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Bracke
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Bracke beschloß, sich als Kaufmann zu versuchen. Er reiste ins Land Mecklenburg und kaufte dort zweihundert Ziegen und Böcke und trieb sie auf den Laurentiusmarkt nach Jüterbog.

Er wurde aber unterwegs von adligen Schnapphähnen angefallen, die mit den eisernen Schnäbeln nach ihm stießen und ihn aller seiner Geißen und Böcke bis auf einen alten Bock beraubten.

Diesen alten Bock an einer Leine wie einen Hund hinter sich her führend, kehrte er nach Trebbin zurück, das seine Eltern vor einem halben Jahre verlassen hatten, um nach Striegau im Schlesischen überzusiedeln, wo der alte Physikus gestorben und eine bessere Einnahme für Bürger Bracke zu gewärtigen war.

 

In Trebbin empfing man Bracke mit den neuesten Neuigkeiten: daß das Schießhaus auf dem Graben nach der Spree zu abgebrochen und vors Steintor gesetzt – daß im Juni ein Maurergeselle Samuel Klopsch bei Abputzung des Simses an des Eustachii Möllers Stadtmusizi Hause am Markt drei Etagen hoch heruntergefallen und beim Leben geblieben, daß er nach wie vor arbeiten kann – daß ein Bauernweib sechs lebendige Kinder zur Welt gebracht – und was dergleichen Sonderbarkeiten mehr sind. Auch sei der König von Polen den 27. Juli mit drei Wagen durch Trebbin passiert, und die größte Merkwürdigkeit stehe noch bevor, indem der moskowitische Zar, der am 18. September mit fünf Wagen durch Trebbin nach Dresden gegangen sei, in den ersten Tagen des November nach Trebbin zurückkehren werde. Zu seinem Empfang reite ihm der brandenburgische Kurfürst morgen bis Trebbin entgegen.

In der Stadt herrschte große Aufregung, als wolle man das Königsschießen feiern. Fahnen hingen aus den Häusern in brandenburgischen und russischen Farben, und die Türen der Gasthäuser waren mit Tannenreisern umkränzt. Denn die Ansage, daß der moskowitische Zar zwei Tage in Trebbin verweilen werde, hatte viele Fremde und Neugierige herbeigelockt.

Bracke schlenderte beschaulich durch die Gassen, begrüßte Bekannte und gelangte am Abend auf den Salzplatz, wo es wie auf einem Jahrmarkt zuging.

Bier- und Branntweinwirte hatten ihre Zelte aufgeschlagen, auf einem holprigen Tanzboden drehten sich unter des Himmels sternbesäter Decke junge Paare, daneben gab es allerlei Schaubuden, in denen eine Blutsauger-Vampirfamilie, das Rad der Welt, ein Bär, Ratten, so groß wie Hunde, ein chinesischer Mensch, ein türkischer Feuerfresser und dergleichen mehr zu sehen war. Nachdem Bracke hie und da einen Blick hineingetan, blieb er vor einer Bude stehen, auf deren Schild in roten Lettern leuchtete:

Nadya, die schönste Tänzerin der Welt – Tanzpoesey.

Dieses Wort: Tanzpoesey, welches er vorher noch nie gehört, gefiel ihm nun sehr, und obgleich die Ausruferin, eine dicke, in einem silbernen Panzer flimmernde Person, wenig Vertrauen erweckte, gab er seinen Batzen und trat hinter den schmutzigen Vorhang.

Ein mittelmäßiger Musikus spielte als Introduktion einen fremdländischen Kriegsmarsch. Außer Bracke harrten etwa noch zwei Dutzend Zuschauer, darunter einige vornehme junge Leute, Söhne angesehener Bürger, der Vorführung. Dieselben vergnügten sich damit, aus einem mitgebrachten Kruge Wasser in den Mund zu nehmen und sich damit gegenseitig zu bespeien.

Die Musik schlug ein geschwinderes Tempo an, das bald in einen rasenden Galopp überging, eine mißtönige Glocke erscholl, und plötzlich, und ohne daß man gewußt hätte, woher sie gekommen, wirbelte in dem Schaurund in der Mitte ein schwarzes, mit hellgrünen Bändern geschmücktes Gewand, aus dem ein blaßgelber Kopf aufsprang und wieder verschwand, zwei bleiche Arme ruckweise wie Blitze durch den Raum zuckten.

