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Das Beweisstück

Susanne Warren fühlte immer mehr den Boden unter ihren Füßen schwinden, aber ihr Haß wollte nicht nachgeben. Sie nickte erbittert und ging hinaus, um nach wenigen Minuten mit Ferry Lohnstein zurückzukehren.

Größer denn vorher waren die Hast und Unruhe in dem jungen Manne. Alles in ihm fieberte, zitterte vor mühsam zurückgehaltener Erregung.

»Du hast mich rufen lassen, Dagmar«, sagte er, als er eintrat, mit gepreßter, heiserer Stimme.

»Ferry,« sprach sie, »es ist ein furchtbares Unglück über uns alle hereingebrochen. Nicht genug damit, daß es mir den Mann geraubt hat, den ich liebe, bringt es auch noch dich in Gefahr –! Zucke nicht die Achseln, Ferry, glaube ja nicht, daß die Männer vom Gericht dich so leichten Kaufes loslassen werden. Der junge Staatsanwalt hat genau gemerkt, daß du nicht die Wahrheit gesagt hast. Ein Mann wie du, Ferry, ist ein schlechter Lügner, und wir wollen daher offen und vor aller Welt die Wahrheit sagen, was auch kommen möge!«

Jetzt hatte sich Dagmar Thorgut wieder ganz in der Gewalt. Sie war nicht mehr die schmerzgebeugte Frau, sondern das Weib, das um seine Ehre kämpft –. Thorgut hatte aufjubeln mögen.

»Ich habe Fräulein Warren gebeten, an unserer Aussprache teilzunehmen,« fuhr sie fort, »denn Fräulein Warren hat gestern nacht verschiedenes gesehen, was sie vielleicht zu falschen Schlüssen verleitet.«

Sie wandte sich nun direkt zu dem jungen Mädchen hin, und ihr ins Auge sehend, sprach sie weiter:

»Herr Baron Lohnstein ist der Gespiele meiner Jugend. Wir haben uns immer gern gehabt, schon als Kinder – und ich wäre vielleicht – vielleicht seine Frau geworden, wenn – doch das gehört nicht hierher –«

»Warum nicht?« fuhr Lohnstein dazwischen. »Wenn schon Generalbeichte gehalten werden soll, dann mit allem heraus. Ich habe Halbheiten nie vertragen, Dagmar. Du hast mich nicht genommen, weil sie dir eingeredet haben, ich sei ein Spieler, Schürzenjäger, weiß Gott, was. Ja, ein Heiliger bin ich all mein Lebtag nicht gewesen, das gebe ich zu, kann es auch gar nicht leugnen. Aber – Dagmar –«

Die Leidenschaft wollte ihn fortreißen. Sie hob warnend die Hand empor. Durch diese einfache Bewegung hielt sie ihn. Er biß die Zähne zusammen, ballte die Hände, aber er schwieg.

»Ich habe dann vor zwei Jahren Herrn Thorgut kennengelernt, Fräulein Warren«, setzte Dagmar fort. »Und ich habe ihn nicht genommen, weil er reich und berühmt war, sondern weil ich ihn ehrlich liebte und bewunderte. Ja, Ferry – das habe ich dir gestern nacht gesagt, und das wiederhole ich dir heute. Ich weiß, man hat in unseren Kreisen« – die Bitterkeit, die aus den Worten herausklang, zeugte von manchen geheimen Kämpfen und Demütigungen, die Dagmar ihrer Ehe wegen zu bestehen gehabt hatte – »ich weiß, man hat über mich die Nase gerümpft, hat sich lustig gemacht über meinen Mann, über den Federfuchser, den Bürgerlichen. Ich bin stolz darauf, daß er mich zur Frau genommen hat. Und ich bin heute – ... Doch das geht wirklich niemand auf der Welt etwas an.

