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Zwei Frauen

Dagmar nickte. Sie wandte den Kopf nicht zu der Sprecherin hin.

»Ich – ich kann nicht. Bis – bis sie – kommen –«, hauchte sie.

Sie schwankte, als wollte sie vornüberstürzen. Die beiden jungen Mädchen eilten zu ihr hin, um sie zu stützen. Flüsterten ihr leise Worte der Liebe, des Trostes zu. Legten ihr die Arme um die Schultern. Josefa zog ihr das Gewand empor –. Susanne Warren rührte sich nicht. Sie stand dabei und blickte auf die Gruppe mit feindseligen Augen herab –

Thorgut sah's und staunte. Was war zwischen den beiden Frauen?

Auf der Treppe knarrte ein schwerer Schritt. Brigitte, die alte Beschließerin, schlich vorsichtig herunter und beugte sich zu der Gouvernante hin. Fragte sie mit den Augen, indem sie auf Dagmar deutete. Das Mädchen zuckte die Achseln, drehte sich um und stieg wortlos die Treppe hinaus. Brigitte, dick, asthmatisch, mit schwimmendem Kopf – starrte ihr nach. Dann schob sie sich zu der zusammengebrochenen Frau am Kamin hin. Sie hatte Dagmar als Kind in den Armen getragen. –

»Willst du nicht etwas zu dir nehmen?« fragte sie.

Dagmar sah sie an. Verstand sie wohl kaum. Schüttelte langsam den Kopf. –

»O du mein Gott – o du mein Heiland!« seufzte die alte Frau und hockte sich unten auf die Treppe.

* * *

Thorgut sah und hörte alles. Er wunderte sich selbst darüber, daß er, der bei anderen gar keine körperlichen und seelischen Empfindungen Hervorrufen konnte, selbst die Schmerzen verspürte, die Dagmars Kummer in ihm aufwühlte. Und Susanne Warren! Immer heftiger – fast körperlich, fühlte er ihn – bohrte sich in ihn der Gedanke ein: warum diese erbitterte, haßerfüllte Feindschaft des Mädchens gegen seine Frau? Nur gegen diese – nicht auch gegen ihn? Was war das übrigens, wovon sie sprach? Was war bereitet? Was sollte Dagmar sich ansehen?

Er zauderte einen Moment; dann glitt er an der massiven Gestalt Brigittes, die fast die ganze Breite der Treppe einnahm, vorbei, hinaus. Es trieb ihn in das Zimmer seines Kindes – er eilte an die Tür, wollte sie öffnen. – Seine Hand legte sich auf die Klinke. Drückte sie. Doch auch hier dieselbe Erscheinung –. Körperliches konnte er nicht fassen, nicht bewegen. Wohl lag seine Hand auf der Klinke, doch diese rührte sich nicht. Alls er mit verzweifeltem Druck zugriff, schloß sich seine Hand – unter ihr. Die kleine Messingstange war durch seine Faust geglitten. Einen Moment stand er wie vor den Kopf geschlagen. Dann erinnerte er sich – er lachte – lachte!

Und ging durch die verschlossene Tür in das Zimmer. Die Entmaterialisierung hatte also auch ihr Gutes. Man wurde unabhängig von Widerständen; überwand Hindernisse, wurde Herr des Raumes und der Zeit! Man mußte sich nur erst selbst an das Unfaßliche gewöhnen.

Das Kind lag in seinem Bettchen, schlief ruhig und friedlich. Leicht gerötet waren die runden Backen, und es atmete gleichmäßig. Tief beugte sich Thorgut über den Lockenkopf und küßte ihn. Er spürte den Kuß. Empfand ganz deutlich das warme Gefühl, das ihn durchströmte, als seine Lippen das Haar seines Kindes berührten – doch dieses selbst bewegte sich nicht.

Er erhob sich und blickte um sich. – Susanne Warren war nicht zu sehen. Er spähte in ihr Zimmer, – auch hier war sie nicht.

Wo denn? Irgendein ihm selbst unerklärliches Gefühl drängte ihn dazu, sie zu suchen. Er wollte Aufklärung haben über ihr seltsames Verhalten. – Schließlich fand er sie in seinem eigenen Zimmer.