Die Musik verlangsamte den Rhythmus, die Bewegungen der Tänzerin wurden lieblicher, sinnlich bezwingender. Erst jetzt erkannte man ihre blassen, weißen Gesichtszüge, das mahagonibraune Haar, die kindliche Schlankheit ihrer Figur, die tödliche Zartheit ihrer Hände – und als sie, wie es der Kriegstanz, den sie getanzt hatte, erforderte, den rechten Arm steif wie ein Schwert erhob und ein Dolch zwischen ihren Fingern blitzte, da war nicht einer im Publikum, der nicht unter ihren Händen hätte sterben mögen.

»Ihr Körper singt«, flüsterte eine Stimme neben Bracke, die er schon einmal gehört zu haben glaubte.

Er sah um sich und erblickte den Conte Gaspuzzi, wie er, den Kopf leicht seitwärts geneigt, lauschte. Der Tanz übermannte ihn so, daß er aus der Bude, wie aller Kräfte beraubt, in die kühle Nacht taumelte, aber erst auf weiten Umwegen in das Gasthaus zum Stern, wo er logierte, zurückkehrte.

Er ging die hölzernen, mit Sägemehl bestreuten Treppen empor und klinkte an einer Tür.

Er blickte verwundert auf.

Er sah sich im Zimmer des Conte Gaspuzzi.

Ein Licht flackerte in der Zugluft und warf wunderliche Schatten über die imaginären Bratschen, Flöten und Zimbeln an den weißen Wänden.

Der Conte kauerte, ein Kissen im Rücken, spitz in seinem Bett, hatte auf seinen Knien allerlei Notenblätter ausgebreitet und taktierte mit seinen Händen verzückt ein unsichtbares Orchester.

Bracke drückte leise die Tür wieder hinter sich zu.

Er brachte die Nacht kein Lid zu.

Er ging in den Stall und legte sich zu seinem Ziegenbock, der ihn meckernd begrüßte.

 

Bracke hatte den folgenden Tag für nichts Interesse, ob der Kurfürst kam und der moskowitische Zar, es ließ ihn gleichgültig.

Mit unbeugsamer Gewalt zog es ihn zur Tänzerin auf dem Salzplatz.

Er fand sie am Morgen draußen, an den Wagen der Vaganten gelehnt.

Ihre Blicke schweiften über die Spree.

Als sie seine zögernden Schritte hörte, wandte sie sich vorsichtig um und lächelte.

Er trat wie selbstverständlich heran, fragte nicht erst, ob sie sich etwa seiner erinnere oder überhaupt erinnern könne, und gab ihr die Hand. Hätte ihn auch nicht verstanden. Es sprach keines die Sprache des andern. Sie war Russin. Sie nahm seine Hand, hielt sie einen Augenblick in der ihren und drehte sie plötzlich um, daß der Handteller nach oben lag. Darauf beugte sie ihr blasses, zärtliches Gesicht darüber und versuchte angestrengt mit ihren blauschwarzen Blicken zu lesen.

Sie las sein Schicksal.

Als sie ihr Gesicht erhob, ihn dünkte, es wären inzwischen Jahre vergangen, sah sie ihm noch einmal in die Augen, lächelte traurig und schüttelte den Kopf.

 

Als der Kurfürst mit großem Gefolge von Trebbin nach Berlin zurückritt, begegnete er auf der Straße Bracke, der durch sonderbares Gewand und Gebaren die Aufmerksamkeit des Fürsten erregte: er führte seinen Ziegenbock an der Schnur wie einen Hund bei sich und trug einen Talar wie ein Pfaffe, spitze, rote Schnabelschuhe wie ein Tänzer bei Hofe und auf dem Kopfe einen Soldatenhelm.

Der Kurfürst hielt seinen Rappen an und sprach:

»Heda, guter Freund, was stellt Er denn dar in seiner Kleidung? Ist Er ein Schalk?«

Bracke schielte verdrießlich zu ihm empor:

»Mit nichten, Herr, sondern ich bin das Heilige Römische Reich Deutscher Nation.«

»Das sollte mir wohl gehorchen,« sagte der Kurfürst, »folgt mir. Ich gestatte Euch, mein Wappen in Eurem Kleide zu führen.«

Und Bracke folgte ihm an den Hof nach Berlin.

