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Bracke
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Bracke traf einen Juden auf der Straße, der Katzenfelle kaufte.

Kinder und Halberwachsene kamen mit weißen, schwarzen und gesprenkelten Katzenfellen, die noch von frischem Blute trieften.

Bracke schrie.

Er lief durch die holprigen Gassen: leise, eilfertig. Überall, wo er eine Katze sah, sprach er ihr leise ins Ohr: »Lauf, Katze, flink aufs Feld! Kehre sobald nicht zurück! Der Katzentod ist in der Stadt und trägt einen schwarzen, wehenden Kaftan. Er hat einen spitzen Bart, einen Sack über den Schultern und riecht nach Zwiebeln.«

Die Katzen rieben sich schnurrend an seinen Beinen, wehten mit dem Schwanz wie mit einer Fahne und entsprangen: dankbar ihn begreifend.

 

Der Physikus brach den lateinischen und griechischen Unterricht, den er Bracke gegeben, plötzlich ab.

»Was hast du?« fragte seine Frau, »willst du einen Dummkopf aus ihm machen?« Der Physikus klopfte an die Fensterscheibe.

»Leider ist er kein ehrlicher Dummkopf, sondern ein unehrlicher Philosoph, so klein er ist. Er glaubt, er sei klüger als ich. Erweist sich von dem unerträglichen Wahn seiner kleinen Größe und Bedeutsamkeit besessen. Ein zehnjähriges Kind – und will mich lehren, Virgil zu begreifen. Ich habe kein Geld, dieses kindliche Monstrum studieren zu lassen. Woher nehmen, wenn nicht stehlen. Stehlen? Er, glaube ich, wäre zum Diebstahl fähig. Er hat keine moralischen Qualitäten.«

»Mann,« sagte die Frau, die furchtsam lauschte, »die sollst du ihn doch lehren.«

»Pappalapapp. Man ist tugendsam oder nicht. Das Kind ist vom Teufel besessen. Du hast dich in deiner Schwangerschaft an dem fahrenden Volk, das damals Trebbin verpestete, versehen. Er ist nicht mein Kind. Er ist das Kind eines Schnellläufers und Seiltänzers. Er muß in strenge Zucht kommen. Er muß ein ehrenwertes Handwerk lernen. Mag er Brauer oder Stellmacher oder Metzger werden.« »Metzger! Mann!« entsetzte sich die Frau. »Er kann kein Tier töten! Keine Pflanze aus dem Boden reißen!«

»Um so schlimmer, so wird er auch das Tier in sich nicht töten.«

Die Frau weinte.

»Warum darf er kein Gelehrter werden? Er ist klüger als alle seine Altersgenossen, und seine Augen sind die eines erwachsenen Mannes: groß und leidenschaftlich und wie Pfeile nach einem Ziele gerichtet.«

»Nimm ihn auf deine Reise nach Berlin zu deiner Verwandtschaft mit. Er soll die große Stadt sehen. Entweder sie erfüllt ihn mit Ekel und gibt ihm die Würde seines Menschtums zurück, oder er wird sich an ihrem Bildnis zugrunde richten.«

 

Die Bürgerin Bracke erzählte morgens, wenn ihr Mann auf Krankenbesuchen war, dem kleinen Bracke von der großen Stadt.

»Da wohnen in einer Gasse so viel Menschen wie hier in ganz Trebbin. Sie tragen modische Kleider, lederne Schuhe und weißgepuderte, elegante Perücken. Sie essen den ganzen Tag Tauben und Fischragout und gebratene Krammetsvögel und junge Saatkrähen und trinken die feinsten und teuersten Ungar- und Spanierweine dazu. Sie reiten durch die Straßen auf glänzenden Pferden und schwenken die Federhüte vor den schön wandelnden Frauen. Musik erschallt aus den Häusern und munteres Lachen der Kinder vom Bad am Fluß. Ich denke,« die Bürgerin Bracke seufzte, »die Menschen sind dort glücklicher als hier. Ich habe die schönsten Tage meiner Kindheit und Jugend in Berlin verlebt.«

Bracke saß mit brennenden Wangen da.

»Mutter,« sagte er, »laß uns nach Berlin gehen.«

 

Unter strömendem Regen fuhr die Postkutsche in Berlin ein.

Bracke fror.

Er hustete, und seine Augen waren entzündet.

Er mußte zu Bett gebracht werden und lag wochenlang krank. Das, dachte er, ist nun das Glück. Das ist Berlin, die Stadt der Buden und Karusselle, der funkelnden Herren und rauschenden Damen!

