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Eine wichtige Enthüllung

Drüben lag auf dem Totenbett ein Körper, der sein eigener war. Zwei Aerzte hatten erklärt, er sei tot. Sie hatten die Kugel aus der Wunde gezogen und festgestellt, daß jedes Leben entschwunden sei. Und doch ging er umher und dachte und fühlte als Lebender. Er war da und war es doch wieder nicht –

Und – der Körper – war er denn nicht bekleidet noch mit dem Gewande, das er in der Nacht getragen hatte? Seine Uhr hatte er bei sich gehabt, seine Zigarettentasche, ein Notizbuch – er erinnerte sich. Was war mit allen diesen Dingen? Hatte er sie in seine Entmaterialisierung mit herübergenommen? Sie waren doch schon vorher leblos?

Er tastete sich ab – und da faßte ihn das Entsetzen: war er schon so weit jenseits der Grenze, daß er sich selbst nicht mehr zu erkennen, nicht mehr zu fühlen vermochte? War er schon so weit von sich entfernt, daß er selbst sich nicht mehr sah? Er sprang vor den nächsten Spiegel. Starrte hinein – und – sah sich –. Glaubte sich wenigstens zu sehen in der Gestalt, die ihm aus dem Glase entgegenblickte. Es war seine Gestalt. Zwar verschwommen die Linien, die Farben verwischt ineinanderfließend – aber er war doch da. Sonst hatte er sich doch nicht wahrnehmen können! Also lebte er! Also mußte es ein Zurück geben –! Mußte ihn sein Kind einmal wieder sehen und küssen können!

Er trat zu Ella hin und umschlang sie. Zärtliche Küsse drückte er auf ihr Gesichtchen – und das Kind wurde ruhig – hörte zu weinen auf.

»Ich will warten, bis der Papa aufwacht und mich zu sich ruft!« sagte es.

* * *

Thorgut ging in das Totenzimmer hinüber. Sein Mut war gehoben. Er wagte es, sich selbst einen Besuch abzustatten. Regungslos lag der Hund neben dem Bett, als er eintrat. Und wieder begann er zu winseln, als Thorgut näherkam. War das nicht auch eine Bestätigung? Fühlte das »unvernünftige« Tier nicht die Nähe von etwas Unfaßlichem? Wenn ihm diese Nähe des Unfaßlichen auch Grauen und Furcht einflößte, so war es doch da.

Thorgut lächelte –. Da lag ein stiller, regungsloser Mann auf dem Bett. Unheimliche Reflexe ließen die Kerzen über das wächserne Gesicht flackern –. Das war er selbst. Wie stand er in seinem jetzigen Zustande zu diesem Körper? Gehörte er zu ihm? War er von ihm losgelöst für immer? Blieb er losgelöst, auch wenn man diesen Körper nahm und dem Staube zurückgab, von dem die Bibel sprach? Fortleben in der Seele nach dem Tode? Wo waren dann alle die Seelen der vor ihm Verstorbenen? Ein Gemeinplatz war diese Frage, ein schlechter Witz – aber berechtigt war sie. Er sah doch keine Seelen! Sah nur sich selbst! Also –?

War er denn wirklich tot?

* * *

Liebenstein, Pyrker und Lohnstein waren in der Bibliothek sitzen geblieben. Der Diener hatte einen kleinen Imbiß vor sie hingestellt. Sie rauchten schweigend.

Unruhig, von irgendeiner inneren Hast getrieben, wanderte Ferry Lohnstein unaufhörlich auf und ab. Ein-, zweimal ließ er sich in einen Sessel fallen, sprang gleich wieder auf – Forschend sah ihn Liebenstein an. Ließ ihn nicht aus den Augen.

