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Retter Lord

Jetzt fuhr um so größere Angst in sie. Um Jesu Christi willen – warum war der Mann nicht da? Er konnte doch nicht weit gegangen sein? Wartete er vielleicht unten am Schloß auf Lohnstein? War's der, den er als den Mörder zu erkennen glaubte? Die Frau wußte sich auf alle diese Fragen keine Antwort. Sie fühlte nur Angst und Ahnung eines Unglücks. Um Gottes willen! Wo steckte er denn –?

»Poldi!«

Ihr Schrei gellte durch die Schlucht, brach sich an den Felswänden und kam wieder zu ihr zurück. Sie war ja nur ein armes Bauernweib, das sich in seiner Not nicht zu helfen wußte. Mit zitternden Knien sank sie auf die Bank und fing an zu beten.

So saß sie noch, als bereits der helle Morgen über die Felsen heraufkam.

* * *

Und so traf sie Thorgut, der schon einmal hier gewesen und ihrem Manne gefolgt war. Einen langen, langen Weg hatte er hinter sich, und zum ersten Male fühlte er so etwas wie Müdigkeit.

Mit der Entmaterialisierung klappt die Sache nicht recht. Auch Geister scheinen essen und sich ausruhen zu müssen, dachte er. Ich bin nur neugierig, aus welchem Stoff die Sandwiches gemacht sein müßten, die ich in meinem jetzigen Zustande verdauen könnte?

Doch auch dieses bißchen Humor verging ihm, als er die Frau auf der Bank vor der Hütte sitzen sah. Er wußte, wo ihr Mann war. Doch wie sollte er es ihr mitteilen? Er hatte ihr so gern geholfen, denn sie tat ihm leid; aber er konnte ja nicht reden. Konnte sie nicht bei der Hand nehmen und dort hinführen, wo sie ihren Mann finden mußte. Schweigend stand er vor der zusammengesunkenen Frauengestalt, zermartete sich den Kopf. – Wieder stieg der Grimm in ihm empor über seine Ohnmacht. Mit seiner Macht über Erdenschwere und Erdenblindheit hatte er geprahlt – nun sah er wieder, wie hilflos er eigentlich war und blieb. Die Körperlichkeit hatte also doch ihre Vorzüge, denn ohne sie war der Mensch erst recht ein jämmerliches Geschöpf.

Merkwürdig – ihm war, als füllte sich sein Geist – oder war es doch sein Körper? – ganz langsam, aber in deutlich zu erkennender Stetigkeit mit körperlich wahrnehmbarer Materie. So leicht, so ungehindert war er bis jetzt ausgeschritten. Ohne sich irgendwie anzustrengen, hatte er mit den galoppierenden Pferden gleichen Schritt gehalten. Wie das möglich gewesen, wußte er selbst nicht. War er gegangen, war er gelaufen, war er geflogen –? Er wußte nur, daß er immer neben ihnen war, daß er alles hörte, was die jungen Leute miteinander sprachen – dann hatte er den ganzen Nachmittag an einem Fleck gestanden, hatte sich nicht gerührt. War endlich herübergekommen zum Stadl, hatte den Neuhofer hier getroffen und – und jetzt –

Jetzt fühlte er sich müde. Müde? War es wirklich Müdigkeit? So eigentümlich das Empfinden, wie wenn ihm jemand kleine Gewichte an die Glieder hängte – eins immer nach dem anderen. Ob er nicht einmal zu schlafen versuchte? Dem Weibe da konnte er ja sowieso nicht helfen –!

Ausruhen – ausruhen! Er hatte keine Ahnung, wieviel Teile seiner gegenwärtigen Existenz Geist und wieviel Körper waren. Auf jeden Fall war das, was noch Mensch an ihm war, müde und empfand das Bedürfnis nach Ruhe. Ja ausruhen. Da in der Hütte? Nein – es war schon besser, er ging hinunter ins Schloß –.

