der Tiefe seines Sessels hervor. »Ich kann nur soviel sagen, daß auch ich beim besten Willen nicht an die Schuld des Mädchens und seines Bräutigams glauben kann. Van Goot schien mir der Mann zu sein. Bis Herr Serrues den Gegenbeweis aus dem alten Lumpen, dem Marx, herausgepreßt hat.«

»Also was tun?«

»Ich glaube den Herren versichern zu können, daß wir der Lösung nicht mehr fern sind«, sagte Serrues in seiner ruhigen, bestimmten Art.

»So etwas Ähnliches haben Sie heute schon einmal gesagt«, stöhnte der Inspektor. »Ich wollte, ich könnte Ihren Optimismus teilen. Das Bild wird uns doch nicht auf den Tisch fliegen.«

»Vergessen Sie nicht den Rahmen zu dem Bilde!« fügte der Untersuchungsrichter hinzu.

Es gibt eine gewisse Klasse von Dramatikern, die es mit höchstem Geschick verstehen, die Entwicklung ihres Stückes so zu führen, daß sie einen Gegenstand oder eine Person just in dem Moment auf die Szene bringen, da von ihnen die Rede ist. Das wirkt immer gut, erhöht die Spannung.

Im Falle Garwey baute das Leben selbst ein so spannendes Drama. Eben, da die drei Herren von dem verschwundenen Bilde sprachen, trat ein Diener ein und meldete, Fräulein Genelli sei draußen und wünsche von dem Herrn Untersuchungsrichter empfangen zu werden.

»Haben Sie etwas dagegen, Herr Moran,« fragte Serrues, »wenn ich sie gleich hier sehe?«

»Ich würde sogar darum bitten.«

Gina Genelli trat ein, und Herr Moran, der trotz seines Alters ein feuriger Bewunderer edler Frauenschönheit war, ließ es sich nicht nehmen, ihr selbst einen Sessel hinzuschieben.

Sie war sehr erregt und ihre am Morgen so bleichen Wangen glühten. Eine große Papprolle hielt sie in der Hand.

»Herr Serrues,« rief sie, »das Bild, das Bild!«

»Was ist's mit dem Bilde?«

»Soeben hat es mir die Post ins Haus gebracht. In dieser Rolle da!«

Moran und Ström stießen beide gleichzeitig einen lauten Ruf der Überraschung aus. Nur Serrues blieb ruhig. Gelassen nahm er der Künstlerin die Rolle aus der Hand und zog das darin eingewickelte Bild hervor.

»O bitte – bitte, sehen Sie es nicht an!« rief Gina. »Es ist entsetzlich.«

Serrues blickte seinen Vorgesetzten fragend an. Dieser nickte und sagte zu der in Scham vergehenden Frau: »Es genügt uns, wenn Sie uns bestätigen, daß es jenes Bild ist.«

»Ja – ja, das Bild ist es.«

Sie antwortete zwar Moran, aber ihr Auge lag auf Serrues.

»Und Sie haben es soeben durch die Post erhalten?«

»Vor nicht zehn Minuten. Ich habe mir sofort ein Auto genommen und bin damit hergefahren.«

»Das war sehr richtig von Ihnen, gnädiges Fräulein.«

Herr Moran besah den Poststempel.

»Wahrhaftig, mehr als merkwürdig. Die Rolle ist nach dem Stempel auf dem Postamt 62 um drei Uhr dreißig Minuten expreß aufgegeben worden.«

»Ein Beweis mehr für meine Behauptung, daß weder Van Goot, noch Polly Burgherr und ihr Bräutigam als Täter in Betracht kommen können«, sagte Serrues. »Alle drei, ebenso wie der Diener Marx, befinden sich noch im Hause, da ich sie nicht entlassen wollte, ehe Sie Ihre Entscheidung getroffen hatten, Herr Moran.«

»Dieses Moment ist allerdings von ausschlaggebender Bedeutung«, gab jetzt der Erste Staatsanwalt ohne weiteres zu. »Wir werden alle vier Personen sofort in Freiheit setzen müssen.«

»Steht denn kein Absender auf der Rolle?« fragte Ström, indem er hinzutrat.

»Gewiß, da ist –«

Dem auf seine Würde stets bedachten Herrn Moran blieben die Worte im Munde stecken und mit einem Blick grenzenloser Verblüffung schaute er um sich –.