 

Der Kurfürst sprach: »Du verstehst mit der Feder umzugehen?«

Bracke nickte mit dem Kopf.

»So schreib mir einige deiner Weisheiten auf!«

Und Bracke brachte ihm ein kleines Buch, darin war zu lesen:

1. Ein hohes Alter zu erreichen.

Wer möchte nicht ein hohes Alter erreichen in Gesundheit des Leibes und der Seele, mit 90 Jahren noch Kinder zeugen, sich selbst und der Menschheit zu Nutz und Freude? – Man gehe in den Eichwald und wähle einen alten, großen, noch frischen Eichbaum. Im Herbst, um das Äquinoktium, grabe man das Erdreich um die Wurzeln auf und bohre in die Wurzel an verschiedenen Orten Löcher. In die Löcher schlage man Zapfen, und an die Zapfen kitte man Krüge, daß nichts Unreines von außen hineingelange. Danach wirft man das Loch wieder zu und lässet's bis an den Frühling. Im Frühling gräbt man wieder nach und findet die Krüge voll Eichensaft. Der Baum stirbt von dem Aderlaß, der Mensch aber nehme jeden Morgen auf den nüchternen Magen einen Löffel des rektifizierten Eichensaftes, so wird er das Wunder an sich erleben, wie des Baumes Kraft und Stärke in ihn übergeht. Denn der ausgesogene Baum hat dem Menschen sein Leben überlassen.

2. Von dem unsichtbar machenden Rabenstein.

Man nehme einen Vogelkäfig und steige damit auf einen Baum, wo ein Rabennest mit jungen Raben ist. Man nehme einen jungen Raben und hänge ihn darein wie der Henker einen Galgenstrick, so, daß die Alten nicht dazu können. Sonst würden sie ihn zerreißen und in ihren eigenen Mägen begraben, denn die lebenden Raben können keinen toten Raben leiden. Wenn die alten Raben den Jungen so kläglich gehenkt sehen wie einen Verbrecher, so erheben sie zuerst ein klägliches Geschrei, danach fliegen sie von dannen und kommen mit einem schwarzen Stein im Schnabel zurück, den sie dem toten Raben durch das Käfiggitter in den Sterz bohren, wodurch der tote Rabe sofort in seine Elemente aufgelöst und unsichtbar wird. Auf dem Boden des Käfigs findet man dann den unsichtbar machenden Rabenstein vor, die Schlinge aber ist leer und das Rabenaas verschwunden. Der Rabenstein macht den Menschen, der ihn trägt, unsichtbar.

3. Einen Feigling zu einem Helden machen.

Einem feigen Menschen gebe man, ohne daß er es merkt, Löwenmilch zu trinken, so wird seine Tapferkeit und sein Blutdurst keine Grenzen kennen. Man hüte sich, ihm zuviel davon einzuflößen, da er ansonst zu einem Vampir werden könnte, der jungen, sittsamen, bleichsüchtigen Mädchen nachts das Blut aus der Kehle saugt. In früheren Zeiten hatten wohl manche Pharmazien eine Löwin im Stall, die stets frische Milch gab. Denn die Nachfrage nach Löwenmilch war in kriegerischen Epochen eine äußerst rege. Heute sind wir friedlicher geworden, und nur ausnahmsweise dürfte man eine derartig equipierte Apotheke antreffen.

4. Von den mit Blut genetzten Kugeln.

Wer einen grimmen Feind um die Ecke bringen will, tut gut, um ganz sicher zu gehen, daß er die ihm bestimmte Kugel mit seinem eigenen Blute netzt, bevor er sie in den Lauf schiebt. Diese Kugel trifft unfehlbar und wird im Leib des Beschossenen nicht gefunden, so daß sein Tod vom Chirurgen als an innerer, rätselhafter Verblutung erfolgt definiert werden wird.

5. Wie man sich zu einer bestimmten Stunde aus dem Schlaf wecken kann.

Nimm so viel Lorbeerblätter als Stunden du schlafen willst, tue solche in ein seidenes Tuch, das eine Nacht in der Achselhöhle einer Jungfrau lag, binde dir das Säckchen auf der rechten Schläfe fest und lege dich auf die linke Seite schlafen, so erwachst du um die gewollte Zeit gewiß.

