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Bracke
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Bracke hatte drei Jahre mit seiner Frau in Friede, Glück und Eintracht gelebt, aber so innig sie sich auch liebten, so eifrig Grieta der Madonna Wachskindlein opferte und stundenlang im flehenden Gebet verharrte – ihre Ehe blieb kinderlos. Da gelobten sie in heiliger Messe, einträchtig auf der Betbank kniend, daß sie dem Dienst des Herrn das Kind weihen wollten, wenn er ihnen eines vergönne. Wäre es ein Knabe, so sollte es ein Mönch, wäre es ein Mädchen, so sollte es eine Nonne werden.

Und Gott erhörte ihr Gebet.

Ein Jahr darauf ward Grieta von Zwillingen entbunden, von Knaben.

Die wuchsen nun auf und waren einander unähnlich wie Feuer und Wasser, Luft und Erde, Blüte und Wurm.

Der eine war himmlisch anzusehen mit seinen blonden Locken wie ein Engel, der andere aber war schwarz und häßlich. Seine Augen standen schief. Er roch aus dem Munde. Und schlürfte ein Bein wie einen Sack Rüben nach.

Da kamen Bracke und Grieta überein, den häßlichen Knaben Gott zu weihen und taten ihn bald zu den Mönchen, behielten aber den schönen zu ihrer und der Menschen Freude in der Welt.

Gott aber empfand es als Gotteslästerung, daß sie den häßlichen ihm weihten und nicht den schönen, und er sandte in der Johannisnacht zwei Blitze. Die erschlugen beide Knaben: den schönen und den häßlichen.

Grieta und Bracke taten Buße, und Brackes Wesen war von da ab noch sonderlicher, so daß er ganze Monate aus dem Hause blieb und in den märkischen Wäldern das Leben eines Büßers führte, sich nur von Kräutern nährend.

Grieta aber härmte sich um ihn. Denn sie sah um seine Stirn die Flamme der Gerechtigkeit leuchten.

 

Der Kurfürst fragte Bracke, in welcher Kunst er sich die letzte Zeit besonders ausgebildet.

Der sagte nun: vorzüglich in der Malkunst, denn er habe Unterricht bei einem tüchtigen Meister genommen und es so weit gebracht, daß er Blumen, Tiere, Häuser und Menschen ohne Beschwerlichkeit in vollkommener Treue auf die Leinwand zu bringen vermöge. Ja, sein Meister, der ein seltener Künstler in seinem Fache sei, habe ihn noch gelehrt, das Unsichtbare sichtbar zu schaffen, so daß es ihm möglich sei, Tugend und Laster, Anmut und Verworfenheit, Geiz, Güte, Glück und Grausamkeit zu malen.

Dem Kurfürsten, der aufmerksam zuhörte, gefiel die Rede, und er fragte Bracke, ob er für zweihundert Gulden, da er das Unsichtbare sichtbar zu gestalten vermöge, nicht ein Abbild Gottes zu malen imstande sei...

Bracke sagte fröhlich: »Gewiß, gnädiger Herr«, nahm fünfzig Gulden Aufgeld, richtete einen Saal des Schlosses für sich her und ließ Leinwand und mancherlei Farben und Tuben und Pinsel expedieren. Er bedang sich vom Kurfürsten aus, daß niemand den Saal betreten dürfe, bis das Bild vollendet sei.

Dies sagte ihm der Kurfürst zu.

Bracke verbrachte nun die Vormittage in seinem Saale, in dem er auch zu schlafen pflegte, ging mittags in die Gesindestube zum Essen und spielte danach im bernauischen Keller mit Hausierern, Landsknechten, Juden und Bauern Würfel und Karten.

Nach drei Wochen fragte ihn der Kurfürst, der mit seiner schönen Gemahlin im Garten des Schlosses spazierte (es war Frühling, die Amseln sangen, und die Bäume trieben rosagrüne Knospen):

»Wie weit ist Er denn, Bracke, mit seinem Bilde!«

Da verneigte sich Bracke:

»Heute noch wird das Bild vollendet, und wenn Ihr mir morgen früh die Ehre des Besuches erzeigen wollt, so will ich es Euch weisen.«

Die Kurfürstin fuhr mit ihrer Linken spielerisch über den Kopf eines Windspiels: »Darf ich das Bild nicht ebenfalls betrachten?«

Und Bracke neigte sich:

»Gewiß, gnädigste Kurfürstin, vielleicht gefällt es Euch, Euren Gemahl zu begleiten.«

 

Am Morgen empfing Bracke das erlauchte Paar am Eingang zum Saal.

Er hatte einen weißen Mantel übergeworfen, trug ein weißes Samtbarett, in der Linken die Palette, rechts den Pinsel und war ganz angetan wie ein Maler.

»Ich werde Euch, edle Kurfürstin, gnädiger Herr, nunmehr das Bildnis Gottes zeigen – wisset aber, daß nur die es sehen werden, die reines Herzens sind – wie schon in der Bibel geschrieben steht.«

Damit öffnete er die Flügeltüren des Saales.

Da sah nun der Kurfürst im Hintergrund auf riesiger Staffelei nichts als eine große, in Form eines Altarbildes golden gerahmte Leinwand.

»Beim Teufel, dem ich ja nun einmal verschrieben scheine,« raunzte der Kurfürst, »ich sehe nichts als eine weiße Leinwand.«

Die Kurfürstin lächelte, obwohl ihr die Tränen der Beschämung näher waren, und sagte:

»Was seht denn Ihr, Bracke, auf der weißen Leinwand, die Ihr mit Gott bemalt habt?«

Bracke drehte den Pinsel um, so daß er zum Zeigestock wurde und deutete gleichsam die einzelnen Partien des Gemäldes.

»Hier in dem mittleren Teil des Bildes thront auf silbernem Sessel, der auf silbernen Wolken steht, Gott Vater. Die Eule, das Sinnbild der Weisheit, sitzt, einen Spiegel in ihren Krallen, auf seiner rechten Schulter, auf seiner linken die Taube, das Sinnbild der Güte. Zu seinen Füßen dahingestreckt reckt sich ein goldener Löwe, das Sinnbild der Schönheit.

In seiner linken Hand trägt er wie einen Reichsapfel die Erdkugel. Seine Rechte umfaßt den gezackten Blitz, das Schwert der Gerechtigkeit.

Unter der Wölbung links wandelt Hand in Hand mit seiner Mutter Maria Gott der Sohn in einem Rosengarten. Viele Frauen und Kinder folgen ihm, hüpfend und psalmodierend.

Unter der Wölbung rechts schwebt über blauem Berg eine weiße Wolke, aus welcher der Kopf eines Adlers zuckt. Dies ist der Heilige Geist.

Im Tale weiden Ziegen und Schafe, die ihn nicht spüren noch ahnen.

Er wird sie vernichten ...

Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. Sie werden ihn sehen: überall, im höchsten wie im geringsten. Im Prunkgemälde wie in dieser einfachen Leinwand.«

Die Kurfürstin trat auf Bracke zu:

»Jetzt, da Ihr mir Gott so anschaulich gezeigt, erkenne ich ihn selbst auf dieser leeren Leinwand. Ich will versuchen, ihn niemals mehr zu verlieren. Ich danke Euch, Bracke.«

Und sie reichte ihm ihre kleine Kinderhand.

Das Rentamt des Kurfürsten zahlte Bracke die bedungenen hundertfünfzig Gulden Rest für das Gemälde Gottes aus.

Die Kurfürstin befahl, die golden gerahmte Leinwand in ihrem Schlafzimmer über ihrem Bett aufzuhängen, damit sie Gott stets vor Augen habe, wenn sie erwache, und den Tag mit seinem Anblick beginne.

 

Die Kurfürstin ließ Bracke rufen: »Habt Ihr nicht Lust, ein Porträt von mir zu malen, da das Bildnis Gottes Euch so gut gelungen?«

Bracke lächelte: »Es würde mir mit Euch vielleicht ähnlich gehen, wie dem heiligen Lukas mit der Mutter Gottes.«

Die Kurfürstin sprach:

»Und wie erging es ihm?«

Bracke sprach:

»Dem heiligen Lukas erschien im Traum eine englische Erscheinung, die sprach: ›Steh auf, Lukas, du sollst das Angesicht unsrer lieben Frau malen, damit ein Bildnis ihrer auf die Nachwelt komme.‹ Lukas erhob sich im Morgengrauen und schritt demütig zur Hütte, in der Maria wohnte, nahm auch Pinsel und Palette, Leinwand und Farbenkasten, in seinen Mantel eingeschlagen, mit, denn er war ein geachteter und berühmter Maler schon zuvor. Dort begrüßte er nun in aller Demut und Unterwürfigkeit die Heilige und tat ihr sein Anliegen und den nächtlichen Besuch des Engels kund. Da lächelte Maria, wie nur sie zu lächeln vermag, und setzte sich im Freien vor der Hütte unter den Bäumen in Positur. Und Lukas stellte seine Staffelei und seinen Farbenkasten auf, nahm allerlei Maß und begann alsbald zu zeichnen und zu malen. Von den Wolken hernieder aber schwebten Amoretten und Putten und kleine Engel. Einige bildeten einen Kranz und schlangen sich spielerisch um Maria, die kamen mit auf das Bild. Andere aber standen, die Flügel gefaltet, hinter ihm, beäugten neugierig das Wunderwerk, das hier ward, oder halfen ihm Farbe reiben und reichten ihm die Pinsel zu.

