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Benares

Als Brahma den Himmel mit seinen Göttern gegen Kâshi (Benares) abwog,
Sank Kâshi, als die schwerere, zur Erde hinab.
Der Himmel, als der leichtere, stieg hinan.

Ich muß wieder und wieder dieser Verse aus Shankarâchâryas Manikarnikastotram gedenken, denn es weht ein Hauch göttlicher Gegenwart über dem Ganges, wie ich ihn gleich machtvoll noch nirgends gespürt habe. Des Morgens zumal, wenn die Frommen zu Tausenden die Ghâts bedecken, wenn die Gebete in goldenen Wellen der aufgehenden Sonne entgegenfluten und der Sinn sich in zartester Sinnenschönheit offenbart, scheint die ganze Atmosphäre durchgottet zu sein. Wie gut, daß die Inder seit Jahrtausenden diese Stätte als Heiligtum verehrt haben: so ist sie, dank des Glaubens Wundermacht, wahrhaftig zu einem Heiligtum geworden. Benares ist Shiva geweiht, dem schwarzhalsigen Gotte; aber nicht als Person, sondern als Ansicht des überpersönlichen Brahman, der nichts ausschließt und alles bedingt. So wallfahrtet ganz Indien nach Benares, unbekümmert um Sektenangehörigkeit. So könnte die ganze Menschheit hierher pilgern. Die schlanke Moschee Aurang-Zeebs, des fanatischen Muslim, wirkt nicht störend inmitten der Hindutempel. Und wie aus dem fernen Cantonment, vom Wind getragen, das Echo eines Chorals über dem Ganges schwebte, da war mir, als gehörte es hierher.

Benares ist heilig. Das oberflächlich gewordene Europa versteht solche Wahrheiten kaum mehr. Bald wird keiner mehr Wallfahrten unternehmen, und früher oder später, nur zu früh, wird die Christenheit ohne Heiligtümer dastehen. Wie arm wird sie dadurch geworden sein! Was soll die Frage, ob eine Stätte »wirklich« heilig sei? Wird sie lange genug für heilig gehalten, so schlägt die Gottheit unweigerlich ihren Wohnsitz auf in ihr. Dem Pilger, der sie betritt, wird es merkwürdig leicht, in Andachtsstimmung zu verweilen, und diese Stimmung erweitert und vertieft. Freilich wäre es das Höchste, wenn einer überall die Gegenwart Gottes spürte, unabhängig von äußerlichem Beistand. Aber das vermag kaum einer unter Millionen. Nicht alle Jahre wird ein Menschenkind geboren, das wie Jesus von sich sagen kann: ich habe, gleich dem Vater, alles Leben in mir; dessen Spontaneität so groß und so selbstherrlich wäre, daß sie keiner Auslösung bedürfte. Die Regel ist hier wie überall – in Kunst, Philosophie und Moral –, daß der Mensch nur das in sich erlebt, was ihm außer sich gezeigt wird, oder was die Eindeutigkeit mittelbarer Anregung reflexartig in ihm entstehen ließ. Verhielte es sich anders, so wären nicht allein Wallfahrtsorte überflüssig, es bestünde auch keine Veranlassung, große Männer in Dankbarkeit zu verehren, denn wozu verehrte man sie wohl, wenn sie nicht gäben, was wir ohne sie entbehren müßten? Die allermeisten haben Anregung nötig, um zum Höchsten in Beziehung zu treten, wo sie fehlt, dort entgotten sie sich. Solche gewährt für das Alltagsleben das Studium der Schrift, die Teilnahme am Kult. Allein die Routine des Alltags vermag nicht mehr, als den normalen Wachstumsprozeß im Gang zu erhalten und Rückbildungen vorzubeugen; nur Außerordentliches bewirkt im Menschen, dem Gewohnheitstier, dem Unterschiedswesen eine Beschleunigung der Entwicklung, eine plötzliche Niveauverschiebung. Zu diesem Zwecke haben alle Religionen Feiertage eingesetzt; den Umgang mit heiligen Männern empfohlen; besonders aber das Wallfahrten angeraten. Bei solchen trägt nämlich alles dazu bei, die religiösen Saiten der Seele zum Schwingen zu bringen und in dauernder Schwingung zu erhalten. Die Ortsveränderung läßt den Menschen zeitweilig seine gewohnten Umstände vergessen; das Ziel der Fahrt, stetig im Auge behalten, schließt eben dadurch herabmindernde Erinnerungen aus; endlich steigert die Phantasie in der Erwartung den möglichen Einfluß des Heiligtums so sehr, daß die Seele sich dem wirklich Vorhandenen mit äußerster Empfänglichkeit hingibt. Aber dieses Subjektive ist es nicht allein, das die Heilwirkung heiliger Stätten bedingt: diese werden objektiv heiligend durch die Kumulation der Glaubensvorstellungen seiner Besucher. Sie gewinnen auf die Dauer eine Atmosphäre, die auch den ergreift, der in unheiliger Stimmung hinzog. Und diese ihre weihende Kraft wächst mit der Zeit. Sie werden allmählich zu echten Gnadenbornen. Wer eine altgeheiligte Pilgerstraße in gläubiger Verfassung durchmißt, dem kann es geschehen, daß er sich an ihrem Ende seelisch weiter befindet, als ihn sonst Jahre innerer Arbeit gebracht hätten. Indien nun ist dicht durchzogen von Pilgerstraßen; es ist besät mit heiligen Stätten; wieder und wieder wird der Wanderer, in immer neuem Zusammenhang, in immer neuer, deshalb anregender Form an die Gegenwart Gottes erinnert. Nirgends aber so stark wie am Ganges. Dieser heiligste der Ströme entspringt in Shivas Paradies, am schneeigen Kailâs in den Himalayas; wer dorthin gelangt, ist leiblich in Gottes Gegenwart. Dann durchfließt er die majestätischen Bergwälder, in denen Munis und Rishis hausen, Übermenschen, Jîvanmuktas, denen Leben und Sterben schon eins sind; wer bis zu ihnen dringt, den nehmen sie mitunter zum Jünger an. Und indem er sich südwärts wälzt, vom sonnenverbrannten Pendschab zu der fruchtbaren Ebene Bengalens, heiligt er fortlaufend Stätte auf Stätte. Zum Kailâs ist noch keiner hinangestiegen; zu den Mahatmas nur selten einer gelangt. Aber Benares ist jedermann zugänglich. So ist diese Stadt der Brennpunkt aller Glaubensvorstellungen, die mit dem Ganges verknüpft werden, was ihr eine einzig dastehende heiligende Kraft verleiht.

Was ist es mit dieser »psychischen Atmosphäre«, welche offenbar objektiv-wirklich ist, deren Dasein ich deutlicher spüre, je länger ich lebe? Ich weiß es nicht. Ich nehme an, daß es sich um Schwingungen handelt eines »Äthers«, der freilich kaum mit dem der Physiker zusammenfällt, aber doch um Vibrationen materieller Natur. Sicher sind Gedanken ebensosehr »Dinge« wie die Gegenstände der Außenwelt, nicht minder real, und wahrscheinlich dauerhafter als man denkt. Der »Zeitgeist« ist ein nicht minder Objektives, wie die physische Luft. Wenn Vorstellungen nichts Stoffliches wären, sie könnten nicht anstecken. Ich wüßte auch nicht, wie ich sonst dazu kommen sollte, unmittelbar eine psychische Atmosphäre aufzufassen, sonst so stark beeinflußt würde vom Ort, an dem ich mich aufhalte, und verschieden, je nach den Wesen, die ihn dauernd bewohnen oder bewohnt haben. An der Wirklichkeit psychischer Luft kann nur der zweifeln, dessen Sinne zu stumpf sind, um sie zu spüren. Ihre Theorie ist freilich ungeschrieben. Der einzige zusammenhängende Versuch, den ich wüßte, stammt noch von den alten Indern her: ich meine die dunkle Lehre von den Tattvas Die einzige ausführliche Arbeit über diese Lehre, die mir bekannt wäre, bezeichnet Râma Prasâds Büchlein Nature's finer Forces (London 1907, Theosophical Publishing Society), in welcher die Philosophie der Tattvas, teils in Übersetzungen aus dem Sanskrit-Original, teils in selbständiger Ausdrucksweise, nicht undeutlich dargelegt erscheint..

 

Herrlich ist es, wenn sich die Sonne über den Horizont erhebt und die Scharen der Frommen auf den Ghâts sich in einiger Gebärde der Anbetung der Lebensspenderin entgegenneigen. Der Hinduismus kennt keinen Sonnengott; was Stoff ist, hat er nie als Geist verehrt. Aber er gebietet, vor der Sonne anzubeten, weil sie die vornehmste physische Manifestation sei der göttlichen Schöpferkraft. Was wäre der Mensch ohne Sonne? Er wäre überhaupt nicht; sein ganzes Dasein ist sonnenerzeugt, sonnengeboren, wird von der Sonne erhalten und verwelkt, wenn der Born des Lebens sich von ihm abwendet.

Je weiter ich komme in der Erkenntnis, desto entschiedener bekenne auch ich mich zum Sonnenkult. Während jener schrecklichen Monde, wo sie Estland nur einen flüchtig wegwerfenden Gruß entbietet, um sich dann schleunigst, wie nach erledigter unangenehmer Pflicht, geliebteren Breiten zuzusenken, sinkt jedesmal auch die Kurve meines Lebens. Mein Körper erkrankt, meine Vitalität flaut ab, meine Seele entspannt sich. Und umgekehrt sind meine Perioden höchster Schaffenskraft allemal mit den längsten Tagen zusammengefallen. Aber was ist die heißeste Sonne, die der Norden kennt, im Vergleich zur indischen! Ein schwelend Kerzenlicht. Die Sonne Indiens wird viel gefürchtet: ich fühle mich geneigt, gleich den Pilgern am Ganges, jeden Morgen dankerfüllt vor ihr niederzusinken, denn unermeßlich ist, was sie mir gibt. Hier spüre ich mich dem Herzen der Welt so nah, wie nie zuvor, hier ist mir täglich, als müßte mir bald, schon heute vielleicht, die äußerste Erleuchtung kommen. Ich wundere mich nicht mehr, daß alle tiefste Weisheit aus dem Osten stammt: sie stammt aus der Sonnennähe. Alle Manifestation ist körperlich; der Geist offenbart sich dort, wo es die Kraft gibt, ihn auszudrücken, und alle Kraft ist materiell und stammt letzthin aus der Sonne. Die Sonne Indiens begünstigt nicht das Denken, wie denn keinerlei bewußte Aktion; ihre Kraft ist hier zu groß, um eines Auswirkens vermittelst schwacher Menschenwillen fähig zu sein. Sie wirkt unmittelbar im Guten wie im Schlimmen. So tötet sie das vorwitzige Gehirn, das sich ihrer Bestrahlung allzulange aussetzt; so erleuchtet sie auf einmal unvermittelt das demütig-empfängliche Gemüt. Ihm wird hier auf einmal vieles klar, was im Norden kein Denken erarbeiten würde. Es wird ihm deutlich dadurch, daß die Urkräfte seines Wesens beschwingt werden und in den Mittelpunkt seines Bewußtseins hineindringen. Metaphysische Erkenntnis ist nichts anderes als dieses Bewußtwerden des tiefsten Wesens. Gewöhnlich wird es überschichtet von den tausend Trieben, die das Oberflächenspiel des Lebens bilden, desto mehr, je ferner der Quell. So ist der Europäer einerseits tätiger, andererseits oberflächlicher als der Inder. Dieser handelt ungern, denkt meist unvollkommen, hat nur wenig kinetische Energie: alle Oberfläche wird von der Sonne versengt. Dafür entzündet sie das Unversengbare zu solcher Leuchtkraft, daß es dem ärmlichsten Bewußtsein deutlich wird.

Ist es richtig, was ich hier niederschreibe? – Betrachtungen dieser Art sind niemals »richtig«, aber sie können wahr sein dem Sinne nach, und das ist mehr. So haben alle Sonnenanbeter recht vor Gott. Für den Mythengläubigen gibt es keine Tatsachen in unserem Sinn; er weiß nichts von der Sonne des Physikers. Er betet vor dem, was er unmittelbar als Quell seines Lebens spürt. Der spätere Mensch, dessen emanzipierter Verstand an erster Stelle die Frage der Richtigkeit aufwirft, muß natürlich den Sonnenkult verleugnen; für ihn gibt es ja nur das Faktum der Astronomie, und das ist freilich keine Gottheit. Der Spiritualisierte wird dem antiken Glauben wieder gerecht. Er erkennt in ihm eine schöne Ausdrucksform echtinnerlichen Gottesbewußtseins. Er weiß, daß alle Wahrheit letzthin symbolisch ist, und daß die Sonne den Charakter des Göttlichen eigentlicher zum Ausdruck bringt, als die beste Begriffsfassung.

 

Die Atmosphäre der Andacht, die über dem Strome schwebt, ist unwahrscheinlich stark; stärker als in irgendeinem Gotteshause, das ich besucht hätte. Jedem angehenden christlichen Geistlichen wäre es anzuraten, ein Jahr des Theologiestudiums draufzugeben und diese Zeit am Ganges zu verbringen: hier würde er erfahren, was Frömmigkeit heißt. Denn in Europa lebt nur mehr ein Abglanz von ihr. Wer kann dort noch inbrünstig beten? Wer kennt dort noch die andächtige Sammlung, welche sich selbst genügt, keiner Veranstaltung bedarf, den Einfluß der störenden Umwelt selbständig ausschaltet? kaum einer unter Millionen; die am frömmsten zu sein wähnen, sind es in Wahrheit meist am wenigsten; denen gilt Glauben als identisch mit Fürwahrhalten und Beten für eines Sinnes mit Bitten, was beweist, daß sie von tieferer Frömmigkeit nichts ahnen. So elementaren Mißverstehens scheint kein noch so einfältiger Hindu schuldig. Keinem Hindu bedeutet Glauben Fürwahrhalten, denn die Frage des Daseins stellt er nicht, wie viel Götter und Göttinnen er immer verehrte. Und keiner faßt sein Gebet als Bitte auf. Er weiß, daß Bitten niemals ein Heiliges ist, auch da nicht, wo es für andere geschieht, weil es sich letztlich immer auf das Ich bezieht. Das Gebet als Sakrament ist ein Ausdruck eben dessen, was im Opfer, im Loben Gottes, im Kult, im Choral und am besten in der stillen Meditation in die Erscheinung tritt: des Öffnens des Bewußtseins den Strömungen, die in der innersten Tiefe der Seele der Befreiung harren, die, wenn befreit, den Geist direkt mit Gott verbinden. Auf das Mittel als solches kommt es nicht an. Das weiß der Hindu, was allen Äußerungen seiner Religiosität, seien sie naiv oder durchgeistigt, den gleichen sakramentalen Charakter erteilt. Woher kommt ihm sein Wissen? Von seiner Kinderstube. Das erste, was eine indische Mutter ihrem Kinde lehrt, ist die Kunst des Meditierens, der willkürlichen Versenkung im höchsten, was es vorstellen kann. Hat es diese Kunst erlernt, dann bedarf es keines äußeren Apparates, keiner Kirchenluft, keines Dogmenglaubens, keiner Abgeschiedenheit, um zu Gott in Beziehung zu treten. So sieht man am Ganges die Kinder inmitten des Lärms, des Geschäftsverkehrs, trotz aller Fremden, die verständnislos glotzend an ihnen vorbeigondeln, wenn die Stunde der Anbetung kommt, sich inbrünstig in die Gottheit versenken, unstörbar, unbeirrt. Und die vom Kind erarbeitete Kunst lernt der Erwachsene dann langsam verstehen, wenn nicht mit dem Verstand, so doch mit dem Gemüt. Er weiß ja aus Erfahrung, worauf es ankommt; er kennt die Erhebung, die das Freiwerden der tiefsten Lebenskräfte wirkt; so kann er nicht, gleich den meisten heutigen Christen, das Mittel mit dem Zweck verwechseln. Desto weniger, als seine ganze Erziehung darauf angelegt ward, ihn das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden zu lehren. Seine Mutter, die ihn atmen und meditieren lehrte, hatte ihm völlig freie Hand gelassen bei der Wahl seines geistlichen Lehrers. Wäre er einem gefolgt, der in seiner besonderen Konfession von der ihrigen so weit abwich wie ein Lutheraner vom Katholiken, sie hätte keinen Versuch gemacht, ihn zurückzuhalten: es gilt ja als Todsünde unter Indern, eines anderen Glauben gewaltsam beeinflussen zu wollen, da jeder doch ein besonderes Wesen ist und daher auf seinem ihm gemäßen Weg der Gottheit zupilgern muß. Und im gleichen Sinn hatten ihn die Brahmanen, sofern er wissensdurstig und einsichtsfähig war, fortschreitend weiter belehrt. Sie hatten ihm gesagt, nur eine Gottheit gäbe es in Wahrheit, die vielen Götter seien dessen Manifestationen, nur dazu da, dem Menschen das Realisieren zu erleichtern; denn Gott an sich sei unvorstellbar; wer weit genug in sich selber vorgedrungen sei, könne alles Rituales wohl entraten. Und so war er auch hier und da weisen Männern begegnet, die außerhalb aller Kultgemeinschaft standen. – Wie soll der Hindu nicht wissen, worauf es ankommt? Wie soll er lau werden, wofern er ein einziges Mal die Seligkeit religiösen Realisierens erfahren hat? Im westlichen Europa, das im Mittelalter Indien so ähnlich sah, ist heute echte Andacht kaum mehr anzutreffen, außer in fernabgelegenen Winkeln, in denen der Geist vergangener Jahrhunderte noch herrscht. Nur in Rußland kennt man sie noch als Normalphänomen. In der Tat habe ich, seit ich in Indien weile, mehr denn einmal des russischen Menschen gedenken müssen. Seltsam ähnlich dem Hindu steht dieser zur Welt: gleich allverstehend, gleich allbrüderlich, gleich unpraktisch. Und seltsam ähnlich ist vor allem seine Religiosität. Zwischen vielen Pilgern, die ich einerseits am Gangesgestade, andrerseits an der Ssergievskaja Lawra beten sah, bestand sicher nur ein konfessioneller Unterschied. Eine gleiche Inbrunst nicht allein, eine gleiche Qualität der Inbrunst entflammte die Herzen dort wie hier. Ja, Rußland – das Rußland des einfachen Bauern – ist heute wohl das einzige gottnahe Reich der Christenheit.

Gottnahe zum mindesten, soweit der Weg des Herzens, der Bhakti-Yoga, in Frage kommt. Das Gemüt ist, was immer man sage, beim Abendländer nur schwach entwickelt. Wir bilden uns ein, weil wir nun seit anderthalb Jahrtausenden eine Religion der Liebe bekennen, deshalb von Liebe beseelt zu sein. Das sind wir nicht. Unsere extrem aktive Natur hat die Inspiration, die aus dem Osten kam, unverzüglich in Handlungen umgesetzt, in Lebensformen, Lebenswege, Einrichtungen, so daß in diesen zwar mehr Liebe zum Ausdruck kommt als in allen, die der Orient kennt, das Gemüt als solches aber entleert erscheint. Die Seele des Europäers ist im gleichen Verhältnis gefühlsarm, wie sie im Geist erhabener Gefühle schafft. Es scheint nicht möglich, einen Geist sowohl als solchen festzuhalten, als ihn äußeren Organen einzuverleiben. Wie dürftig wirkt Thomas a Kempis neben Ramakrishna! Wie arm die höchste europäische Bhakti neben der etwa der persischen Mystiker! Das westliche Fühlen ist stärker als das östliche, insofern es mehr kinetische Energie enthält; aber es ist auch nicht annähernd so reich, so zart, so differenziert. San Juan de la Cruz wirkt häufig obszön, trotz echtester Gottesliebe, weil eben seine rohe Spanierseele keines feineren Ausdrucks fähig war; Franz von Assisi, trotz seiner Süßigkeit, mehr als Naturgewalt, denn als verklärter Geist. Es wäre hohe Zeit, den Aberglauben aufzugeben, daß die Christenheit ein Monopol auf die Liebe hätte. Sie steht obenan, soweit Arbeit im Sinn der Liebe in Frage kommt, von dieser selbst, als Erleben, weiß sie weit weniger als die sanftere Menschheit Hindustans. Ich verstehe jetzt gut, daß Europäerherzen dem gebildeten Hindu roh erscheinen: sie sind roh, daran kann kein Zweifel sein. Und schwerlich werden sie jemals echter Bhakti fähig werden: unsere Entwicklung bewegt sich nach anderer Richtung hin. Wir werden weniger und weniger devotionell. Man lasse sich durch den Devotionalismus nicht irre machen, der heute in vielen religiösen Verbänden des Westens, zumal der von Indien inspirierten Theosophischen Gesellschaft, herrscht: er wird immer nur einer Minderzahl kongenial sein, selbst unter den Frauen. Und diese Minderzahl wird zusammenschmelzen im gleichen Verhältnis, wie das Bewußtsein ihrer eigentlichen Seele der westlichen Menschheit deutlicher wird. Hier wie überall setzt die gegebene Natur eine Grenze, die zu überschreiten nur scheinbar glückt. Um im indischen Sinne fromm sein zu können, muß man als Inder oder Russe geboren sein. Es muß einem das Verehrungsbedürfnis im Blute liegen; es muß die Verehrungsfähigkeit hoch ausgebildet sein. Die Seele muß sich sehnen, sich hinzugeben, dem Eigenwillen zu entsagen, mit sich geschehen zu lassen; sie muß weiblich geartet sein. Das sind die besten Europäerseelen nicht; die sind männlich bis zum Extrem. So beruht die Unfrömmigkeit des Europäers, sein grobes Mißverstehen des Sinns von Glauben und Gebet letzthin wohl darauf, daß die Bhakti-Yoga nicht den Weg bezeichnet, der ihn am sichersten zur Gottheit führt.

