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Bracke
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Novembernebel braute in den Straßen Berlins.

Man tastete sich mit Hilfe seiner Laterne immer nur zwei Schritte vorwärts.

Bracke suchte sein Gasthaus, aber er verirrte sich im Nebel.

Als er um eine Ecke bog, sah er einen kleinen, verwachsenen Menschen auf sich zukommen, vorbeigehen und entschwinden.

Hundert Schritte weiter tauchte aus dem Nebel wiederum ein Zwerg, um vieles kleiner noch als der erste.

Wenige Straßen weiter kroch ein Wesen aus dem grauen Gespinst, das war wie eine große Spinne, tastete sich an der Mauer entlang und verschwand.

Bracke irrte in den Gassen am Krögel.

Da sah er eine grüne Laterne leuchten, ging darauf zu und las unter der Laterne ein Schild, auf dem mit unbeholfener Schrift geschrieben war:

Hier ist zu sehen der Mensch, welcher nicht sterben kann. Eintritt ein guter Groschen.

Bracke folgte dem grünen Schimmer, stolperte ein paar Stufen abwärts und stieß eine Tür auf.

Eine fette Frau verlangte ihm den Groschen ab, dann schlug sie einen schmutzigen Vorhang zurück.

Da lag auf einer Bank lang hingestreckt und wohl balsamiert die Leiche des Kurfürsten; das Messer mit dem brandenburgischen Adler am Knauf stak noch in der Brust.

Ihn schwindelte.

Die fette Frau gluckste.

»Hier ist zu sehen der Mann, welcher nicht sterben kann – weil er schon tot ist...«

Bracke stürzte die Treppe empor, dem grünen Schimmer, der ihm wie ein Laubfrosch nachhüpfte, zu entfliehen. Der Nebel umarmte ihn feucht, er spürte einen fauligen Atem um seine fiebrig erhitzten Wangen wehen.

Er taumelte.

Da spie der Schatten eines Hauses einen riesenhaften Mann von sich, den der Nebel sogleich wieder mit gefräßigem Maul verschlang.

Hundert Schritte weiter warf sich ein Mann auf ihn zu, der schien bis zum zweiten Stockwerk zu reichen.

Der Angstschweiß perlte auf seiner Stirn.

Er war schon kurz vor seinem Gasthaus angelangt, als ein wandelnder Kirchturm, ein riesiger Riese, ihm den Weg versperrte.

Er fiel ohnmächtig platt auf das Pflaster.

Als die Pest ins Land kam, von der die drei kleinen und die drei großen Männer Boten gewesen waren, floh Bracke in die Wälder und nährte sich von Pilzen, Kräutern und wilden Vögeln.

Als er vermeinte, daß die Krankheit erloschen sei, wanderte er aus den Wäldern nach Trebbin.

Da brannte helle Mittagsglut über der Stadt, kein Mensch war zu finden in den Straßen. Die Häuser standen wie sonst, die Blumen blühten, die Brunnen sprangen, die Bäume reiften.

Er trat in die Bäckerei. Da stand der Bäcker am Backofen: tot.

Er ging in die Schmiede.

Da lohte das Feuer, und am Kamin lehnten der Schmied und die Knechte: tot.

Auf der Bürgermeisterei im Rathaus war Ratsversammlung.

Da saßen der Bürgermeister und alle Stadtverordneten und Ratsherren im Ornat und ihren Amtsketten: tot.

Und er kam an das Haus des Henkers: da hockte der Henker am Herde: tot.

Ist denn nichts Lebendes, erschrak Bracke. Kein Echo meiner Stimme?

Und er hielt die Hände hohl an den Mund und schrie:

»Leben!«

Da hub die Uhr vom Rathausturm zu schlagen an. Und aus dem Gehäuse traten die zwölf Apostel, an ihren Hirtenstäben kleine Klingeln, die läuteten.

Er betete ein Vaterunser und lenkte seine Schritte zur Kirche.

Weihrauch duftete wie Pfefferkuchen zur Weihnacht.

Rote Glasfenster funkelten blutig in der Sonne.