6. Wenn einem Menschen eine Schlange in den Leib gekrochen ist.

In schlangenreichen Gegenden pflegt es vorzukommen, daß einem Menschen, mittags z. B., wenn er beim Heuen einschläft, eine Schlange in den Leib kriecht, die oft nur der Vortrab böser Geister ist. Dem von der Schlange befallenen setze man eine Schüssel kuhwarmer Milch vor, so wird die Schlange, vom Duft der Milch verführt, ihm aus dem Munde kriechen und sich in die Milch begeben, worauf man sie töten oder auch zähmen kann. Eine gezähmte Schlange ist zu mancherlei nutze. Die indischen Fakire wissen ihr Lob zu singen. Eine gezähmte Kreuzotter ist anhänglicher und zuverlässiger als ein Hündlein, sofern man sie stets in seinem Banne hält. Sie begleitet einen überall hin, und man kann sie auch dazu bringen, den Marktkorb oder Spazierstock zu tragen.

7. Das beste Mittel gegen Mäuse.

Man fange ein Dutzend oder mehr lebendiger Mäuse, tue sie in einen Käfig und gebe ihnen nichts zu fressen. Der Hunger wird sie antreiben, einander gegenseitig aufzufressen. Die stärkste wird Meister und allein übrigbleiben. Man lasse sie frei. Es wird ihr nichts mehr schmecken als Mäusefleisch, und sie wird als Mauswolf unter ihren Artgenossen fürchterlich wüten und ihrer mehr töten als die eifrigste Katze.

8. Das beste Mittel, wilde Pferde zu zähmen.

Aus einem Eisen, damit einer umgebracht, lasse man Hufeisen schmieden und beschlage das wilde Pferd damit. Es wird fromm, folgsam und sittig daherschreiten.

9. Magische Kur wider das Fieber.

Wenn einer das Fieber hat, und alle Mittel sind schon vergeblich angewandt, so soll man dem Patienten an Händen und Füßen die Nägel abschneiden, in ein Tuch tun und einem lebendigen Bachkrebs auf den Rücken binden und den Krebs wieder in ein fließendes Wasser werfen. Es hilft.

10. Sympathetische Geburtsbeförderung.

Frühling und Herbst schälen die Schlangen ihre Haut ab. Eine solche abgestreifte Haut einer Gebärenden um die Lenden gebunden, befördert die Geburt. Auch die abgestreifte Haut eines Aales tut gute Dienste. Es darf aber kein Spickaal sein. 11. Ein Mädchen keusch zu erhalten.

Ein Mädchen mit moralischen Ratschlägen keusch zu erhalten: das probiere der Teufel. Viel besser ist folgendes Mittel: hat man eine jungfräuliche Tochter, so nehme man das Herz einer Turteltaube und nähe es in ein Stück Fuchsfell. Dieses Amulett, bei sich getragen, läßt keine Unkeuschheit zu.

12. Wie man die Hexen erkennen kann.

Wenn man von einer Totenbahre, in der eine Kindsbetterin im ersten Kindsbett mit einem einäugigen Knaben starb, ein Stück haben kann, in dem ein Ast ist und den Ast ausstößt: so sieht und erkennt man alle Hexen durch dieses Loch. Wer einen solchen zauberischen Ast hat, hüte sich vor der Verfolgung der Hexen. Sie werden ihm manchen Streich spielen. Der Bräutigam, der vor der Hochzeit durch dieses Astloch seine Braut betrachtet, wird erkennen, ob er es mit einer Hexe zu tun hat und sich danach verhalten. Eine Hexe zu ehelichen, kann zwar Geld und Gut, sonst aber nur Unglück bringen.

 

Der Kurfürst beschied Bracke vor sich:

»Bist du ein Heiliger oder ein Narr?«

Bracke verzerrte das Gesicht.

»Wäre ich ein Heiliger, es ständen nicht soviel Galgen in Eurem Kurfürstentum. Wäre ich ein Narr, ich würde Euch das nicht ins Gesicht sagen.«

Der Kurfürst biß sich auf die Lippen.