 

Viele Stunden jedes Tages verbringe ich im Labyrinth der Gassen, welche Tempel mit Tempel verbinden und ihrerseits von Götterschreinen und Altären dicht umsäumt sind. Soviel »Stationen« wie Benares hat kein Wallfahrtsort der Christenheit, und fast auf jeder wird die Gottheit in besonderer Form und unter spezifischem Aspekt verehrt. Am meisten Zuspruch finden natürlich die Idole, die auf das Verständnisvermögen des kleinen Mannes zugeschnitten sind; so wird auch in Benares, der Stadt Shivas, Gançsha, dem elefantenköpfigen Schutzherrn irdischen Erfolges, am reichlichsten geopfert. Die Gebildeten haben nichts dagegen; ihre Weltanschauung billigt und ermutigt jede Form der Devotion. Alle Glaubensvorstellungen, so lehrt sie, haben den einzigen Zweck, dem Menschen ein Hilfsmittel zu bieten, sich seines tiefsten Selbsts bewußt zu werden. Je einfältiger und roher einer ist, desto gröber und ungeistiger müssen die Bilder sein, die seiner Aufmerksamkeit entgegengehalten werden, denn feinere verfehlen bei ihm ihr Ziel. Vom Bauern ist nicht zu verlangen, daß er unmittelbar zum Brahman in ein Verhältnis träte. Der möge nur getrost zu den Göttern beten, deren Gestalten eine ungebildete Volksphantasie erschuf, denn sofern er nur glaubt, sofern der Gegenstand seiner Verehrung seine Seele wirklich zu bannen vermag, leistet dieser ihm eben das, was dem Rishi, dem Muni, die Kontemplation des Absoluten leistet. Im übrigen aber gibt es nicht viele Wissende; nicht viele, die über die Ratsamkeit der Disziplin, des traditionellen Kultes tatsächlich hinaus wären. Es gilt, die Gottheit wirklich zu realisieren, nicht bloß sich einzubilden, daß man es tut: wer ist so weit, dies ohne »Namen und Form« zu können? Shankara war es nicht, auch Ramanuja nicht, sonst wären beide nicht so eifrige Opferer gewesen; beide blieben den altgeheiligten Glaubensformen treu, verschmähten es, sich neue, ihren Philosophien scheinbar gemäßere, auszudenken, denn sie hatten gefunden, daß angeborene oder -erzogene Vorstellungen die Gefäße sind, in die sich der heilige Geist am leichtesten ergießt. Und Ramakrishna, der süße Heilige von Dakshinesvar, von dem es heißt, daß er ein Jivanmukta war, hinaus über alle irdischen Bindungen, der folglich besser als irgendeiner wissen konnte, was nötig und was überflüssig ist, hat jüngst erst seinem Volke wieder ans Herz gelegt, nur ja dem Ritual gemäß zu praktizieren, da ohne geistliche Übungen (ohne Sâdhana) Erleuchtung schlechterdings nicht zu erringen sei und von allen die altüberlieferten die wirkungskräftigsten seien. – In der Tat waren alle gebildeten Hindus, denen ich begegnet bin, aufrichtig göttergläubig (was sie freilich nicht hinderte, sich als Philosophen bald zum Advaita, bald zum Visishtadvaita zu bekennen); sie alle praktizierten ihren Glauben. Wohl hielten sie sich von den primitiven Riten fern, welche heute noch die Hauptmasse hinduistischer Kulthandlungen ausmachen, aber an irgendeinem Rituale nahmen sie alle teil.

Der Geist des Hinduismus, als Zusammenhang von Glaubensvorstellungen betrachtet, ist identisch mit dem des Katholizismus. Nur erscheint er bei ersterem mehr intellektualisiert. Die praktischen Vorschriften, die den Gläubigen beider Religionen erteilt werden, sind überall eines Sinnes, gleich weise, gleich psychologisch tief, gleich zweckentsprechend. Nur haben die Hindus das gleiche besser verstanden. Während die katholische Kirche die Heiligenverehrung empfiehlt, weil die Heiligen wirklich im Himmel säßen, wirklich Fürsprache einlegten vor Gott, der es so angeordnet hätte, daß man sich nicht unmittelbar an Ihn, sondern an die zuständigen Mittelinstanzen wenden solle, wissen die Inder, daß die Anbetung spezifizierter Gottheiten deshalb ratsam ist, weil es den Menschen allzu schwer gelingt, die Gottheit als solche zu realisieren, weil Realisieren das Eine ist, worauf es ankommt, und eine spezifische Form, spezifischen Aspirationen angemessen, am meisten fördert. Katholizismus sowohl als Hinduismus treiben Bilderdienst; aber während es sich bei jenem praktisch nur zu oft um echten Fetischismus handelt, um Götzendienst in seiner rohesten Gestalt, weiß jeder Hindu (oder kann er es wenigstens wissen), daß der Wert der Bilder einzig darauf beruht, daß sie die Aufmerksamkeit des Beters konzentrieren helfen; es ist den allermeisten unmöglich, ihre Seele anders als in bezug auf einen sichtbaren Gegenstand zu sammeln. Und so fort. In der katholischen Kirche leben die tiefen Lehren des Altertums mißdeutet fort; innerhalb des Hinduismus meist richtig gedeutet. Das ist, soweit das Prinzip in Frage kommt, zwischen beiden der einzige Unterschied.

Die indische Religions- und Ritualphilosophie ist eine reichste Fundgrube psychologisch-metaphysischer Weisheit. Es liegen darin Erkenntnisschätze aufgespeichert, die, wenn gehoben und gesichtet, aller Wahrscheinlichkeit nach den wissenschaftlichen Begriff vom Psychisch-Wirklichen modifizieren werden. Denn die Inder sind in zwei Hinsichten auf einmal groß gewesen, die sich unter Abendländern gewöhnlich ausschließen: im Glauben und im Verstehen des Glaubens. Bei allem Sinn für die Form und deren Wirkungsmöglichkeit haben sie ihre objektive Bedeutung meist richtig beurteilt. So ist denn schon das Eine hochbedeutsam, daß die Inder, die in der Selbsterkenntnis weiter gelangt sind als irgend welche Menschen, deren Bewußtsein sich in unerhörtem Grade der verstrickten Fesseln von Name und Form entledigt hat, in praxi immer katholisch geblieben sind; alle größten indischen Philosophen, wie Ramanuja, Shankaracharya – ich sagte es schon – praktizierten gleich Thomas von Aquin. Wohl sind auch unter Indern, wie überall, protestantisch gesinnte Reformer aufgetreten. So Buddha, die Gurus der Sikhs, und neuerdings die Stifter des Brahmo-Samaj. Aber erstens ist keiner von diesen so weit gegangen, wie ein Luther unter uns, dann aber haben sie den Hindugeist in großem Maßstab nie ergreifen können; sie wurden niemals populär. Der Buddhismus verschwand aus Indien, sobald er an der Königsgewalt keine äußere Stütze mehr hatte, und die anderen protestantisierenden Religionen sind allesamt beschränkte Sekten geblieben. Was bedeutet das? Es bedeutet, daß der Katholizismus der Ansicht der Hindus nach ein System geistiger Hygiene verkörpert, wie es weiser nicht erdacht werden könnte; daß, was immer der letzte Sinn der Religion, die katholische Form dessen Realisieren am meisten begünstigt. Das technisch Wesentliche an allen protestantischen Reformen ist, daß sie den Apparat, der dem geistlichen Fortkommen dient, vereinfacht haben. Während der Katholizismus alle Mittel in Anwendung bringt, die das religiöse Gefühl zu stimulieren geeignet scheinen, sanktioniert der Protestantismus nur einige wenige und stellt es der Seele im übrigen anheim, sich ohne äußere Beihilfe, schlecht und recht, mit Gott in Verbindung zu setzen. Das wäre schön und gut, falls die Vereinigung mit Gott auf diese weniger umständliche Weise gleich vollkommen zu erzielen wäre. Das ist sie nach Ansicht der Hindus nicht. Ihrer Erfahrung nach hat nur der höchste Mensch das innere Recht, den Weg des Protestantismus zu wandeln, denn er allein hat Aussicht, Gott zu finden, indem er ihn auf seine Weise sucht. Die anderen finden ihn nicht. Denen ist es besser, den ganzen Hilfsapparat zu benutzen, den die Weisheit der Generationen ausgebildet, und die breite Straße zu wandeln, die sie für alle abgesteckt hat.

Es bedeutete ein Mißverständnis, die Frage aufzuwerfen, ob die Hindus absolut recht haben mit ihrer Auffassung: sicher haben sie für sich selber recht. Die Wege des Katholiken und des Protestanten führen beide zu Gott, aber jeder von ihnen ist einer besonderen Naturanlage angemessen. Wer sich eines Sinnes am besten so bewußt wird, daß er sich in seine objektivierte Form versenkt und diese Form seine Seele gestalten läßt, ist katholisch veranlagt, gleichviel zu welcher Konfession er sich de facto bekennen mag. Und gleichermaßen ist der wesentlich Protestant, der vom Sinne her der Form zustrebt. Soweit Fortkommen in der Welt (wozu auch wissenschaftliche Erkenntnis gehört) in Frage steht, kann man wohl sagen, daß die protestantische Gesinnung die objektiv zweckmäßigere ist. Andrerseits bedingt die katholische einen absoluten Vorzug überall, wo Realisieren Gottes in der Kontemplation als Ziel vorschwebt Dieses kontemplative Realisieren ist nicht die einzig mögliche Form religiösen Erfahrens; wer das Himmelreich nicht schauen, sondern auf Erden verwirklichen will, dem ist eine Protestantenseele ersprießlicher. Der Katholik hat keinen Beruf zur Umgestaltung, ist seinem Wesen nach nicht fortschrittlich gesinnt. Aber ihm wird es leichter zuteil, Gott zu schauen. So kann es nicht fehlen, daß das Indervolk, dem es ausschließlich um Erkenntnis zu tun ist, welches praktischen Fragen ganz gleichgültig gegenübersteht, das kontemplativ ist in extremem Grad, auch in extremem Grade katholisch denkt und fühlt. Denn es ist ein großer Irrtum, wie oft es gelehrt werde, zu glauben, daß der Protestantismus die religiöse Erkenntnis vertieft hätte; das Gegenteil davon ist wahr. Das Handeln im Sinn der Religion hat er vertieft, aber der Erkenntnis hat er nicht zugute kommen können, weil die nach auswärts gerichtete protestantische Bewußtseinsstellung dem Influx des Göttlichen direkt den Rücken kehrt. Gott kann man nicht ausdenken, man muß Ihn hinnehmen. Er kommt über einen, man stellt Ihn nicht aus sich heraus; Er offenbart sich, wie Er will, nicht, wie wir wollen; so ist der, den es nach persönlichem Ausdruck drängt, dessen Geist darauf gewandt ist, neue Formen zu erfinden, gegenüber dem aufnehmend gestimmten Autoritätengläubigen im Nachteil als Religiös-Erkennender. Man mag mir einwenden, Luther sei ja gerade hinnehmend gewesen; gerade er hätte ja Glauben und Demut hoch über alles Wissenwollen gestellt. Allerdings; in vielen wesentlichen Hinsichten blieb er persönlich bis zum Schluß, was ich katholisch heiße. Aber das Prinzip, dem er zum Sieg verholfen hat, ist dem Glauben und der Demut feind; der echte Geist des Protestantismus tritt heute nicht mehr in der lutherischen Kirche, sondern in der kritischen Wissenschaft zutage. Wäre es anders, die protestantisch-religiösen Verbände litten nicht auf der ganzen Welt an unheilbarer innerer Zersetzung, wäre speziell das Luthertum nicht heute schon sterbenskrank. Es heißt eben: entweder glauben oder frei bestimmen; entweder Katholik sein oder Protestant. Und wem es darauf ankommt, Gott zu schauen, wird stets die erstere Alternative ergreifen. Alle Mystiker der Welt waren katholisch gesinnt; alle kontemplativen Naturen katholisieren. Alle großen religiösen Offenbarungen sind katholisch gesinnten Geistern gekommen, und so wird es in aller Zukunft sein.

Damit will ich freilich nicht behaupten, daß irgendein heute herrschendes katholisches System sich dauernd als solches erhalten wird. Dieser Tage, wo ich so vielen Kulthandlungen beigewohnt habe, ist mir bewußter geworden als je, wie sehr die Entwicklung der Menschheit überall vom Ritualismus abführt; mehr und mehr verliert die Magie an Bedeutung und Zweck. Insofern treibt die Welt ohne Frage in der Richtung des Protestantismus. Weniger und weniger gebildete Hindus befolgen genau die Vorschriften der Tantras; weniger und weniger wird von der katholischen Kirche auf die Heilwirkung der Riten Gewicht gelegt. Offenbar wirken diese weniger und weniger. Schon seit dem 18. Jahrhundert leistet der Katholizismus in Europa nicht das, was er der Idee nach leisten sollte und könnte, und heute scheint es, daß sein Bekenntnis im allgemeinen mehr schadet als nützt. Warum das? Sicher liegen die Dinge nicht so, daß die Tantras nichts als Aberglauben verkörperten, so daß man jetzt nur erkennt, was immer der Fall war; sicher auch nicht so, daß sich die moderne Menschheit, wie die Theosophen behaupten, eines wichtigsten Heilsmittels begäbe; und sicher bezeichnet das Aufhören des Glaubens an die Magie als solches nicht die letzte Ursache des Verhältnisses. Ich persönlich bin überzeugt, daß die Lehren der Tantras im ganzen zutreffen, und daß es trotzdem in der Ordnung ist, daß sie weniger und weniger Beachtung finden. Magie kann nur wirken, wo das Bewußtsein sich in einer bestimmten Lage befindet; diese Lage kann ihrerseits nur bestehen bei einem bestimmten Gleichgewichtszustande der psychischen Kräfte, wo zumal der kritische Verstand Phantasie- und Glaubensbildungen nicht stört. Wo das erforderliche Gleichgewicht besteht, dort wirkt sie freilich; dort bedeuten auch tantrische Zeremonien sehr oft die sichersten Hilfsmittel zum inneren Fortschritt. Aber wo es verschoben ist, dort versagen sie. Nun verschiebt es sich bei der ganzen Menschheit mehr und mehr in dem Sinne, daß der Verstand über die Phantasie das Übergewicht gewinnt. Dies bedingt einen Fortschritt überall, wo es sich um Meisterung der Außenwelt handelt; es bedingt aber gleichzeitig das Aus-dem-Auge-verlieren einer anderen Seite der Wirklichkeit. Wer über das Tantrikâstadium hinaus ist, ist erhaben über viele Einflüsse der psychischen Sphäre, welche vielfach stören, aber andrerseits entgeht ihm auch deren Positives. Das Äußerste kann dieser so gut wie jener realisieren; er kann es überdies viel besser verstehen. Während der Tantrikâ wahrhaftige Erlebnisse meist im Sinn absurder Theorien interpretiert, ist der Verstandesklare in der Lage, ein gleiches Erleben, wo er es kennt, objektiv-richtig zu deuten. Aber er kennt es zunächst sehr viel seltener. Ohne Zweifel steht die Seele des Tantrikâ Einflüssen offen, die auf eine andere Bewußtseinslage überhaupt nicht einwirken; sicher bedingt das Hinauswachsen über die seinige insofern einen Verlust. Wir verstandesklaren Europäer erleben vieles von dem nicht mehr, was der abergläubische Hindu erlebt. Und wahrscheinlich schließt uns unsere Seelenverfassung nicht allein von vielen unwichtigen Erlebnissen aus, sondern auch von einigen der höchsten, die der Menschenseele zugänglich sind. So allein wenigstens vermag ich es mir zu deuten, daß alle höchsten Offenbarungen von Geistern herstammen, die in vielen Hinsichten nicht nur unbefangen, sondern auch unentwickelt, unreif, unzulänglich, unkritisch und unverständig wie die Kinder gewesen sind.

 

Freilich übertrifft der Hinduismus den noch so weisen christlichen Katholizismus an psychologischer Einsicht vielhundertfältig; ich wüßte keinen Zustand der Seele, dem er aus dessen inneren Voraussetzungen heraus nicht gerecht würde. Selig das Volk, dessen Propheten und geistliche Lehrer Weise waren! Die der Christenheit waren alles, nur nicht das; sie waren tief befangen in »Name und Form«; ihre noch so weitherzigen Lehren schlossen ausnahmslos den größten Teil des Menschengeschlechts vom Heile aus. Das mußte so sein, sintemalen es Sonderlehren waren; sintemalen sie in einer bestimmten Glaubensform die Substanz der Wahrheit erblickten. Dieser Irrtum aller Irrtümer ist dem Hinduismus fremd; die Inder sind darüber hinaus, irgendeine Gestaltung metaphysisch ernst zu nehmen; sie wissen, daß alle Konfession nach den Maßstäben des Pragmatismus allein zu bewerten ist. Freilich muß die absolute Wahrheit eine Form annehmen, wenn sie dem Menschen deutlich werden soll; für das An-Sich fehlt ihm das Organ. Aber diese Form stammt immer vom Menschen her, ist ein irdisch Gefäß, das der göttliche Geist im günstigsten Falle ganz erfüllt. Wie könnte es sonst wohl gelingen, das Sosein aller konkreten Religionen historisch und psychologisch abzuleiten? Wie wäre es sonst wohl denkbar, daß alle Visionen, die gottbegeisterten Heiligen kamen, den Vorstellungen entsprachen, welche die Kirche, der sie angehörten, vertrat? Das Göttliche offenbart sich dem Menschen überall im Rahmen seiner intimen Vorurteile. Deswegen riet Ramakrishna seinen Jüngern von einem Wechsel der Glaubensvorstellungen so dringend ab; der Krishnaanbeter bleibe bei Krishna, der Vaishnava ein Vaishnava, der Christ bei Christus: neue Vorstellungen säßen nie so fest wie angeborene, könnten dem Heiligen Geist daher niemals ein gleich gutes Verkörperungsmittel bieten. So blieb er, der längst in der Ekstase mit Parabrahman eins geworden war, in normalem Zustand ein Anbeter der Kâli, der Gottheit in ihrem mütterlichen Aspekt.

