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Ferry Lohnstein war es nicht

Doch die Energie war stärker in ihm denn je.

»Sie wartet seit vorgestern abend auf ihren Mann«, flüsterte er. »Und – sie weiß nicht, daß er nicht wiederkommen wird. Er ist tot und liegt drunten im Schwarzen Grund

Keiner von denen, die um sein Bett herumstanden, war fähig, auch nur ein Wort zu sprechen. In namenlosem Staunen starrten sie den Mann an, der eben die Augen zum Leben aufgeschlagen hatte – Der Neuhofer tot –? Im Schwarzen Grund –?

»Aber Herr Thorgut«, fand endlich der alte Doktor als der erste seine Sprache wieder. »Woher wissen Sie denn das? Das ganze Dorf sucht den Neuhofer seit gestern und hat ihn nicht gefunden! Und Sie – Sie –!«

Thorgut lächelte und ließ seine Augen von einem zum andern gleiten.

»Ich weiß es. Ich wiederhole euch – schickt in den Schwarzen Grund hinauf! Dort liegt er so, wie ihn sein Mörder hinuntergestürzt hat

»Sein Mörder?«

Leichtes Rot zeigte sich auf den Wangen Thorguts. Seine Lippen bewegten sich. Doch die sein Lager umgaben, hörten zunächst keinen Laut. Wieder mußte die Energie seines Geistes die Schwäche seines Körpers Niederkämpfen. Näher winkte er sie an sich heran, damit sie vernahmen, was er mit äußerster Kraftanstrengung wiederholte:

»Ja – sein Mörder – derselbe, der auch mich niedergeschossen hat!«

Dann schloß er die Augen, und besorgt griff der Arzt nach seinem Puls. Mit verhaltenem Atem standen Dagmar und Susanne –

»Er ist wieder eingeschlafen«, sagte Haugh.

* * *

Vier Stunden später fand der Gendarm mit Christen und den beiden anderen Förstern in der Schlucht des Schwarzen Grundes die völlig zerschmetterte Leiche des Neuhofer.

* * *

Thorgut erwachte am Abend offensichtlich gestärkt und erfrischt. Er selbst verlangte zu essen, und entwickelte für einen Mann, der schon mit beiden Füßen im Grabe gestanden hatte, einen recht respektablen Appetit. Mit leuchtenden Augen saß Dagmar neben seinem Bett, schöner denn je in ihrer Glückseligkeit.

Im Kinderzimmer wachte derweilen Susanne Warren über den Schlaf des Kindes. Sie weinte nicht mehr, und doch war so etwas wie wahnsinniger Schmerz in ihr. Der Mann, den sie liebte, war gerettet. Doch hatte sie ihn nicht neuerdings verloren? Und jetzt für immer? Die Erinnerung an ihn hätte ihr niemand rauben können. Und nun? Die Frau, der sie diese Erinnerung hatte streitig machen wollen, war Siegerin geblieben. Was blieb ihr anderes übrig, als zu gehen? Sie wollte nur warten, bis Thorgut ganz wiederhergestellt war.

Drüben im Krankenzimmer sprachen sie von ihr.

»Das Kind schläft wohl schon?« fragte Thorgut.

»Ja, seit einer Stunde. Fräulein Warren ist bei ihm«, antwortete Dagmar. »Und weißt du, Robert,« fuhr sie, von einem plötzlichen Entschluß getrieben, fort – »ich möchte dir etwas gestehen. Ich habe mich ja mit Fräulein Warren bisher nicht gut verstanden. Ich hatte immer das dumpfe Gefühl, sie wäre mir feindlich gesinnt. Vielleicht habe ich sie auch oft nicht so behandelt, wie sie es verdient. Ich habe ja vieles vorher nicht gewußt, Robert, was ich jetzt weiß! So ein plötzlicher Todesschrecken reißt doch die Schleier von den Augen, nicht wahr? Nun – siehst du – ich habe Fräulein Warren in diesen beiden furchtbaren Tagen nicht nur kennen und schätzen, sondern auch lieben gelernt. Sie ist dir – mit Leib und Seele ergeben – nein – das ist nicht das richtige Wort – Robert, ich glaube, diese Frau liebt dich ebenso wie ich –«

»Ich weiß es«, erwiderte er leise.

Sie blickte ihn erschrocken an.