In ihrem Zimmer wartete Dagmar auf die Rückkehr der Kommission. Josefa und Aglaia waren bei ihr; auch hier wurde nichts gesprochen. Der Tod war im Hause und hielt sie alle, die Frauen wie die Männer, in seinem Bann. Dagmar stand am Fenster, blickte auf die blühenden Beete und die hohen Bäume des Parkes hinaus. Sie hatte noch immer keine Tränen gefunden –

Die Halle war leer. Thorgut war allein, als er vom Kinderzimmer herunterkam. Viel konnte er jetzt nicht tun. Einen Moment lang dachte er daran, auf den Hirschensprung hinaufzugehen. Aber das, was die Kommission oben finden würde, das wußte er selbst seit langem –

Er versuchte nun, da er ganz allein mit sich war, noch einmal die Kette der Ereignisse vor sich aufzurollen. So, wie er sie gesehen hatte, als sein Körper und sein Geist noch eins waren. So, wie er sie also mit menschlichem Erkennungsvermögen erlebt hatte und so, wie er sie jetzt überblicken konnte. Er ließ den ganzen gestrigen Nachmittag an sich vorbeiziehen. Rief sich die Szene im Salon ins Gedächtnis, seine Beratung mit den Förstern, das Essen. Sah sich dann in der Bibliothek sitzen. Warten. Gedachte des Momentes, da der Hund sich aufrichtete und unruhig wurde. Susanne auf der Treppe. – Eines fügte sich zum anderen. – Die offene Tür! Wer hatte sie geöffnet? Denn daß jemand durch die Halle gegangen war, das bestätigte ihm nicht nur Susanne, sondern vor allem der Hund. Von oben war jemand heruntergekommen? War durch diese Tür hinausgegangen? Wer? Ferry Lohnstein? Lächerlich – er war ja fort! Oder war er zurückgekommen? War es am Ende Dagmar gewesen, die herunterschlich, als er sie verlassen hatte? Furchtbar packte ihn dieser Gedanke. Lohnstein hatte ja gelogen, als er sagte, er hätte die ganze Nacht zu Hause verbracht? Wo war er dann gewesen? Er konnte bequem in einer Stunde nach Lohnsburg hin und von dort zurück sein! Hatte er sich mit Dagmar verabredet? War sie es, die herunterkam? Hatte sie dem Geliebten den Weg bezeichnet, den der Mann zu nehmen beabsichtigte? – Alles um Thorgut herum begann zu wirbeln. Nein nein – er durfte sich die Klarheit des Geistes nicht durch Irrlichtereien hysterischer Eifersucht verwirren lassen. Das war ja gerade sein Vorteil über die anderen, daß er klarer, durchdringender, tiefer sah. Konnte er nicht in diesem Zustande menschliche Schwächen und Niedrigkeiten hinter sich lassen?

Auf und ab ging er in der Halle. Wieder kämpfte er mit sich so wie droben am Morgen auf dem Hirschensprung. Und da sah er plötzlich etwas – was ihn in diesem Kampfe mit sich selbst nur noch mehr erschreckte.

Er stand vor dem Waffenschrank. War vor ihm stehengeblieben in seinen Gedanken. Hatte auf die Gewehre gestarrt, ohne sie zu sehen, geschweige denn, sie zu zählen. Aber sein Blick wurde schärfer, konzentrierte sich auf den Schrank vor ihm und sah, daß – zwei Gewehre fehlten. Er kannte sie alle. Es waren zehn Stück. Meistens Mannlicher- und Winchesterbüchsen. Er selbst hatte gestern einen leichten Jagdkarabiner getragen, den Christen mit heruntergebracht und der Kommission vorgelegt hatte. Der stand drinnen in der Bibliothek. Aber noch ein zweites Gewehr fehlte Ein schweres englisches Gewehr –. Wo war das? Wer hatte das genommen?

Der furchtbaren Kette fügte sich ein furchtbares Glied an.

* * *

Thorgut ging in das Zimmer Dagmars hinauf. Sie stand noch immer unbeweglich am Fenster und starrte in irgendeine Ferne hinaus. Alle Versuche der beiden jungen Mädchen, sie aus ihrer Versunkenheit zu ziehen, wollten nicht gelingen. Es schien sogar, als täte ihr jedes Wort, jede Geste – und waren sie noch so freundlich und liebevoll gemeint – bis ins Herz hinein weh.