Wunderbar ist es, in der Tat, bis zu welchem Grade die Viveka, das Unterscheidungsvermögen in Sachen der Religion, bei den Indern ausgebildet ist. Unter den kultivierten herrscht keine Vorstellung, die ich wüßte, deren Rationales nicht verstanden würde. Hier gibt es kein Credo quia absurdum, hier wird nirgends Unbegreiflichkeit postuliert; diese wird gelten gelassen, wo sie vorliegt, dann aber wird ihr »Warum« nach Möglichkeit bestimmt. Ich komme immer wieder auf die Tantras zurück: so abenteuerlich manche ihrer Sätze klingen, überall ist es möglich, ihrem Sinne nachzugehen; überall sind die Grundideen vernunftgemäß Man lese Arthur Avalons Principles of Tantra und vor allem die vorzügliche Einleitung zu seiner Übersetzung der Mahapara-nirvana-Tantra. (London, Luzac & Co.) Es ist die erste wirklich bedeutende Arbeit, die ich wüßte, über den Geist irgendeiner Ritualphilosophie. Kein denkender christlicher Theologe, zumal kein katholischer, sollte dieselbe ungelesen lassen.. Wie vielen Irrtümern, denen die Christenheit noch heute unterliegt, hat in Indien die Einsicht vorgebeugt! Die geschlechtliche Enthaltsamkeit gilt hier wie dort als spirituell wertvoll. Weshalb und inwiefern ist sie das? Die christliche Kirche hat das nie herausgebracht. So verkündete sie die abenteuerlichsten Doktrinen: die Liebe als solche sei Sünde, das Weib gar eine Teufelin, Virginität sei der einzige Zustand, der gottselig zu nennen wäre; sie erhob das Naturwidrige zum Ideal. Die Inder haben versucht, den Sinn des problematischen Werts eines Verzichts auf Liebesfreuden zu ergründen; wobei sich herausstellte, daß den zur Heiligkeit Reifen Enthaltsamkeit fördert, weil in seinem Fall die prokreative Energie einer Umsetzung in spirituelle fähig ist; ihm bedeutet sie ein technisches Hilfsmittel. Aber diese Umsetzung gelingt nur den seltenen Organisationen, die wir eben die Heiligen heißen, woraus folgt, daß Enthaltsamkeit den Durchschnittsmenschen spirituell nicht vorwärts bringt. Dessen Seele bekommt es besser, dem Körper zuzugestehen, was er verlangt, da sonst seine verdrängten Forderungen in die Psyche hinaufgestaut würden. – So handelt es sich bei dem, was die Christenheit jahrhundertelang als Ideal verehrt hat, in Wahrheit nur um ein technisches Optimum für bestimmte exzeptionelle Veranlagungen. – Auch den Sinn der geistlichen Liebe haben die Inder besser verstanden als wir. Wie ich's schon bemerkt habe: inbrünstige Liebe zu Gott ist in Indien verbreiteter als bei uns, sie ist heute die herrschende Form des Gottesdienstes. Die Alten unterschieden drei Wege, die zum Höchsten führten: den der Erkenntnis ( Gnana Yoga), den der Liebe ( Bhakti Yoga) und den des Werks ( Karma Yoga). Von diesen galt der erste als der höchste insofern, als die Erlösung (Mukti) in jedem Fall in Erkenntnis bestehe, der Philosoph also von vornherein im Licht des Höchsten wandele; der letzte als der niederste deshalb, weil hier der autonome Geist fast gar nicht mitwirkt und der Erfolg durch die Tugend blind befolgter Vorschriften, also gleichsam mechanisch, herbeigeführt wird; der Weg der Liebe aber als der leichteste. Inwiefern ist er das? Er ist es insofern, als es in der Natur dieses Gefühls liegt, auszuströmen; wer da liebt, denkt derweil nicht an sich; dessen Seele öffnet sich naturnotwendig; wer aber von sich ganz frei geworden ist, hat eben damit Gott gefunden. Aus dieser Tugend der Liebe haben die Begründer des Christentums den Schluß gezogen, die Liebe sei das Höchste an und für sich. Die Inder, zu tief bewußt, um einem empirischen Gefühl metaphysische Wirklichkeit zuzuerkennen, zu scharfsichtig, um ein Überempirisches in ihr zu sehen, zu kritisch, um ein noch so gutes Mittel zum Endzweck zu hypostasieren, haben einfach gefolgert, daß der Weg der Liebe den Menschen der gangbarste ist. Deshalb empfehlen sie ihn vor allen anderen. Jeder folgende Heilige hat größeres Gewicht auf die Vorzüge der Bhakti-Yoga gelegt und auf die Schwierigkeiten des Pfades der Erkenntnis, so daß heute eben das, was die christliche Kirche ihr Eigenstes wähnt, das Herz des Hinduismus bezeichnet. Aber noch heute, wie zu den Zeiten der großen Weisen, gilt der Weg der Erkenntnis als der höhere, gilt die Liebe nicht entfernt soviel wie bei uns. Freilich ist Gott die Liebe, sagen die Bhaktas, wie Er denn die Quintessenz alles Positiven ist; aber das Gefühl der Liebe, wie Menschen es kennen, und strebe es noch so sehr himmelwärts, ist an sich kein Göttliches. Wie sollte Sehnsucht ohne Eigennutz sein? Wunsch nach Vereinigung ohne Selbstsucht? Menschliche Liebe ist wesentlich nicht selbstlos. Wohl beschließt sie in sich trotzdem den Weg, der am schnellsten zur Entselbstung führt, weil sie die Seele öffnet, allein das heiligt sie nicht. – In der Tat, menschliche Liebe ist wesentlich nicht selbstlos. Wer daran zweifelt, der betrachte unbefangen die Geschichte der Christenheit: diese Menschheit, vom Geist der Liebe beseelt, hat die Ära des krassesten Egoismus herbeigeführt, die je geherrscht hat; von allen Anhängern höherer Religionen ist der Christ der Unfreieste. Es tut nicht gut, Menschliches göttlich zu heißen: ohne den Kult, der in Europa mit der Liebe getrieben wird, wären wir geistlich weiter als wir sind. Wir wären weniger aggressiv, weniger rücksichtslos, wir wären einsichts- und verständnisvoller; wenn ihr Deckmantel uns gefehlt hätte, wir hätten uns nicht so hemmungslos in unseren selbstischen Impulsen gehen gelassen. Die Liebe als Gefühlsstimmung ist gar nichts Göttliches; sie ist ein rein Empirisches, das, je nachdem, wie es gehandhabt und gepflegt, wie es verstanden, gerichtet und beseelt wird, hinauf oder abwärts führt. Von Hause aus ist sie wesentlich ungerecht, parteiisch, exklusiv, akkaparierend und karitätslos: genug Attribute, fürwahr, um sie als allzu menschlich zu kennzeichnen. Was Liebe – in ach! wie seltenen Fällen – zu einem Göttlichen verwandelt, ist ein Höheres, das sie beseelt. Hat sich der Geist reinen, absichtslosen Gebens, des Schenkens ohne Nehmenwollens ihr eingebildet, dann ist sie freilich göttlich geartet. Aber dieser wohnt ihr von Hause aus nicht inne, schmilzt alles, was sonst als »lieb« gilt, ein und kann sich überdies genau so gut dem Erkenntnisstreben, dem Tatendrang, dem künstlerischen Schöpfungstriebe einverleiben. Es ist ein Unglück, daß dieser Geist nun schon mehr als zweitausend Jahre entlang mit der Liebe identifiziert worden ist. Plato ist es, der den Anstoß dazu gab. Bei seiner Vorliebe für mythische Ausdrucksweise benannte er die Urkraft der Spontaneität nach dem Liebesgott, in der Erkenntnis dessen, daß sie in der Zeugung ihren greifbarsten Ausdruck findet. Aber nie doch identifizierte er sie mit ihr. Dieses ist später im Christentum geschehen, als die Sehnsucht der Schwachen mehr und mehr alle Begriffsbildung zu bestimmen begann. Heute ist es dahin gekommen, daß es als selbstverständlich gilt, in der Liebe das schlechthin Höchste zu sehen. Alle höheren Aspirationen werden diesem Dogma entsprechend bestimmt. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wofern es möglich wäre, den Begriff der Liebe so weit zu fassen, daß er alle schöpferische Spontaneität in sich beschlösse. Dies gelingt aber nicht. Liebe ohne persönliche Zuneigung, ohne emotionelles Verhalten, ohne Herzensdrang bleibt ein leerer Begriff. So bedingt es die dogmatische Voraussetzung, daß die meisten im besonders Empirischen der Liebe das Transzendente sehen. Wer die Menschen nicht persönlich liebt, und sei sein Streben sonst noch so ideal, der sei ein tönendes Erz und eine klingende Schelle: so verstehen sie den Ausspruch des Heidenapostels. »Gemüt« gilt ihnen als Ausdruck seelischer Tiefe, obgleich kein Heiliger je gemütvoll war, Anhänglichkeit als Beweis von Spiritualität. O über den Aberglauben! – Noch werden der Menschheit viele Nietzsches nötig sein, viele Feinde des Christentums, ehe sie dahin gelangt, den Geist vom Buchstaben zu trennen, im Geist und in der Wahrheit zu leben.

 

Auch den Sinn der Bedeutung des Glaubens in der Religion haben, soweit ich urteilen kann, die Inder allein bisher richtig verstanden. Praktisch lehrt der Hinduismus genau das gleiche über die Heilswirkung des Gottvertrauens wie das Christentum. Mehr und mehr hat sich die indische Menschheit im Laufe ihrer Entwicklung die Versicherung Krishnas (in der Bhagavat-Gîta) zu Gemüte geführt: wer weder den Weg der Erkenntnis, noch den der Liebe, noch den des Werks vollkommen zu wandeln weiß, sich aber Mir nur vertrauend überantwortet, den erlöse Ich doch. Sie hat aber diese Wunderkraft des Glaubens doch nie so aufgefaßt, daß Fürwahr-halten und Vertrauen als solche sie besäßen, sich vor allem nie zur Wahnvorstellung verstiegen, blindes Glauben sei mehr als Erkennen und Wissen-Wollen gar frevlerisch. Sie hat mit der Intuition des genialen Psychologen erkannt, daß Glauben auch den zur Erkenntnis führen kann, dem sein Begabungsmangel direktere Wege versperrt. Erkenntnis führt nicht zur Erlösung, sondern ist sie. Wer wirklich (d. h. lebendig, nicht bloß theoretisch, mit dem Verstande) weiß, daß er eins mit dem Brahman ist, ist eben damit aller Banden ledig. Aller Anstieg auf der Stufenleiter der Wesen besteht in Veränderung der Bewußtseinslage; solche Veränderung ist der Seinsgrund aller Unterschiede; sie scheidet den Wilden vom Weisen und diesen von Gott. Wenn man sagt, der höhere Mensch stehe über gewissen Dingen, so ist dies buchstäblich wahr: gewisse Tatsächlichkeiten binden ihn nicht mehr; dadurch, daß er sie anders ansieht, anders auffaßt, weil er anders ist, besitzen sie keine Macht mehr über ihn. Dieses Anders-Sehen schließt aber ein Besser-Erkennen ein, also bedingt nicht nur, sondern ist Erkenntnis Erlösung. Es gibt keine größere Macht als die des Wissens. Es gibt keine andere Art des inneren Fortschritts als den in der Erkenntnis. Wer das Gute will, ist wissender als der Böswillige, wer nach Erkenntnis strebt, weiser als der Goldjäger. Auch wo es sich scheinbar um Nicht-Intellektuelles handelt, um moralisches, um ethisches Weiterkommen, wo der Fortgeschrittene selber nicht versteht, handelt es sich in Wahrheit um ein Weiserwerden, denn alle innere Entwicklung verläuft dem bewußten Geiste zu. Es gibt keinen gröberen Aberglauben, als den an die Unüberwindlichkeit der Naturbestimmtheit. Die Natur ist freilich wie sie ist – ihr Tatsächliches als solches ist wohl unüberwindlich; aber alle Kräfte wirken nur auf bestimmter Ebene, und wer sich über diese erhebt, entrinnt ihrem Einfluß. Der entrinnt ihnen nicht etwa in der Einbildung, sondern in voller Wirklichkeit, weil Besserwissen Andersgewordensein voraussetzt. Der Mensch ist Geist seinem tiefsten Wesen nach, und je mehr er das einsieht, je fester er es glaubt, desto mehr Fesseln fallen von ihm ab. So könnte es sein, daß, dem indischen Mythos entsprechend, vollkommene Erkenntnis sogar den Tod überwindet.

Alle Erlösung besteht in Erkenntnis, aber der Glaube bereitet ihr den Weg. Er vermag dies dadurch, daß das Glauben eines Erkenntnisinhaltes diesem die Möglichkeit gibt, seine immanenten Kräfte auszuwirken. Jede Vorstellung, ohne Widerstand aufgenommen, gläubig festgehalten, verehrungsvoll fixiert, wirkt auf das Bewußtsein zurück. Nun ist der Mensch viel empfänglicher als er scheint; sein Unterbewußtsein faßt mehr auf als sein Bewußtsein; ihm prägt sich der Glaubensinhalt auf und regt in ihm eine Entwicklung an, die naturnotwendig im Sinn des geglaubten Vorbildes abläuft. Ist dieses nun weise gewählt, wie solches in der Tat von den meisten konkretisierten Idealen aller höheren Religionen gilt, so beschleunigt es den inneren Fortschritt; es führt der Erkenntnis zu. Und dies im Falle aller Nichtbegabten weit schneller als selbständiges Forschen. Eine Idee ist eine Kraft, die mit der gleichen Notwendigkeit die ihr eigentümlichen Wirkungen auslöst – organisierend, stimulierend, prokreierend –, wie nur irgendeine Naturpotenz, vorausgesetzt, daß sie genügend Glauben findet. Eine gläubige Psyche ist das Medium, dessen sie bedarf. Deshalb lehren alle Religionen mit Recht, man solle nur glauben; das weitere finde sich von selbst. Der Automatismus der Seelenvorgänge führt schneller zum Ziel als verständnislos arbeitende Autonomie.

Der Glaube ist also ein Mittel zum schnelleren Erkennen; andere Bedeutung hat er nicht. Deswegen ist es belanglos im Prinzip, woran man glaubt, ob das Geglaubte wirklich sei, dem kritischen Denken standhält. Ungebildete Menschen werden wohl immer nur dann zu glauben vermögen, wenn sie gleichzeitig überzeugt sind, daß ihr Glaubensinhalt objektiv wirklich ist: daß Krishna wirklich ein Avatar war, die Bibel wirklich Gottes Wort, daß Christus im Sinne der Geschichte die Menschheit vom Tode erlöst hat. Der Gebildete weiß, daß Glauben im religiösen Sinne und Für-wahr-halten im wissenschaftlichen nichts gemein haben miteinander, daß es religiös vollkommen gleichgültig ist, ob Christus existiert hat oder nicht. Und der vollendet Gebildete, der Spiritualisierte, verwendet den Glauben nach Wunsch, wie ein Instrument. So weit waren die größten unter den Indern. Diese hatten die Vereinigung mit Brahman erreicht; sie wußten, daß alle religiöse Gestaltung menschlichen Ursprungs ist. Allein sie opferten bald diesem, bald jenem Gott, von Herzen gläubig, wohl wissend, daß diese Übung der Seele nützt. Ramakrishna war zeitweilig Christ und Muselmann; er wollte sehen, wie diese Ideale wirken; und währenddessen glaubte er so stark, daß Mohammed sowohl als Jesus ihm im Geist erschienen. Im übrigen hielt er an der Verehrung Kalis fest, der göttlichen Mutter, als dem Kulte, der seiner Natur am besten entsprach, der Wahrheit bewußt, daß keine Form der Gottheit wesentlich eignet.

Überall, wo eine Religionsform allen gemäß sein soll, erscheint es notwendig, den Akzent auf den Glauben zu legen; nur Glauben ist allen gemäß. Durch Erkenntnis gelangt zu Gott nur der Begabte; auf dem Wege der Liebe nur der, dessen Natur reich an Gefühlsmöglichkeiten ist; auf dem des Werks nur der physisch-Energische. Jeder Weg ist nur bestimmten Temperamenten angemessen, und seine Anlagen vermag kein Mensch zu ändern. Aber glauben, vertrauen kann jeder im Prinzip. Hierher rührt es, daß das Gebot des Glaubens überall auf die Dauer zur Vorherrschaft gelangt ist, sogar unter den Nachfolgern Buddhas, dessen Lehre doch wie keine andere den Nachdruck auf selbständiges Erkennen gelegt hatte; es bedeutet nicht, daß ein höheres Prinzip niedere verdrängt hätte (es sei denn, man heiße den Willen zur Katholizität ein höheres Prinzip). Aber irgendeinmal kommt der Augenblick, wo der Glaube seine Heilkraft zu verlieren beginnt. Er ist da, wenn der Verstand sich emanzipiert hat. Dieser beginnt seine selbständige Laufbahn als zerstörendes und zersetzendes Element; erst wo er reif geworden ist, vermag er aufzubauen. Wo er nun zur Dominante einer Seele wird, dort verändert sich deren Bewußtseinslage. Sie erscheint jetzt außerstande, ihr Tiefstes unmittelbar, wie vorher, zu realisieren, sie kann es nur durch den Intellekt hindurch, und da dieser tieferen Problemen zunächst nicht gewachsen ist, so verliert sie alle Fühlung mit ihrer Tiefe. Sie wird oberflächlich. So sind die Menschen unseres Altertums oberflächlich geworden, nachdem ihr Verstand die vom Glauben gesetzten Schranken durchbrochen hatte, und gleiches gilt seit den Tagen der Reformation fortschreitend von uns Modernen. Was ist da zu tun? Das schlechteste aller Mittel wäre, den Intellekt unterdrücken zu wollen, die Rückkehr zum Köhlerglauben zu befürworten: es ist ein Vorzug, kein Nachteil, daß der Mensch verstandeskräftiger wird. Es gilt, den Intellekt zu vertiefen Vgl. hierzu meine Schrift » Was uns nottut, was ich will«, Darmstadt 1919, wiederabgedruckt in Philosophie als Kunst, Darmstadt 1920.. Ist dieser so weit, des Glaubens Sinn zu verstehen, die tiefe Bedeutung alles dessen, was er anfangs für Unsinn hielt, dann wird er auch wieder religiös werden. Vorher nicht. Der moderne Mensch ist ein wesentlich intellektuelles Wesen. Nur was er verstanden hat, wird zur Lebenskraft in ihm. So möge er denn möglichst bald, möglichst viel von dem verstehen, was seine unreflektierten Vorfahren groß gemacht.

 

Nichts ist häufiger unter den Betern am Ganges zu vernehmen, als die Wiederholung der heiligen Silbe Om. Diese soll den letzten Sinn der Welt verkörpern, das Α und Ω aller Weisheit; ferner die Tugend besitzen, dank den besonderen Innervationen, die bei ihrer Aussprache statthaben, nach genügend ausdauernder Wiederholung den Organismus dem Zustande zuzuführen, welcher der Realisierung des Atman am günstigsten ist. Es mag Wahres daran sein. Ich habe mir zeigen lassen, wie man das Om herauszubringen hat: es ist nicht leicht; lange kann es anscheinend keiner auf die einzig ersprießliche Weise tun; es ist gut möglich, daß die Kombination bestimmter Körperbewegungen mit bestimmten, gleichzeitig festzuhaltenden Vorstellungen auch in diesem Falle nachhaltige Veränderungen im psychophysischen Gleichgewicht einleitet.

Aber selbst wenn der Glaube an die physische Wirkung der Om-Artikulation gegenstandslos sein sollte, bliebe der an die Tugend der Wiederholung gerechtfertigt. Der »Aberglauben« hat recht gegenüber dem Rationalismus: es hat Sinn, einen geistigen Inhalt, von dem man ergriffen werden will, laut zu wiederholen. Napoleon pflegte zu sagen: la seule formule rhétorique sérieuse, c'est la répétition; er wußte, daß man durch Wiederholung zuletzt jenes Unterbewußtsein beeinflußt, aus dem alles Tiefe und Dauerhafte stammt. In eben dem Verstande nützt es dem Gläubigen, sich das, was er realisieren will, in möglichst kurzen Worten vorzusprechen. Solche Wiederholung wirkt stärker als Denken; sie beeinflußt das Unterbewußtsein unmittelbar, das alle Inhalte automatisch mit dem Wort verknüpft, welche das Oberbewußtsein je mit ihm assoziiert hatte.

Aber freilich ist dies Verfahren nur im Falle dessen wirksam, dem das Wort einen lebendigen Sinn bedeutet und es ernstlich darum zu tun ist, es in Leben umzusetzen. Die meisten Beter am Ganges »plappern wie die Heiden«, was immer die Idee ihres Handelns sei, mit keinem besseren Erfolg, als daß die andauernde Wiederholung der gleichen Laute sie in angenehmen hypnotischen Halbschlaf einwiegt. Ist je einem Gnaden- und Erbauungsmittel dieses Schicksal des Sinnlos-Werdens erspart geblieben? Ich glaube nicht. Desto weniger als sie an sich ja alle sinnlos sind, genau nur so viel Sinn verkörpern, als der, welcher sie anwendet, ihnen zu schenken weiß. Dies hat vielleicht kein religiöser Führer, mit der einzigen Ausnahme Buddhas, eingesehen; die meisten haben gemeint, was ihnen nütze, müsse allen nützen. Alle großen indischen Bhaktas haben das bloße Wiederholen des Namens Gottes als wirksamste geistliche Übung gepriesen. Für sich selbst mit Recht: in ihren exaltierten Seelen rief diese alle Vorstellungen, die sie allenfalls mit ihm verknüpfen konnten, besser wach als jedes umständliche Gebet, welches einerseits mehr Aufmerksamkeit auf den Wortlaut erforderte, andrerseits nie auch nur annähernd so viel besagen konnte, als der Name Gottes ihnen bedeutete. Ihren Jüngern nützte die gleiche Übung schon weniger, da deren Seelen nicht von der gleichen Glut verzehrt wurden, und deren Schülern bald überhaupt nichts mehr. – Es ist wohl ausgeschlossen, daß je eine Formel gefunden werden wird, die als solche einen religiösen Inhalt festzuhalten imstande wäre. Riten sind gut, denn sie regen seine Neuentstehung an; Dogmen sind immer mißlich, denn sie verfälschen ihn. Hierfür gibt Luther wohl das eindrucksvollste Beispiel ab. Ich wüßte von wenigen gewaltigeren religiösen Erlebnissen, als es das seine war; was er unter »Rechtfertigung durch den Glauben« verstand, war ein so Ungeheures, eine so tiefinnerliche religiöse Erfahrung, wie sie in der ganzen Geschichte des Christentums außer ihm nur Augustin vielleicht beschieden gewesen ist. Nun aber die Formel der »Rechtfertigung durch den Glauben« selbst! Sie ist eine der unglücklichsten, die je gefunden ward, vielleicht die oberflächlichste aller möglichen Fassungen. Sie zwingt geradezu zur Auffassung, daß die Tatsache des Anerkennens eines bestimmten Dogmenkomplexes genügt, die Seele zu rechtfertigen und zu erlösen; daß alles tiefere Streben überflüssig, wenn nicht vom Übel ist. Dementsprechend hat Luthers Formel auf ihre Anhänger gewirkt. Die lutherische Religiosität wurde nur zu bald zu dem, was sie im großen und ganzen heute ist: einem billigen Für-wahr-halten gewisser Dogmen, gepaart mit noch billigerem Vertrauen auf Gottes Güte; zu einer Religiosität, die alles tiefere Erleben ausschließt. Im Fortwirken von Luthers Gotteserlebnis liegt echte Tragik. Die desto größer erscheint, wenn man erkannt hat, daß sie unabwendbar war: Luthers Erlebnis war ein schlechterdings Einziges; es konnte nicht verallgemeinert, kaum fruchtbar gemacht werden. Martin Luther war zu wenig universell, um im Guten vorbildlich zu wirken. Und gerade er hat eine neue Epoche einzuleiten gehabt ...