»Mein kleiner Freund,« sagte der Medikus, der täglich an sein Krankenlager kam, »nur nicht den Kopf verlieren. Eine kleine Lungenentzündung ist noch nicht das schlimmste im Leben. Bedenke Er, wenn sein Hirn entzündet wäre und Wahnsinn und Verbrechen gebäre! Er hat einen klugen und klaren Kopf, und wenn Ihm auch der Besuch in Berlin verregnet, vereitert und vereitelt ist, bedenke Er, daß Er einmal etwas darstellen muß im Leben, und daß Er einmal etwas Exzellentes prästieren soll. Darauf muß sein Trachten gehen, aber nicht auf einen Sonnentag, einen Sonntag mehr oder weniger.«

Ohne viel mehr als nasse Straßen und mißmutige Menschen gesehen und den gleichförmigen Tropfenfall des Regens gehört zu haben, kehrte Bracke mit seiner Mutter nach Trebbin zurück. –

Eines Tages entdeckte ihn seine Mutter auf dem Schutt- und Abfallhaufen hinter dem Hause bei der Regentonne im Gebet versunken. Und sie hörte ihn beten zu Gott, daß Gott ihn möge einst etwas Exzellentes prästieren lassen.

Da ging sie leise und abgewandt in das Haus, setzte sich auf die Küchenbank und faltete ruhig und wie erlöst die Hände im Schoß.

 

»Mutter,« sprach Bracke, »erzähle mir ein Märchen!« Und die Mutter erzählte: »Es war eines heidnischen Königs Tochter; das ist viele Jahrhunderte her, und ihren Namen weiß niemand mehr. Die war von großer Schönheit, Sanftmut und Klugheit und wurde von einem heidnischen Fürsten zur Ehe begehrt. Sie aber hatte sich insgeheim Jesus Christus versprochen und wies das Ansinnen des Fürsten zurück. Darob erzürnte ihr Vater und ließ sie in ein finsteres und feuchtes Gefängnis zu Ratten, Würmern, Schlangen und Molchen werfen. Da geschah es, daß selbst die bösen Tiere gut zu ihr waren. Sie teilte mit den Ratten schwesterlich das Brot, die ihr zu Dank wie kleine Hunde ihren Schlaf behüteten. Die Schlangen, die sie aus ihrer Schale tränkte, spielten am Tage listig und lustig mit ihr. Einmal ging das Tor, und Christus selber trat herfür. Er streichelte ihre Wangen und tröstete sie. Sie aber bat ihn, daß er ihr eine Gestalt möge verleihen, darin sie niemand mehr gefiele denn ihm allein, damit sie keinerlei Anfechtungen mehr ausgesetzt sei unter den Menschen. Da hob Christus die Hand, segnete sie und verwandelte sie in ein häßliches, affenähnliches Geschöpf. Als ihr Vater, der heidnische König, sie also sah, erschrak er heftig und machte eine Gebärde des tiefsten Abscheus. ›Dies‹, sprach er, ›ist nicht meine schöne und kluge und sanfte Tochter. Dies ist ein schmutziges und abscheuliches Tier.‹ Sie jedoch lobpreiste den Herrn und sprach: ›Ich war Eure Tochter und bin es nicht mehr, da ich mich dem gekreuzigten Gott versprochen habe.‹ Da sprach der heidnische König: ›So sollst auch du gekreuzigt werden wie dein Gott.‹ – Und seine Häscher ergriffen sie, und sie wurde gekreuzigt wie einst der Heiland. Wer sie aber anruft in Bedrängnis und Not, dem wird geholfen alsobald. Und da ihr Name, der ein heidnischer war, längst vergessen wurde, so rufe in deiner Kümmernis nur nach Sankt Kümmernis. Die Heilige weiß alsdann, daß sie gemeint ist.«

 

Es lebte in der Stadt ein italienischer Conte namens Gaspuzzi; der war aus Mailand gebürtig und viele Jahre alt, die niemand zu zählen vermochte.

Er hauste in einem ärmlichen Zimmer des Gasthauses zum Stern; darin war nichts als ein Bett, eine Bank, ein Stuhl und ein Kleiderhaken; im Winter aber wehte eine solche Kälte in seiner Kammer, daß er wohl wochenlang im Bett blieb, denn das Zimmer besaß keinen Ofen.

Man hatte den Conte nie weder essen noch trinken sehen, und wunderliche Gerüchte gingen über ihn um.

Es hieß, daß er von der Musik lebe, denn überall, wo Musik zu hören war, sei es in der Kirche das Orgelspiel oder das Dudelsackpfeifen der Komödianten, war der Conte anzutreffen und stand, den Kopf leicht seitwärts geneigt, und lauschte.