Die Madonna in Holz geschnitzt und bunt bemalt – es war aber die Kurfürstin – thronte in einem Erker auf ihrem Altar, und sie hielt das Jesuskind auf ihren Armen. Als Bracke die Knie beugte, da neigte sie sich sanft hernieder und legte ihm das Jesuskind, welches alsbald wie ein Menschenkind zu weinen begann, in seine Arme.

Das nahm nun Bracke demütig aus den Händen der Madonna, bettete es an seine Brust und schritt festen und starken Schrittes, sich und dem Kind eine neue Heimat zu suchen.

Die fand er in Crossen, einer kleinen, märkischen Stadt am Einfluß des Bobers in die Oder. Diese war vom großen Sterben weniger mitgenommen als andere Städte.

Dort in der Marienkirche stand eine Madonna, die hatte die Arme voll mütterlicher Sehnsucht in den Raum gebreitet, der legte er das Trebbiner Jesuskind auf ihre Hände.

Bei Crossen, in der Nähe des Heidehibbel, hatte sich ein Sumpf durch die jährlichen Überschwemmungen der Oder gebildet.

Auf dem tanzte Nacht für Nacht ein greuliches Irrlicht und lockte die Männer an sich, daß sie elend im Sumpf versanken.

Denn es war anzusehen wie ein Weib, ganz mit goldenen Brüsten, goldenen Haaren und den grünlichen Augen einer Kröte.

Da flehten die Frauen Bracke an, daß er den bösen Geist vertreiben möge mit Predigt oder mit dem Schlagen des Kreuzes oder mit herzlicher Beschwörung – indem der Unhold schon fünf rüstige Männer aus der Stadt zu Tode gebracht, die außerhalb des Friedhofes der Rechtgläubigen bei den Juden bestattet wurden, denn so wollte es die Geistlichkeit.

Bracke ging in der Nacht über die Aue zum Heidehibbel.

Die Grillen zirpten.

Lauschte nicht der Conte Gaspuzzi, den Kopf leicht seitwärts geneigt, der Grillenmusik?

Verschlafene Heuschrecken sprangen.

Saß nicht auf jeder Nasr-ed-din, der Türke?

Die Feldblumen dufteten.

Bracke setzte sich am Heidehibbel unter eine Kiefer.

Die Luft begann zu tönen. Der Wind knisterte in den Kiefern. Der Sand wandelte.

Und er sah in kurzer Entfernung im Schein des Mondes, der auf gelben Strahlen ihm zum Tanze geigte, das goldene Licht tanzen.

Bracke trat darauf zu und faßte mit fester Hand in das goldene Feuer: er ballte es in seiner Hand, wie wenn er einen Menschenhals packte, und zerrte das Goldene zu sich heran aufs feste Land.

»Ich will dich retten, Irrlicht, Wahnlicht, daß du künftig in Ruhe und Wahrheit zu scheinen vermagst.«

Als aber das Licht auf dem Sande stand, da begann es sich zu beruhigen mit feinem Flattern wie ein junger Vogel, wenn die Mutter ihn lockt, oder wie ein unruhig Kind, das man streichelt.

Sacht entwand es sich seiner Hand, stieg aufwärts und ward zum Stern, der noch heutigen Tages über dem Heidehibbel bei Crossen steht und der Heidestern genannt wird und allen Heidewanderern in Friede und Wahrheit heimwärts leuchtet.

Es brach eine Plage von Ungeziefern über die Stadt herein.

Wanzen, Schwaben, Flöhe, Russen, Tausendfüßler, Kellerasseln, Franzosenkäfer bevölkerten Stube, Küche und Keller, so daß man nicht gehen und stehen konnte, ohne auf die winzigen Bestien zu treten.

Da stellte sich Bracke am Röhrkasten auf den Predigtstein, mitten auf den Marktplatz, das Antlitz nach dem venezianischen Kaufhaus gerichtet, und blies in seine ungarische Trompete.

Beim ersten Ton schon wurden die Insekten unruhig, beim zweiten begannen sie aus Türritzen, Mauerspalten, Fensterlöchern zu kriechen.