 

Gestern, gegen Sonnenuntergang, habe ich den einen Schau-Heiligen gesehen, von dem meine indischen Freunde mir sagen, daß er ernst zu nehmen sei. Der Mann hat mir sehr imponiert. Nicht, weil er nun schon sieben Jahre in einem taubenschlagartigen Gehäuse sitzt, das er nur einmal täglich verläßt, um im Ganges zu baden, und weil er diese ganze lange Zeit hindurch kein Wort geäußert hat; nicht weil sein Gymnosophisten-Dasein den Abschluß eines erfolgreich-tätigen Schulmeisterlebens darstellt – in diesem Zusammenhang ist fast jeder Inder bewundernswert, da fast jeder noch fähig ist, von heute auf morgen der Welt zu entsagen und in Armut und Abgeschiedenheit seine Tage zu beschließen: imponiert hat mir der Heilige durch seinen hochintelligenten, wunderbar durchgeistigten Gesichtsausdruck. Seine Augen zeigen nichts von dem feuchten Glanz, der emotionellen Halluzinanten eignet, seine Züge nichts von jener Entrückung, die zugleich ein Wahrzeichen der Verrückung des inneren Gleichgewichtes ist. Wohl geht sein Bewußtsein ganz im Innerlichen auf, aber es muß sein wirkliches Innerstes sein, welches es spiegelt, denn sonst könnte sein Ausdruck kein dermaßen reeller sein; er schaut so gehalten kraftvoll drein, wie nur irgendein Mann der Tat. Wenn dieser reden wollte, er könnte viel offenbaren. Allein er redet nicht. Ich kann das gut verstehen. Das Mitteilungsbedürfnis schwindet gleichen Schritts mit der fortschreitenden Verinnerlichung, und wer nicht das Temperament eines Wissenschaftlers hat, wer nicht insofern Weltkind bleibt, wie weltfern sein Ziel immer sei, der wird immer einsilbiger, bis daß er zuletzt verstummt. Das liegt daran, daß alles Äußerste ausschließlich ist. Wer buchstäblich hinter seine Gedanken kam, der weiß, daß seine eigentliche Meinung nicht mitteilbar ist, weil Eigenart einzig ist und im gleichen Sinne nur von einem verstanden werden kann, wie das Sein einer bestimmten Persönlichkeit nur von dieser einen gelebt zu werden vermag. Was unsereiner anstrebt, erscheint, vom Atman her gesehen, als Kompromiß. Was tue ich, indem ich das Metaphysisch-Wirkliche objektiv zu bestimmen strebe? Ich suche nach einem Schema, das es allseitig umgrenzte, und dieses Schema könnte ich finden. Aber nachdem dies geschehen, wäre das, was ich meine, nicht als solches ausgedrückt, sondern nur seinen äußeren Umrissen nach umschrieben. Freilich könnte es scheinen, als hätte ich mehr getan, denn wenn die Umrisse sowohl deutlich als richtig hingezeichnet sind, so wird jeder andere verständnisfähige Mensch den Inhalt selbständig hineintun, so daß er glauben möchte, ich hätte ihm das Ding gezeigt. Das hätte ich aber nicht wirklich getan, weil es unmöglich ist. Aller wissenschaftliche Ausdruck ist nur ein Rahmen dessen, was man sich ohnehin bewußt sein muß, um es zu erkennen; wer da kein Selbst besitzt oder auch nur kein dem meinen ähnliches Selbstgefühl, wird nie verstehen, was ich meine, und gäbe ich die bestmögliche Definition. Der Heilige, welchem der Fortschritt der Wissenschaft gleichgültig dünkt, zieht es drum vor, sein Wissen für sich zu behalten, da er es als solches doch nicht aussprechen kann.

Nach modern-europäischen Begriffen beurteilt, erscheint das Leben solches Mannes ganz wertlos; er tut ja nichts, lehrt nicht einmal, lebt nur sich selbst und läßt sich obendrein von seinen Mitmenschen durch Opfergaben erhalten. Die Inder beurteilen es als wertvoller, als es das des tätigsten Philanthropen wäre. Sie sind dankbar für sein Dasein, rechnen es sich zum Segen an, daß er unter ihnen weilt, und zur Ehre, daß sie zu seiner Erhaltung beisteuern dürfen. Hierin äußert sich eben die spirituelle Idealität, von der ich schon in Ceylon zu reden Gelegenheit hatte: es ist dem edleren Menschen Bedürfnis, seinem Ideal zu dienen, Bedürfnis, dies im Schein der Selbstlosigkeit zu tun. Aber wie ist es zu verstehen, daß gerade der untätige Heilige dem Inder sein Ideal verkörpert? – Hier fasse ich ein entscheidendes Motiv seiner Weltanschauung. Unzweifelhaft liegen die Dinge nicht so, wie die Theosophen meinen, die ihren Okzidentalismus nun einmal nicht abschütteln können und sich den Tatbestand mundgerecht machen, indem sie ihn dahin umdeuten, daß der Yogi tatsächlich viel mehr arbeite als der weltliche Arbeiter, nur tue er es in einer anderen Sphäre; er sende rastlos astrale und mentale Schwingungen aus, die der übrigen Menschheit mehr Nutzen brächten, als alle irdischen Werke. Das mag so sein; aber das meinen die Inder nicht. Sie meinen, daß es auf Tun, auch auf Gutes-Tun, nicht wesentlich ankommt. Nur das Sein ist von wirklicher Bedeutung. Wozu die Menschheit glücklicher machen, belehren, bessern wollen, wo jeder genau auf der Stufe steht, zu der er sich im Lauf seiner Verkörperungen hinaufgearbeitet hat, genau so viel Gutes erfährt, genau so viel leidet, als er verdient? Unmittelbar kann man anderen überhaupt nicht helfen; keinerlei Wohltätigkeit, auch die energischste, bestorganisierte nicht, vermindert die Sünde, das Elend dieser Welt. Da Unglück und Glück von der inneren Verfassung abhängen, wird durch noch so günstige Veränderung der äußeren Verhältnisse nichts Wesentliches geleistet. Freilich ist Wohltun geboten, Arbeit für andere, Wohlwollen, Selbstopferung – aber wozu? auf daß der Wohltäter innerlich vorwärts komme, nicht, weil anderen damit viel geholfen würde. Um seiner selbst willen soll der Mensch das Gute tun; es gehört zur Sadhana, die der Vollkommenheit zuführt. Wer nun vollkommen ist oder nahe daran, der bedarf dieser Übung nicht mehr. Der braucht nicht mehr zu handeln, nichts zu leisten; der hat das Ziel aller möglichen Arbeit erreicht. Der ist entselbstet, den Banden des Ich entwachsen; was immer er tun mag, ist bedeutungslos für ihn. Für die anderen aber? – Auf die anderen kommt es in dem Sinn nicht an, wie der Westen wähnt in seinem Aberglauben, es sei anderen wesentlich zu helfen. Altruismus ist keinen Deut mehr wert als Egoismus, ja er kann verderblicher wirken insofern, als er den Gewinn dessen, welcher ihn ausübt, durch den Nachteil vieler anderer erkauft. Es ist kaum möglich, einem anderen wohlzutun, ohne diesen in seiner Selbstsucht zu befestigen; dieser sieht doch, daß seine selbstischen Wünsche ernstgenommen werden, und das beeinflußt ihn im Sinn seines Verderbens. Es macht ihn vorzüglich auf sein persönliches Glück bedacht, erschwert es ihm, frei zu werden von sich, und auf Befreiung (Mukti) allein kommt alles an. Nur dadurch kann man anderen wahrhaft nützen, daß man ihnen ein Beispiel gibt. Nun gibt der Yogi, der allen irdischen Fesseln entwachsen ist, der hinaus ist über Arbeit und Werk, über Egoismus und Altruismus, über Zu- und Abneigung, von allen das höchste. Deshalb ist sein Dasein unter Menschen wertvoller als das des nützlichsten der Arbeiter.

Wieweit diese Auffassung im ganzen zutrifft, will ich heute nicht ergründen. Sicher schließt sie zwei allgemeingültige Wahrheiten ein. Die erste von diesen ist die, daß Arbeit nur ein Mittel, kein Zweck ist. Es ist sicherlich richtig, daß die innere Notwendigkeit der Arbeit für einen Menschen die Jugend seiner Seele beweist. Wenn der rohe Mensch nicht arbeitet, so verkümmert er, verschließt er sich die Möglichkeit des Fortschritts; der Grand-Seigneur braucht nichts zu tun, und bleibt doch auf der Höhe; der Weise vollends ist erhaben über alle Beschäftigungsnotwendigkeit. Nun beziehen sich alle ewigen Werte auf das Sein, nicht auf die Leistung; diese ist genau nur insoweit von wesenhafter Bedeutung, als sie ein Sein vergegenständlicht. Nichts illustriert diese Wahrheit deutlicher als die westliche Zivilisation, die auf der entgegengesetzten Auffassung aufgebaut ist. Die Okzidentalen leben ihrer Arbeit, sehen in ihr das Wichtigste, das Eigentliche, beurteilen alles Sein nach seiner Effikazität. Mit dem Erfolg, daß ihre Leistungen wohl alles überflügeln, was je auf Erden geschaffen worden ist, das Leben jedoch zu kurz kommt wie nie vorher. Je mehr ich vom Orient sehe, desto unwesenhafter erscheint mir der Typus des modernen Abendländers. Er hat eben sein Leben zugunsten eines Lebensmittels abgedankt. – Die zweite absolute Wahrheit, die in der indischen Weltanschauung beschlossen liegt, ist die, daß man durch Wohltun wesentlich nur sich, nie anderen nützt. Eine ungeheure Selbstüberhebung, gepaart mit kläglichem Mißverstehen, liegt im Glauben beschlossen, der die westliche Wohltätigkeit beseelt. Es ist erfreulich, daß sie besteht: sie bringt die Wohltäter vorwärts; daß sie die Empfangenden vielfach schädigt, ist gewiß, aber deren Nachteil ist im ganzen wohl geringer als der Vorteil, welchen jene von ihr haben. Aber deren Gewinn würde noch viele Male größer sein, wenn sie nicht im Wahne befangen lebten, anderen Gutes zu tun; zu geben, nicht vielmehr zu empfangen; auf Dankbarkeit rechnen zu dürfen. Dieser Wahn bringt sie oft um ihren Lohn. Man sehe sich unsere typischen Wohltäter an: sie sind meist Pharisäer der schlimmsten Sorte, selbstbewundernd, selbstgerecht, aggressiv, präpotent, takt- und rücksichtslos, eine moralische Plage für ihre Klienten. Wenn sie wüßten, daß sie nur sich, nicht anderen wesentlich nützen, indem sie ihr Überflüssiges hergeben, daß sie also mehr Grund haben, den Armen dankbar zu sein als Dankbarkeit von ihnen zu erwarten, ihr Tun wäre segensreicher. Es brächte sie schneller vorwärts, ließe sie liebenswerter erscheinen; vor allem aber erzeugte es in den Seelen der Armen nicht den inneren Widerstand, welchen Dankforderung in den meisten wachruft und auf den so viel der innerlichen Schrumpfung zurückzuführen ist, die bei unseren Armen vorherrscht; endlich erschiene dann der Akzent der Lebensbewertung weniger ausdrücklich auf das Unwesentliche verlegt. Wer sich einbildet, Wunder was Gutes zu tun, indem er einen Notleidenden zufrieden stellt, der bekennt damit die Weltanschauung, daß materielles Wohlbefinden die Hauptsache sei.

Unter den Eingeborenen Indiens wie des ganzen Orients herrscht de facto viel mehr Wohltätigkeit als unter uns. Das Zusammenhangsgefühl ist dort so groß, das Einzigkeitsbewußtsein so gering, daß es keines außerordentlichen Entschlusses bedarf, um seine Nächsten an seinem Besitze teilhaben zu lassen. Wenn man von Katastrophen absieht, echten Hungersnöten, erscheint der Arme im Orient der Gefahr des Verhungerns viel weniger ausgesetzt als unter uns. Jeder gibt, soweit er kann, dem Bedürftigen, unterstützt arme Verwandte, Kranke, Pilger und Wanderer; er tut es wie selbstverständlich, ohne Aufhebens davon zu machen, glaubt nicht, etwas Besonderes damit zu tun, rechnet vor allem nicht auf ewige Dankbarkeit. Er weiß, daß er zu seinem Besten wohltut. Deshalb herrscht im ganzen weiten Osten so unverhältnismäßig viel weniger Ressentiment unter Armen den Wohlhabenden gegenüber, so viel weniger Überschätzung des Reichtums, eine so viel freiere Stellungnahme materiellen Bedürfnissen und deren Befriedigung gegenüber. Dort macht sich kein Bedürftiger etwas daraus, Unterstützungen anzunehmen; dort fällt es keinem Geistlichen ein, für Opfergaben besonders zu danken; dort ist die Existenz eines Heiligen selbstverständlich, der, nichts tuend, von seinen Mitmenschen erhalten wird. So sollte es überall sein. Aber schwerlich wird der stoffbeschwerte Westen so bald einen so hohen Standort erklimmen.

 

Benares ist überfüllt von Kranken und Siechen. Kein Wunder: ein großer Teil der Pilger zieht ja her, um am Gestade des Ganges zu sterben. In diesen Tagen habe ich mehr von dem zu sehen bekommen, was den Prinzen Siddhartha einst zum Verlassen der Welt bewog, als je vorher. Und doch habe ich nie weniger Mitleid empfunden. Diese Leidenden leiden so wenig; sie haben vor allem so gar keine Todesfurcht. Die meisten sind überglücklich, am heiligen Strom dieses Dasein beschließen zu dürfen, und was das jeweilige Ungemach betrifft – nun, das muß eben ausgestanden werden; gar lange währt es ja nicht mehr. Und sicher amortisiert sich in ihm eine alte Schuld. – Der Glaube der Inder soll pessimistisch sein! Ich kenne keinen, der es weniger wäre. Er statuiert eine Weltordnung, in der die Wesen mit Unvermeidlichkeit aufwärts steigen, in welcher es höchstens unter Milliarden einem gelingt, hinabzusinken. Der ganze Weltprozeß trägt ihn, wofern er fortschreitet, den ganzen Widerstand muß er überwinden, um zu verderben. Das Ziel dieses Aufstiegs ist freilich keines, dem der Westländer zulächeln mag; seine Seele ist noch zu jung, um nach Befreiung zu streben. Aber sicher ist, daß diese dem Hindu die gleiche Seligkeit verspricht wie dem Christen sein Himmel.

Diesen Tag habe ich mit den Mitgliedern der hiesigen Ramakrishna-Mission verbracht. Die hat ein Asyl gegründet, in welcher die zum Sterben nach Benares Gekommenen Heimstatt und Pflege finden können. Wenige Kranke kämen wohl von selber darauf, um Aufnahme nachzusuchen; dazu dünkt ihnen ihr körperliches Leiden nicht wichtig genug. Aber eine bestimmte Anzahl Mitglieder der Mission macht täglich die Runde durch die Gassen der Stadt und sammelt die Siechen ein, deren Zustand ihnen am schlimmsten scheint. Nie habe ich in einem Krankenhause geweilt, in dem eine freudigere Stimmung geherrscht hätte; die Heilsgewißheit versüßte aller Leiden. Und die Qualität der Nächstenliebe, welche die Pfleger beseelte, war exquisit. Diese Menschen sind wahrlich echte Nachfolger Ramakrishnas, des Gottestrunkenen. Voll Liebe und doch allverstehend, unfanatisch, unzudringlich. So wie alle Menschenfreunde sein sollten.

Der Umgang mit ihnen hat mir das, was die indische Frömmigkeit von der christlichen auch dort, wo sich beide Religionen am nächsten kommen, unterscheidet, recht deutlich zum Bewußtsein gebracht: der Inder kennt kein Sündigkeitsgefühl. Wohl kommt das Wort Sünde in seiner religiösen Literatur, falls den Übersetzungen geglaubt werden darf, nicht selten vor, aber der Inhalt, der ihm entspricht, ist ein anderer. Was wir Sünde heißen, kennt der Inder nicht. Er kann es nicht kennen, sintemalen er alle Vergehen (wie auch alle guten Handlungen) der Maya zurechnet, so daß keines metaphysische Bedeutung besitzt. Jede Tat zieht, dem Gesetze des Karma gemäß, ihre naturnotwendigen Folgen nach sich; die hat jeder auf sich zu nehmen, von denen kann keine Gnade befreien. Die Erlösung aber besteht in der Befreiung von aller Naturbestimmtheit überhaupt, und ist diese erreicht, so erscheint aller Taten Spur verwischt. – Aber mit dieser Feststellung ist das eigentliche Problem noch nicht berührt. Das christliche Sündigkeitsbewußtsein beruht weniger auf dem Tatbestand der geglaubten Sündhaftigkeit als auf dem Gebot, ihrer ständig zu gedenken. Und dieses verbieten die indischen Heilslehren. In denen heißt es: wie der Mensch von sich denkt, so werde er; stellt er sich dauernd als schlecht und niedrig vor, so werde er schlecht. Der Mensch soll nicht möglichst schlecht, sondern möglichst gut von sich denken; nicht so zwar, daß er seinen jeweiligen Zustand exaltiert, sondern daß er niemals zweifelt, besser werden zu können. Es gäbe nichts Fortschrittsfördernderes als Optimismus, nichts Verderblicheres als Mangel an Selbstgefühl. Wer an sich selbst nicht glaube, der sei im eigentlichsten Sinne Atheist. Das Höchste wäre, wenn ein Mensch sich nicht als Sündigsten der Sünder, der christlichen Vorschrift gemäß, sondern dauernd als vollkommen vorstellen könnte: dem würde gewiß noch in diesem Leben die Vollkommenheit zuteil.

Wieder einmal ist der Hinduismus absolut im Recht; aus dem Verbot, bei der Sündhaftigkeit zu verweilen, spricht vollendete Seelenkenntnis; nichts könnte prinzipiell verfehlter sein als die christliche Auffassung. Ohne Zweifel sind unzählige Gebrechen der westlichen Menschheit auf diesen psychologischen Irrtum zurückzuführen. Heute darf er ja wohl als überwunden gelten. Nicht nur die emanzipierten Geister unter uns verwerfen die überkommene Lehre, ein Gleiches geschieht immer mehr innerhalb der lebendig gebliebenen und folglich fortwachsenden Zweige der christlichen Kirche. Dieser Sünde-Begriff ist ein Überbleibsel aus dem Vorstellungskomplexe roher Zeiten. Dazumal war er heilsam genug: nur durch ständige Angst vor dem Zorne Gottes konnten unsere gewalttätigen Vorfahren im Zaum gehalten, nur durch Zerknirschungskrisen hindurch einem höheren Zustande zugeführt werden. Auch heute noch tut vielen das Sündigkeitsbewußtsein gut. Nicht wenigen ist es ferner so lieb, daß sie es wohl trotz besserer Einsicht weiterpflegen werden. Der Masochismus liegt dem Menschen tief im Blut; bis zu einem gewissen Grade empfindet jeder es als lebenssteigernd, von Übermacht vergewaltigt zu werden; aus der Zerknirschung der meisten christlichen Büßer klingt vernehmlich die Note der Wollust heraus. Gleichwohl wird jede spiritualisierte Menschenart, früh oder spät, den Sündigkeitsbegriff verwerfen müssen; von einem gewissen Punkt ab schadet er nur, denn in und an sich ist er verfehlt. Wohl gibt es Sünde – Sünde heißt man das, was der Mensch dem Gott in sich zuwider denkt und tut; in diesem Verstande wird jeder tiefere Mensch in aller Zukunft Sündbewußtsein kennen, und dieses wird ihm, je klarer es ist, desto heilsamer sein, denn Erkenntnis allein leitet unmittelbar Besserung ein. Aber es gibt keine Sündigkeit im christlichen Sinn, keine Sünde, die nur und wesentlich Fessel wäre. Der Mensch, wie er dasteht, ist das Produkt seiner eigenen und seiner Vorfahren Taten. In jedem Augenblick seines Daseins erlebt er die Vergeltung, welche der Christenglaube dem Jenseits aufspart. Und nichts, was er getan hat, richtet ihn. Solang die Seele lebt, solang ist sie des Aufstiegs fähig, ja meist gelangt sie aus rabenschwarzer Nacht heraus am schnellsten in den Glorienschein des Tags, weil deren Schrecken sie zur Einsicht zwingen, die ihr das Dämmerlicht nicht notwendig bringt, daß und inwiefern sie irre geht. – Hier, wie in so vielen anderen Fällen, stehen uns die Inder als die älteren und weiseren gegenüber. Aber nicht die Weisheit allein, auch die Torheit hat ihre Vorzüge. In Adyar, dächte ich, verweilte ich dabei, wie gut uns der wahnwitzige Glaube an eine ewige Verdammnis getan, wie sehr ihre tiefere Lehre der Masse der Hindus geschadet hat. Ähnlich steht es mit dem Sündigkeitsbewußtsein. Dieses schafft ein Pathos, das nichts ersetzen könnte, gibt dem Erleben eine spezifische Tiefe, die mit ihm steht und fällt. Von allen Menschen haben die Puritaner und die Muslim am meisten, die Hindus wohl am wenigsten Charakter. Dies liegt daran, daß jene an ein massives, unabänderliches Schicksal glauben, das dem Menschen als ein Äußerliches entgegensteht, diese hingegen an dessen schlechthinige Autonomie. Der indische Glaube entspricht der Wirklichkeit; im vollendet gebildeten Menschen gestaltet er das Höchste, was an Menschentum denkbar ist. Den ungebildeten hingegen entspannt er; er legt ihm nahe, sich gehen zu lassen, schlaff dahinzuleben. Dem bekommt es wohl besser, an der heilsamen Furcht vor einer noch so fiktiven äußeren Macht ein Motiv dauernder Selbstkontrolle zu haben.

