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Thorgut tot

Sie deutete plötzlich auf die rückwärtige Tür der Halle, die auf die Terrasse hinausging, von der eine Treppe in den Obstgarten führte. Lord stand hinter dieser Tür, schnüffelte an ihr herum und versuchte sie mit der Pfote zu öffnen.

»Merkwürdig!« sagte Thorgut. »So viel ich weiß, ist dort am Abend immer zugesperrt.«

Doch – die Tür war offen. Als Thorgut die Klinke niederdrückte, ging sie sofort auf.

»Was bedeutet das?«

Das Mädchen kam zu ihm, legte, ihre sonstige Scheu vergessend, die Hand auf seinen Arm.

»Ich weiß nicht, was das bedeutet!« rief sie. »Ich weiß nur, daß das Gefühl der Angst in mir stärker wird. Sie sollen nicht gehen!«

Thorgut machte sich beinahe zornig los.

»Jetzt kommen Sie auch noch mit Ihren Ahnungen«, rief er. »Gerade so, wie meine Frau! Was soll denn nur passieren? Die offene Tür da? Sicher hat der Philipp, der Esel, vergessen, sie abzuschließen –«

»Aber Sie sehen doch, der Hund –!«

»Weiß Gott, was der riecht. Vielleicht hat sich die Küchenkatze in diese heiligen Räume herauf verirrt –! Na, was sagst du, alter Kerl?«

Lord sagte nichts. Er schien sich wieder zu beruhigen und blickte seinen Herrn an, indem er seine Liebe durch intensives Wedeln bewies.

»Da haben Sie's, kleine Närrin,« lachte Thorgut, innerlich selber froh, »der Hund sieht keinen Grund zur Beunruhigung mehr. Nehmen Sie sich an ihm ein Beispiel und gehen Sie in Ihr Zimmer zurück! Christen und die Leute müssen gleich kommen – ich möchte nicht, daß man Sie hier – so träfe!«

Dunkle Röte stieg ihr in Hals und Wangen empor. Sie senkte den Kopf und wandte sich zur Treppe. Er kam ihr nach –

»Bitte sagen Sie aber meiner Frau nichts von der offenen Tür!«

»Nein, Herr Thorgut.« Rauh klang ihre Stimme. Ohne sich umzusehen, stieg sie empor.

Er blickte ihr nach, bis sie oben auf dem Korridor verschwand. Dann ging er zu der Tür, schloß sie ab, trat zum Waffenschrank, suchte sich ein ihm passend scheinendes Gewehr heraus und lud es.

Fünf Minuten später klopfte Christen an die Vordertür. Thorgut ließ den Alten und die beiden jungen Förster ein. Jedem von ihnen setzte er noch einen Abschiedsschnaps vor. Dann zündeten sie sich ihre Pfeifen an, hingen die Büchsen um – und –

»Also los – in Gottes Namen!« sagte der Jagdherr.

Sie traten hinaus in die helle Mondnacht. Thorgut schloß die Tür zu – ein Schlüssel hing ja drinnen – und sie schritten rasch über die Wiese, dem Park zu. Oben im Schlosse war ein Fenster noch erleuchtet – das war Dagmars Zimmer. Sie wachte noch –. Thorgut mußte die Zähne zusammenbeißen, so riß plötzlicher Schmerz an ihm.

Dann nahm das Dunkel des Parks ihn und seine Leute auf. Uralte wohlbehütete Baume standen hier, Prachtexemplare von Eichen und Buchen, die den Stolz Sternkrons bildeten und viele Geschlechter unter ihren Ästen hatten werden und vergehen sehen. Schweigend marschierten die vier Männer auf der Allee dahin. Lord war wie immer am linken Knie seines Herrn –.

Sie kamen an die Grenze, wo der Schloßpark in den Wald überging, der sich hoch hinauf in die Berge schob. Dunkle Fichten reckten sich hier mehr und mehr heran, verdrängten die Laubbäume.

Man machte halt und besprach nochmals kurz den ganzen Plan. Also um drei, längstens vier Uhr am Zweiengelaltar!

»Und – Herr Doktor –«, der alte Christen hielt Thorgut noch am Ärmel fest. »Ich bitt' Sie, wenn Sie einen Kerl erwischen, nicht lange fackeln! Das Gewehr herunter – und schießen! Entsichern Sie's besser gleich – so! Wir haben's mit verzweifelten, rabiaten Wilderern zu tun! Ich bitt' Sie, Herr Doktor – geben Sie acht!«

»Sie haben mir noch gefehlt!« schrie Thorgut. »Komm, Lord!«

Kopfschüttelnd sahen ihm die drei Förster nach, dann tauchten sie jeder nach seiner Richtung in den Wald.