Er dachte, wußte selbst nicht recht wie, plötzlich an sein Bett. In ihm war er zu Hause – in ihm konnte er sich ausstrecken. So etwas wie Sehnsucht packte ihn nach diesem Bett – nach seinem Zimmer – irgendeine unerklärliche Gewalt begann ihn zu locken, zu ziehen –. Aber in dem Bett lag ja der Körper, den sie für tot ansahen! Zum Teufel mit dem Höllenspuk – er war müde –

Langsam entfernte er sich von der Frau und schlug den Weg zu Tale ein. Wieder staunte er über sich selbst. Wie wenn er auf einmal doch Schwierigkeiten des Weges spürte. Er kam auch nicht so schnell vorwärts. Nicht mehr von selbst hoben sich die Füße. Schwer fühlten sie sich an – immer schwerer – und schwerer. Der Rücken begann ihn zu schmerzen. Doch stärker und stärker wurde die geheimnisvolle Gewalt, die ihn nach unten zog, zum Schlosse hin. Immer deutlicher sah er das Zimmer vor sich, das Bett, auf dem der leblose Körper lag –.

Endlich war er unten und stand am Rande des Parkes. Es mußte schon spät am Morgen sein, denn vor dem Schlosse sah er geschäftiges Hin und Her. Langsam schleppte er sich hin. Trat in die Halle – und fuhr zurück.

Ganz schwarz hatte man sie über Nacht ausgeschlagen und mit düsterem Tannenreis geschmückt. Christen und seine beiden Unterförster waren noch an der Arbeit, in der Mitte einen kleinen Katafalk aufzurichten. Die Knechte schleppten aus dem Gewächshause ein paar Palmen herbei –.

Aha – da komme ich wohl gerade zurecht zu meiner eigenen Leichenfeier, nickte Thorgut grimmig vor sich hin. Ah, was – schlafen – schlafen! So matt, so zerschlagen fühlte er sich, daß er nur mit Mühe und Not die Treppe hinaufkam. Er wollte zuerst noch in Dagmars Zimmer, wollte auch den Kopf seines Kindes küssen, doch er konnte nicht mehr. Er wankte in sein Zimmer –. Wieder eine unangenehme Überraschung. Da stand der Sarg – bereit, seinen Körper aufzunehmen. Ein unangenehmes Gefühl packte ihn. Würgte ihn. Körperlich fühlte er auf einmal so etwas wie Schrecken und Angst. – Sein Blick glitt hinüber zum Bett. Ja, da lag ja noch der Körper – der Hund neben dem Bett –. Er rührte sich nicht. War er vielleicht tot?

Doch nein – Lord hob den Kopf – sog tief die Luft ein und begann zu winseln.

»Bist ein Esel, Lord«, murmelte Thorgut, wandte sich zum Bett, zauderte einen Moment – sein Blick glitt zurück zu dem Sarge. Woher hatten sie den auf einmal so schnell beschafft? Aber was – da – schlafen – er fühlte, wie er nach vom sank – in tiefe, wohltuende Bewußtlosigkeit hinüberglitt.

* * *

Gegen neun Uhr begannen die ersten Trauergäste zu erscheinen. Liebenstein als der erste unter ihnen.

Mit erstem Gesicht sah er die schwarze Halle, den Raum, der vorher so oft der Ort der Fröhlichkeit gewesen – von dem aus nun der Herr des Hauses seine letzte Fahrt antreten sollte. –

»Wo ist die gnädige Frau?« fragte er den Diener Philipp.

Der wies nach oben.

»Die gnädige Frau ist bei dem Kinde.«

Liebenstein nickte und schwieg.

Dagmar und Susanne vollbrachten zusammen die schwere Aufgabe. Sie sagten es an diesem Morgen dem Kinde, daß der Vater tot war, daß er in einer Stunde ins Grab getragen werden würde. An der Brust Dagmars weinte die Kleine ihren Schmerz aus, doch mit einem Arm hielt sie Susanne fest umschlungen. So standen die beiden Frauen, die sich gestern noch als Todfeindinnen bekämpft hatten, Schulter an Schulter. Gemeinsamer Schmerz drängte das Trennende zwischen ihnen fort. Brachte sie einander nahe –.

Ein leises Klopfen an der Tür schreckte sie auf. Brigitte war's.