Du hast gestern eine Szene mit ihm provoziert, Ferry. Widersprich mir nicht, du hast es eben noch immer nicht gelernt, dich zu beherrschen. Da ich einen Zusammenstoß zwischen dir und Thorgut fürchtete und gar kein anderes Mittel wußte, dich zur Vernunft zu bringen, habe ich dich für die Nacht in den Obstgarten bestellt. Das war vielleicht töricht und unvorsichtig, aber, Ferry, du hast mich beinahe zur Verzweiflung getrieben, und nun bestätige Fräulein Warren gegenüber, was ich dir in dieser Unterredung gestern nacht gesagt habe: nämlich, daß ich von dir verlange, entweder meinen Mann so zu behandeln, wie ich es wünsche, oder mein Haus für immer zu meiden! Ist das richtig, Ferry?«

Er konnte kein Wort hervorbringen, so wühlten Zorn und Demütigung in ihm. Doch er nickte. Stumm sah Dagmar zu Susanne Warren hinüber, die zu erstarren schien. Dagmar war noch nicht zu Ende.

»Ich weiß nicht genau, welche Zeit es war, als wir miteinander sprachen, Ferry, aber ich glaube nicht, daß du noch auf den Hirschensprung hättest zurechtkommen können –«

Da fuhr er wild in die Höhe. Funkelte sie au und lachte höhnisch auf.

»Das fehlte noch, daß du mich zu einem heimtückischen Mörder machen willst –! Ich will dir etwas sagen, und wenn du Wert darauf legst, möge es auch Fräulein Warren hören. Als du mich gestern fortgeschickt hast, bin ich in der Nacht herumgeritten wie ein Verrückter. Der Teufel allein weiß, was mit mir da vorgegangen ist. Aber ich bin nie beim Hirschensprung gewesen –. Der Gedanke war in mir, Thorgut zu töten, ja –« schrie er, von seinem Zorn und Haß überwältigt – »er oder ich! Doch ich glaube, Dagmar, du kennst mich gut genug, um zu wissen, daß ich mich nicht auf die Lauer lege und auf einen Mann schieße, der sich nicht wehren kann. Und –« er stockte einen Augenblick, kämpfte mühsam seine Erregung nieder und setzte dann mit seltsam weicher und resignierter Stimme hinzu: »Ich liebe dich zu sehr, Dagmar, um dich durch eine solche Tat –«

Er sprach nicht zu Ende, trat ans Fenster und kehrte den beiden Frauen den Rücken zu. Als er sich wieder umwandte, vermochte er sich zu beherrschen.

»Was wünschest du also, daß ich tue, Dagmar?«

»Wenn die Kommission kommt, sollst du ihr alles sagen, was gestern und jetzt zwischen uns vorgegangen ist.«

»Um Gottes willen, Dagmar, bedenke doch!« Sie schüttelte den Kopf.

»Ich habe alles bedacht, Ferry. Wenn du nicht sprichst, so werde ich sprechen.«

Wieder glitt ihr Blick zu Susanne Warren hinüber, und dieses Mal wichen die schwarzen Augen vor den blauen zurück.

»Wie du willst«, sprach Ferry Lohnstein, verbeugte sich und verließ das Zimmer.

* * *

Eine Stunde später traf die Kommission wieder auf dem Schlosse ein. Sie brachte ein schweres, englisches Gewehr mit, das sie oben auf dem Hirschensprung in einem der Tümpel gefunden hatte. Thorgut sah es und erkannte es als dasjenige, das in seinem Waffenschrank fehlte.

* * *

Man versammelte sich wieder in der Bibliothek. Philipp, der Diener, wurde herbeigerufen und bestätigte die Aussage der drei Förster, daß das aufgefundene Gewehr seinem Herrn gehörte. Daß es im Schrank gefehlt hatte, war ihm gar nicht weiter aufgefallen.

»Ich glaube,« sagte der alte Landesgerichtsrat, »wir müssen das ganze Verhör von vorn beginnen. Denn das Gewehr, das wir oben gefunden haben, ist augenscheinlich die Waffe, mit der die Tat verübt wurde.«

Die Kugel, die Doktor Haugh und der Gerichtsarzt am Morgen bei Beginn der Untersuchung aus der Wunde gezogen hatten, paßte in das Kaliber. Mit scheuen Blicken betrachteten die Anwesenden dieses furchtbare Beweisinstrument. Nun bedrohte auch sie die Frage, die schon Thorgut erschreckt hatte: Wer hat das Gewehr aus dem Schrank genommen? Wer hat dort oben auf dem Hirschensprung mordentschlossen gelauert?