»Nein, das ist die Höhe!« rief er schließlich und brach in schallendes Gelächter aus.

Als Absender stand fein säuberlich mit Blaustift, wie die ganze Adresse in lateinischen Druckbuchstaben geschrieben:

Absender:
David Ström,
Zentralinspektor der Kriminalpolizei.

Da lachte sogar Lionel Serrues.

Nur Ström lachte nicht. Er bekam einen hochroten Kopf und stieß einen Fluch aus, der die soliden Wände des Justizpalastes erbeben ließ. Dann zerdrückte er die kalte Zigarre in seiner großen Faust und schwor: »Der Kerl hat zweifellos Sinn für Humor. Aber ich werde sorgen, daß er ihm vergeht. Und zwar bald!«

 

XIII.

Die Abendblätter brachten die ersten Nachrichten von dem Geschehnis. Natürlich geriet die Hauptstadt darüber außer Rand und Band, denn Julian Garwey hatte wirklich zu ihren bedeutendsten Persönlichkeiten gehört. Als in der Morgenpresse des nächsten Tages zu lesen stand, daß man keiner der im ersten Augenblick verdächtig erscheinenden Persönlichkeiten die Schuld an dem Verbrechen habe nachweisen können, begann das allgemeine Kopfzerbrechen. So diskret auch die meisten Journale die ganze Angelegenheit behandelten, so ließen sie doch durchblicken, daß eine Frau, und zwar eine der gefeiertsten und schönsten Frauen der Residenz, eine nicht unbedeutende Rolle in dem geheimnisvollen Drama spielte. Ein Vorstadtblatt druckte indessen ganz ungeniert den Namen Van Goots, des Hofbankiers, als eines der Verhafteten ab – und damit war der Skandal losgelassen. »Die Stadtglocke«, ein Revolverblatt übelster Sorte, kaufte sich schleunigst den alten Marx und läutete die ganze Affäre in die Welt hinaus – mit allen Namen, mit allen Details. Und allen möglichen Ausschmückungen eigenen Fabrikats.

Als Antwort darauf brachte prompt der »Herold«, das Blatt der vornehmen Gesellschaft, von einer »Herrn Van Goot nahestehenden Seite« eine Darstellung, die das edelmütige Verhalten des Hofbankiers ins rechte Licht rückte und mit der Feststellung schloß, daß alle Beziehungen zwischen Herrn Van Goot und Fräulein Gina Genelli auf Wunsch der Künstlerin gelöst seien.

Gleichzeitig erschien im Theaterteil sämtlicher Blätter eine kleine Notiz, daß Gina Genelli, die große Künstlerin, die Zierde und der Stolz des Hoftheaters, infolge der erlittenen Aufregung erkrankt sei und einen längeren Urlaub angesucht und erhalten habe, den sie auf Rat der Ärzte im fernen Süden zu verbringen gedenke –.

Der Skandal hatte seine Opfer zerrissen, verschlungen –.

Gina Genelli rüstete zur überhasteten Flucht aus der Hauptstadt.

Am Abend vor ihrer Abreise stieg sie zu der Wohnung Lionel Serrues' empor, der zwei Stock über ihr im selben Hause wohnte. Sie kam, um sich von ihm zu verabschieden.

Lange hielt sie seine schmale, harte Hand in der ihrigen.

»Ich gehe fort, und ich weiß nicht, wann ich zurückkehren werde. Aber Herr Serrues, ich möchte, daß Sie mich im Gedächtnis bewahren als eine Frau, die nie vergessen wird, was sie Ihnen dankt!«

Serrues war wie immer abweisend, wenn auch nicht unfreundlich.

