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Bracke
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Frühling lag wie eine rosa Wolke über Trebbin, als der Schnelläufer Bartolomäo, der, wie alle Vaganten und Maulwürfe, den Winter verschlafen hatte, auf einem gescheckten Pferde, auf dem er sich gleich einem berittenen Gestirn funkelnd bewegte, Einzug hielt. Von Kindern und jungen Frauen umstaunt und wie das Licht von Faltern umgaukelt, begab er sich auf das Magistratsbureau, um die Erlaubnis zu seinem Schauspiel einzuholen.

»Wir haben im Mai euresgleichen in Trebbin soviel wie Maikäfer,« schrie der Bürgermeister; »der Frühling schüttelt euch von den Bäumen. Ihr seid Volksverderber. Das Volk glaubt an eure lächerlichen Sprünge, weil ihr euch ein paar bunte Lappen um den Bauch hängt. Laßt einmal einen Bauernburschen siebenmal um den Markt herumlaufen: sie würden ihn auslachen und ihn für einen Verrückten erklären.«

»Auch sonderbare Menschen wollen leben«, sprühte der Italiener, welcher sich nicht recht verständlich auszudrücken vermochte.

»Sonderbar! Sonderbar!« eiferte der Bürgermeister. »Ihr seid es, der das Volk aus seiner Ruhe bringt. Aufruhr stiftet ihr an und Krieg und Mord und Brand!«

Des Bürgermeisters dicke Backen flammten.

»Vater!« begütigte seine Tochter, Gattin des Bürgers Bracke und im siebenten Monat schwanger, die dem Italiener aus der ewigen Verwandtschaft des Weibes mit dem Vagabunden geheimnisvoll zulächelte. »Der Fremde ist doch kein Mörder und auch kein Soldat. Er ist ein Künstler. Er hat sogar einen Kunstschein vom Kurfürsten von Brandenburg. Er ist ein Schnelläufer. Ist es nicht ein hoher Genuß und verstärkt es nicht den Glauben an die Menschheit, einen Menschen so schnell laufen zu sehen, wie man selber nie laufen könnte? Und wenn er dabei kuriose Gebärden und Sprünge vollführt: ist er nicht ein Spiegelbild des Genies, erschüttert und erheitert er nicht zugleich?«

Der Italiener hüpfte verständnislos zustimmend.

Der Bürgermeister polterte.

»Dummes Geschwätz. Dir haben die Skribenten den Kopf verdreht. Aber mag der welsche Leichtfuß und Springinsfeld auf dem Markte für seine paar Groschen tanzen. Das Volk sorgt schon durch karge Bezahlung, daß die Bäume des Genies nicht in den Himmel wachsen.«

»Das Genie ist kein Baum, sondern ein Vogel oder eine Wolke«, sagte Maria.

Sie erschrak über ihre Worte. Verneinte und vernichtete sie damit nicht ihr und ihres Vaters und aller Trebbiner Werk und Leben?

Der Italiener zog sich mit spiralenförmiger Verbeugung zurück. Trebbin ist eine kleine Stadt im Märkischen. Kinderspielzeug.

Man erwacht in den winzigen Gassen und meint, Augenaufschlag bedeute: ganze Welt, ganze Sonne, ganzer Mond.

Kiefer ist Traum aller Kiefern. Mutter: Mutter aller Mütter.

Auge erblickt den Kirchturm: kahl gewachsen. Baum aus rotem Sandstein. Maikäferflug erscheint, zu Pfingsten unter den Obstbäumen schwirrend. Seiltänzertruppe schwankt auf dünnen Seilen läppisch.

Gleich einem Dachfenster klappt das Auge zusammen, und das Ohr öffnet sich wie ein Scheunentor ererbten Klängen:

Pferdegetrappel an rostiger Karosse. Horn des Nachtwächters im violetten Abend. Brunnengeplätscher unter Sternen. Liebesseufzer hinter schattiger Gardine. Gespräch der Alten über Erde und Himmel, Krieg und Frieden, Braunbier und Speck auf braven Bänken unterm Torgeböge. Jemand zerrt am Klingelzug der Witwe Murz, städtisch bestallter Hebamme.

Still! Still!

Augen geöffnet und Ohren und Herzen:

Mensch, ein neuer Mensch ist geboren.