»Was heißt das?« stieß sie hervor. »Sie hat mir ja geschworen –?«

»– daß ich von ihren Gefühlen für mich nie etwas erfahren hatte. Das ist richtig, Dagmar.«

Langsam, mit immer größer werdenden Augen, erhob sich die junge Frau von seiner Seite. Erschreckt wich sie von ihm zurück, streckte wie abwehrend die Hände vor sich.

»Robert – woher weißt auch du das? Sie hat ja nur mit mir gesprochen – wir zwei waren ganz allein –! Um Gottes willen! Robert, was ist in dieser Zeit mit dir vorgegangen?«

Er lächelte wieder. Winkte sie zu sich zurück und ergriff sie an der Hand.

»Du brauchst nicht vor mir davonzulaufen, Kind«, sagte er. »Ich habe meine Seele nicht dem Teufel verschrieben. Allerdings – es hat sich etwas mit mir in diesen Tagen ereignet, da ich hier auf diesem Bett als Toter gelegen habe. Etwas, Dagmar, was ich bis zur Stunde selbst nicht begreifen kann. Wäre ich es nicht selbst, der es erlebte, ich würde es nicht glauben. Du siehst, ich habe gewußt, wo der Neuhofer zu finden ist. Ich habe alles gehört und gesehen, was geschehen ist. Nein – nein – bleibe ruhig bei mir! Du hast es nicht nötig, den Pfarrer mit seinem Weihkessel zu rufen! Es gibt Dinge, die uns nicht einmal der Beichtvater erklären kann, weil sie über unser Begriffsvermögen hinausgehen.«

Ihre Hände lagen in den seinigen – sie machte keinen Versuch, sie zu befreien. Sie wußte nicht, sollte sie sich fürchten vor ihm, oder sollte sie glauben, was er sagte. Sie war fromm. In höchster Ehrfurcht vor der Kirche und der Religion erzogen. Ein Wunder? War denn das Wiedererwachen Thorguts an sich nicht schon ein großes Wunder?

Es klopfte.

Doktor Haugh trat ein – sehr erfreut, den Patienten so gestärkt vorzufinden.

»Wenn es so weitergeht,« meinte er, »könnte ich sogar morgen schon erlauben, daß Sie mit der Gerichtskommission sprechen.«

Thorgut schüttelte den Kopf.

»Ich möchte lieber nicht, Herr Doktor –«

»Aber Sie kennen ja Ihren Mörder – das heißt – Mörder! Gott sei Dank! paßt dieses Wort nicht mehr. Doch Sie wissen, wem Sie die Kugel in der Brust zu danken haben. Warum also nicht sprechen?«

»Ja, mein lieber Doktor Haugh, ich kenne den Mann. Das eine kann ich Ihnen und den Herren vom Gericht sagen: Ferry Lohnstein ist es nicht! Dem können Sie ruhig seine Freiheit wiedergeben.«

»Doch der andere, der Schuldige?«

»Den möchte ich noch nicht nennen, Herr Doktor.«

»Warum? – Bei der vierdimensionalen Kenntnis, die Sie entwickeln, Herr Thorgut, werden Sie doch wohl in der Lage sein, dem Herrn das Verbrechen nachweisen zu können? Warum also warten? Sie tun der Welt ganz gewiß damit keinen Gefallen.«

»Aber vielleicht mir, mein lieber Doktor!« Und dabei blieb er.

Doktor Haugh führte ihm zwar am nächsten Morgen die Herren vom Gericht zu. Doch so höflich er sie auch empfing, so bereitwillig er die meisten ihrer Fragen beantwortete – den Namen des Mörders nannte er nicht.

»Sie werden sich ohnedies genug darüber wundern, meine Herren, daß ich wußte, wo der arme Teufel, der Neuhofer, lag. Ich mache gar keinen Versuch, diese Tatsache zu erklären. Schon deshalb nicht – weil ich selbst nicht recht weiß, wie ich mich mit ihr abzufinden habe. Vielleicht – wenn ich einige Zeit hinter mir habe, werde ich klar sehen. Heute möchte ich Sie nur bitten, nichts darüber verlauten zu lassen; kein Wort. Der Mörder könnte irgendwie davon hören und würde gewarnt sein. Das will ich nicht. Denn, meine Herren, die Bestrafung dieses Mannes hebe ich für mich auf.«

»Herr Thorgut,« sprach der alte Landesgerichtsrat, »einen Mann wie Sie braucht man doch nicht erst daran zu erinnern, daß für die Bestrafung von Verbrechen seit altersher eine staatliche Behörde existiert.«

»Das vergesse ich nicht, Herr Landesgerichtsrat.«


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