* * *

Thorgut war gewiß kein Feigling. Aber auch absolut kein Bramarbas. Sein Leben leichtsinnigerweise aufs Spiel zu setzen, fiel ihm absolut nicht ein. Er wußte, daß in den Dörfern ringsum so mancher Bursche zu finden war, der es sich nicht lange überlegen würde, hinter sicherem Busch hervor ihm ein Loch in den Rücken zu schießen. Der Neuhofer war ein besonders heimtückischer Kerl, und der hatte Freunde, Gesinnungsgenossen –!

Dazu die Küsse Dagmars, die Bitten Susannes! Das Warnungsgekrächze Christens! Der Vorgang mit der offenen Hallentür! Das eigene Gefühl, das ihn überkommen hatte, als er an dem Bette seines Kindes stand! Himmelherrgott – Er begann leise vor sich hinzupfeifen. Brach wieder ab – fing von neuem an – doch aus dem gespitzten Mund kam kein Laut hervor –

Still lag der schlafende Wald. Bequem war der Weg, wenn auch steil steigend – weich war er, gut gepolstert mit Fichtennadeln. – Unwillkürlich begann Thorgut schneller auszuschreiten. Ein-, zweimal blieb er stehen. Lauschte. Hatte sich dort nicht etwas bewegt? – Nichts! – Stille – Stille! – Nichts hörte er, als das Klopfen seines Herzens! Furchtbar ist diese Stille der dunklen Nacht. Mit tausend Geräuschen ist sie erfüllt, die nicht hörbar und doch vernehmlich sind. Geisterlippen bewegen sich – da – dort – flüstern – raunen. – Stille der Nacht ist so manchem nichts als ein lautloser Schrei, unter dem die Nerven erzittern. –

Kehr um! redete es auf einmal in Thorgut. Irgendwo in dieser Nacht lauert die Gefahr auf dich! Zu Hause brennt im Zimmer deines schönen Weibes ängstlich bangendes Licht. – Kehr um!

Halt – seine Hand fährt nach dem Gewehr! War da nicht jemand hinter den zwei kleinen Fichten? Lag da nicht ein Schatten vor ihnen – regte sich der Schatten nicht? – In der nächsten Minute lachte er über sich selbst – die Frauen und die alte Schleiereule, der Christen, hatten ihn tatsächlich verrückt gemacht. Er warf das Gewehr wieder über die Schulter und marschierte weiter.

Da – neben ihm schob Lord seine Schnauze in die Hand seines Herrn. Sei nicht so nervös, ich bin ja da. Leise streichelte Thorgut den mächtigen Schädel, der sich liebkosend an ihm rieb.

So kamen sie an den Hirschensprung, eine kleine sumpfige Wiese mitten im Hochwald. Von da ging der Weg ziemlich steil zum Zweiengelaltar in die Höhe. Warum der Fleck eigentlich Hirschensprung hieß, wußte kein Mensch. Die Jägersleute erzählten irgend so eine Sage von einem Hirsch, der vor vielen, vielen Jahren, von einer Jagdgesellschaft gehetzt, in verzweifelter Todesangst mit einem Satz über den Sumpf wegsprang, während die blind hinter ihm herstürmenden Reiter, Mann und Roß, versanken. Also kein Platz freundlicher Erinnerungen – in dunklen Nächten sollen auch zuckende Lichtlein über den schwankenden Boden tanzen – die Seelen der versunkenen Jäger. –

Jetzt lag die Wiese im Mondlicht hell und beruhigend da. Gelbe Butterblumen gleißten auf ihr – an einer Stelle glänzte wie mattes Metall ein Wassertümpel –. Keine zwanzig Meter breit die ganze Lichtung. Mitten durch sie hindurch führte der Bohlensteig –

Thorgut kam aus dem Walde heraus und wollte, ohne lange nachzudenken, auf dem Steigs weiter.

Der Hund blieb plötzlich stehen. Er streckte die Nase nach vorn, die Witterung einziehend. Seine Nackenhaare stellten sich auf, er ließ ein dumpfes Knurren hören. Lord war kein Jagdhund, sondern eine besonders wild und bissig geratene Kreuzung zwischen Bernhardiner und dänischer Dogge. Er sah nicht besonders gut, doch seine Witterung gab der des besten Pointers nichts nach.