 

Als der Schnelläufer mit seinen Spinnenbeinen, seinem Molchleib, auf dem der Kopf sich im schweren und stoßweisen Atem wie eine Hornisse brummend bewegte, prahlerisch wie ein König und lächerlich wie ein Kasperle um den Markt lief, da wurde die Frau des Bürgers Bracke, die im siebenten Monat schwanger war und aus dem Fenster ihrer Wohnung das Komödienspiel betrachtete, dermaßen von einem Lachkrampf erschüttert, daß sie ohnmächtig hintenübersank und ihr vor Gelächter und Schmerz zuckender Leib zwei Monate zu früh eines Kindes genas, welches, da niemand es für lebensfähig hielt, die Nottaufe empfing, das aber im Gefolge sich kräftiger und stärker erweisen sollte als alle Athleten, alle Bürger Trebbins und manche Herren und Fürsten der Welt, und das mit einem Lächeln seiner Augen, einem schiefen Zucken seines Mundes einen Kurfürsten und Kaiser selbst zu Boden zwang.

 

Furchtsam wie eine Muschel öffnet sich des Bürgers Herz. Aber schon schließt es sich wieder gewaltsam: denn eine bittere Flüssigkeit spritzt aus dem süßen Wasser, darin sie leben, in ihr Gehäus.

Wie unter den eleganten Arkaden der Renaissance aus der himmlischen Luft Italiens die Pest sich nebelhaft plötzlich ballte: wie eine tausendjährige Eiche aus Rache an ihrer stämmigen Beständigkeit plötzlich einen kolbenhaften Auswuchs erzeugt, der ihre Wurzel bedroht: wie aus uralt angesehener Bürgerfamilie, die jahrhundertelang Priester, Geheimräte, Kaufleute, Hofkonditoren und Offiziere züchtete – nachdem Dreck und fremde Stoffe ihr plötzlich ins Blut gedrungen –, mit eins ein fabelhafter Bastard springt: Maler unheimlicher Gemälde, Erfinder teuflischer Töne, himmlischer Musik, Dichter unwahrer Wörtlichkeit: – so war Trebbin eines Tages nicht es selbst. Schwer trächtig an Sturm und Leben nach so viel hundert Jahren Tod und Ruhe, brachte es einen Drachen zur Welt, der es anschnaubte mit grünlichen Dämpfen, darin die Schlechten elend krepieren, die Guten emporblühen sollten: ein Fabelwesen, Kröte und Schmetterling, Storch und Stier zugleich.

 

Es ist dunkel um mich her, sprach Bracke, als er in seiner Mutter Bauch lag, aber ich will zum Licht.

Da gebar sie ihn.

Nun, da er das Licht sah und seine Finsternis, die Wolken, welche Sonne, Mond und Sterne verhüllten, der Nebel, der vor den Augen der Menschen, die Bosheit, die vor ihren Herzen lag – da glaubte er vordem unter seiner Mutter Herz in dunkler Höhle dennoch hell im Hellen gelebt zu haben. Der Maimond wanderte bleich am Fenster vorüber. Die Maikäfer rasselten leise im Laubwerk der Bäume.

Physikus Bracke war zu seinem monatlichen Schoppen in den Bären gegangen. Nur einmal im Monat gönnte er sich anderthalbe Bier. Sein dürftiges Einkommen gestattete nur diese einmalige Ausschweifung; sein pedantischer Sinn legte der unfreiwilligen Abstinenz sittliche Motive zugrunde.

Die Bürgerin Bracke hatte mit dem Kind gespielt und selig ihn gerufen: »Bracklein! Brücklein! Brücklein zum Himmel! Regenbogen! Zitronenfalter!«

Sie war müde geworden, und nun atmete das Kind im Schlaf an ihrer Brust.

Unhörbar fast wehten die Flügel der Tür auseinander.

Sie rief: »Bracke!« ihren Gatten vermutend. Aber wie sie sich matt emporrichtete, sah sie, daß ein Reigen schöner Frauen, neun an der Zahl, die Kammer betrat. »Ihr kommt zu später Stunde, Nachbarinnen, mein Wochenbett zu besuchen», lächelte sie, nun ganz ermuntert, denn sie glaubte in der ersten der Frauen im gelben Zwielicht die Frau des Gerichtsassessorius zu erkennen.

»Wir kommen noch immer zur rechten Zeit», sagte Kalliope, an Antlitz und Gestalt der Frau Gerichtsassessorius gleichend und doch von ihr entfernt durch eigenen Adel der Bewegung und der Sprache.

»Euer Gatte wäre gewiß nicht gut auf uns zu sprechen», sagte Klio, die zweite, und ihre Sprache tönte dunkel wie das Echo ferner Kriegstrompeten.

»Mich wohl würde er niemals begreifen», sprach ernst und voll verhaltener Trauer Melpomene, die dritte. Eine kleine silberne Keule trug sie in der rechten Hand. »Ich bringe Euch, Bürgerin Bracke, für Euren Sohn mein Patengeschenk, und danke Euch für Eure Einladung, Pate bei ihm zu stehen.«

Damit legte sie die kleine silberne Keule auf die Bettdecke. Das Kind begann im Traum zu weinen.