Da blies Bracke zum drittenmal.

Die Türen wurden in den Häusern aufgerissen, und ein ekelhafter Haufe des Ungeziefers quoll braun und grünlich auf die Gasse.

Da wartete nun Bracke, bis ihn die ersten: die flinken Franzosenkäfer, erreicht hatten. Und schritt, dem Ungeziefer voran, unaufhörlich blasend, an die Oder.

Dort, wo die Furt ist, an den steilen Wänden bei Goskar, tauchte er in den Strom.

Das Ungeziefer folgte ihm und ersoff elend.

Er aber entstieg der Furt heil am andern Ufer.

Aus Dankbarkeit gestattete ihm der Magistrat, fürder das Wappen von Crossen zu führen – jedoch mit einer Wanze über den gezackten Mauern.

Bracke ging über die hölzerne Oderbrücke. Er stieg durch die Weinberge, in der Richtung Lochwitz.

Die Trauben hingen an den Stöcken, schon violett.

Ein Vogel krallte sich an einen Zweig und pickte eine Beere.

Oben auf der Höhe sah er das Sternberger Hügelland im Herbst sich rostrot über dem Horizont wölben.

Dort sind meine roten Berge, sann er.

Dahinter liegt das Paradies. Die Ruhe. Der Schlaf im Daunenbett der Ewigkeit.

Und er wanderte – über Lochwitz, durch die Lochwitzer Heide, durch Kiefernwälder, an kleinen, mit Binsen umstandenen und von den letzten Libellen umschwärmten Seen vorbei.

Bis an die Knie oft versank er im weißen märkischen Sand.

Und als er die rostroten Höhen erreicht hatte: da buckelte sich hinter ihnen verheißend eine neue Hügelkette.

Und hinter diesen stiegen neue Hügel. Und immer so fort.

Da setzte er sich auf einen Wurzelast, der aus dem Boden wucherte.

Ich werde kehrtmachen, dachte er. Es ist immer dasselbe. Ich bin zu alt, um noch tausend Hügel zu überschreiten – hinter dem tausendsten möchte wohl erst das Meer liegen. Aber hinter dem Meer – ein neues Land: mit Palmen, Papageien, Affen und schwarzen Menschen – und tausend neuen Hügeln.

Es gilt, sich zu bescheiden. In seinem Kreise rund zu wandeln. Dies ist die Pflicht des Alters.

Zurück also nach Crossen: statt Palmen zu Eichbäumen, statt Papageien zu Spatzen, statt Affen zu Ferkeln, statt schwarzen zu weißen Menschen.

Ich werde in mein Vermächtnis schreiben, daß man mich auf dem Armenfriedhof begrabe.

Er liegt den rostroten Bergen am nächsten.

Die Oder, die den ganzen harten Winter derart zugefroren war, daß man sie mit schweren Lastwagen passieren konnte, zerbarst im Frühling.

Das Treibeis rollte.

Die Schollen krochen an den Eisbrechern der Holzbrücke wie Soldaten an einer Burg empor: einer auf den Schild des andern steigend.

Da geschah, als das Eis schmolz, eine riesige Überschwemmung.

Die Fischerei setzte sich zuerst unter Wasser, danach die Dammvorstadt, die Grabenvorstadt. Und schließlich stand das Wasser bis in die Roß- und Schloßstraße.

So schnell stieg das Wasser, daß manche, die im Erdgeschoß wohnten, nichts als ihr nacktes Leben retteten.

Hausgerät schwamm durch die Straßen.

Ertrunkene Katzen.

Aufgequollene Hunde.

Dazwischen Baumstämme von den schlesischen Gebirgen.

Stege wurden in den Straßen errichtet.

Boote vermittelten den Verkehr.

Die Kinder vergnügten sich, in Kübeln wie kleine Piraten umherzusegeln.