»Er hat Mut.«

Bracke sprach:

»Nur grade so viel, um die Wahrheit zu sagen: daß hohe Herren oft sehr niedere Herren sind.«

Der Kurfürst sah durch das große Fenster.

»Er will den Menschen helfen!«

Bracke stöhnte.

»Ich versuche es, Herr... Sie sind meine Gefährten und nächsten Verwandten in dieser Wildnis, wäre ich ein Tier, so hülfe ich den Tieren, wäre ich eine Eiche, ich böte mich dem Efeu dienend dar. Als Muschel wüchse Moos auf mir.«

Der Kurfürst schenkte Bracke fünfzig Taler.

Als er durch das Schloßportal kam, saß dort ein altes, zahnloses Weib, das ihn Tagedieb und Nichtsnutz schalt.

Da gab er ihr fünf Taler.

Da begann sie sein Lob zu singen.

Da schenkte er ihr weitere fünf Taler und bat sie, ihn wieder zu schelten, weil er es nicht anders verdient.

 

Bracke kehrte im bernauischen Keller im köllnischen Rathause ein und traf den Juden, dem er schon oft begegnet war, und einen Landsknecht und würfelte mit ihnen.

Es dauerte nicht lange, so hatte er seine vierzig Taler verloren.

Da trat ein schönes Mädchen durch die Tür, lange Haare hingen ihr blond herab, ihr abgehärmtes Gesicht zeigte unaussprechliche Armut und Anmut. Ihr Gewand war dürftig und vielfach geflickt.

Die Flamme des Spanes, der in einem eisernen Ring an der Wand flackerte, stand still. War es jenes Mädchen, das einst im Schnee bei ihm geruht?

War es Nadya, die schönste Tänzerin der Welt?

Der Landsknecht ließ den Würfelbecher sinken, der Wirt sperrte am Schenktisch den Mund auf, und alle starrten die Erscheinung an.

Das Mädchen begann zu singen.

Dem Juden zog's die Tränendrüsen zusammen.

Er schlich sich hinaus.

Der Landsknecht folgte brummend.

Bracke blieb allein im Zimmer.

Er führte das Mädchen an den Tisch, gab ihr Speise und Trank, und als sie sich zum Abschied wandte, küßte er ihr die nackten, schmutzigen Wanderfüße.

»Ich bin«, sprach das Mädchen, »Innocentia! vergiß meinen Namen nicht und laß einen Ton meiner Melodie immer um dich sein!«

Bracke seufzte, und der Seufzer ging in einen Schrei über: »O Sancta Kümmernis! Sancta Kümmernis!« Woher stammt Er?« fragte der Kurfürst. »Aus Trebbin an der Spree, nicht weit von der Stelle, da Ihr mich aufgelesen. Wenn sich in Berlin ein Mädchen in der Spree ersäuft, das ein reicher, vornehmer Herr bei Hofe in Schande gebracht hat, so wird sie einen Tag drauf in Trebbin angeschwemmt.«

»Was ist sein Handwerk?« fragte der Kurfürst.

»Ich bin Brillenmacher.«

»Floriert sein Gewerbe?«

»Meine Hauptkundschaft, Herr, sind die armen Leute, die schlecht zahlen. Sie brauchen so viel Brillen und Vergrößerungsgläser, um in den Brotkrumen, die sie zu fressen haben, Brotlaibe zu sehen. Sie sind gehalten, statt durch den Magen durch die Augen satt zu werden.«

»Und die vornehmen Herren, welche gut zahlen – brauchen keine Brillen?«

»Nein,« sagte Bracke, »die Fürsten und Grafen sehen ihrem eigenen Gesindel alles durch die Finger, so daß sie keiner Brille bedürfen. Sie sprechen Recht aus ihrem beschränkten und herrischen Kopf, anstatt die Pandekten zu studieren, so daß sie zum Lesen ebenfalls keine Brille nötig haben.«

»Er soll mir eine Brille anfertigen.«

»Herr, eine rosenrote, nicht wahr? Denn Ihr wollt die Welt rosenrot im Morgen- und Abendrot sehen.«

»Mach Er mir eine schwarze Brille,« der Kurfürst verfinsterte sich, »ich will von dieser Welt bald nichts mehr wissen.«

Bracke erhob die Stirn.

»Weil sie von Euch so wenig wissen will?«


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