»Und ich möchte nicht,« antwortete er ihr, »daß Sie fortgehen mit dem Gefühle, mir zu weiß Gott was für Dank verpflichtet zu sein. Ich habe nichts als meine Pflicht getan.«

»Sie haben meine liebe, treue Polly und ihren braven Robert vor dem Gefängnis bewahrt, und Sie haben auch Herrn Van Goot sofort zur Freiheit verholfen.«

»Mein Gott, Fräulein Genelli, das ist ja meine Pflicht gewesen.«

»O – ein anderer Untersuchungsrichter hätte vor allem darauf hingearbeitet, für sich einen persönlichen Erfolg zu erzielen, indem er den einen oder den andern überführte –.«

»Das war in diesem Falle unmöglich. Sowohl Robert Smitt wie Henryk Van Goot waren unschuldig. Das war meine Überzeugung von vornherein. Vor allem ist Herr van Goot nicht der Mann dazu, eine solche Tat zu begehen – selbst im höchsten Affekt.«

Die schöne Frau nickte mit bitterem Lächeln. Die Demütigung über das Benehmen Van Goots war noch nicht verwunden. Wenn er zu ihr gestanden hätte, wäre es ihr möglich gewesen, den Ansturm des Neides, der Scheelsucht abzuschlagen. Aber er hatte sie fallen lassen – feige, rücksichtslos, nur auf sich und seine Stellung bedacht.

»Auch dafür müßte ich Ihnen eigentlich danken,« sagte sie leise, indem sie des Richters Hand, die sie immer noch hielt, unwillkürlich fester drückte, »Sie haben mir den Charakter meines Bräutigams im rechten Lichte gezeigt. Wir Frauen sind doch nun einmal merkwürdige Geschöpfe.«

»Wirklich?« lächelte Serrues. Es war etwas in seiner sonst so kühlen Stimme, das sie aufblicken, sein Auge suchen ließ. Grau war das Auge, dunkelgrau –. Ihr war, als schaute sie in einen Abgrund, geheimnisvoll, unerforscht –.

Sie trat ganz dicht an ihn heran.

»Lionel Serrues,« sagte sie, »du hast mir das Bild geschickt. Du hast Julian Garwey getötet.«

»Nein«, erwiderte er. »Aber ich weiß, wer es getan hat.«

»Als Sie an jenem Morgen zu mir heraufkamen und mich in dieser Angelegenheit um Rat fragten –«

»Ich wußte ja nicht, was ich tun, an wen ich mich wenden sollte! Van Goot hatte sich gleich so merkwürdig gezeigt! Er zuckte die Achseln! Ich war überrascht genug, als ich hörte, er hatte doch noch mit Garwey gesprochen. Als ich am Morgen von ihm zurückkam, war ich verzweifelt! Da sagte mir mein Mädchen, Sie wohnten im selben Hause, Sie seien ein so berühmter Richter. Sie würden mir gewiß helfen –

»Sehen Sie, Ihr Mädchen kannte mich«, sprach er. »Sie hatten keine Ahnung von meiner Existenz! Obwohl wir seit Jahren in demselben Hause wohnen. Obwohl wir uns oft und oft auf der Treppe begegneten! Aber Gina Genelli – ich liebte Sie! Ich liebte Sie fanatisch, wahnsinnig, wenn Sie wollen! Ein einsamer Mensch bin ich, dem sein Beruf wenig Zeit zu anderen Dingen läßt. Ehrgeizig bin ich – oder besser gesagt, war ich. Vorwärts wollte ich, in die Höhe. In dem schnellsten Tempo, das es für einen Beamten gibt. Denn ich wollte Sie – Sie – Sie! Wahnsinn – werden Sie sagen! Vielleicht! Aber ich hatte ein Ziel vor Augen, das mich in den schweren Stunden in der Bahn hielt! Ich bin nicht so, wie ich scheine. Ich habe einen Hunger nach Leben, nach Leidenschaft, nach Rausch in mir, der mich oft selbst erschreckt hat! Dieses Bild, in das Garwey die ganze Glut seiner Künstlerseele hineingemalt hatte, verblaßt gegen meine Träume – Gina Genelli! Wenn ich Sie auf der Bühne sah – nie habe ich eine Vorstellung versäumt, in der Sie auftraten – wenn ich Ihnen auf der Treppe begegnete – da haben hunderttausend Stürmte in mir aufgeheult!«

Er sprach wie immer, gelassen, ohne die Stimme zu erheben. Keine Geste half seinen Worten. Aber in der Tiefe seiner Augen sah sie auf einmal Flammen brennen, deren Glut sie an ihrem Körper zu fühlen vermeinte.

»Ich mußte mir eine Maske vor meine Wünsche und Hoffnungen binden. Ich glaube, das ist mir gelungen, denn niemand hat mir bis jetzt hier hineinsehen können –

Er schlug sich leicht auf die Brust. Sie redete nicht. Regte sich nicht. Stand nur und starrte in die Tiefe dieser grauen Augen –.