Als er hier eingetreten war, wußte er auch, was sie mit ihren Worten gemeint hatte! Es war alles bereitet – für ihn – für die Aufnahme des toten Herrn dieses Zimmers! Die Vorhänge hatte man herabgelassen, am Fußende des Bettes auf einem Tischchen ein Kruzifix, sowie zwei mächtige Kandelaber mit Kerzen aufgestellt. Frisch überzogen war das Bett selbst – aufgeschlagen die Decke –

So etwas wie grimmiger Humor kam über Thorgut. Da steht ein Mann vor seinem eigenen Totenbett! Obwohl er doch selbst weiß, daß er lebt! So lange er sieht, hört, empfindet – kann er doch nicht tot sein! Hier kommt die Grenze, an der das Unfaßliche unfaßlich bleibt. Man kann doch nicht zugleich tot und lebendig sein! Ist hier wirklich die Barriere, die der menschliche Verstand nicht übersteigen kann? Gibt es wirklich Dinge, Geschehnisse und Zusammenhänge, durch die man gezwungen wird, zum frommen Kinderglauben zurückzukehren? Nimmt eine höhere Macht dich beim zweifelnden Kopf und stößt dich mit der Nase auf das eigene Erlebnis? Thorgut hatte bis dahin gelebt – wie alle anderen Menschen. Da er angenehm gelebt hatte – ein Leben voller Erfolg, voll materiellen und geistigen Glücks, hatte er den Herrgott in Frieden gelassen; hatte nie das Bedürfnis empfunden, sich bei ihm zu bedanken, andererseits auch nie die Notwendigkeit gehabt, sich vor seinem Thron zu beklagen. In seinen Werken, in seinen Romanen und in seinen Stücken hatte er nie sich und seine Zuhörer mit überirdischen Problemen gequält. Gerade deshalb war er so berühmt – noch mehr, war er so beliebt, weil er den Menschen packte, den Menschen, seine Erde und sein irdisches Schicksal. Kein anderer konnte dies so wie er. Alles, was er dachte, was er schrieb, den anderen mitteilte, war menschlich, war erdhaft. Seine Werke stemmten sich wie er selbst mit beiden Beinen tief in den festen Boden des Realen.

Nun auf einmal stand er da und starrte einem Problem ins Gesicht, an dessen Möglichkeit er überhaupt nie gedacht hatte. Der feste Boden wankte unter ihm. Er sank in die Knie und tastete vergeblich nach einem rettenden Halt. Irgend etwas Furchtbares, Grauenhaftes tat sich hinter wallenden Nebeln vor ihm auf. Es war leichter, durch verschlossene Türen zu gehen, als sich mit der grausigen Tatsache des eigenen Totenbettes abzufinden. –

Vor dem Lager sah er stumm, mit zusammengepreßten Lippen – Susanne Warren. Ein paar große Tränen rollten über ihre Wangen – fielen auf die Decke –

Langsam kam Thorgut näher. Ganz nahe. Bis er dicht neben ihr war. – Wie durch die verschlossene Tür eines Zimmers war er auch in den verschlossenen Schrein ihrer Seele eingedrungen. –

Scham befiel ihn. Es war ihm, als hätte er sie nackt überrascht, denn hüllenlos sah er auf einmal ihre Seele – die stolze Seele eines keuschen Mädchens. Alle die Schleier der Herbheit waren von ihr abgeglitten. Was ist dagegen Entblößung des Körpers? Diese ist nicht das letzte Geheimnis, das tiefste und wunderbarste – sie ist etwas nur Äußerliches, über das wahre Scham viel leichter hinwegkommt, als über das Bewußtsein, fremde Augen auf der Nacktheit der Seele brennen zu fühlen.

In seiner Verwirrung vergaß Thorgut seinen gegenwärtigen Zustand und schlich auf den Zehen aus dem Zimmer.