Um den Tisch in der Bibliothek waren zehn Männer versammelt – die fünf Gerichtsbeamten, die drei Förster, Doktor Haugh und der alte Diener. In ihnen allen war der gleiche furchtbare Gedanke. Keiner wagte ihn auszusprechen. Der Mörder hatte das Gewehr aus dem Schrank im Hause des Ermordeten genommen. Nach der Tat hatte er es in den Sumpf geworfen! Warum? War er nicht mehr in das Haus zurückgekehrt? Oder doch –?

Endlich faßte sich der Landesgerichtsrat ein Herz.

»Wir wollen wieder mit Herrn Baron Pyrker beginnen!«

Niemand war erschrockener als dieser junge Mann, als die Frage an ihn gerichtet wurde, ob er seinen vorher gemachten Aussagen nichts hinzuzufügen hätte. Thorgut, der am Fenster lehnte, mußte lächeln.

Nein, Pyrker wußte beim besten Willen nichts.

»Ich habe mich noch mit dem Grafen Liebenstein unterhalten, als wir uns auf unsere Zimmer begeben hatten. Wir sind nämlich nebeneinander einquartiert –. Wir tauschten noch unsere Meinungen aus über den Vorfall am Abend, und Liebenstein, obwohl er sehr schläfrig war, gab mir recht. Schließlich ist Liebenstein dann eingeschlafen, und ich bin in mein Zimmer hinübergegangen. Von da an habe ich nichts gehört bis zu dem Lärm, als der Förster ins Schloß kam. Ich kann wirklich nicht mehr sagen, meine Herren. Wirklich nicht.«

Der Landesgerichtsrat griff unter den Tisch und hielt ihm das Gewehr entgegen, das er dort verborgen gehalten hatte.

»Kennen Sie diese Waffe?«

Pyrker schüttelte den Kopf.

»Was ist damit?« fragte er.

»Kennen Sie die Waffe oder nicht, Herr Baron«, wiederholte der alte Herr seine Frage mit einer für seine sonstige Liebenswürdigkeit überraschenden Schärfe.

Pyrker versuchte angesichts dieser juristischen Härte seine Würde zu wahren. Doch die Angst saß ihm viel zu sehr im Nacken, als daß ihm das gelingen konnte. Er brachte nur ein mühseliges Stottern zuwege. Nein – er kannte die Waffe nicht, hatte sie nie gesehen und konnte sich nicht erklären, was man von ihm noch wollte.

Landesgerichtsrat und Staatsanwalt tauschten einen bezeichnenden Blick. Pyrker war entlassen und konnte sich in einem Sessel von dem gehabten Schrecken ausruhen. Das Gewehr verschwand wieder unter dem Tisch.

Liebenstein kam an die Reihe. Höflich, hochmütig, aber ruhig wie immer trat er vor die Kommission. Auch er wußte seinen Aussagen nichts hinzuzufügen. Ja – das war richtig, daß Pyrker ihn noch in seinem Zimmer aufsuchte und daß sie miteinander über die Tollköpfigkeit ihres Freundes Lohnstein sprachen. Er selbst war aber so müde gewesen, daß er eingeschlafen sei, wahrscheinlich noch bevor Pyrker ihn verlassen hatte –

»Ich war so müde – ich habe um sechs Uhr morgens bereits im Sattel gesessen, meine Herren, ich glaube, ich habe wie ein Toter geschlafen. Pyrker hat mich dann aufgeweckt, als die Unglücksbotschaft kam.«

Pyrker nickte von seinem Ruheplatze aus.

»Kennen Sie dieses Gewehr, Herr Graf?«

Liebenstein beugte sich vor, klemmte sein Monokel ein und betrachtete die Waffe eingehend, Sie war mit Schmutz und Morast bedeckt. Auf ihrem schwarzpolierten Laufe zeigten sich dicke Rostflecke.