»Sie verlobten sich mit Van Goot, dem Hofbankier. Es war eine böse Stunde für mich, als ich diese Nachricht in den Zeitungen las! Aber ich habe mir dann in aller Ruhe gesagt – diese Verbindung – wenn sie überhaupt zustande kommt – wird nicht lange dauern. Ich kannte Van Goot, er ist nicht der Mann für eine Frau, der die Engel diese Stimme und diese Kunst gegeben haben. Früher oder später mußten Sie des Irrtums gewahr werden! Ich konnte ja warten! Und ich wartete!

Und dann kamen Sie in Ihrer Hilflosigkeit. Ich sah meine Gelegenheit. Ich sagte Ihnen, ich könnte Ihnen keinen Rat geben, da ein solcher Fall außer der Kompetenz des Gerichts läge. Unsere Gesetze sind prachtvoll dazu angetan, Verbrechen zu bestrafen, aber verhindern können sie sie nicht. Das muß alles den Amtsweg gehen. Ich habe schon oft über dieses Problem nachgedacht, bin aber zu keiner Lösung gelangt. In diesem Falle hatte ich indessen ein Mittel in der Hand, Garwey an der Ausübung seines infamen Streiches zu hindern. Doch durfte ich Ihnen das sagen, obwohl ich fest entschlossen war, es anzuwenden? In der Nacht bin ich dann zu Garwey gegangen –.«

»Sie haben ihn doch getötet!« schrie sie.

In seine Augen kam ein grausamer Ausdruck.

»Es gibt gewisse Dinge, die man nicht vor Menschen, wohl aber vor Gott verantworten kann. Vielleicht hätte ich ihn getötet, wenn mein Mittel versagt hatte. Vielleicht – ich weiß es nicht. Aber ich kam gar nicht dazu, mein Mittel zu versuchen, denn als ich das Atelier betrat, war er bereits tot.«

Sie schauderte, bedeckte einen Augenblick mit den zitternden Händen die Augen.

»Wer«, stammelte auch sie die unheilvolle Frage.

»Glauben Sie an Gott, Gina? Ja? Auch ich glaube an ihn. Und deshalb sage ich Ihnen – Gott hat ihn getötet.«

 

XIV.

Feierliche Erregung kam bei diesen Worten über ihn. Er ergriff die beiden Hände der schönen Frau und hielt sie lange fest. Die Trauer und das Grauen schwanden aus ihren Augen, dafür stieg ein wundersames Leuchten in ihnen empor – »Lionel«, flüsterte sie, leise und innig.

»Was ich Ihnen bis jetzt gesagt habe, geht nur uns beide an. Was mir jetzt noch zu berichten bleibt, muß mein Vorgesetzter hören.«

»Ich will, ich muß dabei sein«, rief sie.

»Gut. Ich werde Herrn Moran – und –« er überlegte einen Moment – »auch Herrn Ström anrufen und sie bitten, mich zu erwarten. Können Sie mich in zehn Minuten am Haustor treffen?«

»Gewiß.«

Sie lief zur Tür, kam aber nochmals zu ihm zurück und legte beide Arme um seinen Hals.

»Lionel Serrues,« gelobte sie, »was auch immer komme – ich will dich lieben, wie nur ein Weib den Mann lieben kann, den es als seinen Helden bewundert.«

Und sie preßte ihre warmen Lippen auf die seinigen.

Vor dem Ersten Staatsanwalt und dem Zentralinspektor berichtete Serrues – sachlich, beruflich.

»Als Fräulein Genelli zu mir kam und mich um Hilfe bat, stand es bei mir fest, Garwey an seinem Vorhaben zu verhindern. Wie Sie sich erinnern werden, schwebt seit längerer Zeit die Verführungsgeschichte mit der Lina Grawe gegen ihn. Aber da das Mädchen seit einem Monat verschwunden ist, haben wir keine weiteren Schritte unternommen. Immerhin war die Rolle, die Garwey in diesem Drama spielte, so niedrig, daß es ihm übel ergehen mußte, wenn wir ihn deshalb wirklich packten und vor Gericht stellten. Er hat das junge Mädchen in sein Atelier gelockt und betrunken gemacht. Ich wollte ihm mit der rücksichtslosen Fortführung der Angelegenheit drohen, wenn er nicht das Bild herausgäbe. Herr Moran, ich bin gewiß nicht korrekt vorgegangen, aber es handelte sich um die Ehre einer Frau, die wir alle als Künstlerin verehren und bewundern.«

Herr Moran erwiderte nichts, doch als sein Blick sich zu Gina Genelli wandte und deren Augen traf, nickte er. Ström knurrte hinter ihm etwas, was ganz deutlich wie Zustimmung klang.