 

Freilich wird der an Benares eine arge Enttäuschung erleben, der in der heiligen Stadt nur Heiligen und Weisen, nur dem Ausdruck echter Religiosität und tiefsten Verständnisses zu begegnen erwartet: nirgends auf der Welt, im Gegenteil, bekommt man mehr Aberglauben und mehr Unverständnis, mehr merkantiles Pfaffentum und wohlberechneten Schwindel zu sehen. Es ist nicht möglich, daß die Masse dort nicht abergläubisch wäre, wo das Sicht- und Greifbare so sehr dazu verleitet; nur der Entwickelte kann sicher unterscheiden zwischen Symbol und empirischer Wirklichkeit. Und es wäre unmenschlich, wenn sich keine Leute fänden, die solches Mißverstehen nach Möglichkeit zu Geld machten. Unter den Yogis trainiert sich ein allzu großer Teil nicht aufwärts zu Gott, sondern abwärts zum Tiere zurück: denn wenn einer Macht über sonst dem Willen nicht unterworfene Muskeln gewinnt, z. B. den Herzschlag bewußt regulieren lernt, so bedeutet das, daß er in den Zustand des Wurmes zurückgerät; insgleichen, wenn einer sich auf Wochen, ohne Schaden zu nehmen, begraben lassen kann, daß er vermag, was des Winterschlafs fähige Tiere noch besser leisten. Diese Hatha-Yogis sind sämtlich stupid und gelten auch dafür; die ganze Energie, über die ihr Intellekt allenfalls verfügen könnte, ist bei ihnen im Körper gebannt. Und wohl die meisten Pilger sind mehr oder weniger abergläubisch. Dies muß so sein, wo das Psychische als das Primäre gilt, denn nur der Begabte und Gebildete hat genügend Selbstkritik, um ohne Hilfe von außen her wahrhaftige von falschen Vorstellungen zu unterscheiden. Der Masse, soweit sie vorwärtskommen soll in dieser Welt, bekommt eine roh-realistische Veranlagung doch am besten; deshalb macht die der Christen und der Mohammedaner einen so viel reelleren Eindruck als die der Hindus. Jene lassen nur das Greifbare gelten; das ist ein Wirkliches, kein Eingebildetes, ein wie geringer Teil immer der ganzen Wirklichkeit; während diese, nur zu häufig auf Unwirkliches bedacht, dann selber unwirklich werden.

Aber gerade darin erweist sich die Tiefe der indischen Weltanschauung, daß diese den Irrtum überall als Ausdruck der Wahrheit versteht und so nichts ausschließt am Leben. Der Indergeist hat längst die Bedingtheit aller empirischen Bildungen erkannt; er weiß, daß es von Äußerlichkeiten abhängt, ob einer falsch oder richtig denkt, das Gute oder das Schlechte tut, an Wirkliches oder Unwirkliches glaubt; er weiß, daß es Zufallssache ist (vom Standpunkte eines gegebenen Lebens gesehen, ohne Rückbezug auf die Totalität der verflossenen), ob einer sich als Heiliger oder Verbrecher darstellt: im letzten bedeuten alle Erscheinungen das gleiche. Verrückt sich ein Rädchen im Gehirn, so wird aus dem Weisen ein Narr; besonders günstige äußere Umstände lassen einen Kleinen groß erscheinen; eine zufällig nicht gemachte Erfahrung enthält dem Gottsucher die letzte Erleuchtung vor: wer mag da behaupten, daß Gestaltung zum Wesen in notwendiger Beziehung steht? So bedeutet es kein willkürliches Konstruktionsprodukt, wenn der Glaube an Falsches dem an Wahres metaphysisch gleichgesetzt wird: der Verständnisunfähige muß sich in anderer Form mit der Gottheit in Gleichung setzen als der Erkennende. Exoterismus und Esoterismus stehen in Indien in wesentlicherer Beziehung als innerhalb des Katholizismus. Letzterer statuiert nur ein pragmatisches Band zwischen höheren und niederen Ausdrucksformen; das heißt, exoterische und esoterische Wahrheiten gelten für gleichwertig, insofern sie den gleichen Zweck erfüllen. Die gleiche Beziehung statuiert der Inder natürlich auch; aber er weiß überdies, daß der Irrtum nicht allein im pragmatischen, sondern auch im ontologischen Sinne der Erkenntnis gleichwertig sein kann: unter bestimmten empirischen Bedingungen – unzulänglicher Verstandesbegabung, Erziehungsmangel, ausgesprochener Emotivität – tritt eben das metaphysische Wirklichkeitsbewußtsein in Form des Glaubens an Unwirkliches zutage, das sich dem großen Geiste als reine Erkenntnis offenbart. Es ist ganz gleichgültig im Prinzip, ob die Verknüpfung von Sondervorstellungen mit ihrem letzten objektiven Sinn von Anfang her bestand oder erst nachträglich hergestellt wurde; fast immer war wohl letzteres der Fall: metaphysische Verknüpfungen bestehen unabhängig von der Geschichte. Es geschähe, was da wolle, aus welchen Ursachen immer, gleichviel zu welcher Zeit: immer und überall werden die Ereignisse die von den Rishis erkannte Wahrheit bestätigen.

So klafft denn kein Bruch zwischen indischem Irrtum und indischer Weisheit; allerorts erscheint es möglich, vom einen zum anderen hinüberzugelangen. Bei uns ist das anders, weil wir noch immer festhalten an der Substantialität von Name und Form, noch immer ferner mit dem Intellekte der Ganzheit des Lebens gerecht werden wollen. So scheint uns die Wahrheit den Irrtum zu widerlegen, der vollkommene Ausdruck den unvollkommenen aufzuheben, und wo zwei Vorstellungen sich logisch widersprechen, dort wähnen wir, nur eine von ihnen könne richtig sein. Wir befinden uns in dieser, wie in so vielen Hinsichten, in einem rudimentäreren Entwicklungsstadium. Deswegen ist die Mehrzahl unter uns noch außerstande, die ganze Tiefe der indischen Weisheit zu verstehen. Die Bhagavat-Gîta z. B., dies vielleicht schönste Werk der Weltliteratur, gilt vielen als philosophisch wertloses Kompilat, weil allerdings viele Denkrichtungen in ihm gleichzeitig zu Wort gelangen. Dem Inder erscheint es absolut einheitlich im Geiste. Shankârâchârya, der Begründer der Advaita-Philosophie, des radikalsten Monismus, den es jemals gab, war praktisch zeitlebens Dualist, d. h. ein Anhänger der Sankhya-Yoga, und als religiöser Praktikant Polytheist. Wie war das möglich? – Shankârâs logische Kompetenz steht außer Frage. Er war aber mehr als ein bloßer Logiker. So dünkte es ihn selbstverständlich, daß zu verschiedenen Zwecken verschiedene Mittel angewandt werden müssen. Über den Dualismus gelangt praktisch keiner hinaus; es ist unmöglich, das mindeste zu denken, zu wollen, zu erstreben, zu tun, ohne implizite eine Zweiheit zu setzen. Wozu es also leugnen? Das ändert an der Sache nichts. Aber andrerseits beweist die praktische Unüberwindlichkeit des Dualismus nicht, daß er dem Wesen anhaftet; aller Wahrscheinlichkeit hängt sie vielmehr nur ab von der Beschaffenheit des Erkenntnisinstruments. Das Wesen mag trotzdem eines sein, »ohne ein Zweites«; was aber seinerseits nicht verhindert, daß es sich in der Mannigfaltigkeit manifestiert. So mag ein extremer Monist doch zu vielen Göttern beten, wofern ihm das die Realisierung des Einen leichter macht. – Shankârâs Auffassung stehen andere gegenüber: es gibt Schulen, die auch dem Wesen Zweiheit zusprechen, wieder andere, die es sowohl als Einheit wie als Zweiheit vorstellen; es gibt theistische, pantheistische, atheistische Ausdeutungen. Sofern sie unmittelbare Ausdrücke des metaphysisch Wirklichen sein sollen, gelten sie sämtlich als gleichberechtigt und orthodox: es sei doch unmöglich, jenseits des Machtbereiches der Vernunft eine gültige Entscheidung zu treffen; hier können alle Philosophien nur Ausdrucksformen sein. Für praktische Erkenntniszwecke wird ausschließlich die Sankhya-Yoga anerkannt, denn alles praktische Erkennen setzt nachweislich Dualität voraus. Als Gläubiger endlich mag jeder es halten wie er will, denn hier kommt ausschließlich der Wahrheitsbegriff des Pragmatismus in Frage. Sind die Inder also Eklektiker? Beileibe nicht; sie sind bloß das Gegenteil von Rationalisten; sie leiden nicht am Aberglauben, daß metaphysische Wahrheiten in irgendeinem logischen System einer erschöpfenden Verkörperung fähig wären; sie wissen, daß spirituelle Wirklichkeit nie durch eine, sondern allenfalls durch mehrere intellektuelle Koordinaten bestimmt werden kann. Daß Monismus und Dualismus sich widersprechen, bedeutet in diesem Zusammenhang ebenso wenig wie der Widerspruch zwischen dem Fuß- und Metermaßsystem. Natürlich gibt es Leute, die auf die eine oder die andere Maßeinheit schwören: das ist ihre persönliche Angelegenheit. Es ist sogar unbestreitbar, daß zu diesem oder jenem Behufe die eine vor der anderen Vorzüge aufweist: ein Narr ist, wer sich diese nicht zunutze macht. Aber nie, nie sind die indischen Weisen – ich rede nur von den Weisen, die Pandits, die Schriftgelehrten, meine ich nicht – unserem typischen Irrtum verfallen, irgendeine intellektuelle Gestaltung metaphysisch ernst zu nehmen. Diese Gestaltungen sind nicht dichter, nicht wesenhafter als nur irgendein Mâyagebild. Sie können das Eigentliche in mehr oder weniger deutlicher und überzeugender Symbolik zum Ausdruck bringen – dieses Mehr oder Weniger entscheidet über ihren Wert – wesenhaft an sich sind sie nie. Um das Wesen allein aber ist es den Indern zu tun. Sie sehen es in allem, aus allem hindurch, trotz allem. So lassen sie sich nicht irremachen durch intellektuelle Unzulänglichkeit, durch Widersprüche niemals beirren. Sie lesen die Gîta buchstäblich als »des Erhabenen Gesang«, als den Ausdruck eines göttlichen Geistes, denn Er ist es, der aus noch so brüchigem Körper zu ihnen spricht.

 

Woher kommt es, daß der eigentliche Sinn der indischen Weisheit in Europa noch so unvollkommen erkannt ist, trotz der vielen gelehrten Arbeiten, die sie zum Gegenstande haben? – Soweit allgemeine Ursachen überhaupt in Frage kommen, dürfte die Hauptschuld wohl dem äußeren Umstande zuzumessen sein, daß unsere bedeutendsten Forscher nur flüchtig, wenn je, in Indien geweilt und mit dessen lebendigem Geiste keine Fühlung gewonnen haben. Freilich kann es gelingen, ohne Personal- und Lokalkenntnis den Geist eines gegebenen Ausdrucks zu verstehen – so den einer Sprache als solcher, des Wortlauts einer Philosophie; es muß dem Westen gelassen werden, daß er Indien in diesem Sinne besser verstanden hat, als dieses sich selbst versteht. Aber was ein Mensch oder Volk hat sagen wollen, was es innerlichst gemeint hat, ist aus dem Ausdruck nur dort zu ersehen, wo dieser als vollendete Verkörperung des Sinnes gelten darf. Das kann er überaus selten; es ist sehr fraglich, ob selbst die Kantische Philosophie, von allen die eindeutigste, von einem Fremden, außer Fühlung mit unserem lebendigen Vorstellungskreis, wirklich verstanden werden könnte. Die indischen Geistesschöpfungen nun dürfen weniger als irgendwelche andere in der Weltliteratur als vollendete Verkörperungen gelten, sie sind es schon deshalb nicht, weil es ihren Urhebern gar nicht darum zu tun war, sich in unserem Sinne eigentlich auszudrücken. Weder kam es ihnen auf wissenschaftliche Exaktheit, noch auf künstlerische Prägnanz des Ausdrucks an. Ihre Schriften zielten auf ganz anderes ab: sie sollten einerseits ein Knochengerüst abgeben für die lebendige Tradition, andrerseits ein Mittel zur Realisierung spiritueller Wahrheiten sein, endlich eine leicht faß- und behaltbare Fixierung derselben in konventioneller Symbolik zum Besten der Wissenden. Nicht derer, die erst erfahren wollen. Sie sollten also eingestandenermaßen keine in unserem Sinne eigentlichen Ausdrücke sein. Wie sollte es unter solchen Umständen gelingen, aus dem Buchstaben den Sinn zu erschließen? – Es ist durchaus erklärlich, wiewohl bedauerlich, daß es zu der ebenso populären als mißverständlichen Parallelisierung der indischen Philosophie mit der hellenischen und gar der kantischen gekommen ist: auf falsch bestimmte Tatsachen sind richtige Theorien nicht zu gründen.

Die indische Philosophie – sofern sie überhaupt so bezeichnet werden darf – ist, um das Wesentliche gleich zu sagen, mit der unsrigen schon deshalb unvergleichbar, weil sie überhaupt nicht auf Denkarbeit beruht. Man entsinne sich der traditionell indischen Lehrmethodik, wie sie hier und da in den Upanishads erwähnt wird: stellt der Schüler eine Frage, so beantwortet der Lehrer sie nicht direkt, sondern sagt bloß: komm und lebe bei mir zehn Jahre lang. Und in diesen zehn Jahren unterrichtet er ihn nicht, wie wir es verstehen: er gibt ihm bloß einen Satz auf zur Betrachtung. Er soll nicht etwa über ihn nachdenken, ihn analysieren, von ihm aus entwickeln, konstruieren – er soll sich in ihn versenken, bis daß er ganz von seiner Seele Besitz ergriffen hat. Kant pflegte seinen Studenten zu sagen: Sie sollen bei mir keine bestimmte Philosophie, sondern denken lernen. Gerade das lehrt der indische Guru seinen Chelah nie. Sofern dieser überhaupt auf eine bei uns bekannte Art studiert, lernt er auswendig – tut also genau das Gegenteil dessen, was wir für ersprießlich halten. – Man erinnere sich ferner des berühmten Sûtrastils: die wichtigsten Erkenntnisse und Lehren der Inder erscheinen in derartig verstümmelnder Kürze dargestellt, daß sie ohne Kommentar schlechterdings nicht verstanden werden können: dies geschieht, auf daß der Schüler ja nicht in Versuchung gerate, auf unsere Art zu studieren. Nach indischer Überzeugung ist Brahmavidya, Wesenserkenntnis (die einzige, die als erstrebenswert gilt) durch Denken nicht zu gewinnen; alles Denken bewege sich in seiner ursprünglichen Sphäre fort, ohne je über sie hinauszuführen; es sei ebenso unfähig, metaphysische Erkenntnis zu vermitteln wie die Sinne. Genau wie keine Ausbildung dieser von Wahrnehmungen zu Gedanken führt, könne kein Denken der Welt zur metaphysischen Erkenntnis führen. Solche gewinnt allein, wer eine neue Bewußtseinslage erreicht. Dieser tieferen Bewußtseinslage bedeuteten jene ein ebenso unmittelbar Gegebenes, wie dem Auge die äußere Natur und dem Verstande die Welt der Begriffe. Also komme es beim Studieren nicht auf Denkarbeit, sondern auf Selbstvertiefung an; nicht auf Ergründung der Wirklichkeit vermittelst eines gegebenen Instruments, sondern auf Heranbildung eines neuen, besseren. Die Methoden des Studiums in Indien und bei uns zur Gewinnung philosophischer Erkenntnis sind also völlig unvergleichbar: unsereiner denkt nach, experimentiert, kritisiert, definiert; der Inder treibt Yoga. Sein Ideal ist, durch Verwandlung seines psychischen Organismus hinauszugelangen über die Grenzen, welche Kant möglicher Erfahrung gesetzt hat.

Aus dieser Unvergleichbarkeit der beiderseitigen Methoden folgt die der Ergebnisse. Der Westländer schreitet fort von Gedanke zu Gedanke, induzierend, deduzierend, differenzierend, integrierend; der Inder von Zustand zu Zustand. Jener steigt immer höher hinan im Reiche der Abstraktionen, von Sonder- zu Allgemeinbegriffen, von diesen zu Ideen und so fort; dieser wechselt fortschreitend die Form seines Bewußtseins. Nun hat er das, was er auf dessen verschiedenen Ebenen erlebt, natürlich objektiviert, benannt, in Begriffsform ausgedrückt; und diese Begriffe lauten vielfach identisch mit den unsrigen. Auch der Inder spricht vom Absoluten. Aber während dieser Begriff uns eine Stufe der Abstraktion bezeichnet, bedeutet er ihm die Vergegenständlichung eines erlebten Zustandes. Also handelt es sich nicht um Identität, sondern um Inkommensurabilität. Der Atman ist dem Inder keine Vernunftidee, sondern die Bezeichnung einer erreichbaren konkreten Bewußtseinsstufe, der Purusha keine imaginierte Weltseele, sondern ein Erlebensprinzip, und so fort. Wir haben also einerseits, in jeder westlichen Weltanschauung, einen systematischen Zusammenhang nach Vernunftgesetzen, zu unterst von gegebenen Erscheinungen, zu oberst von äußersten Abstraktionen abgegrenzt; andrerseits die empiristische Beschreibung des möglichen Aufstiegs der Seele von niederen zu höheren konkreten Daseinsformen. Mögen noch so ähnliche Begriffe in beiden Fällen zur Bezeichnung der Etappen verwandt werden – der Sache nach sind die Philosophien Indiens und des Westens vollkommen unvergleichbar. Es besteht keinerlei Zusammenhang zwischen ihnen.

Freilich sieht man den lebendigen Kern der indischen Weltanschauung vielfach von harter scholastischer Schale überwachsen. Aber wer in dieser das Wesentliche, überhaupt ein Notwendiges sieht, der irrt sich noch mehr als der, welcher das Wesentliche der Lehre des heiligen Thomas in dessen logischen Konstruktionen zu greifen glaubt: hier wie dort handelt es sich um einen Versuch, das als rationalen Zusammenhang darzustellen, was in Wahrheit ein lebendig-zuständlicher ist. Solche Versuche glücken nie, können nicht glücken, sind infolgedessen nicht ernst zu nehmen. Man muß durch sie hindurchsehen, wenn man das Wesentliche erkennen will. Und dieses Wesentliche ist im Falle der indischen Scholastik nie schwer zu fassen; es liegt meistens offen zutage. Nie sind die Inder überzeugte Rationalisten gewesen, wie unsere mittelalterlichen Philosophen es doch waren, da keine griechische Erbmasse sie belastete; so sind ihre logischen Netze überall fadenscheinig und nirgends stark. Alle tieferen Philosophen haben gewußt, was sie eigentlich meinten. So gilt denn auch noch unter den indischen Scholastikern Yoga-Praxis als der Weg zur Wesenserkenntnis. Die Pandits gelten nirgends in Indien als Weise, wie noch immer unter uns, sondern für das, was sie sind: für Grammatiker und Antiquare.

Ich erwähnte den heiligen Thomas von Aquin: in der Tat, wenn irgend etwas in der westlichen Literatur mit der indischen Philosophie verglichen werden darf, dann sind es die Schriften der großen theologischen Doktoren. Aber auch dieser Vergleich führt nicht weit, weil diese den ursprünglich gleichen Weg in anderer Richtung verfolgt haben als die Rishis. Die katholische Kirche hat die Yoga immer nur dazu verwandt, den als wahr vorausgesetzten Glauben zu stärken und den Menschen im Geiste eben dieses Glaubens der Vollendung entgegenzuführen. Nie hat sie ihn selbständig erkennen lehren wollen. Selbständige, echte Erkenntnis zu vermitteln war die eine Absicht aller Schulung in der erhabenen und mühsamen Kunst der Raja-Yoga.