So schritt die Arbeit rüstig fort, als die Abenddämmerung allzu früh hereinbrach und des Künstlers Arbeit hemmte. Das Bild war fast, aber doch nicht ganz vollendet. Es fehlte den Augen der Maria das letzte Leuchten. Ihrem Mund ein kleines Lächeln und ihrem ganzen Wesen ein Hauch Allmütterlichkeit. Seufzend packte Lukas sein Gerät zusammen und verabschiedete sich mit dem Versprechen, morgen wiederzukommen und das begonnene Werk im Herrn zu vollenden. In der Nacht aber wurde Maria in den Himmel abberufen, und als Lukas am nächsten Tag an die Tür ihrer Hütte pochte, antwortete ihm keine Stimme. Als er öffnete, sah er das Irdische der heiliges Mutter blaß und regungslos auf dem Lager liegen. – So kam es, daß es kein vollendetes Bild von der heiligen Frau auf Erden gibt. Auch die größten Maler aller Zeiten: ein Raffael, ein Bellini, ein Fra Angelico haben nur einen schwachen Abglanz ihrer auf die Leinwand gebracht. Immer fehlt ein letztes: dem gelangen die Augen, aber er verfehlte gänzlich die Lippen. Der malte die schönsten und zärtlichsten Hände, aber ihre Stirn war viel zu streng, ihr Haar zu wenig blond und sonnengold. Dem einzigen, der sie zu ihren Lebzeiten ganz und vollkommen hätte malen können, nahm der Tod den Pinsel aus der Hand. – Aber es soll wohl so sein. Ein jeder soll sich sein Bild von der Madonna machen. Sie wird es segnen, auch wenn es nicht so trefflich gelingt. Das Leben bleibt Stückwerk. Auch wir schreiten unvollendet hinüber. Hilf uns, Sankt Lukas, unser Bild im himmlischen Reich zu vollenden. Dort hast du Gold und Rosenrot, Morgenrot und Himmelblau auf der Palette – Farben, nach denen wir grau und schwarz bemalten Menschen so selige Sehnsucht tragen. Heb uns aus dem Schatten ins Licht. Laß uns leuchten wie Stern und Sonn und Mond, Sankt Lukas.«

Die Kurfürstin hatte die Augen geschlossen.

»Amen«, sagte sie leise.

 

Brieta vernahm, daß Bracke eine Nacht bei der Magd des Kugelapothekers in Berlin geschlafen habe.

Sie weinte, legte Witwenkleidung an und begab sich nach Berlin. Sie traf die Magd in der Küche, setzte sich auf die Küchenbank und sprach: »Weiß Sie, wer ich bin?«

Die Magd, die Teller scheuerte, sprach, ohne aufzusehen:

»Nein, Frau.«

»Sehe Sie mich an!«

Die Magd sah auf.

»Was sieht Sie an mir?«

»Daß Sie eine Witwe ist...«

»Und warum bin ich wohl eine Witwe?«

Die Magd sprach:

»Wie sollt ich's wissen – weil Ihr Mann tot ist, wahrscheinlich.«

Grieta sprach:

»Ja, weil mein Mann gestorben ist. Denn er hat bei Euch im Sarge gelegen...«

Da merkte die Magd, worauf Grieta hinaus wolle, und wer es wohl sein könne.

Sie fiel vor ihr in die Knie:

»Könnt Ihr mir verzeihn?«

Grieta sprach:

»Steht auf!« Da schüttelte die Magd den Kopf:

»Nein, laßt mich Euch kniend erzählen, wie Bracke bei mir war. Er hatte kein Geld zum Nachtlager, und ich nahm ihn mit in meine Kammer. Als wir nun nebeneinander im Bett lagen, da holte er aus der Brusttasche Eure auf einem Jahrmarkt geschnittene Silhouette, Frau, betrachtete sie lange und inbrünstig, und begann mir von Euch zu erzählen. Daß es wohl keine schönere, keine bessere und keine barmherzigere Frau gäbe als Euch. Da sprach ich, denn ich wurde eifersüchtig vor so viel Lobpreisung Eurer: ›Laßt sehen, ob ich Eurem Weibe nicht vielleicht nur wenig nachstehe.‹ Da zeigte ich ihm meine Brüste und meine schlanken Beine und sagte ihm, daß mich noch niemand berührte. Da küßte er mich und sprach: ›Grieta wird sich mit uns freuen, wenn sie hört, wie wir zusammen glückselig waren‹ – und wir versanken ineinander.«

Grieta stand auf. Sie warf die Witwenhaube ab.

Sie küßte der Magd die Tränen von den braunen Augen und sprach: »Weißt du nicht, meine Freundin, wohin Bracke gegangen ist? Er blieb solange von Hause fort.«

»Ich weiß es nicht, Frau,« sprach die Magd, »aber wenn er mir begegnet, will ich ihn sogleich Euch senden...«

 

Ein geckiger Franzose namens D'aujourd'hui, der am Hofe des Kurfürsten eine Hofmeisterstelle versah, war wegen seines hochfahrenden Wesens allgemein unbeliebt. Zu jedem, der es hören wollte und auch zu denen, die es nicht hören wollten, führte er Rede dergestalt, daß die Franzosen nur die rechte Kultur und Grazie hätten, und daß die deutschen insgesamt Schweine seien, die von nichts etwas verstünden als von ihrem eigenen Mist.

Dieser Franzose verdroß Bracke sehr, und er beschloß, ihm eine Lehre zu geben.

Als der Franzose einst vom deutschen Bier im bernauischen Keller zuviel probiert, es gegen elf Uhr abends geworden war und er wieder solche Reden führte wie: deutsche Schweine..., sprach Bracke zu ihm:

»Ich will Euch beweisen, daß die Schweine – nicht deutsch, wohl aber französisch reden – und also zur französischen Nation zu zählen sind.«

Und er packte den Franzosen am Handgelenk und führte ihn zum Gelächter der Bürger an den Schweinestall des Wirtes.

Dort ersuchte er ihn, an die Tür zu pochen und auf französisch zu fragen, wieviel Uhr es sei.

Der Franzose klopfte an die Tür und fragte: » Quelle heure est-il

Da antwortete drinnen die Sau, aus dem Schlafe aufgestört, durch ihren Rüssel schnaubend: » Onze, onze

»Seht nur nach der Uhr,« lachte Bracke, »ob Euch die Sau nicht recht Bescheid gegeben.«

Der Franzose sah auf die Uhr, und es war in der Tat elf Uhr...

Da schlug er mit ganzer Faust wütend an die Tür und schrie: » Est-ce que c'est vrai? Est-ce que vous parlez français

Da erwachten auch die Ferkel aus dem Schlafe und quietschten: » Oui, oui...«

Mit einem Fluche auf den Lippen, unter dem dröhnenden Applaus des Publikums, schwankte der Franzose hinüber in den Seitenflügel des Schlosses, in dem er wohnte.

Seitdem aber heißt es in der Mark Brandenburg, daß die Schweine französisch sprechen.

Während, wie man schon von früher weiß, die Esel deutsch reden.

I–a.

 

Es kam eine Mutter, die brachte ihren Sohn, einen Verwachsenen und Zwergen, zu Bracke und sprach:

»Da er sonst zu nichts taugt, nicht als Metzger das Messer schwingen, als Krämer die Wage bedienen, als Kutscher die Pferde lenken kann –, so bitte ich Euch, nehmt ihn gegen eine angemessene Entschädigung in Eure Schule der Weisheit. Lehrt ihn denken, reden, handeln gleich Euch: närrisch und edel, heiter und klug, damit er geachtet sei bei den vornehmen Standespersonen und sein Ein- und Auskommen habe bis an sein Ende.«

Bracke führte die Frau mit dem Knaben zu seiner Ziege:

»Seht Ihr diesen Ziegenbock?«

Und er gab ihm einen Schlag, worauf der Bock meckerte.