»Also hör mal, wenn du setzt auch noch anfängst!« sagte Thorgut.

Er blieb aber doch stehen. Der Gedanke fuhr ihm durch den Kopf, daß er da auf der hell bestrahlten Wiese ein wunderbares Ziel für einen Schützen abgeben müßte, der an der anderen Waldseite auf der Lauer lag. Sogar jetzt – wie er da stand; die Distanz war ja keine zwanzig Meter –.

Er wollte schon in die Deckung der Bäume zurückspringen, da sah er etwas, was ihn stutzig machte. Ganz deutlich erblickte er auf dem weichen Boden den Abdruck eines schmalen, langen Männerfußes. Wenn er auch kein Waldmensch war, so erkannte er doch, daß diese Spur frisch war und von keinem schweren Nagelschuh stammte. Hier war also kurz vorher jemand gegangen, einer, der weder ein Jäger, noch ein Wilderer sein konnte. Merkwürdig – er richtete sich auf – im Moment alle Vorsicht vergessend – lauter knurrte der Hund –

Da –! Gelbroter Feuerschein blitzte drüben auf, der Schlag eines Schusses rollte über die Wiese, brach sich an den Waldwänden –

Robert Thorgut spürte einen heftigen Stoß auf der Brust –. Was war das? Haben sie dich doch erwischt –? Er wollte vorwärts – über die Wiese – taumelte – Dagmar – das Kind –

Wie lange er so gelegen hatte, wußte er nicht. Als er die Augen aufschlug, sah er Feuerschein um sich. Fackeln flammten auf der Wiese –. Noch ganz benommen, erhob er sich und tat einige Schritte von der Stelle weg, auf der er zusammengebrochen war. Was war denn nur eigentlich mit ihm vorgegangen? Er schloß die Augen wieder, suchte sich das Geschehene zurückzurufen. Ja, von da drüben war ein Schuß gekommen –. Der Hund war vorher stehengeblieben –

Doch was jetzt? Mit Staunen sah er dicht vor sich eine ganze Menge Leute. Sah eine Gestalt auf dem Boden liegen –. Daneben einen großen zottigen Hund, seinen Hund – seinen Lord! Und die Menschen kannte er ja auch – das war Christen, der Förster, das waren der Pacher, der Leinert –! Und was machten denn Pyrker und Liebenstein jetzt zu dieser Stunde da oben? Und wer hatte die Knechte aus dem Schloß gerufen –? Und – und war das nicht der alte Doktor Haugh, der sich so tief über den auf dem Boden liegenden Körper beugte? Natürlich war er das – der alte Medizinkasten! Wenn er nur den Mann aus dem Boden sehen könnte! Jetzt drängte er sich durch die Leute vor –

»Was ist denn da?« schrie er Christen an.

Doch der hörte ihn gar nicht. Blickte nicht zu ihm auf. Starrte nur auf den Mann zu seinen Füßen.

»Christen, in Herrgotts Namen, hören Sie denn nicht?« wiederholte Thorgut.

Keine Antwort. Scheinbar hörte ihn weder Christen noch sonst einer! –. Und jetzt – jetzt erkannte er den auf dem Boden Liegenden.

Er war es selbst.

Im selben Moment richtete sich der alte, silberhaarige Arzt auf und sagte mit leiser, schmerzerstickter Stimme:

»Er ist tot!«

* * *

»Aber in drei Teufels Namen – seid ihr denn alle miteinander verrückt?« schrie Thorgut und sprang unter sie. Der Laut seiner Stimme schien ihm selbst kein Schreien mehr, sondern ein wildes Gellen, ein rasendes Kreischen –. Doch keiner hörte ihn. Obwohl er ihnen seine Verzweiflung ins Gesicht brüllte. Es sah ihn augenscheinlich auch keiner, obwohl er mitten zwischen ihnen stand. Er packte den Doktor am Rockaufschlag, schüttelte ihn, wollte ihn vielmehr schütteln – doch der spürte nicht ihn, nicht seinen Griff –

Allmächtiger Gott im Himmel! Was war das? Er war doch da! Er lebte doch –! Warum sahen, hörten, spürten sie ihn nicht? Was war das für ein Körper, der auf dem Boden lag? Der war tot! Ja – das sah auch er. Aber er – er lebte – lebte –!

»Schaut's doch den Hund!« rief der Förster Pacher auf einmal.