Da er aber vermögenslos und zu arm war, ein musikalisches Instrument zu besitzen, hatte er sich unbeholfene Zeichnungen von Instrumenten verfertigt, die hingen nun an den kahlen Wänden seines Zimmers: da hingen Bratsche, Flöte, Zimbel, Orgel, Handharmonika und Dudelsack.

Er hatte aber viele Notenblätter italienischer Musik, weltliche und kirchliche, die verstand er ganz ohne Vermittlung eines Instrumentes zu hören, und las sie in seinem Bette spitz zusammengekauert, verzückt mit den Händen taktierend.

Als der Conte Bracke zum erstenmal begegnete, da trat er auf ihn zu und sprach:

»Bleibe stehen!«

Und der Knabe stand.

Da neigte er den Kopf und lauschte wie einem Musikstück.

Dann sprach er: »Du hast einen sonderbaren Ton in dir. Du bist nicht wie andere Menschen. Du singst. Laß hören«, und er legte sein Ohr an des Knaben Brust und horchte wie in einen Brunnen hinein.

Er schnellte den Kopf in die Höhe:

»Moll und Dur widerstreiten. Die Skala deiner Töne ist groß. Nicht überspannen! Ach! Nun lächelst du! Wie süß das klingt.«

 

Der Physikus trommelte mit seinen harten Knöcheln auf den Tisch. Die Augen waren ihm hervorgequollen wie zwei Frösche.

»Er hat mein Haus in Unehre gebracht. Er hat mit dem Schinder und Abdecker gesprochen. Bereut Er seine Sünde?«

»Nein«, sagte Bracke.

Der Physikus bebte.

Seine Frau lief ängstlich wie eine Ente auf und ab.

»Wird Er mir gehorchen und künftig einen weiten Bogen um Henker, Hexe und Schinder schlagen?

Wird Er das Kreuz machen, wenn Er ihnen unvermutet begegnet?« »Ich werde Euch nicht gehorchen, auch wenn Ihr mein Vater seid«, sagte Bracke. »Auch der Schinder ist ein Mensch. Die Menschen haben ihn dazu verurteilt, Schinder zu sein, und eine Bürde ihm auferlegt, die selbst zu tragen sie sich schämen. Zu feige sind sie, ihre Feigheit zu gestehen. Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen.«

»Ich werde Ihn Mores lehren!« schrie der Physikus. Er sprang vom Stuhle auf und schwang die Hundepeitsche.

Die Frau verbarg ihr Gesicht in den Händen.

»Aus dem Haus!« brüllte der Physikus und peitschte Bracke zur Tür.

 

Bracke setzte sich in den Schatten eines Baumes. Der Schatten legte sich über ihn wie eine Decke.

Da bedachte Bracke und sprach: »Schatten – bist du der Sonne Feind?«

Der Schatten sprach: »Wie sollte ich ihr Feind sein – da ich durch sie erst bin.«

Bracke streifte durch die Wälder. Er sammelte Pilze und Kräuter. Eines Tages sah er, wie ein Eichhörnchen, das im Begriffe war, ein Schwalbennest auszunehmen, von zwei Schwalben angegriffen wurde, die es dermaßen bedrängten, daß es zerzaust und zerstochen sein Heil in der Flucht suchte.

»Du bist ungerecht,« sagte das Eichhörnchen zu Bracke, der den Kampf beobachtet hatte, »steht nicht geschrieben, daß man dem Schwachen helfen soll? Und bin ich nicht der Schwache?«

»Aber du bist als der Stärkere ausgezogen«, sagte Bracke.

Das Eichhörnchen sprang von dannen.

 

Bracke begab sich zu einem Uhren- und Brillenmacher in die Lehre.

Da sah er durch mancherlei optische Instrumente die Welt bald riesengroß, bald zwergenklein.

An den Uhren arbeitend, ziselierend und bastelnd, gelang es, die Zeit stillestehen zu lassen oder, durch Korrektur des Räderwerks das Tempo beschleunigend, in Tagen Jahre dahinzusausen. Plötzlich, den Zeiger verlangsamend, in die Vergangenheit zu entgleiten.

So ward er bei dem Uhren- und Brillenmacher vieler Dinge kundig und sann, indem er die Zeiten regelte und die Stunden klingen ließ, auf Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit und alle Ewigkeiten.

Als Bracke in einem Jahre ausgelernt und sein Gesellenstück: eine Standuhr, deren Räderwerk einen Seiltänzer in Bewegung setzte, verfertigt hatte, begab er sich auf die Wanderschaft.