 

Alles Rational-Systematische an der indischen Philosophie ist ebensoviel Spreu; es ist Scholastik im übelsten Sinne. Seit es Weltanschauung gibt, sind spirituelles Wissen und scholastisches Denken zupaar gegangen: wo der Geist unmittelbar erfaßt (oder zu erfassen glaubt), was höher ist denn alle Vernunft, dort muß er außerordentlich gebildet sein, um dieser ihre Selbständigkeit zu lassen. Meist heißt er sie coûte que coûte beweisen, was er ohnehin schon weiß, und da er der Wahrheit gewiß ist, mithin der Beweise nicht wirklich bedarf, so befriedigt ihn jede noch so bedenkliche Demonstration, sofern sie nur demonstriert, was er voraussetzte. Nur so ist es zu erklären, daß ein so erlauchter Geist wie Thomas von Aquin die Unzulänglichkeit seines Systems niemals erkannt hat.

Die indische Scholastik nun ist noch um vieles schlimmer als die des Westens (wie denn auch die Pandits die übelste Verkörperung des Schriftgelehrtentypus bezeichnen, von der ich wüßte), weil die Begriffe, mit denen sie jongliert, ursprünglich gar keine Verstandesbegriffe sind, sondern Bezeichnungen für konkrete Zustände, so daß ihren Konstruktionen jede Basis fehlt. Mehr oder weniger scholastisch ist aber alle indische Philosophie. Es nützt nichts, Shankârâ oder Ramanuja hier in Schutz zu nehmen: als Philosophen waren sie Scholastiker, das heißt, sie gingen von bestimmten Überzeugungen aus, welche ihr Denken auszuführen und zu erweisen hatte; das macht sie jedem kritischen Denker des Westens unterlegen. So haben Oldenberg und Thibaut unzweifelhaft denen gegenüber recht, welche die indische Philosophie in den Himmel erheben. Aber es bezeichnet ein arges Verkennen des indischen Geistes, wenn man ihn in irgendeinem System restlos verkörpert wähnt, überhaupt in irgendeiner bestimmten Weltansicht. Dem Advaita stehen Dvaita und Visishtadvaita entgegen; die monistische Metaphysik ergänzt eine dualistische Daseins- und Erkenntnistheorie; das scheinbar Gleichmacherische des Spruches tat twam asi wird durch subtilstes Unterschiedsbewußtsein aufgehoben, dem Entleerenden eines extremen Einheitsbewußtseins durch die üppigste Mythen- und Göttersprossung entgegengewirkt. Es gibt in Indien überhaupt keinen Monismus, keinen Pantheismus, keine Arbeitslehre und kein Einheitsbewußtsein im westlichen Verstande; das heißt, nirgends beeinträchtigt letzteres die unbefangene Anerkennung der Mannigfaltigkeit. Fern davon, den Reichtum der Erscheinungswelt aufzulösen, bezeichnet die Advaitalehre als solche nur einen Ausdruck mehr eben dieses Reichtums; einen Zweig mehr am übervitalen Stamm des Indergeistes. So, nicht anders, haben die Rishis sie gemeint. Und bekannten sie sich persönlich zu dieser, im Gegensatz zu irgendeiner anderen Lehre, so geschah das in dem Sinne, daß jedem Wesen irgendeine empirische Form aus empirischen Gründen am gemäßesten ist. Es sei müßig, darüber zu streiten, was Brahman an sich sei, ja ob es ihn gäbe, ob er einfach oder vielfach sei. Das Dasein irgendeiner absoluten Wirklichkeit sei evident; auf die weist eben die Bezeichnung Brahman hin. Wie man sich sie vorstelle, hänge ab von der Veranlagung. Der Bhakta wird immer zum Theismus neigen, der Gnani hingegen zu einer Lehre, welche das Einheitliche betont. Denn je tiefer man eindringe in sich selbst, je mehr man sein Wesen im Bewußtsein realisiere, desto stärker würde das Einheitsgefühl: also hätte man allen Grund zur Annahme, daß vom Standpunkte der Erkenntnis die Lehre von der wesentlichen Einheit der beste Ausdruck des Metaphysisch-Wirklichen sei. Die Rishis waren als Forscher extreme Empiriker; nur dem Erlebnis trauten sie. Sofern man aber ihre Weltanschauung überhaupt unter eine der üblichen Rubriken bringen kann, muß man sie pragmatistisch heißen. Sie waren in der Tat die idealen Pragmatisten. Gleich würden sie William James und F. C. S. Schiller zugestehen, daß alle lebendige Wahrheit in concreto auf Postulate zurückgehe; keine Gestaltung sei metaphysisch wesentlich, jede sei das Produkt empirischer Umstände, was im Falle der Erkenntnis besagt, daß die Wahrheit des Einzelnen, als bestimmte konkrete Erscheinung, von seinen Anlagen, Vorurteilen und Wünschen abhängt. Nur, würden sie lächelnd hinzusetzen, sagt diese Theorie nicht das letzte Wort; sie handelt nur vom Ausdruck dessen, was man Wahrheit heißt; der Sinn entgeht der Fassung des Pragmatismus. Es gibt ein »Jenseits« der Gestaltung, ein Reich des reinen Sinns, in welches kein Postulat hinaufreicht, das aber umgekehrt alle lebendigen Postulate beseelt und ihnen die Substanz verleiht. Wer nun sein Bewußtsein in diese Sphäre hinaufgehoben hat und dauernd in ihr zu erhalten weiß, der ist über den Pragmatismus hinaus; der sieht durch alle Postulate hindurch; dessen Erkenntnis spiegelt unverfälscht die rein in sich selbst beruhende Schöpferkraft wider, die der lebendige Seinsgrund aller Erscheinung ist. Von dem könnte man sagen, daß er »die Wahrheit« besitzt; aber das wäre ein uneigentlicher Ausdruck; die Pragmatisten hätten vollständig recht, diesen Begriff (sofern es sich um lebendige, nicht um logische Wahrheit handelt) leer zu finden; denn nur als Ausdruck eines Sinns könne er definiert werden, nicht als dieser selbst, und aller Ausdruck sei notwendig relativ. Das richtigste wäre, zu sagen, daß der »Wissende« über Wahrheit sowohl als Irrtum hinaus ist; daß es diesen Unterschied für ihn nicht mehr gibt. Er lebt im Reich des reinen lebendigen Sinnes, der sowohl als Wahrheit wie als Irrtum in die Erscheinung treten kann. Dieser Sinn ist eine Dynamis, ein rein Intensives, kann als solches nicht vorgestellt, nicht gefaßt werden; wo immer, wie immer dies versucht wird, greift man anstatt des ewigen Sinnes eine unzulänglich-vergängliche Gestalt. So bekennt sich auch der Rishi, wo er reden muß, notgedrungen zu irgendeinem relativ richtigen System, das durch Postulate definiert werden kann. Aber man kann diesen Sinn unmittelbar leben, von ihm aus denken und handeln, und dann erscheint es irrelevant, was gerade man denkt und tut ...

Das Vorbildliche, ewig Wertvolle an der indischen Weltanschauung ist der Geist der Tiefe, aus dem sie stammt. Alle seine Gestaltungen können vollkommener gedacht werden; ich glaube nicht, daß man tiefer in das Wesen eindringen könnte; mir scheint hier die äußerste Tiefe erreicht. Die Inder haben den statischen Wahrheitsbegriff überwunden und ihn durch einen dynamischen ersetzt, der seinen Sinn transfiguriert: auch wir werden das früher oder später tun. Auch wir werden früh oder spät einsehen, daß Wesenserkenntnis nicht durch noch so weitgehende Vervollkommnung des Begriffsapparats, nicht durch noch so erschöpfende Erforschung unseres Bewußtseins, wie es ist, zu erreichen ist, sondern nur durch Gewinnung einer neuen, höheren Bewußtseinsform. Der Mensch muß sich erheben über sein sekuläres Erkenntnisinstrument; hinausgelangen über die biologischen Grenzen, deren klassischer abstrakter Ausdruck in Kants Kritiken enthalten ist; er muß hinauswachsen über sein bisheriges Maß; sein Bewußtsein muß, anstatt an der Oberfläche zu haften, den Geist der Tiefe spiegeln lernen, der sein Seinsgrund ist. Diese Höherentwicklung hat in Indien begonnen; daher die Wunder seiner Seinserkenntnis und Lebensweisheit. An uns ist es, sie weiterzuführen.

 

Daß die Weisen, auf deren Intuitionen alles Wertvolle an der indischen Metaphysik zurückgeht, jene so erwünschte tiefere Bewußtseinslage erreicht haben, verdanken sie eingestandenermaßen der Yoga-Praxis. Diese bezeichnet den praktischen Angelpunkt aller indischen Weisheit. Wo wir alles vom Genie erhoffen, erwarten jene das meiste von der Ausbildung. – Neulich sagte mir ein Hindu: Daß ihr großer Geister bedürft, um die Wahrheit zu entdecken, ist ein Zeichen, wie ungebildet ihr seid; ihr seid auf außerordentliche Zufälle angewiesen. Die Wahrheit ist doch da, liegt jedermann vor, ist im Geringsten enthalten: nach genügender Schulung kann jeder ihrer ansichtig werden. Welch supreme Ironie liegt darin, daß ihr, die Ungeduldigen, die Geburt eines Originales abwarten müßt, um euch einer Selbstverständlichkeit (denn jede Wahrheit versteht sich von selbst) bewußt zu werden! – Natürlich hat er recht im Prinzip. Unsere Abhängigkeit von der Begabung hat etwas Beschämendes. Aber ist es möglich, ihr zu entrinnen? – Daß es möglich ist, beweist das bloße Dasein der Wunder der indischen Weisheit: soweit deren Urheber bekannt sind, handelt es sich nicht um große Geister in unserem Sinne. Man kann aus dem Stil und dem Tonus mit großer Sicherheit auf die Qualität eines Genius schließen, seine Originalität, seine Potenz, den Reichtum seiner Anlagen: ich wüßte keinen in der ganzen indischen Geschichte, mit der einen Ausnahme Buddhas, der im westlichen Sinne als großer Geist gelten dürfte; keinen indischen Philosophen, der auch nur einigermaßen den Vergleich mit unseren großen Denkern aushielte. Sowohl Shankârâ, als Vyasa, als Ramanuja waren allerhöchstenfalls Philosophen zweiten Ranges. Und doch stammen viele der tiefsten Einsichten von diesen, nicht von den Rishis des Altertums her; dennoch ist die indische Weisheit als Ganzes die tiefste, die es gibt. Ich behaupte hiermit nichts Unerweisliches; je weiter wir kommen, desto mehr nähern sich unsere Anschauungen den indischen. Schritt auf Schritt bestätigt die psychologische Forschung die in noch so unzulängliche Theorien eingefaßten Behauptungen der altindischen Seelenkunde; wieder und wieder stimmen die Ergebnisse der philosophischen Kritik mit den noch so mythisch eingekleideten Intuitionen der alten Rishis überein; und mit Bergson ist auch die Metaphysik in die Richtung, in welcher Indien seit jeher wandelt, eingebogen. Denn keiner Metaphysik ähnelt seine mehr als der des Inders Açvagosha.

Indien verdankt seine Erkenntnisse eingestandenermaßen der Schulung gemäß dem Yoga-System. Dessen Grundidee ist die folgende: durch Potenzierung des Konzentrationsvermögens gelange der Mensch in den Besitz eines Werkzeugs von ungeheurer Kraft. Habe er dieses vollkommen in seiner Hand, so sei es ihm möglich, mit jedem beliebigen Gegenstand der Welt in unmittelbaren Kontakt zu kommen, Fernwirkungen auszuüben, göttergleich zu schaffen, zu erreichen, was immer er will. Er habe seine konzentrierte Aufmerksamkeit nur auf einen Punkt hin zu richten, so wisse er alles, was diesen betrifft, nur einem Probleme zuzuwenden, so habe er es schon erfaßt und gelöst. Der vollkommene Yogi bedürfe keiner materiellen Werkzeuge, um in der Welt zu wirken, keines wissenschaftlichen Apparats, um Erkenntnis zu erlangen; alles erfahre und vermöge er unmittelbar. – Es ist gleichgültig, ob es je einen vollkommenen Yogi gegeben hat. Das Wesentliche, Entscheidende ist, wie ich schon in Adyar auseinandergesetzt habe, die evidente Richtigkeit des Prinzips der Yoga-Theorie, ihr Gerechtwerden allen erwiesenen Erfahrungstatsachen, und die innere Wahrscheinlichkeit des noch so Außerordentlichen, was sie als erreichbar hinstellt. Unzweifelhaft ist das Konzentrationsvermögen die eigentliche Triebkraft unseres ganzen psychischen Mechanismus. Nichts erhöht dessen Leistungsfähigkeit so sehr wie deren Steigerung, jeglicher Erfolg, auf welchem Gebiete immer, läßt sich auf intelligente Ausnutzung dieser Kraft zurückführen. Einer exzeptionellen, d. h. aufs Äußerste konzentrierten Willenskraft hält kein Hindernis dauernd stand; konzentrierte Aufmerksamkeit zwingt jedes Problem, früh oder spät, seine sämtlichen einer gegebenen Begabung erkennbaren Seiten aufzuweisen. Die Yoga-Philosophie behauptet nun, daß ein genügend hoher Grad von Konzentration Begabung ersetzen kann. Was kennzeichnet im Letzten die Sonderbefähigung des Mathematikers? Die Fähigkeit, erwidern die Yogis, mathematische Verhältnisse so fest im Auge zu halten und so aufmerksam zu betrachten, daß ihr Charakter und dessen mögliche Konsequenzen ihm vollkommen deutlich werden. Denn sie sind ja da, gegeben in der Welt des Geistes, wie nur irgendein Gegenstand in der Natur, es kommt nur darauf an, sie zu erkennen. Handelte es sich nicht um objektiv Gültiges, also an sich Existentes, unabhängig davon, ob es erkannt wird oder nicht, es könnte keine mathematische Wissenschaft geben. Alles Erkennen ist Perzeption; Reflexion, Induktion, Deduktion sind nur Mittel, zur Perzeption zu gelangen. Nicht umsonst sagt man auch im Falle nichtsichtbarer Verhältnisse, ich sehe, wie die Dinge liegen; man perzipiert eben auch einen abstrakten Zusammenhang. Es ist unberechtigt, einen prinzipiellen Unterschied zu statuieren zwischen dem Beobachten eines äußeren Gegenstandes, dem Visualisieren des Malers in der Phantasie, dem Vorstellen eines Gedankens und dem geistigen Schauen einer Idee; überall handelt es sich um dasselbe: um Perzeption. Nur die Objekte sind verschieden und die Organe. Aber eine Idee ist als Phänomen ein genau so äußerlich Gegebenes wie der Baum, welcher vor einem steht; man nimmt sie wahr oder nicht. Wie in der Welt der Sinneswahrnehmungen die Auffassung, so hängt in derjenigen der Ideen das Verständnis lediglich davon ab, wie deutlich einer sieht. Hieraus ergibt sich denn zweierlei. Erstens der objektive Sinn dessen, was man Talent heißt: Talent ist die Idiosynkrasie des Einzelnen, vorzüglich eine Art von Erscheinungen zu perzipieren; der schlechte Mathematiker ist der, dem es nicht gelingen will, sein Konzentrationsvermögen auf abstrakte Symbole und deren Beziehungen zu heften; welche Deutung dadurch als richtig erwiesen wird, daß es möglich ist, einem Hypnotisierten Fähigkeiten zu »suggerieren«, die er sonst nicht hat. – Die zweite und wichtigste Folge aus den vorhergehenden allgemeinen Feststellungen ist aber die: wer seinen psychischen Apparat vollkommen beherrscht, so daß er sein Konzentrationsvermögen in jeder Richtung gleich gut verwenden kann, also fähig ist, mit vollendeter Aufmerksamkeit auf jedem beliebigen Punkte, bei jedem beliebigen Probleme zu verweilen, der wird, falls sein Konzentrationsvermögen als solches stark genug ist, augenblicklich jeden Zusammenhang erkennen, dem er sich zuwendet (da er ihn ja vollkommen deutlich sieht); er wird überall unmittelbar die Wahrheit erfassen. Ein solcher Mann bedürfte offenbar keines wissenschaftlichen Apparats, er könnte aller Logik, alles Denkens überhaupt entraten, denn dieses ist ja nur ein Hilfsmittel zur Perzeption; er bedürfte nicht einmal einer außerordentlichen Begabung, denn auch mit unvollkommenen Mitteln erzielt der, welcher sie vollkommen beherrscht, bedeutende Erfolge. Und auch hier kommt eine Analogie der Erfahrung der Theorie von vornherein zu gut: ist es nicht gerade das Wesen des Genies, unmittelbar, augenblicklich zu erfassen, was andere allenfalls auf vielen Umwegen, wenn überhaupt, durch tausend Zwischenstationen hindurch erreichen? Es ist in der Tat möglich, durch Schulung die Anlagen zu ersetzen, ja weiter zu gelangen, als Begabung für sich allein einen führen könnte. Daher ist gar nichts Wunderbares daran, daß die indischen Weisen, trotz unzweifelhaft geringerer Begabung, tiefere Erkenntnis zutage gefördert haben, als die größten Genien des Westens.