Lord mußte der einzige sein, der seinen lebenden Herrn spürte. Er war von der leblosen Gestalt am Boden zurückgewichen, stand mit weit aufgerissenen Augen, gesträubten Haaren und winselte zu Thorgut hin. Der streckte die Hand aus, um den Hund an sich zu ziehen. Doch das Tier sprang zurück – heulte laut auf –

»Lord! – Lord! – mein lieber alter Kerl –« lockte Thorgut. Schob sich ihm nach –

»Lord! – Lord –!«

Weiter und weiter wich der Hund zurück. Wenn je Grauen im Gesichte eines intelligenten Tieres sich ausprägte, so war es jetzt in dem seinigen. In weitem Bogen strich er, die buschige Rute zwischen die Beine eingeklemmt, zu dem auf dem Boden liegenden Körper zurück, beschnupperte sein Gesicht, seine Hände und stieß abermals ein langgezogenes Heulen aus –

Mit verhaltenem Atem standen die Männer ringsum. Die Knechte und die Förster schlugen das Kreuz. Sogar der alte Doktor, der sonst seinen Atheismus so rabiat gegen den Pfarrer und den Oberförster verteidigte, warf unbehagliche Blicke um sich. Pyrker umklammerte mit beiden Händen den Arm Harro Liebensteins –

»Machen wir, daß wir fortkommen!« flüsterte er mit heiserer Stimme.

Selbst der sonst so überlegene, kühle Liebenstein schien die Herrschaft über seine Nerven verloren zu haben. Er war aschgrau im Gesicht, starrte mit vorspringenden Augen auf den Hund, auf den Erschossenen – der Arm, den sein Freund hielt, zitterte –

»Das sind die Jäger unten im Sumpf!« murmelte Christen.

»Unsinn – Mann – das – ist –«

Der Doktor brachte den ohnehin schwächlich begonnenen Widerspruch nicht zu Ende, denn Lord heulte wieder. Heulte –! Schauerlich hallte es an den ragenden Baumwänden der Lichtung.

»Wir müssen ihn hinuntertragen«, drängte der Oberförster. Bleich war der alte Mann – mühselig stieß er die Worte hervor –

»Geht nicht. Er muß hier bleiben, bis die Untersuchungskommission den Schauplatz besichtigt hat. Meine Herrschaften, hier liegt ja Mord vor, kaltblütiger Mord!« Den letzten Satz flüsterte der Doktor mit halber Stimme, als getraute er sich selbst nicht, das Schreckliche an diesem Ort laut auszusprechen.

»Wir können ihn doch nicht bis zum Morgen liegen lassen, Herr Doktor! Noch dazu hier – gerad' hier –«

Die beiden jüngeren Förster stimmten ihrem Vorgesetzten zu. Und nun trat auch Liebenstein näher und sagte:

»Ich bin der Meinung, Herr Doktor, daß der Oberförster recht hat. Thorgut kann nicht hier liegen bleiben – und bedenken Sie, unten – unten wartet seine Frau!«

Mit beiden Händen griff sich Thorgut bei diesen Worten nach dem Herzen. Was – was sagte Liebenstein da? Seine Frau wartete unten im Schlosse auf ihn? Hatte man ihr gesagt, daß er tot war? Erschossen?

Aber er war es ja gar nicht! Wenn sie ihn nur hören wollten.

Leinert und Pacher hatten aus ihren Gewehren und mehreren Ästen eine Tragbahre zurechtgemacht. Christen breitete seinen Rock darüber, und darauf legten sie die Leiche ihres Herrn. Die beiden Förster voran – zwei der Knechte hinten – so trugen sie ihn zurück. Christen, der das Gewehr Thorguts aufgenommen hatte, folgte ihnen dicht auf den Fersen. Dann gingen der Doktor, Liebenstein, Pyrker und zum Schluß die übrigen Knechte. Neben der Bahre, sich anpressend, schritt Lord. Von Zeit zu Zeit hob er den mächtigen Kopf –. Winselte leise –.

In wilder Verzweiflung warf sich Thorgut dem Zug entgegen. Aufhalten wollte er ihn – den leblosen Körper aus den Händen der Träger reißen –.

»Laßt euch doch nicht durch den Teufel zum Narren halten!« Seine Stimme überschlug sich – so riß er sie in die Höhe –. Sie hörten ihn nicht.