»Dieser Ziegenbock ist seit Jahren mein Freund und Schüler. Trotzdem ich mir aber alle Mühe mit ihm gegeben und mit ihm zusammen sogar die Propheten gelesen habe, vermag er bis heute noch nichts anderes als eben zu meckern, zu fressen und zu sch... , denn dies eben sind die vorzüglichen Eigenschaften und Kräfte des Ziegenbockes, und ich glaube, dein Sohn wird nicht eben mehr lernen als er ist: ein Zwerg zu sein und zu bleiben und das Zwergige in sich, nicht aber das Riesige zu entwickeln, denn dieses würde ihm übel anstehen. Auch mag er auf sein Mundwert Bedacht haben: denken und – schweigen, daß es nicht heiße: wo hat dieser Zwerg das Riesenmaul her? Du magst ihn aber immerhin bei mir lassen. Mein Weib wird sich freuen, ein fremdes Kind zu bekommen, da Gott uns die unsern nahm. Er bleibe einen Monat. Da werden wir sehen, ob er auch Anlagen hat, unser geistiger Sohn zu werden.«

Die Frau, obwohl sie nur wenig von der Rede Brackes verstand, ging hochbeglückt von dannen.

Nach einem Monat kam sie wieder: da hatte der Zwerg gelernt, die Stube zu fegen, Sand zu streuen, die Betten zu machen und die Hühner und Gänse zu warten.

»Ist dies die Schule der Weisheit?« fragte die Frau verwundert. Aber sie ließ den Zwerg noch einen Monat bei Bracke.

Da lernte der Zwerg im zweiten Monat die Stiefel putzen, das Feuer im Herde anmachen, Suppe kochen und Kartoffeln schälen.

Nachdem der zweite Monat um war, kam die Frau wiederum, und wiederum erstaunte sie sehr über die Schule der Weisheit. Im dritten Monat lernte der Zwerg lachen, im Walde streifen, die echten von den giftigen Pilzen scheiden, Vogelstimmen nachahmen und zu den Sternen sehen.

Als nun nach dem dritten Monat die Frau sich wieder bei Bracke einfand, sprach dieser:

»Dein Sohn hat die drei ersten Klassen der Schule der Weisheit trefflich absolviert. Nimm ihn wieder mit. Nichts anderes kann man einen Menschen aus sich, aus ihm heraus lehren als dies: alles Menschliche menschlich zu tun. Für jedes rechte Gefühl auch die rechte Form zu finden. Immer mit sich eins und zufrieden in Geist und Handlung sein. Sich selber erlösen – so erlöst einen Gott.«

Dies begriff nun die Frau erst recht nicht, aber da sie in das aufgeblühte Antlitz ihres Zwerges sah und seine heiteren und sicheren Gebärden und Worte, ging ihr das Herz auf; sie ahnte Brackes Weisheit und ging, den Knaben an der Hand, und ließ Bracke viele Segenswünsche und ein halbes ausgenommenes Kalb als Schulgeld zurück. Bracke ging mit einem dicken Buch in der Hand spazieren und las im Gehen.

Er fiel in die Spree.

Man fischte ihn mit langen Stangen und Seilen aus dem Wasser und brachte ihn triefend zum Kurfürsten.

Der Kurfürst bebte erheitert:

»Da sieht Er, Bracke, wohin Er mit seiner Weisheit kommt. Vor lauter in die Luft stieren – und über die Erde taumeln – fällt er ins Wasser.«

Bracke sprach:

»Wollt Ihr hören, worüber ich mich so entsetzte, daß ich ins Wasser fiel?

Es ist das Encomium moriae des Erasmus von Rotterdam, und lateinisch geschrieben.«

Und er schlug sein Buch auf:

»Was soll ich nun von den Großen des Hofes sagen? Obwohl die meisten von ihnen die denkbar Verächtlichsten, Widerwärtigsten und Verworfensten sind, wollen sie trotzdem in allen Dingen als die Hauptpersonen angesehen werden. Freilich sind sie in dem einen Punkte sehr bescheiden, daß sie sich damit begnügen, Gold, Juwelen, Purpur und alle möglichen Symbole der Weisheit und Tugend auf ihrem Körper zu tragen, aber andern die Sorge überlassen, weise und tugendhaft zu sein. Der saubere Gebieter schläft bis zum Mittag und läßt sich, dann von dem bereitstehenden gemieteten Kaplan, noch fast im Halbschlummer, eilig eine Messe lesen. Dann frühstückt man; das Diner folgt unmittelbar darauf. Nach Tisch wird gewürfelt, gelost und manches Brettspiel gespielt; es kommen die Spaßmacher, die Narren und Dirnen. Solchermaßen vergeht das Leben der hohen Herren. –

Ist dies nicht die abscheulichste Lüge, die mir je vorgekommen?« sprach Bracke – »eine so erbärmliche und so sonderbare Lüge, daß Wort für Wort... alles... wahr ist. Was sagt Ihr zu solcher Art Lügen, Herr?« Der Kurfürst hatte mit jener Dirne, die er einst in seiner Hochzeitsnacht umarmte, ein sommersprossiges, blasses und rachitisches Kind gezeugt.

Als es fünf Jahre zählte, befahl er, daß es in den Palast verbracht würde.

Vor diesem Kinde hatte der Kurfürst Furcht, und er schrieb ihm geheime Kräfte zu.

Es sah ihn zuweilen mit seinen grünen Augen so unendlich leidend an, daß er erbebte.

Es ließ mit einem apathischen Lächeln alles mit sich geschehen.

Der Kurfürst schenkte ihm Holzpuppen, kleine Negersklaven, Papageien und Affen.

Es sah alles mit großen Augen an und lächelte stumpf.

Innocentia taufte er das Kind.

Als es im sechsten Jahre an Schwäche starb, war der Kurfürst untröstlich und hängte am Tage seines Todes sieben Juden.

Er schrieb ein Trauergedicht: Innocentia, das er durch Bracke auf dem Marktplatz öffentlich verlesen, durch Schreiber in Gold schreiben, in schwarzes Leder binden und der kurfürstlichen Bibliothek in Berlin einverleiben ließ.

Das Gedicht aber begann:

Unschuldig zeugte ich dies Kind – und also starb's. Nie liebt ich ehrlicher als diesen Schmerz. Nie tiefer war mein Leid als dieses Grab. Nie edler mein Pokal als ihre Aschenurne.

Der Kurfürst hatte eine kurze Komödie von der Geburt des Herrn erdacht und gedichtet. Sie war mit zweierlei Tinte rot und schwarz auf Pergament, der Umschlag in schwarzer Seide, in der kurfürstlichen Kanzlei selbst vervielfältigt.

Er gab sie Bracke zu lesen. Bracke las:

Der Engel Gabriel spricht:
Nicht fürcht dich, o du kleine Schar,
Gott ist mit dir, glaub mir fürwahr.
Hör Wunder groß zu dieser Frist:
Euch allen heut geboren ist
Christus, der Herr, ein Kindelein
Von einer Jungfrau zart und fein
Zu Bethlehem, in Davids Stadt,
Wie es euch Gott verheißen hat.
Das Kind zu dieser kalten Zeit
In einer harten Krippe leidt,
Welches Maria, Mutter sein,
Gewickelt hat in Windeln ein.
Sein Bett wird sein von Stroh und Heu,
Ein Ochs und Esel ist dabei.
Geht eilends, seht das Wunder an,
Was Gott hat diese Nacht getan,
Ehre sei Gott in der Höhe!

Bracke las noch einmal: Sein Bett wird sein von Stroh und Heu... ein Ochs und Esel ist dabei... was weiß der Kurfürst von mir?

Da sah er in die erwartungsvoll wie kleine Trommeln gespannten Augen des Kurfürsten und sprach:

»Ihr solltet die Komödie zur Weihnacht im Schlosse der gnädigen Frau Kurfürstin vorspielen lassen.«

Der Kurfürst zeigte sich angeregt von dem Gedanken. »Ein hübscher Einfall. Er hat recht, Bracke. Aber wo nehme ich die Schauspieler her?«

Bracke sann:

»Laßt mich nur machen, ich kenne Komödianten genug.« Und er bat den Kurfürsten um Autorisation zur Aufführung.

 

Bracke rief den Mörder, den Henker, den Abdecker und jene Dirne, von der der Kurfürst ein Kind hatte, zusammen und sprach:

»Ich habe Arbeit für euch.«

Da sprachen die Männer, welche sonst wenig sprechen:

»Sprich, Bracke.«

Und Bracke sprach:

»Ihr sollt in einer Komödie spielen.«

Die Männer schwiegen.