Er traf eine Schlange, die vor ihm des Weges zog.

»Wohin gehst du?« fragte er die Schlange.

»In der Richtung meines Kopfes.«

»Da gehen wir zusammen.«

»Gewiß nicht,« sagte die Schlange, »denn du gehst in der Richtung deines Kopfes und ich in der Richtung meines Kopfes – oder haben wir denselben Kopf?«

 

Auf Tannen hatten die Prozessionsraupen ihre Nester errichtet.

Nachts krochen sie die Bäume herab, in langer Prozession, zu fressen.

Bracke sah sie, wie sie zu Tausenden blind der ersten Blinden folgten, die dennoch den Weg wieder in ihr Nest zurückfand.

So sind wir Menschen, dachte Bracke. Blind wanken wir durch die Wehmut der Welt. Der am wenigsten Blinde ist unser Führer, wir müssen dem Himmel danken, wenn wir nur dies erkennen – und uns seiner Führung anvertrauen.

 

Bracke betrat eine Kirche.

Er sah ein Mädchen sich vom Beichtstuhl erheben und von dannen schleichen.

Er setzte sich in den Beichtstuhl, da fühlte er alsbald eine Hand über seine Wange streichen, und die Stimme des Priesters flüsterte: »Liebes Mädchen – wann kommst du wieder beichten? Morgen?« Als aber der Priester plötzlich den Anflug von Bart in den Fingerspitzen spürte, schrie er leise auf:

»Mädchen – was ist mit dir?«

»Ich bin der Teufel,« sagte Bracke, »gekommen, dich in die Hölle zu holen für deine böse Tat und die Verderbnis deiner Sitten.«

Der Priester wimmerte: »Wie kann ich mich retten vor deiner Rache?«

»Wisse,« sagte Bracke, »daß jegliches Mädchen, welches dir zu beichten in deinen Beichtstuhl tritt, ich bin, immer ich, der Teufel, welcher Gestalt sie auch sei: jung oder alt, hübsch oder häßlich, schlank oder feist, wage niemals mehr, dich einem Mädchen (das heißt: mir) unzüchtig zu nahen, sonst bist du mir ganz und gar verfallen, mir, dem Teufel, du Teuflischer.«

Zitternd schwur der Priester Besserung.

Auf diese Weise rettete Bracke die Frauen vor den Gelüsten des unsauberen Pfaffen.

 

Derselbe Jude, der Katzenfelle gekauft hatte, kam in eine märkische Stadt, alte Münze zu kaufen: gute, alte, märkische Groschen, die man Märker nennt.

Bracke traf ihn und sprach: »Komm mit mir, Jud'!«

Und der Jude sprach: »Hast du Geld?«

Bracke spreizte die Finger.

»Ich weiß eine geheime Stelle, wo Tausende alter Märker liegen – und von den allerbesten und wertvollsten.«

Der Jude schwankte.

»Laß sehen, laß sehen – ich verspreche dir, wenn du die Wahrheit redest, einen richtigen Esel, darauf zu reiten.«

Bracke schritt voran.

Der Jude folgte. Sein Kaftan wölbte sich unter den Stößen des Windes.

Und Bracke führte ihn durch die Pappelallee auf den Kirchhof und öffnete das Beinhaus: »Hier liegen die allerbesten Märker – bessere, als du sie je jetzt finden wirst ...«

Brackes Augen flammten: zwei Monde.

 

Bracke nahm ein Mädchen mit sich zu Bett. Am Morgen, da er bei ihr lag, und sie ihm ihr grünliches Gesicht zuwandte, erschrak er.

Er stützte den Kopf auf das Fensterbrett und blickte ins Morgenrot:

Ich hätte gleich mit einer Greisin schlafen gehen sollen – so wäre mir dies erspart geblieben.

Bracke kasteite sich: er legte sich des Nachts, da es Winter war, draußen in den Schnee.

Denn er fürchtete, daß er das Mädchen zu sehr liebe.

Am Morgen aber erwachte er in wohliger Wärme.

Da lag das Mädchen über ihm und hatte ihn die ganze Nacht im Schnee mit ihrem Leibe zugedeckt.

Er erhob sich und wanderte von ihr, weil er ihre Liebe nicht ertrug.

»Ich bin's nicht wert«, knirschte er und knarrte mit den Zähnen.

Die Tränen stürzten ihm über die Wangen, als er von ihr ging.

Sie aber blieb versteinert für alle Zeiten auf dem Marktplatz stehen: eine Brunnenfigur, aus deren Brüsten ewig das Wasser der Tränen springt, die sie aus den Augen in ihr Herz zurückgedrängt.


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