Er sprang auf Leinert los –. Der ging ruhig weiter – ging mitten durch Thorgut durch – der Knecht hinter ihm desgleichen. Die andern alle – alle auch. Wich ihm keiner aus. Schritten alle durch ihn durch –

Luft war er also! Formlose, unfühlbare Luft! Was – was war er –? Sein eigener Geist? War das, was sie dort forttrugen, wirklich das, was man sonst so feierlich blödsinnig »sterbliche Hülle« nennt? Und er – nur wesenloser Geist? Seele? Aber das war ja Wahnsinn, hellster Wahnsinn –.

Er starrte dem traurigen Zuge nach, der soeben in den Wald verschwand. Die Fackeln verglommen in den Bäumen, unter denen phantastische Reflexe auf und nieder glitten. Der Hund heulte –. Und – und drehte sich da nicht jemand noch um? Blieb stehen? Sah zurück? Thorgut beugte sich weit vor, aber er konnte die Gestalt nicht erkennen. Jetzt tauchte sie ganz in das Dunkel ein –.

Thorgut stand allein. Blickte mit irren Augen um sich –.

Im Osten hob sich über den Wald hellgrauer Schein empor. Um die Zacken und Spitzen der Berge wurde es licht –.

Morgendämmerung –!

* * *

Dann fuhr Thorgut plötzlich auf. Ein Gedanke war in sein Gehirn gesprungen. Wartete unten nicht Dagmar auf ihn? Er mußte hinunter zu ihr, bevor die Verrückten mit ihrer Leiche daherkamen! Sie würde ihn ja erkennen. Sie mußte ihn sehen, hören – ihre Liebe mußte ihn fühlen!

Er lief über den Steig in den Wald hinein. Aber in seiner Hast achtete er gar nicht auf den Weg, sondern stürmte wild vorwärts. Stolperte dabei über keine Wurzel, ließ sich durch kein Gebüsch, durch keinen Baum aufhalten. Er lief durch sie alle durch –. Senkrecht stürmte er den Abhang hinunter mit einer Leichtfüßigkeit, die ihn selbst überraschte. Oben auf dem Steige sah er den Fackelschein des Zuges, der sich langsam, Schritt vor Schritt, zu Tale wand.

Er lachte. Sein körperloser Geist überholte den durch die Erdenschwere gefesselten Körper –. Er lachte, lachte! Eigentlich eine spaßige Situation! Ein Mensch, der mit sich selbst um die Wette rannte! Eigentlich ein fabelhafter Stoff für einen grotesken Roman –!

Er kam nach kurzer Zeit in den Park und eilte auf die weiten Wiesen hinaus, die sich vor dem Schlosse mit ihren Blumen und Bosketten breiteten. Da blieb er einen Moment stehen –. In der Halle glühte Licht. Auch da und dort im Hause selbst. Wenn er auch keinen Menschen sah, so merkte er doch, daß hastende Aufregung durch das ganze Schloß zuckte –.

Er kam an die Vordertür der Halle. Blickte durch das Glas hinein. Hell erleuchtet war alles –.

Vor dem Kamin saß Dagmar, eine fassungslose, in tränenlosem Schmerze aufgelöste Dagmar. In langem weißseidenen Nachtgewand, das von den Schultern herabgeglitten war, die Hände über die Knie verkrampft, saß sie da, ohne sich zu regen. Starrte vor sich hin. Im Hintergrunde der Halle hielten sich Josefa. Lohnstein und Anglaia Starnfels mit scheuen, verweinten Gesichtern. Die hatten Tränen. Dagmar hatte keine –.

Mit einem Satze war Thorgut bei ihr. Umschlang sie –

»Ich bin ja nicht tot – ich bin da –! Fühlst du mich? Fühlst du mich? Dagmar – Dagmar!«

Sie rührte sich nicht. Sie regte sich nicht. Kein Licht der Freude sprang in ihre erloschenen Augen. Auch sie sah ihn nicht. Hörte ihn nicht. Empfand ihn nicht. Nicht einmal der Geist ihrer Liebe spürte ihn. Er war also wirklich nicht mehr. War aufgelöst in formloses Nichts –.

Er taumelte von ihr zurück. Um Gottes willen! Was nun?

Susanne Warren kam die Treppe herab. Kein Tropfen Blut war in ihrem Gesicht, in dem übernatürlich groß die schwarzen Augen brannten. Ein Licht, düster, unheimlich – glühte in ihnen. Sie schien ruhig, gefaßt –. Härter, herber denn je. Ihr Mund, dunkelrot in dem wachsbleichen Gesicht, preßte sich zusammen, als sie sich Dagmar näherte.

»Es ist alles bereitet«, sprach sie dann. »Wollen Sie es sich ansehen?«


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