Als aber das Wasser nicht fallen wollte, als es in einer Nacht wiederum wogte und bis an den Marktplatz schwoll – da schrien die Menschen von den oberen Stockwerten und von den Dächern: »Wehe! Die Sintflut ist herbeigekommen! Rette uns, Noah, mit deiner Arche!«

Bracke hüpfte mit wehenden Haaren auf den Giebel des venezianischen Kaufhauses und schrie im fahlen Mondschein, während Wolken rasend oft vorübertrieben und ihn verdunkelten:

»Tut Buße! Tut Buße! Denn das Reich der Hölle ist nahe herbeigekommen, Eure Herzen wurden Schlangennester, Eure Augen trübe Pfützen des blutigsten Lasters. Eure Hände, zu liebender Umarmung einst bestimmt, greifen in leere Luft. Das Eismeer trat über seine Ufer. Erratische Blöcke zermalmen den blühenden Garten. Kometen schleifen feurige Schwänze wie Trauerschleppen durch die Straßen: und die Stadt steht steil in Brand. Schlagt euch an eure zerfallene Brust: ehemals göttlicher Dom, nunmehr eine knöcherne Ruine, darin jegliches Unkraut: Haß, Niedertracht, Neid, Unzucht, Lüge, Feigheit, Hochmut wuchert. Schreit, brüllt, kniet in den Kot eurer eigenen Leiche. Schreit: Ich Sünder, ich wandelnder Dreck, eitriger Auswurf eines verwesenden Bonzen. Seliger einst am Saume der Welt; saumseliger, seufzend im Süden, verweint in Nelkenduft, Falter, mit den Flügeln leise atmend auf den Orangenbrüsten der blondesten Frau. Der Regen blutet aus meiner Wunde.

Die Sonne schlägt mich an feuriges Kreuz.

Ich schäume: rotes Meer. Ich schreie: ich Namenlos, ich Traum: bin schuld am Kriege ... der Seienden ... des Seins.

Ein jeder: Ich. Millionen Ich ... sind schuld, sind schuld.

Die Geißel Gottes knallt.

Ich kenne, bekenne mich: zur Pflicht, zur Verpflichtung, zur Wahrheit, zum Geständnis.

Es gilt, unsere Schuld in die Welt zu pauken, zu posaunen, zu läuten, zu zischeln, zu heulen.

Reißt das Hemd auf. Schlagt euch an die Brust. Bekennt: Ich, ich bin schuldig. Will es büßen. Durch Wort und Tat. Durch gutes Wort und bessere Tat.

Dünke sich niemand zu niedrig, seine Schuld zu bekennen. Niemand zu hoch.

Schwört ab den Taumel! Bekennt euch straff! Bäumt euch zum neuen Willen einer neuen Zeit.

Es geht um den Adel der Erde. Entthront wurde die ewige Kaiserin: die Natur. Es darf nicht sein: das Gute in der Anschauung haben und begreifen, und schlecht handeln, schlecht sein. Ehe wir nicht danach streben, gut zu sein, anstatt Gutes zu denken, eher haben wir kein Recht auf den Sieg der Sonne, des Mondes der blauen Berge und des roten Herzens zu hoffen.

Einmal wird das mythische Feuer herniederfahren und alle heute noch Irrenden und Schwankenden mit Erkenntnis beglänzen und zu entschlossener Tat entflammen.

Mag heute noch Gelächter oder Niedertracht wie Hagel auf uns niederprasseln.

Soldaten der Seele, es heißt standgehalten. Einmal wird die rote Fahne, in unserm Blut getränkt, im Frühlingslichte flattern.

Ihr Sybariten des Blutes: dann seid verflucht!

Ihr Heuchler, ihr Unerwachten, ihr Trägen – dahin dann zu den Kröten in die Keller des ewigen Todes.

Ihr aber, Unsterbliche, Unendliche, Legionäre der heiligen Armee, auf, zu den Trommeln, zu den Flöten. Schwingt eure Waffen: den Lilienstengel, die Weidenzweige, daran noch Kätzchen hangen, die Mimosenbüschel, die Sonnenblume. Gott winkt! Uns, seinen silbernen Söhnen!«

Da stürzte alles auf den Marktplatz, der noch vom Wasser freigeblieben war.