»Der Herr Pfarrer ist da!«

Sie setzten das Kind zur Erde und nahmen es in die Mitte. So schritten sie hinunter in die Halle. Dort hatte sich inzwischen eine große Menge von Trauergästen versammelt. Von all den Schlössern der Umgegend waren sie gekommen. Aus Steyr ein paar Fabrikanten und von Wien herauf eine ziemlich große Gemeinde, der Verleger, verschiedene Berichterstatter, ein, zwei Theaterdirektoren. Das Herz krampfte sich Dagmar zusammen, als sie die vielen fremden Gesichter plötzlich in der Halle sah – zögernd blieb sie auf der Treppe stehen.

Liebenstein trat vor.

»Kommen Sie, Dagmar!« sagte er. »Sie sehen, die Welt, der Ihr Mann gehörte, läßt es sich nicht nehmen, ihm die letzte Ehre zu erweisen.«

Und nun mußte Dagmar eine schwere halbe Stunde über sich ergehen lassen. Zuerst kamen die Freunde. Sie kannte sie alle. Dankte jedem ihrer Worte mit freundlichem Blick. Dann aber die anderen. Gesichter sah sie vor sich, die sie noch nie gesehen hatte. Namen hörte sie nennen, die ihr unbekannt. Hände mußte sie drücken, die ihr fremd waren –

Liebenstein stand neben ihr wie ein Schützer und Freund. Mehr als einmal suchte ihr ängstlicher Blick den seinigen. –

Der letzte Gast hatte Dagmar die Hand geküßt und ihr seine Teilnahme ausgedrückt. In Gruppen verteilten sich die Trauergäste in der Halle und warteten, bis der Priester mit seinen zwei Chorknaben erschien. Der Duft des Weihrauchs legte sich über den Raum. –.

Nun lösten sich Christen, die beiden Unterförster und Brocks, der Verwalter, aus der Versammlung los und stiegen die Treppen hinauf. Sie sollen den toten Herrn in den Sarg legen und herabbringen.

Dagmar biß die Zähne zusammen und schaute den vier Männern nach –.

Einige Minuten vergingen.

Niemand rührte sich. Da und dort ein leises Räuspern, ein unterdrücktes Husten – fünf Minuten – zehn Minuten. – Der Priester, der in stillem Gebet an der Treppe harrend gestanden, drehte sich langsam um und blickte erstaunt zu Dagmar hin. In der Halle begann es unruhig zu werden. Warum kamen die Männer nicht mit dem Sarge?

»Ich werde einmal sehen, was da vorgeht«, flüsterte Liebenstein Dagmar zu, und wandte sich zur Treppe.

Die Erregung, die sich allmählich der Versammlung bemächtigt hatte, rauschte auf. Flüstern wurde laut. –

Liebenstein war schon halb auf der Treppe – da – von oben ein eiliger Schritt – Christen kam atemlos, mit allen Zeichen des Schreckens, herab über den Gang zu den Stufen gelaufen.

»Wir können nicht an das Bett heran«, rief er. »Der Hund läßt es nicht zu –!«

Alles drängte sich zur Treppe. Fragen schwirrten durcheinander. Dagmar und Susanne waren in der gleichen Minute neben dem alten Förster. Das Kind hatten sie Brigitte in die Arme gedrückt.

»Der Hund?«

»Ja –« keuchte Christen – »er ist dem Pacher an die Kehle gesprungen, wie der ans Bett wollte. Was sollen wir machen? Ich habe all mein Lebtag das Tier noch nicht so wild gesehen.«

»Nun, mit dem wird man schon fertig werden!« hörten die beiden Frauen Liebenstein sagen. Doch sie achteten nicht auf ihn. Seite an Seite eilten sie die Treppe hinauf, liefen zu dem Totenzimmer –

Da standen die drei Männer vor dem Sarge, drei große, starke Männer, und wagten sich nicht zu rühren. Vor dem Bette, zum Sprunge geduckt, kauerte der mächtige Hund. Begreiflich, daß sich keiner an ihn herantraute. Aber man mußte doch seinen Herrn begraben –.

Furchtlos ging Dagmar zu Lord hin.

»Lord!« lockte sie. »Lord – komm her, mein gutes Tier!«

Er sprang sie nicht an, er wich vor ihr zurück. Ein böses Knurren ganz tief aus der Kehle herauf warnte sie –

Sie lockte und rief ihn abermals. Nur noch wütenderes Knurren war die Antwort. Das Tier richtete sich sogar auf dem Bette auf und stellte sich mit den beiden Pfoten auf den Rand. Klar war es, daß es keinen an seinen Herrn heranlassen wollte. Selbst die Frau nicht, die er kannte, die ihn oft liebkoste –

»Was tun?« Fassungslos wandte sich Dagmar zu den Männern zurück. Sie wußten nichts, als in stummem Entsetzen die Achseln zu zucken.