»Ich werde euch die Komödie einlernen und die Worte, Gesten und Gebärden.«

Und der Mörder sprach:

»In welcher Komödie sollen wir spielen?«

Bracke gab Bescheid: »In der Komödie von der Geburt des Herrn, die der gnädige Kurfürst in eigener Person verfertigt hat.«

Da schwiegen die vier.

Endlich sprach der Henker:

»Und was soll ein jeder von uns darin darstellen?«

Bracke bestimmte:

»Du, Henker, spielst den Engel Gabriel. Du, Abdecker, den Joseph. Die Hure spielt die Mutter Gottes. Der Mörder Gott-Vater selbst.«

»Und das Jesuskind?« fragte die Dirne.

»Das Jesuskind spielt deine Tochter, des Kurfürsten Kind ...«

Das Kind aber war dazumal noch am Leben.

Als nun der Tag der Vorführung kam, hatte Bracke ihnen allen schöne Kleider, Geräte und Symbole besorgt. Er hatte sie durch Bärte und Schminke unkenntlich gemacht und ihnen die Gesten, Gebärden und Worte trefflich einstudiert, so daß Kurfürst und Kurfürstin von der Vorführung hoch entzückt und erbaut waren. Die Kurfürstin gab Bracke ihre kleine Kinderhand und sagte leise:

»Ich habe Euch lieb, Bracke.«

Und ging in ihre Gemächer.

Der Kurfürst setzte sich mit den vermummten Komödianten und Bracke noch zu Tisch und schmauste und zechte mit ihnen die Nacht durch.

Trunlen tölpelte er mit der Dirne, die als Mutter Gottes einen goldenen Heiligenschein um ihre Stirn trug, ins Bett.

Am übernächsten Tage, nachdem der Kurfürst seinen Rausch ausgeschlafen hatte, fragte er Bracke, wer die scharmanten Schauspieler gewesen seien.

Da sprach Bracke:

»Der Henker, der Abdecker, der Mörder und die Hure.«

Da erblaßte der Kurfürst, holte die Hand zum Schlage aus, besann sich aber und verließ dröhnend das Zimmer.

 

Es war wenige Tage danach, da wanderte Bracke durch die verschneite Silvesternacht nach Hause gen Trebbin, zu seinem Weibe.

Er schritt wie eine blühende Linde durch den nächtlichen Winter, und in ihm zwitscherte Drossel- und Nachtigallenruf: Grieta! Grieta!

Was für ein Frühling soll das werden, jubelte Bracke, was für ein Sommer! Grieta! Unser Glück soll himmlisch blühen und reifen! Grieta, ich will einen Sohn in dieser Silvesternacht mit dir zeugen, der soll Tiere und Bäume und Sterne reden hören, und das Meer soll sich vor ihm teilen wie vor Mose. Er soll mit seiner Hand den Lauf der Sonne anhalten und den Mond aus der Nacht in den Tag hinüberschleudern. Gebirge wird ihm sein wie Ebene, darauf zu tanzen. Alle Frauen werden seine Schwestern sein.

Da hörte er seitwärts einen Specht an einem Baume hämmern:

»Bracke! Bracke!«

Und er blieb stehen und erinnerte sich des Gespräches der beiden Pferde im Stall des Hauptmanns von Schlieben.

»Bracke,« klopfte der Specht, »geh eilends. Dein Weib ruft nach dir.«

Da erschrak er zu Eis. Die Blüten fielen von seiner Linde, Nachtigall und Drossel fielen erfroren tot zu Boden, und es war nur Winter. Rein Frühling blühte, kein Sommer reifte mehr.

Als er aus seiner Erstarrung erwachte, rannte er das Stück Weges, das ihm noch blieb, keuchend und mit zusammengebissenen Zähnen.

Er rüttelte an seiner Haustür.

Sie war unverschlossen.

Er taumelte ins Zimmer.

Da lag am Herde unter dem flackernden Spane: Grieta, ein Messer zwischen den Brüsten.

Schreiend wie eine wilde Katze zog er das Messer aus der Wunde.

Es zeigte an seinem Knauf den kurfürstlich-brandenburgischen Adler.

Er küßte das Blut vom Messer und reckte es schwörend und beschwörend in den Klang der Glocken, die eben das neue Jahr einläuteten.

 

Der Kurfürst erwachte, sprang aus den Kissen und trat vor den Spiegel:

Welch hohe Stirn! Herbergend Gedanken der Herr- und Göttlichkeit! Die Brauen – wie edel geschwungen! Lazertenschwänze! Diese Brust – über die Rippen gespannt wie eine Pauke. Die Augen – Brandstifter der dürren Stroh- und Reisigwelt. Gefährten der rasenden Gestirne. Hier hämmert das Herz, Rotspecht, am Baume der Brunst. Die Füße zerstampfen die Narzissenbeete und Getreideäcker, bis die Engerlinge aus dem zerwühlten Humus ans Licht fliegen und der blinde Maulwurf ihnen folgt. Diese spitzen, weißen Zähne: zerbeißen lebende Küken gern. Ach! einer Frau die Kehle durchbeißen in der Umarmung und im letzten Schauer ihr Blut trinken. Ich bin die Kraft, die Wildheit und die Würde. Ich sehe nichts, was meiner Anbetung wert wäre außer mir. Er fiel vor seinem eigenen Spiegelbilde nieder und erwies ihm göttliche Ehren.

 

Der Bildhauer Dörfler ward beauftragt, ein Standbild des Kurfürsten in Lebensgröße zu schaffen.

Der Kurfürst ließ für die Statue einen eigenen Tempel, ganz in Marmor, errichten.

Täglich wurden Messen vor seinem Bilde gelesen und ihm göttliche Ehren zelebriert. Das Standbild wurde jeden Tag mit derselben Kleidung bekleidet, wie er sie gerade trug: bald purpurrot, bald orangegelb, bald silbergrau.

Am Tage des Vollmondes wurde im Tempel ein heiliges Gelage veranstaltet, bei dem Perlhühner, Flamingos, Pfauen, Auerhähne und Fasanen dem kurfürstlichen Gotte geopfert wurden.

Der Kurfürst hielt die Zeremonien als sein eigener Oberpriester und schnitt den kreischenden Vögeln mit einem goldenen Messer, dessen Knauf den kurfürstlich-brandenburgischen Adler zeigte, die Kehle durch. Als dabei Blut auf sein weißes Priestergewand spritzte, erschrak er heftig und deutete es sich als schlimmes Vorzeichen.

Es geschah, daß ein Sendschreiben vom Kaiser ausging an alle Könige, Kurfürsten, Herzöge, Grafen, reichsunmittelbaren Herren, Klöster und freien Städte, ihm aus jedem Land und Bezirk den weisesten Mann zu senden, da er ihnen eine wichtige Frage vorzulegen habe und ihre Ansicht über irdische und göttliche Dinge vernehmen wolle.

Da sandte nun der Kurfürst von Brandenburg Bracke nach Wien, indem er ihn für den weisesten Mann in seinen Landen hielt.

Als Bracke in Wien eintraf, waren um Karl den Fünften die weisesten Männer aller Länder versammelt, und man hörte sie in allen Zungen sprechen: deutsch, welsch, spanisch, italienisch, türkisch, griechisch und lateinisch.

Es wurde aber eine Nachtsitzung bei Kerzenschein anberaumt, damit man von den Geräuschen und dem Glanz des Tages nicht übertönt und geblendet sei und ganz nur in sich hören und hineinsehen könne.

Der Kaiser saß am Kopfende der langen Tafel, klein, mager, hochmütig und behend.

Hinter ihm war ein schwarzer Vorhang, der ein zweites Gemach abschließend verhüllte, und der Kaiser spielte oft in Gedanken mit der goldgedrehten Vorhangschnur.

Als die Uhr zwölf schlug, läutete er mit einer kleinen silbernen Glocke, die vor ihm auf der Samtdecke neben einer Bibel, einem Totenkopf, einer in Metall nachgeahmten Schlange und einem kleinen silbernen Hammer lag. Gleichzeitig zog er an der Vorhangschnur, der schwarze Vorhang teilte sich, und im Nebenzimmer sah man, gleich wie im Hauptsaal, eine Anzahl Männer, nur völlig reglos, um einen Tisch versammelt.

Es waren aber Sokrates, Laotse, der Apostel Paulus, Mohammed, Heraklit, Cäsar, der Dalai-Lama, der erste Mikado, der heilige Augustin, der heilige Franziskus und viele der Weisesten, die längst verstorben waren – in Wachs und Gips nachgeahmt und ganz in ihre Tracht gekleidet.