Männer und Weiber entblößten ihre Oberkörper und schlugen jauchzend und heulend aufeinander ein, mit Besen, mit Ruten, mit Stangen, mit Fäusten, und geißelten sich, daß das Blut in Bächen von ihren Leibern floß, und daß der Marktplatz bald in rotem Blute dampfte.

Sie rissen sich gegenseitig das Haar in Büscheln und die Haut in Fetzen herab und schrien:

»Gnade! Gnade! Buße! Buße!«

Auf dem venezianischen Raufhaus stand noch immer Bracke drohend wie ein Turmhahn und drehte seine Arme wie Windmühlenflügel im Winde.

Als sie in der Geißlung ermatteten und einander sahen: Mann und Weib: nackte Brüste und Schultern, darüber die roten Blutfäden liefen wie Seidengespinst, ergriff sie die Brunst mit magischer Gewalt.

Wiehernd stürzten sie aufeinander, und die Männer stießen wahllos in die Frauen: bald wie Stiere sie von hinten bespringend, bald wie Schnecken von vorn sich gegen sie erhebend.

Bracke, auf dem Giebel tanzend, schrie: »Tut Buße! Tut Buße!«

Und Bracke schrieb ein Konzilium der Totengräber in den märkischen und wendischen, pommerschen und mecklenburgischen Landen aus: er bat, sie möchten nach Crossen kommen, er wolle sie die wahre Kunst des Totengrabens lehren.

Da beredeten sich die Totengräber untereinander und beschlossen, der Einladung Folge zu leisten.

Sie erschienen also in ihren schwarzen Mänteln zu Hunderten in Crossen, daß die Crossener schier sich ängsteten, und die Gasthäuser waren überfüllt von ihnen.

Auf dem Marktplatz hatte Bracke auf dem Predigerstein eine Kanzel errichtet aus Holz, von

15 Klabund der hub er an zu reden, angetan mit einem schwarzen Mantel und einem Totenkopf unter dem Arm:

»Ihr Totengräber! Dank zuvor, daß ihr so zahlreich erschienen seid.

Eure Erwartung soll nicht enttäuscht werden. Ich habe euch einen Rat zu erteilen, den gab mir in der Nacht Ahasver, der ewige Jude, im Traum: damit wird euer Ein- und Auskommen verbessert in alle Ewigkeit.

Beginnt endlich damit, die Lebenden zu begraben! – so braucht ihr nicht zu warten auf den Tod eines jeden. Denn alle, die heute leben, stinken schon in der Verwesung und sind wie tanzendes Aas.

Beginnt mit den hohen Herren oben und begrabt mir endlich einmal« – Brackes Stimme schlug über – »den toten Kurfürsten, der immer noch in mir lebt.

Was braucht ihr noch zu warten, bis ein jeder stirbt? Begrabt die Lebendigen – so werdet ihr jeden Tag Totengeld erhalten, wann immer ihr wollt. Unter die Erde mit den Irdischen! Dies ist mein Rat, den ich euch gebe: aus Menschenliebe – frei und ohne Entgelt.

Geht nun nach Hause. Grabt. Gehabt euch wohl.«

Und damit stieg Bracke von der Kanzel und wandelte mit dem Totenkopf unter dem Arm in den Ratskeller, wo er ihn sich mit rotem Wein füllen ließ und austrank in einem Zuge.

In Crossen war die Stelle eines Nachtwächters zu vergeben.

Da bat Bracke, man möge ihn in solchen Dienst nehmen.

Er habe vierzig Jahre des Tages gewacht, und wünsche nun auch einmal des Nachts zu wachen und aufzumerken, wie es nachts auf der Welt aussehe, indem er pünktlich und gewissenhaft die Stunden zähle und rufe von abends neun bis morgens sechs.

Man zog ihm Kappe und Mantel an, schnallte ihm einen Degen um, gab ihm Stock, Horn und ein Stundenglas in die Hand. –

Und Bracke stand unter den Torbögen oder wandelte durch die mondhellen Straßen. Er sah die Sternschnuppen fallen und den Sand in seinem Glas. Und immer, wenn eine Stunde um und der Sand ausgelaufen war, drehte er das Glas, und der Sand lief von neuem, die Sternschnuppen fielen, die Hunde bellten, und ein Träumender schrie im Schlaf.