Als er in die Halle hinunterkam, fand er hier alles unverändert. So wie er Dagmar verlassen, saß sie noch vor dem Kamin. Der Schmerz schien sie versteinern zu wollen. Ihre beiden jungen Freundinnen waren noch neben ihr – hilflos und unfähig, den eigenen Schrecken zu meistern. Brigitte hockte auf der Treppe –

Thorgut blieb über ihr stehen und nahm das Bild in sich auf. Was konnte er tun? Er war machtlos. Konnte weder der geliebten Frau, noch dem Mädchen droben sagen, daß sie umsonst sich härmten und quälten. Was ihm sein Erlebnis auf der einen Seite gab, nahm es ihm auf der anderen. Es lähmte ihn gerade in diesem Gegensatz, denn wie es ihn zum Herrn über alle körperlichen Widerstände machte, so nahm es ihm selbst jede Möglichkeit, sich irgendwie körperlich zu äußern.

Er riß sich zusammen. Der Teufel hole diese blödsinnigen Gedanken! Thorgut war nicht gewillt, die Fortdauer dieses Wahnsinns kampflos hinzunehmen. Das war nicht seine Art. Aber das Problem konnte man nachdenken, wenn es auf natürliche Weise gelöst war. Er mußte – er mußte –!

Stimmen wurden auf einmal laut. In der Vordertür der Halle zeigte sich der alte Philipp und stammelte:

»Sie kommen!«

Mein eigener Leichenzug, dachte Thorgut. Himmelherrgott – die ganze geistige Energie, die in diesem Manne noch ungebrochen war, bäumte sich trotzig auf. Gab es denn keinen Weg? Ja – es gab einen. Er mußte den Mann suchen, der dort auf jener Lichtung auf ihn geschossen hatte!

Er mußte seinen eigenen Mörder suchen!

* * *

Dagmar hatte sich erhoben. Die beiden jungen Mädchen wollten sie rechts und links stützen, aber sie schob sie mit sanfter Bewegung zurück. Es war das Blut eines alten Geschlechts in ihr – aufrecht und allein wollte sie das Furchtbare erwarten.

In der funkelnden Morgensonne schob sich der traurige Zug aus dem Park über die Wiesen heran. Matt und fahl glimmten die Fackeln, die man auszulöschen vergessen hatte. Müde schleppten die Träger ihre Last dem Hause zu –. Als sie an den Fuß der Treppe kamen, stand Dagmar mit weit ausgebreiteten Armen in der Tür. Kein Blutstropfen im Gesicht, die Lippen so weiß wie die Wangen.

Aus dem Zuge lösten sich Liebenstein und Doktor Haugh, eilten zu der Frau hin, um irgendein Wort zu sprechen, das ihr den furchtbaren Augenblick erleichtern sollte. Sie hatte nur eine Frage:

»Ist er wirklich tot?«

Darauf konnten sie beide nur mit einem stummen Kopfnicken antworten.

In der Halle ließen die Förster und die Knechte ihre Bahre nieder. Dagmar überwand die Schwache, die sie jetzt niederzureißen drohte. Langsam trat sie heran und hob mit eigener Hand den Rock, den der alte Christen über das Gesicht des Erschossenen gebreitet hatte. Ihre Lippen bewegten sich – doch was sie flüsterten, blieb unvernehmlich. Von rückwärts her drängten sich Kopf an Kopf die Diener, die Stallburschen und die Mägde. Brigitte trat hinter Dagmar, die langsam und fest den Rock ganz wegzog, damit sie alle die Leiche ihres Herrn erblicken konnten. Susanne Warren war auf der Treppe stehengeblieben und starrte auf das leblose Gesicht des Mannes herab, für den sie das Totenbett bereitet hatte.

Und dieser selbst? Er stand neben seiner eigenen Leiche und sah nichts als den namenlosen Schmerz seines Weibes. Wie mußte sie ihn lieben! Er legte seine Hand auf ihre Schulter und ließ sie dort. So hatte er wenigstens die wehmütige Wonne, Dagmar zu spüren, zu halten, wenn sie auch nichts von ihm fühlte. Sie sah ja nur den Toten da vor sich!

»Wir wollen ihn hinauftragen!« flüsterte sie.