Der Kaiser sprach:

»Geistige und geistliche Herren! – Ich war des Glaubens, bei unserer Verhandlung die Weisesten unter den Toten als stumme Ratgeber herzuzuziehen, damit ein jeder sie und ihr Gedächtnis stets vor Augen habe, und keine Leichtfertigkeit der Rede oder des Gedankens aufkomme. Ich stelle nunmehr die Frage: Da Gott bisher namen- und gleichsam körperlos durch die Welt wandelte: mit welchem Namen soll Gott künftig am treffendsten genannt und geehrt werden

Die Lebenden erstarrten wie die Toten, und war unter Statuen und Menschen ein großes Schweigen. Es hatte aber jeder wie der Kaiser eine Glocke vor sich stehen.

Nach einer Weile läutete nun am untern Ende der Tafel ein Weiser in Panzer und Rüstung und sprach:

»Gott soll der Gott der Macht genannt werden künftig. Denn er führt wie ein Heerführer die Winde und die Wolken, Feuer und Wasser, Luft und Erde, Tier und Menschen gegeneinander – und hat ihrer aller Leben und Sein in seiner Hand.«

Da erhob sich ein beifälliges Gemurmel auf beiden Seiten. Der Kaiser nickte leise mit dem Kopf.

Im Nebenzimmer die Gipsfigur des Cäsar schien plötzlich verschwunden.

Nach einer Weile läutete eine zweite Glocke, und in der Mitte der Tafel erhob sich ein Kaufherr in braunem Tuchrock und sprach:

»Gott soll der Gott des Reichtums genannt werden künftig: denn ihm gehören Dörfer und Städte, Gold und Edelstein und Metalle unter der Erde in unnennbaren Werten, Wälder, Felder und viele exotische Besitzungen, Herden von Kühen, Ziegen und Schweinen, Fische und Planeten, Nord- und Südpol.«

Ein beifälliges Gemurmel erhob sich wiederum. Im Nebenzimmer der Mikado ... wurde nicht mehr gesehen.

Nach einer kleinen Weile läutete die Glocke ein Mönch in der Tonsur des Franziskaners.

Der sprach unendlich gütig, aber mit schwerer Stimme, da ihn das Asthma plagte:

»Gott soll der Gott der Liebe genannt werden künftig. Denn er ist uns wie ein Bruder zu seinem Bruder, wie eine Mutter zu ihren Kindern. Er hat uns aus Liebe geschenkt dieses Leben: Baum und Frucht, Tier und Speise, Rede und Trank zu unserer Freude. Er hat die Sonne erschaffen, daß wir gewärmt werden, die Sterne, daß wir in der Nacht das Licht nicht vergessen. Tun wir recht, so ist er voll Milde. Sündigen wir, so zeigt er sich voll Gnade. Er ist nichts als Gnade, Segen und Güte, Liebe und Liebe. Misericordias Domini in aeternum cantabo

Da erscholl ein weitaus heftigerer Beifall als bisher, und alle dünkte fast, als habe der Mönch recht gesprochen. Im Nebenzimmer der Platz des heiligen Franziskus war leer geworden.

Als man sich nun besprach und dem Mönch die Krone der Weisheit zu reichen gedachte, da stand Bracke auf, daß der Stuhl hinter ihm polternd zusammenfiel, und schwang schrill seine Glocke.

Augenblicklich trat Ruhe ein, und alle betrachteten verwundert den ärmlich gekleideten Mann, der, die meerblauen Augen auf die bewölkte Stirn des Kaisers gerichtet, und diese gleichsam wie eine Sonne aus den Nebeln schälend, schrie:

»Gott soll künftig mit dem Namen des Kaisers genannt werden – denn dieses ist die Antwort, die der Kaiser zu hören wünscht.«

Da wurde es stumm, leer und hell wie unter einer Glasglocke.

Die Fliegen summten.

Die Falten auf der Stirn des Kaisers hatten sich geglättet.

Er starrte auf den Totenkopf vor seinem Platz.

Im Nebenzimmer entschwand Heraklit, der dunkle. Und Bracke schwang noch einmal die Glocke:

»Es gibt ein Spiel, es wird im bernauischen Keller in Berlin gespielt und im Schweidnitzer in Breslau, es ist gewiß auch der Majestät in Wien nicht unbekannt: Der Stein ist stärker als das Messer. Das Messer ist stärker als das Papier. Das Papier ist stärker als der Stein.«

Da löste sich im Nebenzimmer die Figur des Laotse in Licht und Luft auf.

Bracke schnellte seine Stimme auf das Herz des Kaisers wie einen Pfeil vom allzu lange gespannten Bogen:

»Du hast Gott versuchen wollen: denn wahrlich, dein Wahnwitz hält sich für Gott, da du der Gott des Reichtums, der Gott der Macht und der Gott der selbstherrlichen, nicht innerlichen Gnade bist. – Der Teufel bist du,« schrie er, »und mit diesem Namen soll dein Gott künftig genannt werden ...«

Der Kaiser sprang aschfahl wie eine an der Schnur gezogene Marionette auf, um wieder, als wäre der Faden plötzlich gerissen, herab in den Stuhl zu fallen.

Bracke war aus dem Saal verschwunden.

Mit ihm, aus dem Nebenzimmer, Sokrates.

Als Bracke Wien verließ, schlug er an das Tor Stephansdomes folgende Thesen:

Volk, wach auf!

Kaiser, wach auf!

Es wird nicht Friede auf Erden sein und unter den Menschen, ehe nicht des Kaisers Majestät friedlich geworden. Erkennt, Herr Kaiser, die Zeit! In ihr: die Blüte der Ewigkeit! Die Macht ist ein tönerner Götze, wenn Geist, Güte und Gerechtigkeit nicht mit ihr verbunden. In den öffentlichen und geheimen Kabinetten Wiens herrscht das Untertanenprinzip und das Prinzip der freiherrlichen Gnade. Rechte aber, Majestät, werden nicht verliehen. Sie sind ursprünglich da, sind wesentlich und existieren.

Gebt auf den Glauben an ein Gottesgnadentum und wandelt menschlich unter Menschen! Zerblast die Gipsfiguren der Vergangenheit mit dem Sturmwind Eures neuen Atems. Legt ab den Purpur der Einzigkeit und hüllt Euch in den Mantel der Vielheit: der Bruderliebe. Macht Euch frei von dem Wahne der Ahnen, vergessen sei Euer Wort: Regis voluntas suprema lex. Seid der erste Fürst, der freiwillig auf seine Erbrechte verzichtet und sich dem Areopag der Menschenrechte beugt. Euer Name wird dann als wahrhaft groß in den neuen Büchern der Geschichte genannt werden, in denen man nicht mehr die Geschichte der Dynastien, sondern die Geistesgeschichte der Menschheit schreiben wird. Dann werdet Ihr das Kaisertum auf Felsen gründen, während es jetzt nur mehr ein Wolkengebilde ist, das, wenn Ihr die Zeit nicht erkennt, wie bald im steigenden Sturm verflogen sein wird. –

Die Häscher des Kaisers rissen das Pergament von der Kirchentür. Zu spät. Abschriften davon wanderten durch das ganze römische Reich und hingen plötzlich an allen Kirchen- und Ratstüren. Bracke ward verfolgt, aber es gelang ihm, sich den nachjagenden Reitern zu entziehen, und glücklich gelangte er wieder in die Mark Brandenburg.

Bracke stand auf dem Marktplatz von Berlin, von vielem Volk umgeben, und erzählte ihm dieses chinesische Märchen:

Es lebte im alten China zur Zeit der Thangdynastie, die in große und gefährliche Kriege gegen ihre Nachbarn verwickelt war, ein Narr; der wagte es eines Tages, sich den Zopf abzuschneiden und also durch die Straßen von Peking zu marschieren. Der Wagemut dieses Unternehmens verblüffte die gelbmäntlichen Soldaten des Kaisers derart, daß sie ihn für einen Irren hielten und unbehindert passieren ließen. Er wanderte durch Peking – über Land – immer ohne Zopf – und gelangte über die Grenze nach einem Lande, das sich in den Thangkriegen für neutral erklärt hatte.

Von dort richtete er schön auf Seidenpapier und anmutig und bilderreich stilisiert einen Brief an den Kaiser Thang, in dem er mit jugendlicher Freiheit zu sagen wagte, was eigentlich alle dachten, aber niemand sagte, nämlich: er, der Kaiser, möge doch sich zuerst den veralteten Zopf abschneiden und so seinen Landeskindern (nicht: Untertanen – denn untertan sei man den Göttern oder Buddha) mit erhabenem Beispiel vorangehen und der neuen Zeit ein leuchtendes Symbol geben. Es sei eines großen und überaus mächtigen Reiches nicht würdig, nach außen so stark, nach innen so schwach zu sein.