»Garwey war ein Schurke«, setzte er laut hinzu mit noch dezidierterer Zustimmung.

Serrues fuhr fort:

»Sobald Fräulein Genelli mich verlassen hatte, begab ich mich zum Hause Garweys. Aber als ich in die Straße einbog, sah ich, wie gerade das Auto van Goots vorfuhr und gleich darauf zwei andere Herren in den Garten traten. Ich sagte mir, er habe Gesellschaft, und verschob meinen Besuch auf später, denn ich wollte absolut nicht gesehen werden und vor allem ihn überraschend nehmen, ganz unvorbereitet vor die Wahl stellen: entweder das Bild oder das Gefängnis.

Ich kam um elf Uhr vor das Haus zurück und schlich in den Garten. Da sah ich an der rückwärtigen Front Licht. Ich hatte Glück, das eine Fenster stand offen – ich hörte Gelächter, Gläserklirren und Ausrufe, die auf eine im Gange befindliche Kartenpartie schließen ließen. Die Vorgänge während und nach der Partie sind aus der Untersuchung bekannt, und ich brauche sie nicht zu wiederholen. Ich lag die ganze Zeit über im Garten auf der Lauer. Hörte die Herren fortgehen, hörte Van Goot zurückkommen, seinen Streit mit Garwey, hörte ihn wieder sich entfernen. Hörte, wie Garwey Marx hereinrief, mit ihm das Bild in den Rahmen fügte. Und hörte, wie er immer betrunkener dabei wurde. Ich wartete unter dem Fenster auf meine Minute. Ich mußte lange warten – lange! Endlich war sie da!

Garwey schickte Marx hinaus.

›Scher' dich nun zum Teufel, altes Stinktier!‹ schrie er.

Dann war er allein. Redete allerlei wirres und krauses Zeug vor sich hin, wie Trunkene es eben tun. Schenkte sich noch ein Glas ein. So nahe stand ich, daß ich hörte, wie er es austrank, dröhnend auf den Tisch stellte. Wieder fing er an, mit sich selbst zu reden. Zu lachen. Das Bild – das Bild der Dame höhnte er. Übergoß es mit dem ganzen Unrat seiner Seele. Ich will mich nicht besser machen, als ich bin – es hat mich in diesen Augenblicken die höchste Anstrengung meines Lebens gekostet, nicht in das Fenster zu springen und den Mann an der Kehle zu packen. Ihm seine Gemeinheiten in den Schlund hinunterzudrücken. Ich wäre mit dem sinnlos Betrunkenen leicht fertig geworden –«

Er hielt inne. Mit Erstaunen blickte Herr Albert Moran auf seinen Untergebenen. Er sah plötzlich einen neuen Menschen vor sich. War das derselbe Lionel Serrues, von dem man sagte, er habe entweder Nerven wie Unterseekabel oder er habe überhaupt keine? War das derselbe Serrues, vor dem er selbst mehr als einmal geheime Angst empfand, weil er so jeder menschlichen Empfindung bar schien? Und jetzt stand er da mit Augen, in denen die gefährlichste Wut, die eisigkalte, die überlegende, drohte – mit Fäusten, die sich in dieser Wut zusammenkrallten – Doch nur einen Moment lang vergaß sich Lionel Serrues. Nur einen Moment. Dann fiel wieder der Schleier über sein Inneres. Kühl und sachgemäß sprach er weiter: »Ehe ich meinen Bericht – oder soll ich sagen, mein Geständnis? – fortsetze, möchte ich Herrn Ström fragen, ob er, wie ich ihn gebeten habe, den Diener Marx hat herbringen lassen?«

»Jawohl, er wartet draußen im Vorzimmer.« »Gut, ich brauche ihn, denn ich muß setzt die Aufmerksamkeit der Herren auf die Stelle in meinem Verhör mit ihm lenken, an der von der Trunkenheit Garweys und dem – Rahmen die Rede ist –«

»Der Rahmen?« fuhr Ström auf. »In des Teufels Namen – verzeihen Sie, meine Gnädigste! – was hat der Rahmen mit der Sache zu tun?«

»Alles!«

Serrues richtete seine schlanke Gestalt empor und blickte mit kalten, unerbittlichen Augen seine Zuhörer an: »Der Rahmen ist das Instrument, mit dem Gott Garwey getötet hat!« sprach er.