So weit die Yoga-Philosophie. Ich will nicht behaupten, daß sie wörtlich das lehrt, was ich hier ausführe, aber sicher bedeutet dieses eine mögliche Verkörperung ihres letzten Sinns. Und gegen diesen wüßte ich gar nichts zu erinnern; ich bin überzeugt, daß er der Wirklichkeit entspricht. Ich bin ferner überzeugt, daß die Entdeckung der Inder der fundamentalen Bedeutung des Konzentrationsvermögens und vor allem der Methode, es zu steigern, eine der bedeutsamsten ist, die je gemacht wurde. Toren wären wir, wollten wir sie uns nicht zunutze machen. Wir sind so viel vitaler als die Inder, verfügen über so viel mehr psychisches Kapital – wer weiß, wohin wir erst gelangen werden, wenn wir uns genügend ausbilden? – Ich antizipiere hier nicht bloß, ich rede aus Erfahrung. Ganz am Anfang meines Aufenthaltes in Indien unterhielt ich mich mit einem Yogi einmal über Inspiration. Ich erzählte ihm, was wir Westländer darunter verstehen, und wie es die Tragödie aller derer sei, die sie gelegentlich heimsucht – und solchen Heimsuchungen verdanke ihr Bestes seine Entstehung –, daß sie nie weilt; sie sei nicht zu halten. Hier unterbrach mich der Yogi: warum weilt sie nicht? Doch offenbar nur, weil Ihr sie nicht zu halten wißt. Freilich kann sie gehalten werden; sie bezeichnet ja nur eine besondere, keineswegs übernatürliche Bewußtseinslage, die zur normalen werden kann wie jede andere auch. Ich an ihrer Stelle würde nun nimmer rasten – sintemalen ihr Bestes, wie Sie sagen, aus inspirierten Zuständen stammt –, bis daß ich normalerweise inspiriert wäre. – Dieser Rat frappierte mich damals sehr. Ich begann mich nach der Raja-Yoga-Methode zu üben; anstatt, wie bisher, die Inspiration des Augenblicks sofort in Gedanken und Worte hinabzuleiten, bemühte ich mich, die Region zu fixieren, aus der sie kam, womöglich ganz in sie hinaufzusteigen. Und siehe da, es gelang. Es erwies sich nicht allein als möglich, beträchtliche Zeitspannen entlang in Zuständen zu verharren, die sich sonst nach Sekunden verflüchtigten: mir kam nun die Ahnung noch höherer. Ich erprobte an mir selbst, was die Yogis behaupten: daß jede Bewußtseinslage phänomenologisch jeder anderen äquivalent ist. Wie jeder seinen Geist in der sinnlich wahrnehmbaren Außenwelt, die ihm als feste Gegebenheit erscheint, mühelos schweifen läßt, so ist es möglich, wenn die Vorstellungswelt »gestillt ist«, wenn die Einbildungskraft, der »betrunkene Affe«, sich ruhig zu verhalten gelernt hat, auch in dieser gleichsam spazieren zu gehen und seine Vorstellungen ebenso gelassen zu mustern wie Bäume. Und lernt man weiter, die sich bildenden Ideen nicht gleich in Gedanken und Vorstellungen hinabzuleiten, sondern als solche zu fixieren, dann erlebt man, was Plato zu seiner Ideenlehre veranlaßt hat. Aber die Ideenwelt bezeichnet nicht die höchste Stufe: hoch über dieser thront ein Reich des reinen Sinns, und wer in diesem dauernd wohnt, mag wohl allwissend sein ... Ich brauche wohl nicht ausdrücklich zu versichern, daß ich so weit nicht gelangt bin. Wohl aber habe ich schon öfters das Erlebnis Platos nacherlebt, habe Ideen wie Gegenstände gemustert. Derweil perzipierte ich ihren Zusammenhang, ihren Ursprung, ihren Sinn; ich brauchte nicht nachzudenken; und bisweilen gelang es mir buchstäblich, hinter sie, um sie herumzukommen. Ich übte das Vermögen aus, das die Philosophen von Plotin bis Schelling so schlecht als »intellektuale Anschauung« bezeichnet haben (sie ist nicht intellektuell, sondern genau so empirisch wie jede andere, nur von einer anderen Bewußtseinslage her), ich schaute unmittelbar, was sonst nur mittelbar erschlossen wird. Seit diesen Erfahrungen wundere ich mich nicht mehr über die Tiefe der indischen Einsichten. Erkenntnis ist unvermeidlich, sobald man gelernt hat, das psychische Geschehen mit vollendeter Aufmerksamkeit zu beobachten. Denn jede scheinbar letzte Instanz kann ihrerseits zur Grundlage der Beobachtung gemacht werden, so daß es nun ebensowenig Schwierigkeiten bereitet, Begriffe und Vorstellungen zu fixieren, wie äußere Gegenstände, ideelle Zusammenhänge zu übersehen, wie räumlich-empirische. Hierher rührt es, daß die Inder ohne vorhergegangene Kritik, trotz äußerst mangelhafter wissenschaftlicher Ausrüstung, das Metaphysisch-Wirkliche gleich richtig erkannt haben in seinem Verhältnis zur Ideen- und Erscheinungswelt; daß ihre Psychologie, was immer gegen deren Ausdruck einzuwenden sei, unvergleichlich viel tiefer greift als die unsrige bisher. Hierher rührt im letzten die einzigartige Tiefe der indischen Weisheit als Ganzes. Die großen Rishis haben dauernd in der Tiefe gelebt. Das hat kein Weiser des Westens getan. Plato, der des Schauens der Ideen wohl fähig war, wußte über diese doch nicht hinauszublicken und verkannte daher ihren eigentlichen Charakter; er überschätzte sie. Überdies schaute er sie nur gelegentlich: so wies er nur immer wieder auf sie hin, oder belichtete von ihnen aus in inspirierten Momenten die Erscheinungswelt. Plotin ist vom Atman immer nur hinabgestiegen; seine Äußerungen haben ihn im Rücken. Fichte und Hegel haben ihrerseits von der Tiefe her die Erscheinung zu gestalten versucht, und mit Erfolg; Nietzsche hat sie sprunghaft beleuchtet; in der Tiefe gelebt hat keiner von ihnen. Sie hatten eben, so begabt sie waren, ihr Konzentrationsvermögen nicht genügend ausgebildet; sie blieben abhängig von empirischen Zufälligkeiten. Kein Geist des Westens war konzentrationsfähig genug, um dauernd in seinem tiefsten Selbst zu leben. Am deutlichsten vielleicht tritt dieser Mangel bei Goethe in die Erscheinung. Dieser Mann hat wohl mehr Blitze aus der Tiefe in Worte gebannt, als irgendein neuzeitlicher Mensch; aber zugleich ist er unfähiger als irgendein anderer Großer gewesen, in der Region, aus der sie stammten, zu verweilen. Sein normales Dasein verlief an der Oberfläche, und tauchte er zur Tiefe hinab, so mußte er sich desto länger auf jener erholen. Der Faust stellt den verklärten Ausdruck dieser letzten Unzulänglichkeit dar. In dieser Dichtung sieht man Zustand an Zustand gereiht, ohne daß je der folgende eine wesentliche Vertiefung des vorhergehenden bedeutete, und der Schlußakt gibt keine Erfüllung des Gesamtlebens, sondern nur einen Zustand mehr, welcher zufällig der letzte ist und ebenso zufällig als der höchste bewertet wird.

 

Alles innere Weiterkommen, vom Augenblicke an, da die Organe erwachsen sind, beruht in der Tat auf Konzentration; meine eigene Entwicklung bestätigt dies durchaus. Mit zwanzig Jahren war ich nicht dümmer als heute. Aber meine Fähigkeiten waren unkoordiniert, und da keine von ihnen, für sich allein betrachtet, bedeutend ist, so konnte ich nichts von Belang zustande bringen. Wie dann die literarisch-philosophische Tendenz zur Dominante ward, gewann ich einen ideellen Brennpunkt, um die Strahlen meines Geistes zu sammeln, und je mehr diese sich konzentrierten, desto leistungsfähiger wurde ich. Aus einer Republik erwuchs ich allmählich zur Monarchie, jedes Jahr wurde ich mehr Herr meiner selbst und entsprechend geisteskräftiger. Lange Zeit hindurch ward mir das Sammeln, das ich früh als das Hauptproblem der Selbsterziehung erkannt hatte, durch Nervenschwäche erschwert; auf jede Anspannung erfolgte ein Zusammenbruch, was mich bis zu einem gewissen Grade zur Oberflächlichkeit zwang. Freilich, das Gefüge der Welt ist kein oberflächliches Werk, denn damals trug mich die Leidenschaft der ersten Jugend; aber die Unsterblichkeit hat Untiefen, und dieses nur, weil meine Nerven zur Zeit seiner Entstehung nicht gesund waren. Wären sie dies gewesen, dieses Werk, das meinem Herzen näher liegt als alle anderen, wäre nicht schlechter ausgefallen als die Prolegomena; denn konzipiert habe ich diese ja im gleichen Jahr, nur glücklicherweise erst drei Jahre später ausgearbeitet. Tiefsinn als Triebkraft ist eine unmittelbare Funktion der nervösen Energie: wer sein Gehirn nicht anspannen darf, kann nicht tief denken, so tiefe Intuitionen ihm immer kommen mögen. Es scheint ja wohl gewagt, Gedankentiefe am Dynamometer messen zu wollen, aber es ist möglich, weil die Durchdringungskraft der geistigen Strahlen vom Grade ihrer Sammlung abhängt, und diese ihrerseits von der vorhandenen Nervenkraft. Aber mit dieser Feststellung ist die Bedeutung der Konzentration für die Entwicklung nicht erschöpft. Je mehr der Geist sich sammelt, desto ruhiger wird er, desto leistungsfähiger als Instrument. Solange die Oberfläche in ständiger Bewegung ist, können die Intuitionen aus der Tiefe nicht stetig hindurchscheinen; sie mögen noch so oft hervorblitzen, die Dauer der Belichtung ist zu kurz, um die Oberfläche zu transfigurieren. Der gesammelte Intellekt läßt nicht allein die Intuitionen hindurch, er wird ihnen zum gefügigen Organ, so daß die ganze Psyche zuletzt zum Ausdrucksmittel des innersten Lichtes wird. So finde ich mich von Jahr zu Jahr voller werden. Anstatt daß der kalte Verstand mehr und mehr über die lebendigen Kräfte der Seele das Übergewicht gewinnt, entwickle ich mich umgekehrt vom Verstandesmenschen wachsender Konkretheit zu; der Intellekt wird mir immer mehr zum gefügigen Ausdrucksmittel, nachdem er einstmals mein Beherrscher war. Alle diese Fortschritte sind unmittelbare Folgen der zunehmenden Konzentration. Auf allen Gebieten, den schönen Künsten bis zu einem gewissen Grade ausgenommen, schafft das Alter das Bedeutendste, obschon die Produktionskraft als solche wohl bei allen Menschen in den dreißiger Jahren am größten ist. Das liegt daran, daß der Geist erst spät den Grad der Sammlung erreicht, der ihm das längst Erfundene ganz zu fassen erlaubt.

Das Vorbildliche an der indischen Kultur beruht darauf, daß sie wie keine andere auf Konzentrierung allen Nachdruck gelegt hat. Was ich im Vorhergehenden über die Yoga ausgeführt habe, bezeichnet ja nur einen Bruchteil dessen, was dieser Begriff dem Inder umfaßt: ihm umfaßt er alles Bildungsstreben überhaupt. Bei der Steigerung der Fähigkeiten zur Erkenntnis handelt es sich schließlich um ein Technisches; es liegt, in wie verschiedener Richtung immer, auf einer Ebene mit unseren Bestrebungen, uns die Kräfte der Außenwelt dienstbar zu machen. Wir haben vermittelst eines gegebenen Werkzeugs die Welt verwandelt, die Inder sich in erster Linie der Vervollkommnung des Werkzeuges gewidmet, und nur in Rücksicht auf vorausgesetzte praktische Zwecke ist eine Entscheidung möglich darüber, welche Alternative vorzuziehen sei. Indiens absoluter Vorzug vor dem Westen beruht auf der Grunderkenntnis, daß Kultur im eigentlichen Sinne nicht auf dem Wege der Verbreiterung, sondern nur dem der Vertiefung zu erringen sei, und daß das Tieferwerden vom Konzentrationsgrade abhängt. Ein konzentrierter Mensch ist niemals oberflächlich; in der Richtung, nach welcher zu er sich verdichtet hat (was freilich nicht alle und nicht die wesentlichsten zu sein brauchen), ist er notwendig tief. Deswegen behauptet die indische Weisheit, daß Religiosität und Moralität erarbeitbar seien; nicht zwar lehrbar im sokratischen Sinne, aber erreichbar jedem Einzelnen auf dem Wege bewußter Selbstkultur. Nur der Oberflächliche könne irreligiös sein; sobald die Tiefe der Seele durch die Oberfläche hindurchscheint, entstehe Gottesbewußtsein. Nur der Oberflächliche könne zweifeln an dem Unterschied zwischen Gut und Böse, denn es handele sich um objektiv wirkliche Verhältnisse, die man entweder wahrnimmt oder nicht; und der vollendet Vertiefte könne nur Gutes wollen. Deswegen komme alles auf Selbsterziehung, auf Yoga an. Es sei absolut gleichgültig im Prinzip, als wer man anhebe: als Atheist oder Theist, als Immoralist oder Skeptiker; Ansichten und Meinungen seien immer irrelevant; man müsse wissen. Das Wissen aber ergebe sich von selbst mit fortschreitender Verinnerlichung.

Daß der Grad des religiösen Realisierens (im weitesten Sinne) und des moralischen Unterscheidungsvermögens von der Tiefenlage abhängt, in der eines Menschen Bewußtsein wurzelt, ist gewiß. Und daß der Mensch vertiefungsfähig ist, kann ebensowenig bestritten werden. Die Besten im Westen haben dies auch immer erkannt. Aber Indien allein hat es verstanden, diese Erkenntnis fruchtbar zu machen für die weiteste Praxis. Das ist, wie gesagt, das Vorbildliche dieser Kultur. Wir werden gut tun, ihr baldmöglichst hierin nachzueifern. Was ist denn der Kern alles dessen, was uns an unserem Zustande tadelnswürdig scheint? daß unsere aufs äußerste differenzierten Kräfte zu dermaßen selbständigen Wesenheiten herangewachsen sind, daß deren Zentralisierung nicht mehr gelingen will, weswegen alles, was nur aus dem Zentrum hervorgehen kann, zu sein aufhört. Vom höchstentwickelten modernen Kulturmenschen heißt es, daß er nicht mehr zu lieben wisse. Allerdings nicht: er besitzt wohl sämtliche Elemente, die zur Liebe gehören, und in reicherer Ausgestaltung vielleicht als irgendein früherer, aber deren Synthese gelingt ihm nicht. Die Sinnlichkeit geht ihre besonderen Wege, desgleichen die Idealität, desgleichen die gefühlsmäßige Zuneigung und so fort. Zur vollen Liebe kommt es nicht, außer im Paroxysmus der Leidenschaft. Folgerichtig wird denn zu unserer Zeit die Leidenschaft als solche verherrlicht, wird die Naturkraft wie nie vorher über alles hochgeschätzt; wieder einmal wird von den Dächern sämtlicher Großstädte »zurück zur Natur« geschrien. Das sind ebensoviel Mißverständnisse. Die Leidenschaft bezeichnet auch beim Tier eine Krisis, und alle Großtaten, die während ihrer vollbracht werden, bedeuten nichts; in der Leidenschaft erweisen sich Schwächlinge als stark, Feiglinge als mutig, und bleiben doch wesentlich, was sie waren. Was aber das »Zurück zur Natur« betrifft, so kann eine erreichte Kulturstufe durch Hinabsteigen nimmer überstiegen werden. Freilich sollen wir wieder unmittelbar werden, aber Unmittelbarkeit und Tierischsein sind nicht Wechselbegriffe. Um auf das Beispiel der Liebe zurückzukommen: animalische Sinnlichkeit wird vielfach als ihr Ganzes betrachtet, weil sie ein Unmittelbares ist, was von ihren höheren Formen selten gilt. Wirklich scheint die Sinnlichkeit das Ganze der Liebe zu werden, wo ein Kulturvolk seiner Erschöpfung nahekommt; so geschah es bei den späten Römlingen, so wird es heute mehr und mehr in allen entarteten Kreisen Westeuropas. Aber wo die Lebenskraft noch nicht erschöpft ist, dort gibt es einen besseren Weg zur Unmittelbarkeit: über die Differenzierung hinaus durch Konzentration. Das ist der Weg, den Indien gegangen ist, das ist der, auf dem wir jetzt weiterschreiten müssen.

Dieser Weg, er allein, führt über unseren heutigen Zustand hinaus. Es gilt, durch Konzentration die emanzipierten Kräfte dem zentralen Leben wieder zuzuführen, aus Streikern zu dienstwilligen Organen zu machen. Nichts an unserem Zustande brauchen wir zu verleugnen. Die in der Geschichte der Menschheit unerhörte Breite der modernen Seele darf nicht eingeschränkt werden, denn sie bezeichnet ein absolutes Plus; die ungeheure Differenziertheit unseres Wesens ist ein Vorzug. Wir müssen nur diesen ganzen, so wunderbar reichen Körper von der gleichen Tiefe her beseelen, in welcher der Inder lebt; wir müssen die Oberfläche, deren allein der moderne Mensch sich meistens bewußt ist, zum Spiegel der Tiefe machen, und die Organe aus Selbstzwecken wieder zu Ausdrucksmitteln. Gelingt uns dies, so werden wir ohne jeden Zweifel zu Vertretern des höchsten Menschheitszustandes werden, der bisher dargestellt worden ist. Je reicher die Ausdrucksmittel, desto besser kann der Sinn sich manifestieren; Gott, dem das Weltall zum Ausdrucksmittel dient, ist eben deshalb mehr Gott als der Mensch. Aber andererseits: je reicher die Mittel, desto größerer Kraft bedarf es, sie zu beherrschen. Deshalb ist die Aufgabe für uns viel mühsamer als für die Inder. Wie oft habe ich neidvoll geseufzt, indem ich sie ansah: wie leicht habt ihr's, tief zu sein! Eure Fläche ist so gering, euer Leib so mager, daß es nicht eben schwer halten kann, eure ganze Natur zum Ausdrucksmittel des Geistes zu machen. Wir fetten, reichen Europäer müssen es uns sauer werden lassen, um nur einen Teil eures Weges zu durchmessen ... Dann aber sagte ich mir: gelingt uns nun, was euch gelang – werden wir dann nicht Übermenschen sein? – Nietzsches Übermensch grenzt nur die physiologische Basis ab, bezeichnet sonach einen Weg, vielleicht den Westländerweg, aber nicht das Ziel. Die Übermenschen der Theosophie, die Meister, sind zu weltentrückt, zu menschheitsfern, um uns als Vorbilder voranzuleuchten. Ich weiß nicht, wie beschaffen der Übermensch sein wird. Aber sicher wird er, wenn überhaupt, aus der Konzentrierung unserer sämtlichen Kräfte hervorgehen.

 

Daß das Vorbildliche der indischen Kultur nicht früher erkannt worden ist und, wo dies geschah, nicht immer zu gutem Ende, liegt an der Unfähigkeit der meisten, einen Sinn unabhängig von der Erscheinung zu erfassen. Eine Erscheinung ist nirgends übertragbar, ohne daß sie Schaden stiftete; sie ist überall das Produkt bestimmter, nur einmal vorhandener Verhältnisse und daher nur einem bestimmten Zustande gemäß. Wenn schon die Anglomanie noch keinen gefördert hat, so gilt dies in erhöhtem Maße von der Indomanie, und am meisten bezüglich des Bedeutendsten an Indien: seiner Konzentrationskultur. Es ist sehr bezeichnend, daß die indischen Atemübungen, welche der Svami Vivekânânda durch seine Vorträge in Amerika populär gemacht hatte, keinem einzigen Amerikaner zu einem höheren Zustande verholfen, aber desto zahlreichere in Krankenseitigkeit und Irrenhäuser gebracht haben sollen. Hatha-Yoga gilt schon in Indien als nicht gefahrlos; viele Übungen sind von allen Autoritäten schon längst als unbedingt schädlich gebrandmarkt worden und erhalten sich nur dank der unausrottbaren Neigung aller Menschen, das Bedenkliche dem Unbedenklichen vorzuziehen. Aber selbst von den harmlosesten unter ihnen ist nicht erwiesen, ob sie Europäerorganismen angemessen sind; es könnte sein, daß sie alle den meisten mehr schaden als nützen. So förderlich Atemübungen im allgemeinen sind – über die Richtigkeit der Idee, daß das Atmen gleichsam das Schwungrad des ganzen psychophysischen Organismus bezeichnet und daß vollendete Kontrolle des Atems zu Selbstbeherrschung in jedem Sinne führt, besteht kein Zweifel –, welche besonderen in Frage kommen, hängt ganz von den jeweiligen empirischen Umständen ab. Das Vorbildliche an der indischen Konzentrationskultur ist deren Grundidee, nicht die spezifische Erscheinung. Was diese betrifft, so kann schwer geleugnet werden, daß sie vom Standpunkte unserer Ideale nicht wenig zu wünschen übrig läßt; das meiste von dem, was unseren Stolz ausmacht, fehlt in Indien. Aber die Inder haben auch nie unsere Ziele verfolgt; also kann man ihnen ihr Versagen nicht zum Vorwurf machen.

Um das wahrhaft Vorbildliche an ihrer Kultur zu erfassen, ist es gut, anstatt an indische, an okzidentalische Erscheinungsformen der gleichen Idee zu denken (die im Westen freilich nie als solche bewußt die Entwicklung bestimmt hat): z. B. die Engländer als Nation und gewisse höchste amerikanische Geschäftsmänner-Typen. Die Naturanlage des Engländers ist beschränkter als die des Deutschen und des Russen; aber jener bringt doch mit seinem Wenigen mehr zustande, als diese mit ihrem Überfluß. Man staunt oft über die Vielseitigkeit englischer Aristokraten, die heute Journalisten, morgen Vizekönige, übermorgen vielleicht Handelsminister sind, und wenn sie gerade Zeit haben, gute Werke historischen oder philologischen Inhalts schreiben. Nun könnte, was die Vielseitigkeit als solche betrifft, Deutschland sowohl als Rußland einem vielseitigen Briten ein Schock weit vielseitigerer entgegenstellen; aber jener allein weiß seinen Reichtum so zu organisieren, daß jedes einzelne Element sich als produktiv erweist. Der Engländer hat sich mehr in der Hand als irgendein Europäer; eben deshalb wirkt er als der tiefste; als der tiefste im menschlich-charakterlichen Sinne. Er ist trotz seiner Kulturhöhe ganz ungebrochen, ganz unzersetzt, fest verankert in seinem lebendigen Grund, wie kein anderer überlegen. Das verdankt er der Yoga. Nicht der indischen zwar, aber der, welche Puritanismus und Methodismus durch ihren Ideengehalt entstehen ließen; einer Konzentrationskultur nicht minder intensiv, wie abweichenden Charakters immer, als die von Indien. – Das andere okzidentalische Beispiel für die Bedeutung der indischen Grundidee liefern die ersten der amerikanischen Geldkönige. Wer immer solchen begegnet ist und sie nach der Formel ihres Schaffens gefragt hat, wird die Antwort erhalten haben: wir arbeiten mit der Intuition allein; Reflexion führt nicht schnell genug vorwärts. Das heißt, sie operieren dauernd mit dem Vermögen, das der gewöhnliche Mensch nur ausnahmsweise ausübt, meist nur beim Planen und in wichtigsten Entscheidungen, die keinen Aufschub dulden. Und das heißt weiter: sie haben eine Entwicklungshöhe erreicht, auf welcher das Außergewöhnliche normal, das Äußerste zur Basis geworden erscheint. Eben dies gilt von den indischen Yogis. Was diesen den absoluten Vorrang gibt in der Idee, so daß man vor der Ewigkeit recht hat, indem man von westlichen Erscheinungsformen des indischen Grundgedankens spricht, ist, daß sie allein Sinn und Wert ihres Tuns erfaßt haben. Erkenntnis ist das Wichtigste auf dieser Welt; erst eine erkannte Wahrheit wird ganz produktiv. Uns kann es gleichgültig sein, ob die Inder selbst es weit gebracht haben oder nicht. Aber ewig werden wir ihnen Dank wissen müssen dafür, daß sie den Sinn dessen erfaßt und geoffenbart haben, was von jeher, ob noch so unerkannt, die Seele alles inneren Fortschreitens war. Dank dieser Erkenntnis werden wir nunmehr, jedes Volk und jeder Einzelne in der Richtung, die seine Naturanlagen ihm weisen, zehnmal schneller vorwärts kommen als bisher.