Als der Förster und die beiden Knechte die Bahre wieder aufhoben, bemerkte Thorgut, wie Susanne blitzschnell nach oben verschwand. Sie blieb auch unsichtbar, als der Zug im Totenzimmer anlangte und Dagmar mit Hilfe Christens und des Doktors sich anschickte, den Toten auf das Bett zu legen. Sie ließ es sich nicht nehmen, ihm selbst die schweren Stiefel abzuschnüren. Sein Jägergewand ließen sie ihm und bahrten ihn so auf, wie die mörderische Kugel ihn getroffen. Wenn er auch kein Jäger gewesen war, so hatte er doch den Wald und die Tiere geliebt. –

Dann traten sie alle an das Bett heran und formten sich zu einem schweigenden Kreise. Die Frommen und Gläubigen unter ihnen begannen leise zu beten – Dagmar lag vor dem Bett auf den Knien und hatte den Kopf auf die Hände gepreßt. Neben sie – auf das Fell, das als Vorleger diente – schob sich die mächtige Gestalt des Hundes. Als Totenwächter ließ er sich nieder – den wuchtigen Schädel auf den starken Pfoten. Seine Augen waren nicht geschlossen, doch keiner der Menschen wußte zu sagen, wohin ihr Blick ging. –

Wieder stand Thorgut dabei und sah alles mit an.

Stärker und stärker wurde in ihm der Zorn über seine Hilflosigkeit. Wenn er nur ein Wort sprechen konnte, zerriß er diese ganze tragische Groteske. Aber er konnte nicht sprechen. Er konnte durch verschlossene Türen schreiten, konnte die geheimsten Gedanken einer Seele erlauschen, aber er selbst konnte nicht sprechen, konnte keinen Bleistift nehmen, um zu schreiben –!

Den Mörder finden! Den Mörder finden!

* * *

Dagmar war mit dem Toten allein geblieben. Nur der Hund lag dort, wo er sich hingestreckt hatte, und Thorgut biß sich in seiner Ecke mit seiner Wut herum. Die anderen hatten sich zurückgezogen – Dagmar hatte es wohl kaum bemerkt. Sie rührte sich nicht. Sie war selbst wie tot. Hat sie mich denn wirklich so geliebt? fragte sich Thorgut.

Jetzt, da sie allein waren, schien der Hund die Anwesenheit Thorguts zu spüren. Er hob den Kopf und stieß ein dumpfes Knurren aus. Seine Augen suchten den Platz, an dem Thorgut stand. Thorgut überlegte, ob er sich nicht entfernen sollte. Das Benehmen des Hundes mußte ja Dagmar beunruhigen. Was hatte er denn auch noch hier verloren? Er mußte fort – auf die Suche! Er tat einen Schritt nach vorn. Das Knurren des Hundes ging in ängstliches Winseln über. Doch Dagmar hörte ihn auch jetzt nicht.

Thorgut glitt zur Tür. Da wurde diese leise geöffnet, und Susanne Warren trat ein, zog sie hinter sich wieder zu.

Und nun, wie seltsam – nun hob Dagmar den Kopf. Die Gegenwart der Feindin empfand sie. Sie richtete sich halb auf und blickte Susanne entgegen, die langsam an das Bett herankam. Sie trug auf den Armen Blumen, die sie auf der Decke ordnete. Dagmar ließ es ruhig geschehen, doch sie wandte keinen Blick von ihr. Thorgut blieb an der Tür stehen und wartete.

Eine Zeitlang blieb es still zwischen den beiden Frauen. Der Tote, der zwischen ihnen lag, hielt sie. Susanne war an die andere Seite des Bettes getreten – ruhig und selbstverständlich –, als wäre ihr Recht auf diesen Platz um nichts geringer als das Dagmars.

Diese sprach endlich:

»Ich danke Ihnen, Fräulein Warren, daß Sie die Blumen gebracht haben. Das war sehr schön von Ihnen.«

Susanne antwortete nicht gleich. Sie zupfte zwei, drei der Rosen, die ihr nicht nach Geschmack lagen, zurecht, strich zärtlich über die Decke –

»Ich danke Ihnen«, wiederholte Dagmar.

»Ich tat es für ihn«, antwortete die Frau auf der anderen Seite des Lagers. »Ja, blicken Sie mich nicht so erstaunt und empört an! Hier an seiner Leiche sage ich es Ihnen – ich habe ihn geliebt – tiefer und aufrichtiger geliebt als Sie!« Und leise, mit weher Zärtlichkeit in der Stimme, fügte sie hinzu: »Wäre ich sonst bei seinem Kinde geblieben, nachdem er – Sie geheiratet hat!«


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