Er holte aus der Ecke des Raumes ein großes, viereckiges, in ein Tuch gewickeltes Paket, das er mitgebracht und bei seinem Eintritt dorthin gestellt hatte. Moran, Ström und Gina Genelli drängten sich um ihn – die Männer nicht minder erregt als die Frau. Nur Serrues blieb ruhig, kalt, als er jetzt die Umhüllung zurückschlug – ein massiver, vergoldeter Bilderrahmen zeigte sich –

»Wollen Sie bitte Marx hereinrufen lassen?« wandte er sich an Ström.

Marx trat ein, gebückt, niedergedrückt vor Angst. Was wollten sie auf einmal von ihm, daß sie ihn jetzt noch am Abend holen ließen?

»Kommen Sie her! Sie brauchen sich nicht zu fürchten – Sie sollen nur bekunden, ob Sie diesen Rahmen kennen!«

Der alte Mann schlurfte mißtrauisch naher. Als sein Blick auf den Goldrahmen fiel, fuhr zitternder Schrecken durch seine Glieder.

»Das ist – das ist –« stammelte er, »der Rahmen, in den Herr Garwey das Bild tat.«

»Es ist gut«, sagte Serrues. »Wir brauchen Sie nicht mehr. Sie können nach Hause gehen!«

Marx schob sich rückwärts der Tür zu. Mit fast abergläubischer Furcht hing sein Blick an dem Untersuchungsrichter. Unheimlich war ihm dieser junge Mensch. Lautlos verschwand er.

In atemloser Spannung warteten die anderen.

»Sie werden sich erinnern, Herr Ström,« fuhr Serrues fort, »daß ich bei der Untersuchung her Leiche auf die Feststellung drängte, daß der Hammer des Smitt als Mordinstrument nicht in Frage kommen konnte? Und daß der Polizeiarzt dann auch tatsächlich zu dem Schluß kam, es müsse ein breiter, spitzig zulaufender Gegenstand gewesen sein?«

»Ja, ich erinnere mich.«

»Halten Sie sich bitte ferner vor Augen, daß das Verhör mit Marx die Tatsache der völligen Trunkenheit Garweys ergeben hat!«

»Stimmt!«

Ström schlug sich plötzlich an die Stirne.

»Ich will mein Amt niederlegen und noch einmal in die Abcklasse gehen – ich fange an zu begreifen! Reden Sie, Serrues – reden Sie!«

»Ich stand unten am Fenster und kämpfte zunächst meine Wut nieder. Zu dem, was ich vorhatte, muß man kalte Nerven haben. Da höre ich ihn sagen: ›Marsch, jetzt in den Kasten, und morgen wirst du –‹ Weiter kam er nicht. Einen dumpfen Schrei stieß er aus, ein Fall – – Im Nu bin ich im Zimmer. Da liegt er. Rührt sich nicht. In seiner tierischen Trunkenheit ist er über eine Falte des Teppichs gestolpert und mit der Stirn gerade in die scharfe Spitze des Rahmens gestürzt. Er war ein großer, schwerer Mann, wuchtig daher sein Fall – die Spitze zerriß ihm die Schädeldecke und drang tief in das Gehirn ein. Als ich zu ihm hintrat, stieß er gerade seinen letzten Seufzer aus.«

Er rückte, den Rahmen unter das Licht der Lampe.

»Hier, Herr Ström, haben Sie den breiten, spitz zulaufenden Gegenstand! Wenn Sie genau hinsehen wollen, werden Sie finden, daß hier das Blut und die, Haare kleben, die Sie an dem Hammer vergebens gesucht haben.«

Er wies auf die linke, obere Kante des Rahmens. Eine widerliche, dunkle Kruste klebte daran. Ström trat herzu und besah sie mit seiner Lupe. Griff sie prüfend ab und zog ein Haar hervor, das er gegen das Licht hielt.