Der Narr rezitierte diesen Brief, von Reiswein und edler Gesinnung trunken, seinen Freunden eines Sonn-Abends, worauf er ihn mit einem reitenden Boten nach Peking sandte.

Die Ratgeber des Kaisers gerieten in große Bestürzung. Sie enthielten dem Sohn des Himmels das Schreiben des Narren vor und verboten bei Todesstrafe, die darin enthaltenen Ideen ruchbar werden zu lassen.

Der Narr liebte sein Vaterland sehr. Die Liebe zu ihm hatte ihm den Pinsel zum Brief in die Hand gedrückt und das Kästchen mit schwarzer Tusche. Aber seine wahrhaft unschuldig getane Tat wurde ihm von allen Seiten falsch gedeutet. Die Denunzianten bemächtigten sich seiner, während er fern der Heimat weilte, und beschuldigten ihn bei den Behörden des Kaisers des Vaterlandsverrates und der Majestätsbeleidigung. Ja, sie gingen so weit, zu behaupten, er habe den Brief im Auftrag der Feinde geschrieben und stehe im Dienste der mongolischen Entente. Andere wieder verdächtigten sein chinesisches Blut und schimpften ihn einen krummnäsigen Koreaner.

Der Narr wagte eine heimliche Fahrt in die Heimat und erfuhr zu seinem Entsetzen, was über ihn gesprochen und geglaubt wurde. Er, der in der Ferne nur seinen blumenhaften Träumen gelebt hatte, wurde beschuldigt, Flugblätter über die Grenze an die Soldaten des Kaisers gesandt zu haben, die dazu aufforderten, das Reich dem Feinde preiszugeben. Der Narr geriet in Bestürzung und Tränen. Er zog sich wie eine Schnecke ganz in sich selbst zurück, mißtraute auch seinen wenigen Freunden und reiste heimlich, wie er gekommen war, ins fremde Land zurück. Er dankte es der Gnade der Götter, daß er die Grenze noch passierte, denn die Häscher des Kaisers waren auf ihn aufmerksam geworden. Reiter jagten hinter ihm her. Ein plötzlich einsetzender Platzregen hinderte sie am Vorwärtskommen. Beauftragt, den Narren nach der nordchinesischen Festung Rü-S-Trin zu bringen, erreichten sie eine halbe Stunde zu spät die Grenzpfähle.

Dem Kaiser hing der antiquierte Zopf noch lange hinten herunter. Er wußte nichts von dem Narren und seinem Brief und ließ das Schwert und nicht den Geist regieren.

Der Narr lebte fürder einsam an einem melancholischen See.

Er blickte, das Haupt auf das Kinn gestützt, auf die grünen Palmen und die violetten Berge. Die Möwen kreuzten kreischend über ihm. Sein Herz suchte in manchen Nächten das Herz des Kaisers. Auch der Kaiser spürte auf seinem goldenen Thron zuweilen ein sonderbares Sehnen: er wußte nicht, wonach ... Er neigte das Haupt in die Hand, der Zopf zitterte, und er dachte angestrengt nach ... Aber die Herzen des Narren und des Kaisers fanden sich nicht. Ein Gebirge erhob sich steil und felsig, baum- und weglos zwischen ihnen, und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch ...

Der Kaiser in Wien aber verfiel in Tiefsinn, und es geschah, daß er nicht wenig später nach Spanien reiste, dem Thron und der Welt absagte und in ein Kloster ging.

Der Kurfürst ließ sich in einen Sarg legen und unter Vorantritt von Priesterchören, dem Kapitel der Beginen und unter Wehklagen des Volkes an die Spree tragen.

Dort erwartete ihn der Conte Gaspuzzi als Charon. Er fuhr ihn mit langsamen, feierlichen Ruderschlägen in einem mit schwarzem Sammet ausgeschlagenen Boot nach dem andern Ufer, das zu den kurfürstlichen Gärten gehörte, wo ein junger Dichter ihn als Homer und Bracke ihn als Achilleus begrüßten. Die Kurfürstin trat als der Schatten Helenas hinzu, dessen er aber auf keine Weise habhaft zu werden vermochte. Bleich und schleierhaft entglitt sie ihm wie eine Erscheinung unter den Händen.

Homer hielt in wohlgesetzten Hexametern eine Lobrede auf den verstorbenen Kurfürsten, den unüberwindlichen Helden, bezaubernden Zitherspieler, starken Fechter, liebenswürdigen Liebhaber und unsterblichen Dichter.

Achilleus schüttelte ihm die Hand und nannte ihn seinen Kameraden und Bruder.

Darauf lud der Kurfürst die Toten ein, mit ihm ins Leben zurückzukehren.

Charon sei sein Sklave, seines Winkes nur gewärtig.

Sie traten ans Ufer. Die schwarze Barke näherte sich. Und unter Trompeten- und Zimbelklang, unter dem Jubel des Volkes kehrte der Kurfürst mit Homer, Achilleus und Helena wieder ins Leben zurück.

Der Kurfürst schenkte Bracke zum sichtbaren Zeichen seiner Gnade ein goldgesticktes kurfürstliches Gewand.

Bracke wollte, den Mantel um den Leib geschlungen, das Audienzzimmer verlassen, aus dem sich der Kurfürst schon empfohlen hatte, als die Kurfürstin, eine zahme Eule auf der linken Schulter, aus dem Nebenzimmer trat.

Sie verneigte sich:

»Mein kurfürstlicher Herr ...«

Bracke errötete flüchtig.

»'s ist nur sein Mantel ...«

Die Kurfürstin verneigte sich:

»Mein kurfürstlicher Mantel.«

Bracke lächelte:

»Mein kurfürstliches Wind- und Wolkenspiel!«

Die Kurfürstin nahm die Eule von ihrer Schulter und setzte sie auf die Statue der Athene, die das Zimmer zierte.

»Athenens Vogel grüßt Euch. Liebt Ihr ihn? Er sieht nur bei Nacht ... und ist doch das Symbol der Weisheit ...«

»Dieses Leben ... diese Zeit ... ist eine einzige mond- und glücklose Nacht. Wer sie durchschaut, ist schon weise zu nennen. Leuchtete Euer Stern nicht, Kurfürstin, ich verzweifelte zuweilen ...«

»Ihr ... durchschaut das Dunkel? Also auch ... mich?«

»Kurfürstin: Ihr seid das Helle!«

Die Kurfürstin schüttelte das schöne Haupt.

»Wenn Ihr Euch täuschtet? Wenn ich voll finsterer Pläne wäre – wie Agrippina? Voll Lüsternheit – wie Aspasia? Von wildem Wollen – wie Kleopatra? Wenn dies mein Wesen: Täuschung? Dieser mein Blick auf Lüge nur bedacht? Glaubt Ihr denn in der Tat, daß man in diesem Hause, in diesem Lande, rein und wahrhaft bleiben kann?«

Bracke schrie gepeinigt:

»Ich glaube es, Kurfürstin. Ich glaube an Euch!«

Die Kurfürstin hielt den Ring mit dem Mondstein, den sie an der rechten Hand trug, ins Licht, ließ den Stein weiß über ihrer zarten Haut leuchten und sagte: »Ich glaube ... war die Parole, die Gottes Sohn seinen Streitern gab. Sind wir noch Christen?«

Sie trat auf Bracke zu und reichte ihm ihre Hand:

»Ich liebe Euch, Bracke, und glaube an Euch, wie Ihr an mich, wenn der Kurfürst längst in der Erde verfault und vermodert und die Erinnerung an ihn die Menschheit mit Entsetzen und Ekel erschüttert – wird ein Wort von Euch, den Jahrhunderten überkommen, noch tausend Frauenherzen bezaubern ...«

 

Der Kurfürst jagte über die märkische Steppe. Die herbstlichen Wiesen bewegten die braunen, violetten Gräser im leisen Winde. Auf einer zerfallenen, von steinernen Rosenketten umschlungenen Säule saß eine Amsel. In naher Schlucht schluchzte eine Quelle.

In einem Brombeergebüsch ging die Sonne unter.

Weidensträucher zackten sich in den Horizont. Schillernd breitete von einer Thymianblüte ein Pfauenauge die Regenbogenfittiche.

Der Kurfürst zügelte den Schimmel und sprang zu Boden.

Das Pfauenauge entschwebte ins Schwarzblaue, aber er sah an derselben Blume, an der es gehangen, zwei jener sonderbaren und entsetzlichen Tiere, die wegen ihrer flehend erhobenen Arme Gottesanbeter genannt werden, in liebender Umarmung hängen. Mit seinen langen Fühlern streichelte das Männchen die kürzeren des Weibchens. Der Stengel bebte.