»Ich danke euch,« sprach sie endlich, »für eure Liebe und Freundschaft, aber ich bitte euch, laßt mich eine Zeitlang allein! Es ist alles noch so wund in mir. Ich weiß nicht, wie alles werden soll.«

Ein Bild unsäglichen Jammers, stand sie zwischen den beiden Freundinnen, die ihre Tränen nicht zurückhalten konnten und leise weinend das Zimmer verließen. Regungslos blieb sie auf ihrem Platze – lange, nachdem sich die Tür hinter den beiden schlanken Gestalten geschlossen hatte. Wenn ich doch sprechen könnte! Wenn ich fragen könnte! stöhnte Thorgut, den es zu ihr hindrängte und der sich doch von ihr fernhalten mußte.

Auch sie kämpfte mit sich. Sie rang sich mühsam und schmerzlich zu einem Entschlusse durch. Mehrmals nickte sie vor sich hin, als sie dann zur Tür schritt. Noch an der Tür blieb sie, die Klinke in der Hand, stehen – zauderte – überwand doch ihr letztes Bedenken – und ging in das Zimmer Ellas hinüber.

Das Kind war ruhiger geworden und spielte, wenn auch nicht so fröhlich wie sonst, still und in sich gekehrt, mit seinen Puppenzimmern. Susanne half ihr dabei mit halbem Herzen. Als Dagmar nun eintrat, richtete sie sich langsam auf und schaute ihr mit feindseligem Blick entgegen. Ella ließ ihr Spiel und lief auf die Stiefmutter zu, die sie gern hatte und die auch ihrerseits der Kleinen immer mit Liebe und Freundlichkeit entgegen kam.

Sie nahm das Kind jetzt in ihre Arme, küßte es auf die Augen, auf die Stirn und blickte fragend zu Susanne hinüber. Diese verstand.

»Ella ist sehr brav,« sagte sie, »sie weiß, daß der Papa krank ist und der Ruhe bedarf. Wir sind deshalb auch nicht in den Garten hinuntergegangen –

»Ich will hier warten, bis der Papa aufwacht und mich ruft«, rief Ella dazwischen.

Der jungen Frau stieg der Schmerz in die Kehle hinauf, doch sie beherrschte sich, und lächelte nur.

»Das ist recht, Ella«, sprach sie leise. »Wir müssen alle warten, bis Papa erwacht. Auch ich war noch nicht bei ihm drinnen.«

Während sie sprach, wandte sie sich zu Susanne hin, die sich vollends erhoben hatte und augenscheinlich nicht wußte, was sie von Dagmar erwarten sollte. Diese führte Ella zu ihrem Spiel zurück und trat dann dicht vor die Gouvernante hin.

»Fräulein Warren, Sie haben mir heute morgen etwas gesagt, worüber ich mit Ihnen zu sprechen wünsche. Wenn es Ihnen recht ist, werden wir Brigitte hereinrufen, damit sie Ella so lange Gesellschaft leistet.«

Susanne Warren nickte. In Thorgut begann die Erregung zu zittern. Was wollte Dagmar? Wollte sie vielleicht die Nebenbuhlerin, die zu viel wußte, aus dem Hause schaffen?

Brigitte wurde gerufen und nahm den Platz Susannes ein, die Dagmar in ihr Zimmer hinüberfolgte. Dort blieb sie an der Tür stehen. Steif, feindselig, haßerfüllt.

»Sie haben mir heute am Totenbett meines Mannes,« begann Dagmar, »den furchtbarsten Vorwurf gemacht, den man einer Frau machen kann. Sie haben davon gesprochen, daß ich einen Geliebten hatte –«

»Ich habe sogar gesagt, daß dieser Ihr Geliebter Herrn Thorgut ermordet hat. Ja, das habe ich gesagt, und das halte ich auch aufrecht.«

Dagmar wankte, tastete nach der Lehne des Sessels, neben dem sie stand.

»Gott,« sprach sie leise, »möge Ihnen, Fräulein Warren, die Ungeheuerlichkeit verzeihen, die Sie da soeben ausgesprochen haben!«

»Lassen Sie Gott aus dem Spiele, Frau Thorgut! Ich werde Ihnen sagen, was ich den Herren vom Gericht verschwiegen habe – nicht etwa aus Mitleid für Sie, sondern weil ich den Namen des Mannes, der ein paar Zimmer von hier ruht, rein erhalten wollte. Gestern abend war ich noch wach, da hörte ich plötzlich ein ganz leises Geräusch auf dem Korridor –«

Dagmar machte eine Bewegung, als wollte sie die andere unterbrechen.