»Das ist ein englisches Gewehr, wie es hier sehr viel gebraucht wird. Dürfte ich fragen, meine Herren, was es damit für eine Bewandtnis hat?«

Der Landgerichtsrat befragte durch einen raschen Seitenblick den Staatsanwalt, und als dieser zustimmte, gab er Bescheid über das Gewehr.

»Unmöglich!« rief Liebenstein. »Das bringt ja uns alle, die wir hier im Schlosse waren, in Verdacht. Meine Herren, sind Sie dessen sicher, daß dieses Gewehr aus dem Waffenschrank Herrn Thorguts stammt?«

»Herr Oberförster Christen und der Diener Philipp haben es beide einwandfrei bestätigt, Herr Graf.«

Liebenstein drehte sich zu Pyrker zurück, blickte zu ihm hin, der mit jämmerlichem Ausdruck im Gesicht die Achseln hob.

»Das verstehe ich nicht!« murmelte Liebenstein. »Das ist ja geradezu unheimlich!«

»Wir bitten Sie also, Herr Graf, sich ganz bestimmt darüber klarzuwerden, daß Sie während der Nacht kein Geräusch gehört haben?« Der Staatsanwalt war es, der dieses Mal sprach. Weit vorgebeugt über den Tisch, mit Brillengläsern, die schärfer und gieriger funkelten denn je.

»Wirklich, meine Herren, ich habe so fest geschlafen –«

»Ich auch«, rief Pyrker, der unwillkürlich näherkam.

Der Staatsanwalt lehnte sich zurück und nickte dem Landesgerichtsrat zu. Der zauderte einen Moment, dann ließ er Ferry Lohnstein herbeirufen.

»Aber, meine Herren«, konnte sich Liebenstein nicht enthalten auszurufen. »Baron Lohnstein kann doch schon gar nicht in Frage kommen, er war ja –«

»Verzeihen Sie, Herr Graf,« unterbrach ihn der Richter, »wollen Sie nicht Herrn Baron Lohnstein selbst sagen lassen, was er zu sagen hat?«

Liebenstein verbeugte sich und trat zurück.

An seiner Stelle stand nun Ferry Lohnstein am Schreibtische. Und er sagte, was er zu sagen hatte – er sagte, was Dagmar ihm befohlen hatte, zu sagen.

»Ich habe meine erste Aussage zu ergänzen«, hob er an. »Wenn ich vorhin geschwiegen habe, tat ich das mit Rücksicht auf Frau Thorgut, die ich durch mein Benehmen aufs höchste kompromittiert habe. Sie selbst wünscht nun, daß ich dem Gerichte nichts verheimliche, und ich will daher ohne Umschweife erklären, daß ich gestern abend noch einmal ins Schloß zurückgekehrt bin!«

Selbst so abgehärtete Juristen wie der Landesgerichtsrat und sein Untergebener konnten die Überraschung nicht verbergen, mit der diese Worte sie erfüllte. War es zu verwundern, daß alle anderen sich erschrocken anstarrten! Daß Pyrker und noch mehr Liebenstein außer sich gerieten, als sie dieses Geständnis ihres Freundes hörten!

Nur der Mann, der allen unsichtbar war und alles sah, blieb unbewegt.

»Ich hatte mit Frau Thorgut«, fuhr Ferry Lohnstein mit gleichmäßiger, fest entschlossener Stimme fort, »nachdem ihr Mann das Haus verlassen hatte, eine Verabredung im Obstgarten. Ich habe dort von halb elf an auf sie gewartet. Ich war nach Lohnsburg hinübergeritten und war nach kurzer Zeit wieder nach Sternkron zurückgekehrt. Kurz nach elf kam Frau Thorgut. Unsere Unterredung dauerte keine fünf Minuten –«

»Herr Baron,« sagte der Landesgerichtsrat, »da Sie sich entschlossen haben, zu sprechen, müssen wir Sie auch bitten, die volle Wahrheit zu sagen. Was war der Inhalt Ihrer Unterredung mit Frau Thorgut?«


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