»So wahr ich lebe,« sagte er mit gepreßter Stimme, »das ist dasselbe Haar, wie Garwey es hatte! Das ist ja entsetzlich –«

Gina Genelli taumelte, von Grauen überwältigt, in einen Sessel zurück. Herr Moran stützte sich auf seinen Schreibtisch und starrte schwer atmend bald auf den Rahmen, bald auf den Mann, der ihn hielt. Ström fluchte leise vor sich hin, griff in seine Tasche, holte eine Zigarre hervor, biß sie ab, steckte sie wieder ein. –

Nur Serrues, der Mann mit den Stahlnerven, blieb ruhig.

»Ich sah auf den ersten Blick, daß nichts mehr zu helfen war. Aber was tun? Ich überlegte. Lärm schlagen, den Diener rufen? Wie meine Anwesenheit erklären? Daß ich bei jeder Untersuchung den Tod in seiner natürlichen Art beweisen konnte – daran zweifelte ich nicht. Aber wozu jetzt schon mich bloßstellen? Der Mann war tot. So tot, wie er es verdiente. Und ich war ja gekommen, das Bild zu holen. Ich wartete noch einen Moment, ob vielleicht der Diener den Fall gehört hätte und herunter käme. Ich wartete volle fünf Minuten, alles erwägend für den Moment, daß Marx einträte –«

»Sie standen neben – neben dem Toten?« fragte Herr Moran, dem wieder die Furcht vor diesem jungen Menschen überkam.

»Warum nicht? Ich gestehe sogar, daß ich mit seinem Tod sehr zufrieden war, denn er brachte die beste Lösung. Als sich nichts im Hause rührte, nahm ich das Bild, wickelte es in meinen Mantel. stieg zum Fenster hinaus, verwischte sorgfältig alle meine Spuren auf dem Fensterbrett sowie auf dem Boden vor dem Fenster und trug das Bild nach Hause zu mir. Es war sehr schwer, und ich konnte nur langsam gehen. Zum Glück wohne ich nicht mehr als drei Straßen entfernt, und die Nacht war sehr weit vorgeschritten, so daß ich nur wenigen Menschen begegnete. Einmal kam ich an einem Schutzmann vorüber. Ich hatte ihn schon von weitem gesehen und schob das Bild über das Gitter eines Vorgartens. Er erkannte mich, wir wechselten einige Worte miteinander, und er ging dann weiter. Ich holte das Bild aus seinem Versteck und kam ungefährdet in meine Wohnung.

Jetzt noch eine Frage, die beinahe so wichtig ist, wie die des Todes selbst. Warum habe ich nicht gleich am Morgen, als ich in die Villa Garweys gerufen wurde, die Sachlage aufgeklärt? Ich gebe zu, daß dies meine Pflicht gewesen wäre, aber ich hatte nicht nur an Garwey zu denken, der ja tot war, sondern an die Lebenden –, an mich, vor allem an Fräulein Genelli! Ich konnte in der ersten Stunde zu keinem Entschluß kommen – Herr Moran – das ist der große Fehler, den ich begangen habe und für den ich zu büßen bereit bin. Denn nachher war es zu spät. Die Ereignisse überstürzten sich; Polly Burgherr sowie ihr Bräutigam und Van Goot erschienen verdächtig. Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Ich mußte also die Untersuchung durchführen und zwar bis zum Ende. Vor allem mußte ich sie so führen, daß durch sie die Unschuld der Verdächtigen über allen Zweifel erwiesen wurde. Sie werden sich während des Verhörs oft über mich gewundert haben, Herr Ström –«

»O ja – das tat ich, aber jetzt –« gestand der Inspektor zu.

»Doch ich hatte ein Ziel vor Augen, das ich erreichen mußte. Bei dem jungen Paare ging es leicht. Bei Van Goot war es schwieriger, doch da brachten Sie mir rechtzeitig Hilfe, gnädiges Fräulein, indem Sie mir Marx ans Messer lieferten. Aus ihm habe ich dann den Beweis für die Unschuld Van Goots herausgeschnitten.«

Gina Genelli sprach nicht. Ihre Augen sagten alles, was sie zu sagen hatte.