»Ich nenne sie Ananke, diese kleine Keule, sie wird Eures Sohnes Hammer sein zum goldenen Amboß: Schmerz und Andacht. Ich habe sie aus Silber gewählt. Meinen früheren Patenkindern mußte das graue Eisen für Hammer und Amboß genügen.«

Die Bürgerin Bracke sah der schönen Frau, welche die Züge der Frau Apotheker trug, erstaunt ins Gesicht. Acht von den neun Frauen schienen ihr Gevatterinnen und Freundinnen und doch in der Dämmerung der Mainacht wunderlich und geisterhaft verwandelt.

Thalia, die lustige Frau des Aktuars, trat vor und lachte. Sie kitzelte das Kind leise mit einer Gänsefeder unterm Kinn. Da lachte es im Schlaf, und auch die Bürgerin Bracke lachte.

Urania, die kleine verwachsene Frau des Küsters, stand am Fenster und betrachtete den Mond und die Sterne.

Terpsichore und Erato, die beiden hübschen Töchter des Kaufmannes, die immer Hand in Hand gehen, versuchten einige Pas eines französischen Menuetts.

Euterpe, die kunstfertige Frau des Brauers, hatte ihre holzgeschnitzte Flöte mitgebracht und blies den schönen Schwestern zum Tanz.

Da trat die letzte der Frauen, das Antlitz im Schleier verhüllt, ans Bett. Die Bürgerin Bracke erinnerte sich nicht, sie je gesehen zu haben, doch dünkte es sie, als vereine sie Sprache, Kleidung, Gebärde und Tugend aller acht in sich, und als müsse es süß sein, eine solche Freundin zu haben.

Die Verhüllte sprach: »Dein Sohn, Mutter, ist nicht dein Sohn allein: er ist unser aller Sohn: er wird weinen und tanzen, Flöte spielen, lachen und die silberne Keule schwingen lernen. Er wird zu den Gestirnen blicken und auf Kalliopes Tafel die himmlischen Ziffern schreiben, aber am Ende ist er doch mein Sohn, und ob er vielleicht mich nie erkennt: er wird wie ich verhüllt durchs Leben schreiten, und seine wahre Anmut und seine tiefste Weisheit wird wie hinter Schleiern sein.« »Wie ist Euer Name?« wagte Bürgerin Bracke zu fragen.

»Polyhymnia.«

Die Bürgerin Bracke hörte rumoren auf der Treppe. Furcht schlug ihr ins Angesicht, die Frauen möchten zu so später Stunde ihrem jähzornigen Gatten begegnen – da verneigten sie sich stumm und schwebten durch die Tür und an ihrem Manne vorüber, der soeben schimpfend die Kammer betrat.

»Was ist das für ein parfümierter Gestank im Zimmer? Ich werde das Fenster öffnen.«

»Tu es nicht, Mann,« flehte die Frau, »die feuchte Nachtluft ist Gift für Wöchnerinnen.«

Brummend begann der Physikus sich zu entkleiden.

 

Bracke lächelte.

Da ließ sich ein Schmetterling auf seiner Stirne nieder, vermeinend, daß sie eine Blüte sei.

Bracke weinte. Da fiel der Himmel in Wehmut.

Unaufhörlich regnete es.

Die Weidenbüsche an den Teichen von Trebbin seufzten. –

Die Mutter brachte ihm einen Ball.

Er spielte.

Er warf ihn so hoch in den Himmel, daß er nicht mehr auf die Erde zurückfiel.

Er kam mit leeren Händen zur Mutter.

Ihr hölzernes Antlitz spaltete sich wie ein Holzblock, in den eine Axt fährt.

»Wo hast du den Ball?«

Bracke wußte es nicht.

Da hob sie die harte Hand und schlug ihn.

Aber sie traf nicht seine Wange, sondern wo ihm der Kopf zu sitzen pflegte, da glänzte ihr, ohne Auge, Mund und Nase: glatt und spielerisch, doch ernst und drohend, der Ball entgegen. Sie erblaßte und wischte sich mit der Hand über die Stirn.

 

Bracke war sechs Jahre alt, als er eines Tages vor seinen Vater trat und sprach: »Ich will –«

Der Physikus, der vom Schröpfen kam und ein wenig mit Blut bespritzt war, schnaubte sich ärgerlich entsetzt die Nase.