Haß, Ekel und Verachtung der Menschen gewannen solche Macht über ihn, daß sie ihn wie mit Zentnergewichten zu Boden drückten. Und ob er wie ein Athlet auf den Jahrmärkten mit ihnen jonglierte und sie zu bändigen trachtete, es geschah, daß ihm beim Anblick eines Menschen derart übel wurde, daß er erbrach.

Er ging auch am Tage stets mit den Händen vor dem Gesicht durch die Straßen, damit er niemand sähe.

Und er ließ sich sein Essen bringen von einer alten Begine.

Als zum Jahrmarkt eine Seiltänzertruppe auf dem Münzplatz erschien, trat er zum Direktor an den Wagen und bat ihn, ob er ihn nicht in freien Stunden vormittags das Seiltanzen lehren wolle.

Der Seiltänzer lachte:

»Ihr alter Mann mit Euern zitternden Gliedern!«

»Ich bin nicht so alt wie Ihr meint. Ich möchte auf dem Seile tanzen und dann mit einem gewaltigen Sprung vom Seile in die Masse der Menschen springen: auf ihre platten Köpfe: und ihrer ein Dutzend im Fall zerstampfen.«

Da machte der Seiltänzer ein Kreuz.

Und Bracke entwich, vogelartig hüpfend.

 

Bracke ging über den Friedhof. Er blieb an einem frisch geschaufelten Grabe stehen.

»Ist dies für mich bestimmt?« – Und er gedachte, es auszumessen.

Da hörte er Geräusch im Grabe und sah Sand auffliegen, wie wenn ein Maulwurf sich durch die Erde arbeitet.

»Ach, Ihr seid es«, sprach Bracke und sah, wie der Conte Gaspuzzi sich mühsam aus der Höhle wälzte, braun bestäubt wie ein Pfefferkuchenmann.

Bracke betrachtete sein Gesicht, das einem Stück Sandsteinfelsen glich: mit Rinnen und Gängen von Korallentieren. Seine Augen lagen darin wie tote Fliegen in Bernstein.

»Ihr könnt nicht sterben – und ich kann nicht leben...«, sagte Bracke, »wie alt seid Ihr wohl, wenn es gestattet ist, zu fragen?«

»Bei Christi Kreuzgang war ich fünfzig Jahre alt. Der Herr trug sein Kreuz an meiner Wohnung vorbei, es drückte ihn schwer, und er blieb an meinem Hause stehen, der ich grade in der Sonne saß und in die Mückenschwärme blickte:

›Mein Freund – es ist heiß, gebt mir einen Schluck Wasser.‹

Da rief ich: ›In die Hölle mit dir, Prophet der Ketzer. Einem Ungläubigen das Wasser reichen! P... und sauf dein eigenes Wasser.‹

Da sprach Christus: ›So sollst du ewig durch die Jahrtausende gehen und unlöschbaren Durst haben nach dem Nichts und nach der Vernichtung: deiner und der Welt, nach dem Tod ... aber du wirst nicht sterben können ...‹

So laufe ich Jahrtausende durch die Welt, lausche auf die Harmonie der Sphären, saufe und saufe das Leben in mich hinein – aus Durst nach dem Tode – und kann nicht sterben.

Ich stürzte mich von der Kuppel des St. Peter in Rom – da glitt ich wie auf einem seidenen Tuch sanft zu Boden.

Ich ließ mich als Gladiator in der Arena Neros zerstückeln und zerfleischen – mein Fleisch fand sich wieder zusammen, und man trug mich als ganzen Menschen aus der Arena, daß selbst Nero vor diesem Zeichen erblaßte.

Ich warf mich in den Vesuv – er hat mich wieder ausgespien.

Ich ging auf ein Schiff, im Gefolge des Kolumbus, das Schiff kam in Sturm und versank, mich spülten die Wellen in Spanien an die Küste. Ich kann und kann nicht sterben.« Bracke starrte in das leere Grab. »Bruder«, lispelte er.