Er aber fuhr fort:

»Einen letzten Beweis mußte ich führen, um alle eventuell auftauchenden Bedenken zu beschwichtigen. Ich behielt die ganze Gesellschaft über Mittag auf dem Gericht und benutzte meine eigene Mittagspause, um das Bild an das gnädige Fräulein abzusenden. Ein Kneifer, ein kleiner, aufgeklebter Schnurrbart war alles, womit ich mich auf der Post unkenntlich machte. Es klappte. Fräulein Genelli kam rechtzeitig mit dem Bild und Sie, Herr Moran, mußten Van Goot und alle anderen entlassen.«

Serrues schwieg. Keiner seiner Zuhörer rührte sich – er hielt alle im Bann.

»Noch einen Vorwurf muß ich zu entkräften suchen, der mir gleichfalls mit Recht gemacht werden kann«, setzte er nach einiger Zeit fort. »Ich hätte sprechen können, als das Bild da war – Er holte tief Atem, blickte Herrn Moran an. »Ich bin nur ein Mensch, Herr Moran. Als ich sah, daß alles so ging, wie ich es wünschte, faßte ich die Hoffnung, die Sache ganz überwinden zu können, ohne mich melden zu müssen. Nennen Sie es Schwäche, Feigheit, Pflichtverletzung – wie Sie wollen, Herr Moran, aber menschlich ist es! Wäre ja nicht der erste Kriminalfall gewesen, der ein ungelöstes Rätsel blieb. Der Mann war tot, die Ehre der Dame gerettet! – Wozu den Skandal aufrühren? Aber ich hatte ohne die Presse gerechnet. Der Lärm, den sie erhob, schreckte mich aus meiner Hoffnung und zwang mir den Entschluß auf, mich zu stellen. Ich will nicht, daß irgend jemand für mein Vergehen unschuldig leide – nicht einmal die Polizei, die ja den ganzen Sturm hätte aushalten müssen –.«

»Pah – daran bin ich gewöhnt«, knurrte Ström. Serrues lächelte.

»Ich bin zu Ende, Herr Moran. Ich habe gewiß nicht so gehandelt, wie es einem pflichtgetreuen Beamten zukommt, aber ich leugne nicht, daß ich alles noch einmal genau so tun würde, wenn es sein müßte. Und nun erwarte ich zu Hause Ihre Entschließung, Herr Moran!«

Er verbeugte sich und verließ das Zimmer.

Gina Genelli ließ sich kaum Zeit, Herrn Moran und Herrn Ström die Hand zu reichen – so eilig hatte sie es, ihm nachzukommen.

Schweigend blickten sich die Zurückbleibenden an. Dann begann Herr Moran im Zimmer auf- und abzuschreiten, während der Inspektor sich die Zigarre anzündete, die er vorhin zurechtgebissen hatte.

»Was sagen Sie dazu?« begann endlich der Staatsanwalt.

Ström besah sich sorgfältig die Zigarre, ob sie auch gut brannte, und erwiderte: »Ich denke, Herr Moran, ich würde mich daran erinnern, daß wir wirklich nicht nur Beamte, sondern ab und zu auch Menschen sind, nicht wahr?«

»Hm«, sagte Herr Moran, strich sich würdevoll seinen weißen Bart und machte ein strenges Gesicht.

»Ich würde dem Jungen auf die Schulter klopfen,« fuhr der Polizeimensch fort, »und zu ihm sagen: du hast gehandelt, wie auch ich gehandelt haben würde –.«

»Oh –.«

»Wie ich auch gehandelt haben würde. Setz' dich eins 'rauf!«

»Hm!« sagte Herr Moran, strich sich würdevoll seinen weißen Bart und machte ein ernstes Gesicht.

»Und noch etwas würde ich tun.«

»Nun?«

»Haben Sie die Augen gesehen, mit denen ihn die Genelli – Herrgott, ist das ein schönes Frauenzimmer! – die ganze Zeit über angeschaut hat?«

»Ich habe gesehen.«

»Dann würde ich an Ihrer Stelle das tun, was ich jetzt machen werde: nämlich hingehen und das schönste Hochzeitsgeschenk kaufen, das ich kriegen kann.«

»Hm«, sagte Herr Moran, strich sich würdevoll seinen weißen Bart und – lächelte.

Ende

* * *


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