An der Tür entstand eine Bewegung. Die Gäste waren nachgedrängt und schauten nun mit erschreckten Augen auf die seltsame, unheimliche Szene. Doktor Haugh kam herein und trat zu Dagmar hin.

»Um Gottes willen! Nicht näher, Herr Doktor!« bat sie ihn. »Sie sehen doch den Hund –«

Langsam, ganz vorsichtig, kaum merklich, bewegte sich der Arzt an das Bett heran. Der Hund knurrte und knurrte. Doch er mochte annehmen, daß dieser kleine, schwächliche Greis seinen Herrn nicht fortschleppen konnte. Also ließ er ihn gewähren.

»Lord – bist ein guter Kerl –« schmeichelte der Doktor. »Sei schön brav! – Bravo, Lord –!«

So stand er am Fußende des Bettes und sprach mit dem Hunde, und vom Hunde glitt sein Blick zum Herrn. Der Blick, zuerst ungläubig, dann namenlos erstaunt, dann fester, energischer, wich nicht mehr von dem stillen, unbeweglichen Antlitz.

»Am Gottes willen – schrie Dagmar auf, als er auf die andere Seite des Bettes glitt und, ohne des drohenden Gebisses zu achten, sich über Thorgut beugte.

Der Hund blieb ruhig. Ließ sich vom Bett herabfallen und hielt nur die großen Augen auf Haugh geheftet. Der beugte sich tiefer. Hob vorsichtig die Augenlider Thorguts. Preßte das Ohr auf dessen Brust. Richtete sich auf und sagte:

»Der Hund weiß, warum er niemand an seinen Herrn heranläßt! Thorgut ist nicht tot, Thorgut lebt und wird wohl bald erwachen!«

* * *

Thorgut war in Schlaf gefallen. Aber es dauerte nicht lange, so erwachte er wieder. Das Bewußtsein kam ihm zurück – er war nicht einmal erstaunt, sich auf seinem Bette liegend zu finden. Er erinnerte sich an alles. Von der ersten Minute an bis zur letzten. Jedoch er wurde sofort des Unterschiedes gewahr. Spürte, daß sein Geist nicht mehr allein, sondern daß sein ganzes Wesen ins Leben zurückgekehrt sein mußte. Er war über die Grenze, die das Faßliche vom Unfaßlichen trennte, wieder zurückgekommen!

Er wollte sich erheben, wollte aufstehen. Er empfand körperliche Lebenskraft in sich – doch er konnte sich nicht rühren. Er fühlte, daß er seine Hände auf der Brust noch so gefaltet hielt, wie Dagmar sie zurechtgelegt hatte. So sehr er sich anstrengte, war es ihm nicht möglich, sie auseinanderzubringen. Nicht einmal die Augen konnte er öffnen, konnte nicht um sich blicken. Und doch erfaßte, sah er den ganzen Raum um sich; körperlich fast spürte er den Hund neben sich. Hörte dessen leises, gleichmäßiges Atmen. Was war das? Geistige oder körperliche Lähmung? Beides zusammen? War er jetzt erst wirklich tot? Oder?

Im Moment fürchtete er, über diesem neuen Schrecken den Verstand zu verlieren. In den körperlosen, entmaterialisierten Zustand hatte er sich hineingefunden, wenn er ihn auch nie so recht erklären konnte. Aber das Rätsel, das ihn jetzt niederdrückte, vermochte er nicht zu begreifen. In wilder Verzweiflung versuchte er, sich emporzureißen. Schreien wollte er. Fühlte, selbst mit schmerzlichem Druck, wie er sich anstrengte – Dagmar – Dagmar! – wollte er rufen – er hörte sich selbst nicht. Das Atmen seines Hundes – das hörte er! Er spürte nur den Krampf seiner Anstrengung. Und die Hand konnte er nicht rühren! Die Füße steif und starr! Und dabei war er am Leben, war wieder ganz er selbst –!


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