»Lassen Sie mich zu Ende sprechen«, herrschte Susanne sie an. »Den ganzen Abend über hatte ich schon ein seltsames Gefühl, so eine Vorahnung, daß irgend etwas Furchtbares sich ereignen würde. Ich war nervös, ängstlich und unruhig. – Ich hörte das Geräusch auf dem Korridor. Vorsichtig öffnete ich meine Tür und schaute hinaus. Ich sah niemand. Ich dachte, ich hätte mich geirrt und ging wieder in mein Zimmer zurück. Aber die Angst ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Ich weiß nicht, irgend etwas trieb mich, wieder hinauszugehen und nachzusehen. Ich schlich zur Treppe und blickte über das Geländer in die Halle. Niemand zu sehen. Ich stieg die Treppe hinunter – da kam mir Herr Thorgut aus der Bibliothek entgegen. Auch er mußte etwas gehört haben oder der Hund war unruhig geworden. Wir fanden die rückwärtige Tür der Halle geöffnet. Herr Thorgut nahm die Sache leicht und meinte, Philipp hätte vielleicht vergessen, sie zu schließen. Aber in mir stand von der Minute an fest, daß im Hause etwas vorging, etwas Schreckliches, Frau Thorgut! Und ich habe recht behalten – denn vier Stunden später haben sie ihn tot nach Hause gebracht!«

Sie schrie die letzten Worte, von ihrem Schmerz überwältigt, heraus. Die Hand auf die Brust gepreßt, stellte sie sich Dagmar gegenüber. Ihre Augen brannten.

»Ich habe mich dann nicht zu Bett gelegt«, fuhr sie fort, nachdem sie sich wieder in der Gewalt hatte. »Ich habe meine Tür nicht geschlossen und hinter ihr gewartet. Ich hörte um elf Uhr die Förster kommen und sah dann Herrn Thorgut mit ihnen fortgehen. Und« – sie trat ganz dicht an Dagmar heran und sagte ihr nun ihre Anklage aus allernächster Nähe ins Gesicht – »ein paar Minuten später, Frau Thorgut, öffnete sich auf dem Korridor eine Tür – es war die Ihrige. Sie traten heraus, gingen die Treppe hinunter, durch die rückwärtige Hallentür hinaus in den Obstgarten. Ich bin Ihnen gefolgt, Frau Thorgut! Sie haben sich zwar mehrere Male umgedreht, aber Sie haben mich nicht gesehen. Doch ich habe Sie gesehen, Sie und den Mann, der hinten im Obstgarten auf Sie gewartet hatte. Wollen Sie noch, daß ich Ihnen den Namen nenne?«

»Sie brauchen ihn nicht zu nennen, Fräulein Warren. Ich wollte Sie eben bitten, diesen Mann heraufzuholen. Ich will in Ihrer Gegenwart mit ihm sprechen.«

Ruhig und würdevoll sprach Dagmar, und es war etwas in ihrer Stimme, das auch dem Haß der Nebenbuhlerin nicht entging. Verwirrt trat Susanne Warren etwas zurück und blickte sie an.

»Was soll die Komödie?« fragte sie.

»Sie hassen mich, Fräulein Warren«, entgegnete Dagmar. »Aber auch der Haß hat die Verpflichtung, gerecht zu sein. Ich habe Ihnen geglaubt, als Sie mir sagten, mein Mann hätte nie die Gefühle gekannt, die Sie für ihn hegen. Ja, ich glaube das auch jetzt noch, Fräulein Warren, denn ich weiß die Gefühle anderer zu ehren. Doch dasselbe verlange ich von Ihnen. Ich will nicht, daß Sie vor dem Gericht etwas verschweigen, was dazu dienen könnte, den Mörder meines Mannes zu finden. Sie sollen sprechen. Aber Sie sollen die Wahrheit wissen, bevor Sie dies tun. Gewiß, ich habe gestern im Obstgarten den Baron Lohnstein getroffen – ich leugne es nicht und werde es nie leugnen. Ich hätte es meinem Manne gesagt, wenn er lebend zurückgekommen wäre. Jetzt sollen Sie hören, was ich mit ihm gesprochen habe. Wollen Sie so freundlich sein, ihn zu holen.«


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