»Was ist das für ein ungehöriger Ton seinem Herrn Vater gegenüber! Was heißt das: Ich will... ich will. Was will Er? Wenn sein Wille mit dem meinen korrespondiert, soll sein Wille geschehen.«

Bracke äugte freimütig und sagte klar und deutlich:

»Ich will ein Tier werden.«

Der Physikus zuckte einen Schritt zurück. Er hob die Hand, zauderte, warf die Arme auf den Rücken und begann mit seinen hölzernen Pantoffeln den Steinfußboden des Erdgeschosses zu klopfen.

Bracke lauschte dem Geräusch der klappernden Holzsohlen. Es dünkte ihn von einer dumpf geahnten Gesetzlichkeit und einem harmonischen Rhythmus gleichartig wiederkehrender Töne. Klappert weiter, ihr Sohlen, bis ich Worte zu eurem Geräusch gefunden und Sinn zu eurem Singen.

Er vergaß völlig die Gegenwart seines Vaters. Er dachte: Worte! und begann sinnlos zum Geräusch der Pantoffeln zu schreien: »hei... hei... hei... hei...«

Der Physikus blieb stehen.

»Ist Er verrückt? Was brüllt Er so? Er ist doch kein kleines Kind mehr.«

Bracke dachte: Kind: und sah sich unter den Kindern der Straße: Sand im Gesicht, mit kotigen Füßen und schmieriger Jacke.

»Hör Er,« sagte der Physikus, »Er ist ein Mensch, ein kleiner Mensch, weshalb will Er ein Tier werden? Wer hat Ihm diesen gottlosen Unfug eingegeben?«

Bracke streckte seine zur Faust geballte linke Hand vor und öffnete sie.

Auf der Fläche seiner Hand lag eine Schnecke.

»Die habe ich gefunden,« sagte Bracke, »und deshalb will ich ein Tier werden.« Die Schnecke bog vorsichtig ihre Fühler aus und kroch langsam, weißen Schleim auf der Haut zurücklassend, am Zeigefinger empor.

»Die Schnecke hat ihr Haus immer bei sich,« sagte Bracke, »wenn man ihr weh tut, kriecht sie hinein. Wenn man mir weh tut, habe ich kein Haus.«

Er sah groß und grade dem Physikus ins Gesicht.

Der errötete vor dem Kinde. Scham ließ seine Knie zittern.

Ich kann dieses Kind nicht lieben. Es ist ein Tuch voll unreinen Wesens. Gott straft mich mit seiner Unbotmäßigkeit.

»Ungeziefer«, bellte er und schlug dem Kind die Schnecke aus der Hand.

Sie fiel auf den Boden. Er zertrat sie knirschend.

»Zertretet mich, Herr Vater«, flehte Bracke.

»Besser wäre es vielleicht, ich erschlüge Ihn, ehe Er wie Unkraut hochwuchert und es zu spät ist zum Jäten.«

 

Bracke saß in der Schule, im dunkeln halb, auf letzter Bank.

Aus halbem Dunkel träumte er sich ins Dunkel ganz. Eulen kreischten von steinernen Türmen, Raubritter schlichen durch den Forst. Kaufleute jammerten, ihrer Gewürze und Teppiche beraubt. Ein blasses Kind, ihm selbst nicht unähnlich, entfloh und versank im Sumpf.

Der Lehrer, krumm und kantig, schrie wie falsche Töne auf der Orgel, wenn man daneben greift:

»Bracke, dreimal eins ist –?«

»Eins«, sagte Bracke, aus dem Dunkel ins Grelle gerissen.

»Falsch,« sagte der Lehrer, »du träumst.«

»Ist Gott nicht drei: Vater, Sohn und heiliger Geist – dreimal eines – und doch eins?«

Der Lehrer krümmte sich tiefer – wie ein Kater, der einen Buckel macht: »Was in der Religion richtig, das ist im Rechnen und in der Mathematik falsch. Setz dich einen Platz herunter, Bracke.«

 

Soldaten des Kurfürsten marschierten unter ihrem Hauptmann Eustachius von Schlieben mit Trommeln und Flöten durch Trebbin. Sie sahen in ihren bunten Wämsen aus wie Perlhühner und Fasanen und krähten und gackerten wie Hähne und Enteriche.

Bracke lief neben dem Falben des Hauptmanns.

Der hob ihn zu sich aufs Pferd:

»Wer bist du, Kleiner?«

»Ein Mensch wie du«, sagte Bracke.

»Aber ohne Helm, Panzer und Schwert«, lächelte der Hauptmann.

»Aber mit Kopf, Herz und Händen«, lächelte Bracke.

Der Hauptmann ließ ihn sanft wieder vom Pferde gleiten.

»Ich will mir deinen Namen merken, kleiner Mensch, vielleicht, daß ich statt eines Soldaten einmal eines Menschen bedarf.«


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