Der Kurfürst hielt den Atem zurück.

Die letzte Vereinigung hatte längst stattgefunden. Leicht löste sich das Männchen vom Weibchen. Da fuhr dieses mit dem beweglichen Kopf und seinen anbetend erhobenen Armen, aus denen scharfe Stacheln stießen, blitzschnell herum, umarmte mit den mörderischen Gliedern den wehrlos gefangenen ehemaligen Geliebten – zerbiß ihn gierig und schlang ihn langsam in den Rachen.

Der Kurfürst erhob sich: gemartert. Dies also, sann er, ist die uns von allen Schriftstellern als so gütig geschilderte Natur. Die Tiere sind so schlimm wie wir. Was tat ich, als ich beim Todestage meines Kindes die sieben Juden aufhängen ließ, Schlimmeres? War's größere Sünde, als Brackes Weib den Dolch des kurfürstlichen Meuchelmörders empfing? Nicht genug, daß die Grillen, wenn sie sich begegnen, sich gegenseitig zerfleischen. Nicht genug, daß die Schlupfwespe in sanft kriechende, hellgrüne, mit rosa Sternen bestreute Raupen – Wunder der Schönheit – ihre Eier legt, und ihre Larven das wehrlos dem Feinde hingegebene Geschöpf von innen zerfressen. Ein Geliebtes tötet noch in der Umarmung den Liebenden und fügt ihn in grauenvoller Mast zur eigenen Fülle, zum eigenen Wert. Und dennoch: auch dieses ungeheuerlichste Ungeheuer kennt das Opfer. Es opfert sich, ja selbst das innerlich der Liebe zugeneigte Herz: der Zukunft, dem besseren Geschlecht. Der Gatte soll nicht leben, sie selbst – verworfener Wildheit voll – nicht leben, wenn das Geschlecht, das sie beide gezeugt, heraufkommt: unbeschwert von der Vergangenheit der Ahnen und ihrer kaum bewußt: in strahlender Vollkommenheit, unschuldig, jung und schön.

Die Sterne überschwirrten schon wie goldene Vögel die Steppe, als Berlin vor den Augen des Kurfürsten die Ferne verließ und näher eilte.

Da fielen an einer Wegkreuzung aus der Dämmerung plötzlich zwei Männer dem Pferd in die Zügel, daß es bäumte und der Kurfürst nach dem Kurzschwert an seiner Seite griff.

»Fürchte dich nicht,« donnerte der eine, und es war um sie der Glanz der Sterne, »noch weiß es niemand in der Stadt, was wir wissen, und die Welt ist dunkel noch von Unwissenheit und Kinderglauben. Es ist euch ein Mönch erstanden: der wird euch die einzige Tugend, welche die Götter erschufen, und die ihr beschmutztet, zertratet und erniedrigtet, wieder in Herz und Gewissen rufen und euch die Seligkeit des Lebens lehren und die Verachtung des Todes. Wäret ihr Menschen dem Beispiel, das wir, die Dioskuren, euch gaben, treu geblieben und hättet ihr eifrig stets unserm Tempel geopfert, unserm Sternbild gehuldigt – der Jude Christus und der Mönch Luther, sie hätten nicht zu kommen brauchen, die Menschen zu belehren und zu beschämen. Geh und berichte in Berlin, was du in dieser Nacht in der märkischen Steppe erlebtest: Götter und Gottesanbeter sonderbarer Art traten vor dich hin. Erkenne die neue Zeit! Das neue Geschlecht! Den neuen Glauben!«

Der Kurfürst strich sich über seine Brauen.

Die beiden Männer waren nicht mehr da.

Er hob den Blick und sah am Himmel Kastor und Pollux in brüderlicher Flamme leuchten.

 

Am Schlachtensee bei Berlin grüßte auf einer Anhöhe aus wendischer Vorzeit ein kleiner Tempel, der dem heiligen Hunde geweiht war.

In diesem Tempel stand die Statue eines Hundes mit aufgerissenem Maul und fürchterlichen Zähnen.

Mit diesem Hunde hatte es eine wunderliche Bewandtnis. Wer nämlich einen falschen Eid geschworen und steckte seine Hand in des heiligen Hundes schwarzes Maul, dem biß das zuklappende Maul alsbald die Hand ab. Legte aber jemand, der einen rechten Eid geschworen, seine Hand darein, dem tat das Maul nichts.

Dieses Orakel war schon vielmals ausgeprobt worden, als der Kurfürst, der das innige Verhältnis seiner Gattin zu Bracke ahnte, beschloß, sie auf die Probe zu stellen.

Er zog mit Gefolge an den Schlachtensee und sprach zu ihr:

»Halte deine Hand in das Maul des Hundes und schwöre mir, daß kein Mann seit deiner Geburt dich berührt hat als ich allein!«

Da stürzte ein Irrer, vermummt und heulend, durch die Reihen, fiel dem Kurfürsten um den Hals und küßte ihn, danach die Kurfürstin und viele andere anwesende Herren und Damen, ehe es gelang, ihn festzuhalten.

Die Kurfürstin zeigte sich auf das äußerste erschreckt über diesen Zwischenfall. Der Kurfürst aber sprach:

»Wir wollen uns durch den Irren in unseren Zeremonien nicht stören lassen ... leg deine Hand ins Maul des Hundes und schwöre!«

Da legte die Kurfürstin ihre kleine Hand zwischen die Raubtierzähne des heiligen Hundes und sprach:

»Ich schwöre, daß seit meiner Geburt kein Mann meinen Leib berührt hat als der Kurfürst und dieser unselige Irre ...«

Das Maul des Hundes rührte sich nicht.

Seine metallenen Augen glotzten unentwegt.

Da fiel ihr der Kurfürst um den Hals und sagte:

»Du hast die Probe bestanden.«

Und sie fuhren mit Trompeten und Gesang nach Berlin zurück. –

Es war aber jener vermummte Irre niemand anders gewesen als Bracke. Bracke saß am Fluß und angelte. Es war ein trüber, regnerischer Tag, der dem Fischfang günstig ist. Aber trotzdem wollte kein Fisch anbeißen.

Endlich fühlte er seine Angel schwer werden.

Er zog und zog mit allen Leibeskräften.

Welch prächtiger Hecht! dachte Bracke.

Ein letzter Ruck.

Da zog er an seiner Angel einen eisernen, über und über verrosteten Landsknechtshelm auf den Rasen.

Bracke erblaßte.

Es gibt Krieg! –

In einem Garten sah Bracke, wie ein Gärtner beim Umgraben eine Maulwurfsgrille aus Versehen mit einem Spaten spaltete. Und wie nunmehr die vordere Hälfte in unverminderter Freßgier ihre eigene Hinterhälfte auffraß. Und erst dann krepierte.

»So ist es, wenn zwei Völker Krieg führen«, sprach Bracke zu dem Gärtner. »Sie sind im wesentlichen und eigentlichen ein Volk – das der Krieg spaltet. Und welches von den beiden Völkern auch siegen mag – es wird ihm grade gelingen, das andere aufzufressen, ehe es selbst krepiert. Da eins ohne das andere nicht leben kann.«

 

Bracke kam eines Tages in eine Burg der Grafen Schierstädt.

Diese Burg war trefflich gerüstet für einen längeren Feldzug und auf Monate verproviantiert.

Tiefe Wassergräben umgaben sie.

Mauern drohten steil.

Aus Schießscharten lugten Kartaunenrohre wie offene Mäuler bissiger Hunde.

Auf dem Turm stand Tag und Nacht ein Wächter, bereit, bei offenkundiger Gefahr sofort ins Horn zu stoßen.

Die Burg galt für uneinnehmbar.

Als Bracke abends unter der Linde im Burghof stand und in die Sterne sah, vernahm er Geflüster.

Er schlich näher und hörte zwei Knappen des Grafen sich besprechen, wie sie ihn zu Fall brächten und sich in den Besitz der Burg setzten.

Was nützen der Burg die höchsten Mauern, die tiefsten Gräben? dachte Bracke.

Von innen heraus ergreift uns ja stets der unheilvollste Feind – aus unserm eigenen Herzen.

 

Krieg muß wieder sein! Die Spree muß Leichen schwemmen! Warum ereignet sich unter meiner Regentschaft nichts? Keine Pest, die den Gesichtern der Menschen schwarze Masken vorbindet, bis sie auf ihren blauen Bauch tot niederfallen. Keine Hungersnot, daß Mütter ihre Kinder fressen und Jungfrauen vor Hunger in einen Rausch der Hurerei fallen. Die Erde soll sich öffnen und Berlin verschlingen. Ganz Berlin müßte in Flammen aufgehen. Gott ist mir nicht gewogen, daß er mich so ... glücklich leben läßt. So in Ruhe und Frieden. Ich will einen Krieg führen!