 

Als Bracke über die Oderbrücke heimging, hörte er ein leises Läuten.

Er beugte sich über das Geländer.

Da sah er im Mondschein unten in der Oder die versunkene Stadt liegen.

Die war anzusehen wie seine Heimatstadt Trebbin: Kirche und Plätze und Häuser und Brunnen.

Nur schien alles reicher und bunter und strahlender, vom Glanz der Ewigkeit bestreut, vom Strom der Unvergänglichkeit überflossen.

Aus Marmor waren die Häuser gebaut und die Dächer aus purem Silber.

Die Glocken, die in der Kirche läuteten, und die seitwärts zum Gestühl herausschwangen, schienen eitel Gold.

Edelsteine blühten statt Blumen in den Blumenstöcken an den Fenstern und kleine Korallenbäume. Das Moos zwischen den Steinen zeigte die Patina von Kupfer.

Da schluchzte Bracke tief auf, und die Tränen fielen auf den Wasserspiegel und zerstörten in ihrem klingenden Fall das Bildnis seiner Jugend.

Die lag nun begraben, tief in der Oder.

Und er mußte sich halten, daß er sich nicht über das Geländer der Brücke schwang und ihr nicht nachsprang in den Fluß hinein: ein englischer Knabe, zu wandeln zwischen den Marmorhäusern und Edelsteinblumen.

 

Bracke ging in eine Bäckerei und kaufte eine große Tüte Süßigkeiten.

Und er stellte sich auf den Markt, rief die Buben und Mädchen und sprach:

»Kommt herbei, ich will Süßigkeiten unter euch verteilen nach der Gerechtigkeit Gottes.«

Und sie liefen schreiend herbei und öffneten ihre Hände.

Da gab Bracke nun dem einen fünf, dem andern zwei, dem vier, dem gar keinen Kuchen. Da sprachen die Kinder:

»Du bist ungerecht, daß du dem einen mehr und dem andern weniger, dem dritten überhaupt nichts gibst.«

Brackes Bart wehte:

»Ich habe euch gesagt, daß ich die Kuchen verteilen wolle nach der Gerechtigkeit Gottes – und also habe ich getan. Denn Gott gibt dem einen wenig, dem andern viel, dem dritten aber gar nichts. Dies ist die Gerechtigkeit Gottes. Es ist nichts Ungerechteres als Gott. Geht nach Hause und erzählt dies euren Eltern und den Pfaffen.«

 

Bracke rannte einsam durch die Nacht.

Da begegnete er der Wache, die hielt ihn an und sprach:

»Was hast du zu dieser Zeit der Spitzbuben und Räuber auf der Straße zu suchen?«

Bracke drehte seinen Kopf wie eine Schraube. »Ich suche meinen Verstand ... er läuft mir davon wie ein rasender Hengst ... und ich komme ihm nicht nach ... helft mir meinen Verstand wieder einfangen, ihr guten Herren, aber tut ihm nichts mit euren Lanzen und Spießen.«

 

Es ward aber Bracke kränklich und gebrechlich, da gedachte er in ein Kloster zu gehen.

Und er klopfte an bei den Franziskanern auf dem Neumarkt.

Der Abt öffnete persönlich. Bracke zog den Hut:

»Herr, nehmt mich auf in Euer Kloster, denn ich bin alt geworden und müde der Welt.«

Der Abt fluchte wie ein Zinngießer:

»Als Ihr jung wart und lustig durch die Welt sprangt und schwärmtet, wurdet Ihr ihrer nicht so bald müde und überdrüssig und gedachtet auch in kein Kloster zu gehen. Jetzt erst, da Euch der Teufel an der Gurgel sitzt – verspürt Ihr plötzlich Sehnsucht nach dem Himmel.«

»Das ist wohl wahr,« sprach Bracke, »ich bitte Euch, macht trotzdem einen Versuch mit mir und stellt mich auf die Probe.« »Gut,« sprach der Abt, »könnt Ihr schreiben?«

»Mit aller Kunst«, gab Bracke Bescheid.

»So werde Euch die Aufgabe, eine Vulgatabibel abzuschreiben ...«


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