Der Kurfürst zog, hölzern auf einem Schimmel reitend, mit zehn Kompagnien Soldaten gegen die slawischen Barbaren.

Es kommt zu einem erbitterten Handgemenge, bei dem ihm eine Ohrmuschel halb abgehauen wird. Er ist entzückt.

Er beschenkt den Slawen, der ihn so zugerichtet, mit hundert Gulden und ernennt ihn zum Offizier seiner Leibgarde.

Im Triumph zieht er an der Spitze seiner siegreichen Truppen in Berlin ein.

Der Rat geht ihm bis ans hallische Tor entgegen.

Kinder und Damen der Gesellschaft streuen weiße Nelken, seine Lieblingsblume.

Man spritzt wohlriechende Düfte über die einziehenden Krieger.

Von schnell errichteter Tribüne sehen die vornehmen Frauen dem Treiben zu.

Der Kurfürst reitet bis an die Hofloge und hebt das Schwert.

Er trägt keinen Helm. Nur eine Binde um die Stirn zum Zeichen seiner Verwundung.

Die Kurfürstin blickt starr auf die in der Sonne funkelnde Schwertspitze.

 

Leiser Wind über der Steppe. Die Gräser zittern silbrig.

Kleine rotgeflügelte Heuschrecken schwingen sich von Halm zu Halm. In einem Gebüsch schreien junge Amseln.

Ein Hase hoppelt über die Stoppeln, von einem Schwarm schwarzer Raben krächzend verfolgt. Er lahmt. Er läßt die steifen Löffel sinken. Ein Krieger, der nach aussichtslosem Kampf das Schwert senkt. Seine gläsernen Augen spiegeln noch ein letztes Mal den abendlichen Himmel: rote und gelbe Wolken auf violettem Grunde. Aber zwischen ihnen blinzelt ein erster Stern: des ewigen Hafen gutes, goldenes Auge. Bald bist du bei mir, blinkt dieser Blick, habe Vertrauen zu mir! Bald ist Kampf und Verfolgung, Lebensangst und Todesqual vorbei. Bald bist du bei mir. Bald ist ewiger Friede. Auf der Himmelswiese springst du leichtherzig umher. Dort gibt es keine Jäger und Hunde, keine Füchse und Raben. Nur sanfte, zärtliche Hasen, und ich, der ewige Hase, regiere mit mildem Zepter das selige Hasenreich. Die beiden vordersten Raben stießen scharf hernieder. Ihre spitzen Schnäbel drangen dem Hasen durch die Lichter bis ins Hirn.

Am Horizont der Steppe weht eine Wolke auf. Es sieht zuerst aus, als lockere sich der Erdboden und als werde ein Maulwurf ihm entsteigen. Aber der Staub wirbelt höher und höher, und in den Staubwirbeln rollen schwarze Kugeln. Hunderte, Tausende. Die Kugeln rollen näher.

Es sind Pferde, wilde Pferde, Hunderte, Tausende, eine ganze Herde. Sie galoppieren, und ihre Hufe scheinen kaum die Spitzen der Gräser zu berühren. Sie kommen von Osten. Sie rasen gen Westen. Der vorderste Hengst trägt die Abendsonne auf seinem Rücken.

Plötzlich ein Pfiff.

Die Herde steht. Die Flanken beben und dampfen, die Nüstern rauchen. Aus den Pferden wachsen menschliche Leiber empor. Aus Mähnen, darein sie vergraben, tauchen bärtige Gesichter. Beine lösen sich von den Pferdeschenkeln und streifen den Erdboden. Der auf dem vordersten Hengst erhebt seine Stimme. Er schwingt eine Keule aus Menschenknochen:

Wir wollen das römische Reich zu Tode hetzen, wie die Raben dort den alten Hasen.

Sturm über der Steppe. Die Horde jagt in die Dämmerung. Das Aas eines Hasen bleibt zurück. Ameisen melden der Erde seinen Tod.

 

Bracke sprach:

»Ich sah eine tote Schildkröte vor Eurem Schlafzimmer liegen, den Bauch nach oben. Ihr wißt, was es bedeutet.«

Der Kurfürst lächelte:

»Welch süßer Morgen! Riechst du die Kirschenblüten?«

Bracke kaute die Worte:

»Ich war gestern abend betrunken. Ich war in einer Schenke im Krögel. Eine grüne Laterne hing draußen. Ich ging hinein. Man kannte mich nicht. Dort saßen sieben Männer um den Tisch, und der Einsiedler vom Berge, mit seiner spitzen Kappe, war darunter.

Sie hatten ihre Messer in die Tischplatte gehauen und rauchten Rosenblätter.

Sie sprachen kein Wort. Der Einsiedler lächelte dumpf aus seinem fetten Gesicht. Als er sich nachher erhob, sah ich ihn an einem Eisenstab gehen. Es war ein Eisenstab, und er schwenkte ihn wie ein Bambusrohr.«

Der Kurfürst flüsterte:

»Wozu erzählst du mir Märchen – an diesem Tag, der schöner als das schönste Märchen. Nach dieser Nacht!«

Er erhob sich und schritt leise an einen Vorhang:

»Sie schläft, ich höre ihre Atemzüge.«

Bracke sprach:

»Sie hat ein besseres Gehör als Ihr. Sie hört selbst im Schlaf. Sie weiß, daß Ihr jetzt über diesen Teppich geht.«

Der Kurfürst seufzte:

»Ich möchte Kahn fahren. Der Fluß rauscht. Eine Silberweide spielt mit ihm.« Bracke zerrte die Worte wie an einer eisernen Kette aus seinem Mund:

»Er bringt Leichen. Gestern unter der Brücke fing sich ein Soldat in Uniform am mittleren Holzbock. Sein Gesicht war gedunsen wie ein Kürbis. Die Wellen schlugen seine Arme im Takt an den Holzbock. Es war, als wolle er die Leute auf der Brücke um Aufmerksamkeit ersuchen. Als wolle er irgend etwas Wichtiges und Wildes reden. Die Leute blieben oben auf der Brücke stehen. Die Frauen schrien. Jede glaubte ihren Mann zu erkennen. Ein Zuckerbäcker schrie:

›Wozu haben wir Krieg, wie? Tod dem Kurfürsten! Er sitzt auf seinem Thron, und man sieht ihn nicht hinter seinen Mauern. Aber er ist an allem schuld.‹«

Der Kurfürst schloß die Augen:

»Bin ich an allem schuld, sag's!«

Bracke fuhr fort, die Kette abzuwickeln:

»›Still,‹ sagte ein anderer, ›er ist ein Sohn des Himmels, und wir sind nur dreckige Kinder der schmutzigen Erde. Er hat recht, uns zu zertreten, denn wir sind Gewürm vor ihm und viele Tausende. Er aber ist nur einer.‹«

Der Kurfürst öffnete die Augen:

»Die Stafette gestern meldete einen großen Sieg. Ich werde wieder ins Feld gehen. Ach, ich bin so müde – trotz allem. Ich will nicht mehr morden.«

Bracke ließ die Kette klirren:

»Und dennoch mordest du – läßt Mord geschehen, damit du einige Provinzen mehr erpressen kannst und in einigen Provinzen mehr der Mensch vor deinem Bilde in den Staub sinkt.«

Der Kurfürst zog den Mund breit:

»Ich schäme mich oft für die Menschen, wenn ich sie vor mir im Staube sehe. Es ist unwürdig: für sie und mich. Warum tun sie es?«

Bracke sprach:

»Sie sind schwach wie du! Sie wissen von nichts. Sie glauben – an was? an Geld, Geilheit, Seidenstoffe, Wein, Dirnen, Stockhiebe, an Kopfab, Kopfab, wie du. Wenn sie in den Spiegel sehen, erkennen sie ihr eigenes Bild noch nicht ... wie du.« Der Kurfürst dachte nach:

»Es ist sonderbar – die Rebellen, den Einsiedler vom Berge, den wunderlichen Conte Gaspuzzi, dich, überhaupt alle, die gegen mich sind, kann ich achten. Sie, die mir nach dem Leben trachten, sind meine nächsten Verwandten, ja: fast Freunde. Ich glaube manchmal, auch du, Bracke, bist ... mein Freund ... du trägst nicht umsonst das Messer mit dem brandenburgischen Adler an deiner Seite ...«

Der Kurfürst schluchzte lautlos.

Bracke trat ans Fenster und sah einen Lindenbaum, von dem die Blüten zur Erde stoben.


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