 

Alle höchsten, alle gesteigerten Lebensausdrücke bezeichnen ebensoviel Wirkungen der Konzentration; diese bedingt mit Unvermeidlichkeit Vertiefung. In welchem Sinne sie tief macht, hängt davon ab, in welchem Geiste und zu welchem Ende sie geübt wird; jeder nur denkbaren Bildung kommt sie zugute. Aber freilich: wem es um Wesenserkenntnis und um Heiligung zu tun ist, der wird immerdar den Indern nachzueifern haben. Desgleichen der Künstler, der im selben Sinne Wesenhaftes schaffen will wie sie, und ihre größeren Schüler im fernen Osten. Schon sind wir uns ja leidlich dessen bewußt, daß unsere Kunst an seelischem Ausdruckswert die der alten Kulturvölker des Orients nicht erreicht; auch das wissen wir, daß dieses irgendwie mit dem Nicht-Naturalismus der letzteren zusammenhängt. Aber was das eigenste Wesen orientalischen Kunstschaffens ist, darüber sind sich die meisten nicht klar; sicher nicht, denn sonst verfielen sie nicht darauf, die buddhistische Kunst mit der griechischen zu vergleichen, und die Jungen überlegten es sich zweimal, ehe sie den Sinn, den sie meinen, mit östlichen Formmitteln darzustellen versuchten. Denn dieses kann zu keinem guten Ende führen: der Sinn der Kunst des Ostens ist ein ganz anderer als der der westlichen, und nur ihm sind jene Formen entsprechende Ausdrucksmittel.

Welches ist der Sinn der spezifischen »Stilisierung« (das Wort ist schlecht), welche in allen östlichen Bildwerken zutage tritt? – Sie bedeutet nicht Vereinfachung im Geiste der Vernunft. Die Typik der Griechen, die, mehr oder weniger offenbar, aller westlichen Kunst seither zugrunde liegt, ist rationellen Ursprungs. Von allen möglichen Verbindungslinien zwischen zwei Punkten ist die gerade die kürzeste; von allen konstruierbaren Bewegungen zum Ziel ist die zweckmäßigste die beste; von allen denkbaren architektonischen Anordnungen ist die vollkommenste die, welche den inneren Gesetzen der geplanten mathematischen Figur, des benutzten Materials und der Idee, die ein Gebäude verkörpern soll (als Tempel, als Palast usw.), zugleich am vollständigsten Rechnung trägt: das sind Axiome aller rationellen Kunst. Die nur eine geringe Umkleidung, keine Umdeutung erleiden, wenn der ästhetische Schwerpunkt vom Werk in den Beschauer hinübergelegt wird: in diesem Falle wird von allen Formen denen der Vorzug zuerkannt, die im Bilde das am stärksten realisieren, was im vorher Betrachteten vom Werk als solchem verwirklicht wird. Aus diesem Geiste sind die Kurven des Parthenons, Michelangelos Contraposto und die noch so komplizierte Rhythmik Rodins hervorgegangen. Es ist der Geist der reinen Vernunft. Er ist fruchtbar geworden durch Konzentration. Genau im selben Sinne, wie Konzentration der Vernunft auf einen Naturvorgang zur Entdeckung einer Formel führt, die dem Geiste dessen Gesetz und mithin dessen Wesen viel faßbarer erscheinen läßt, als er in konkreter Verkörperung erschien, genau so führt Konzentration der Vernunft den Künstler zur Erfindung einer Form, die in der Vereinfachung dem Auge deutlich macht, was es in der Natur nur zu leicht übersieht. Man lasse sich nicht beirren durch den Umstand, daß Künstler der Überlegung meist abhold sind und aus reinem Gefühl heraus zu schaffen behaupten, daß die Wirkung, die ein Kunstwerk ausübt, weit reichere Befriedigung gewährt, als die Erfüllung bloßer Vernunftforderungen gewähren könnte: weder hängt die Existenz eines Vorganges von dessen Bewußtwerden ab, noch beweist die Vielfachheit der Wirkung, daß die Ursache nicht einfach gewesen wäre. Der Mensch ist wesentlich ein Vernunftwesen, weshalb das Vernunftgemäße, wo es in ansprechender Verkörperung erscheint, sämtliche Lebensgeister wachruft, während umgekehrt sämtliche Geister an der Schöpfung des Vernunftgemäßen beteiligt gewesen sein mögen. Alle spezifisch-westliche Formgebung beruht im Prinzip auf Konzentration der Vernunft.

Nun ist auf diesem Wege nur das am Leben zu fassen, was von außen nach innen zu ergriffen werden kann. Deswegen hat unsere bildende Kunst das nie zum Ausdruck gebracht, was unsere Musik und Poesie zu sagen vermocht haben. Beider Angelegenheit ist, Gefühlen einen Körper zu geben; die Poesie ist den artikulierten gewachsen, den unartikulierten, lebendigsten, tiefsten die Musik allein. Weswegen mißlingt es, diese Subjektivitäten im Bilde zu objektivieren? Weil noch so große Vernunftkonzentration nie ins Innere der Seele führt. Da wir als Bildner immer Rationalisten gewesen sind, so haben wir »Seele« im Bild nie unmittelbar zum Ausdruck bringen können, so wunderbar uns dies in der Musik gelang. Unsere Madonnen, unsere Heiligen, unsere Christusgestalten sind irdische Wesen durchaus; nicht spiritueller deshalb, weil ihre Gebärden seelische Erregung verraten. Die einzigen Ausnahmen, die ich wüßte, bezeichnen einige Meisterwerke des Frühmittelalters, die aber auch eines anderen Geistes Kinder sind, und die Gemälde Peruginos. Aber bei diesen letzteren beruht der religiöse Charakter, wie Berenson nachgewiesen hat, nicht auf unmittelbarer Verkörperung des religiösen Geistes, sondern auf einer besonderen Raumbehandlung, die im Beschauer religiöse Assoziationen wachruft. Um Seele unmittelbar zum Ausdruck bringen zu können, müßte die sichtbare Form eben unmittelbarer Ausdruck der Seele sein, mithin in der Konzentration eines anderen als der Vernunft ihren Grund haben. Sich in diesem Sinne zu konzentrieren, haben die Künstler des Westens nie verstanden.

Eben das haben die des Ostens vermocht, dank welchem sie Schöpfungen hervorgebracht haben, denen wir gar nichts zur Seite stellen können. Vom Standpunkte der Vernunft ist freilich kein Werk des Orients den hellenischen ebenbürtig, aber von der Vernunft her sind sie nicht zu beurteilen. Sie entspringen der gleichen Tiefe des Lebens, wie bei uns nur Poesie und Musik. Damit erscheinen denn alle Maßstäbe verschoben. Rationalität kommt unmittelbar nicht in Frage (obschon sie immer auch nachzuweisen ist, da der Mensch nun einmal ein Vernunftwesen ist); die sichtbare Form ist unmittelbarer Wesensausdruck und als solcher oft gerade dort am überzeugendsten, wo der Sinn mit dem Verstand gar nicht zu fassen ist, wie beim Lachen des Kindes oder der Laune einer Frau. Immer wieder muß ich des tanzenden Shiva gedenken im Museum von Madras: diese vielarmige, anatomisch unmögliche Bronze verwirklicht eine Möglichkeit, die kein Grieche je auch nur hat ahnen lassen – eben einen ausgelassenen Gott; der mutwillig die Welt zertanzt. – Wie gelangt man zu solcher Schöpfung? Nur durch Realisieren des Gottes in uns selbst und durch das Vermögen, dieses unmittelbare innere Erleben unmittelbar in der Sichtbarkeit wiederzugebären. Dieses scheinbar Unmögliche haben die Künstler des Orients vermocht. Und es ist ihnen gelungen eben dank dem, was meine Aufzeichnungen alle diese Tage über behandelt haben: ihrer Kultur der Konzentration. Wir wissen wenig oder nichts von den großen Künstlern Hindustans. Aber von denen Chinas oder Japans, ihren Erben, wissen wir, daß sie sämtlich Yogis waren, in der Yoga den einzigen Weg zur Kunst erblickten. Wohl zeichneten und malten sie in ihren ersten Schülerjahren mit ernstester Ausdauer nach der Natur, um zu vollkommenen Beherrschern der Ausdrucksmittel zu werden; aber dies galt ihnen bloß als Propädeutik; das Eigentliche war ihnen die Versenkung. Sie versenkten sich in sich selbst, oder in einen Wasserfall, eine Landschaft, ein Menschenantlitz, je nachdem, was sie darstellen wollten, bis daß sie völlig eins geworden waren mit ihrem Objekt, und dann schufen sie von innen heraus, unbekümmert um alle äußere Norm. Von Li Lung-Mien, dem Meister der Sung-Dynastie, wird überliefert, daß seine Hauptbeschäftigung nicht aus Arbeiten bestand, sondern darin, an Bergesabhängen oder am Bachgestade zu meditieren. Tao-tse ward einst vom Kaiser aufgefordert, eine bestimmte Landschaft abzubilden. Er kehrte ohne Skizzen, ohne Studien zurück und erwiderte auf erstaunte Fragen: »Ich habe die Natur im Herzen mitgebracht.« Kuo Hsi lehrt in seiner Schrift über die Landschaftmalerei: »Der Künstler muß sich vor allem in seelische Verbindung setzen mit den Hügeln und Bächen, die er malen will.« Innere Sammlung galt diesen Künstlern wichtiger als äußere Ausbildung. Und freilich: der vollkommen Verinnerlichte steht über der Vernunft, denn seinem Geist sind deren Gesetze immanent; er braucht sie nicht mehr zu befolgen, gleichwie der Wissende jenseits von Gut und Böse steht. Wie dessen Wissen unwillkürlich all sein Tun beherrscht, so lenkt das des Künstler-Yogis unfehlbar die kapriziöseste Linienführung. Die Rhythmik ostasiatischer Zeichnung ist nicht rationellen Ursprungs: sie ist innere Rhythmik, wie die der Musik. Man halte ihr nur die Schematik Leonardos oder Dürers gegenüber, und sofort sieht man, worin der Unterschied besteht: ist diese durch Konzentration der Vernunft entstanden, welche notwendig zur Entdeckung objektiver Regeln führt, so ist jene das Ergebnis reiner Selbstbesinnung, die zur Form verdichtete reine Subjektivität. So ist dem Osten gelungen, was dem Westen noch niemals gelang: das Göttliche als solches sichtbar darzustellen. Ich kenne nichts Erhabeneres auf dieser Welt als die Gestalt des Buddha; sie ist eine schlechterdings vollkommene Verkörperung des Spirituellen im Reiche der Sichtbarkeit. Und dies nicht dank dem Ausdruck der Ruhe, der Beseeltheit, der Innerlichkeit, welchen sie trägt, sondern an sich, unabhängig von aller Übereinstimmung mit Entsprechendem in der Natur.

 

Vielleicht wäre das Herz des Yogagedankens am zeitgemäßesten (denn in jeder besonderen Periode erscheint den gleichen Ideen eine spezifische Verkörperung am gemäßesten) in folgendem Satz auf europäisch wiederzugeben: es ist die Bestimmung des Menschen, über das Menschentum als Naturbestimmtheit hinauszugelangen, und von ihm allein hängt es ab, ob und wieweit er sie erfüllt. Von allen Lastern ist Trägheit das schlimmste: nie darf er sich ihm überantworten. Er soll nicht etwa arbeiten um jeden Preis, gemäß dem Imperativ des Westens – wie sinnlos käme den Rishis unsere Vergötterung der Arbeit vor! –, sondern unentwegt danach trachten, dem ewigen Geist, der ihn beseelt, zum Ausdruck zu verhelfen, indem er das Positive in sich potenziert und das Negative in Positives umwandelt. Im übrigen führt jeder Weg zum Ziel, und jeder kann es erreichen. Wie Sri Krishna zu Arjuna in der Bhagavat-Gîta sagt: wie immer die Menschen mir nahen, ebenso nehme Ich sie an; denn alle Wege, die sie wandeln können, sind Mein. So ist es. Eine Urkraft durchströmt das Universum, alle Gestaltung bedingend, beseelend, in aller sich manifestierend; so ist jede nicht allein Ausdruck, sondern ein möglicher vollendeter Ausdruck des Göttlichen, und Vollendung ist das Ziel. Jede Gestaltung ist fähig, nicht trotz, sondern in ihrer Eigenart, die Gottheit zu realisieren; ob es ihr gelingt, hängt vom Geiste ab, aus dem heraus sie lebt. Lebt sie aus dem Geiste der Tiefe heraus, dem der äußersten inneren Wahrhaftigkeit, so kommt auch der Verbrecher zu Gott, denn nichtig ist der Unterschied vor Ihm zwischen guten und bösen Zuständen als solchen. Der Verbrecher, der im Geist der Wahrhaftigkeit Übles tut, erkennt früher oder später sein Mißverständnis und verwandelt sich, wie der Schächer am Kreuz neben dem Heiland, wie die Marquise de Brainvilliers auf dem Schafott, und in der Verwandlung ist der alte Zustand aufgehoben. Solche Verwandlung besteht aber immer in Erkenntnis. Alle Wege führen zu ihr hin. Die kürzesten von allen sind die altempfohlenen der Liebe, der selbstlosen Arbeit, des Verstehenwollens, aber auch die des Egoismus und des Nicht-Wissen-Wollens führen hin, sofern sie im Geiste der Wahrheit betreten werden, denn früher oder später kehren die, so sie wandeln, um. Und alle münden ein in der Erkenntnis. Die Erkenntnis ist die Erlösung. Sobald die Kreatur ihr wahres Wesen erkannt hat, wird sie zum Ausdrucksmittel Gottes, und alles erglänzt in göttlichem Licht. Dann gibt es die Gegensätze von Gut und Übel nicht mehr, von Glück und Unglück, Wohl und Weh; dann härmt kein Ungemach die Seele mehr; dann wird das Leben, der Sonne gleich, zu einem einzigen Quell reinen Gebens. Gut und Übel sind Gegensätze nur vom Standpunkte der Unwissenheit. Freilich bestehen sämtliche Tatsachen, auf welchen der Unterschied im Urteil beruht, und werden fortbestehen solange wie die Welt, denn anders könnte es kein Geschehen geben. Welche Verblendung, auch nur zu hoffen, daß es einstmals objektiv anders würde! Was sich ändern kann, ist die menschliche Bewußtseinslage. Hat sich der Mensch endlich mit seinem wahren Wesen identifizieren gelernt, dann sieht er in den Widerwärtigkeiten des Lebens kein größeres Übel mehr, als in den Widerständen der Gefäße, dank welchen dem Blut sein Kreislauf durch den Körper allererst möglich wird.

Ich habe in aller Unbefangenheit von Kind auf in vielen wesentlichen Hinsichten indisch gedacht; und wie mir dann die Upanishads in die Hände kamen, da freute ich mich nicht wenig, aber sagte mir stolz: was die wissen, das alles weißt du auch. Man erkennt sein Nicht-Wissen immer erst dann, wenn man zum Wissenden geworden ist. So kann ich erst jüngst, seit ich mit dem Geiste Hindustans persönliche Fühlung gewonnen und mich von seinem lebendigen Einflusse habe durchdringen lassen, ermessen, wie wenig ich damals wußte von dem, was die Inder eigentlich gemeint haben. Ich erkannte in den Upanishads mich selber wieder nur deshalb, weil ich mich selbst in sie hineingelegt hatte. Freilich ist der Geist der Tiefe wesentlich Einer überall; so meinen alle tiefen Geister wesentlich gleiches; so verstanden sich Yajnavalkya, Laotse und Eckhart sicherlich bei ihrer ersten Begegnung im Elysium. Aber die wesentliche Einheit schließt Unterschiede in der Erscheinung nie aus; was ich vorhin niederschrieb, war eine Übersetzung, nicht das Original; als Erscheinung ist die indische Weisheit ein ebenso Spezifisches wie nur irgendeine individuelle Lebensform. Wäre sie das nicht, sie hätte niemals Leben schaffen können; nur durch Individuen, nicht durch Allgemeinheiten hindurch setzt sich das Leben fort. Jüngst erfuhr ich, daß der Familienguru jedem Hindukinde bei dessen Einweihung einen besonderen Namen schenkt, vermittelst dessen es zu Gott beten solle. Dieser Name ist sein schlechthiniges Eigentum; keinem teilt es ihn mit, keiner darf es nach ihm fragen; es wird vorausgesetzt, daß es allein im Weltall diesen Namen kennt, durch ihn in einzigartiger Beziehung zur Gottheit steht. Dies ist eine Illustration mehr der gleichen Wahrheit. Nur Eigenartiges, Individuelles, Persönliches, Ausschließliches kann ein lebendiges Gefäß des Universellen sein. So ist denn die indische Weisheit, trotz ihrer Universalität, eine Monade, in welche keiner eindringen kann, welchen sie nicht besitzt.

Mir ist, als besäße sie mich nun. Mehr und mehr erlebe ich auf indisch, sehe ich die Welt und das Leben im Lichte der geistigen Sonne Hindustans. Ich will diese letzten Tage, die mir für Benares noch übrigbleiben, damit verbringen, mir über die Sonderart der indischen Weisheit Rechenschaft abzulegen. Aber heute ist es zu spät, um zu beginnen. Schon schläft die ganze Stadt. Und morgen beim Tagesgrauen will ich wieder, wie so oft, auf dem Ganges sein, den Segen der ersten Sonnenstrahlen zu empfangen.

 

Keine Weltanschauung der Welt vertritt mit gleichem Radikalismus wie die indische die Überzeugung, daß im Bereiche des Lebens der Sinn den Tatbestand schafft. Was einer tut, sei an sich völlig gleichgültig; es komme darauf an, in welchem Geist er es tut. – So ist es. Man verfolge diese Ansicht noch so weit, bis zu ihren verstiegensten Konsequenzen hinan: überall wird man ihr Prinzip bestätigt finden. Wie viele Europäer hat die These der Bhagavat-Gîta befremdet, daß von dem, welcher das Selbst realisiert hat, alle Handlungen abfallen, so daß es kein Gut und kein Böse für ihn mehr gibt! Und doch spricht sie durchaus wahr, wie aus zeitgemäßerer Fassung des gleichen Gedankens sofort erhellt: wer immer nur tut, was seinem tiefsten Wesen gemäß ist, tut notwendig recht, welchen Eindruck immer sein Handeln auf andere machen mag. Man könnte ja meinen – wie in der Tat alle Philister wähnen –, das Handeln des Gottmenschen müßte immer und allen als gut erscheinen, aber das ist nicht richtig, nicht möglich. Es könnte so sein, wenn alle gleich tief verinnerlicht wären wie er; aber da diese Voraussetzung nicht zutrifft, so dünkt sie sein Handeln häufig tadelnswert, wie die üblichen Verfolgungen der geistlich Großen zur Genüge beweisen. Man nehme die banalste Unterscheidung, die zwischen Ego- und Altruismus. Im allgemeinen gilt als gut, auf die Gefühle und Wünsche anderer Rücksicht zu nehmen; wer das nicht tue, sei tadelnswert. Aber kein wahrhaft tiefer Mensch kann Altruist in diesem Sinne sein, da er bei anderen nicht mehr als bei sich selbst in der Neigung ein genügendes Motiv erblickt; er tut den Menschen das an, was deren Weiterkommen am meisten fördert, und nur zu häufig kommt dieses unerwünscht; er macht sie öfter unglücklich als glücklich, tritt ihre Wünsche häufiger mit Füßen, als daß er sie erfüllt. Da er keinen Egoismus mehr hat, so kennt er notwendig auch keinen Altruismus mehr. – Ein anderer Fall, der die Wahrheit der indischen Lehre gut illustriert, ist der des großen Staatsmanns. Einem solchen wird, nachträglich wenigstens, allgemein zugestanden, daß er jenseits von Gut und Böse steht, aber weshalb? Weil, wie alle dunkel ahnen, die Bedeutung seiner noch so blutigen Handlungen mit diesen nicht zusammenfällt. Wer im Strudel der Welt, vermittelst der Welt, ein Ideal verfolgt, kann nicht so rein durchs Leben schreiten wie der Anachoret; er wird, je nach der Zeit, in der er lebt, mehr oder weniger Unheil anrichten müssen, weil er, so oder anders, mit den bösen Mächten als äußeren Tatsachen zu arbeiten hat. Aber was er da Böses tut, geht sein tiefstes Selbst nichts an; es tangiert ihn nur im Sinn der Erbsünde, des Rassenkarmas (wie denn jeder für die Gebrechen seiner Zeit mitverantwortet, am Verschulden aller mitschuldig ist); blutbefleckt, mag er doch wesentlich rein sein. Über den wesentlichen Charakter eines Menschen entscheidet der Geist, in dem er lebt. Wer daran noch zweifeln sollte, der bedenke, daß es sich beim Täter und beim Heiligen um eben das Verhältnis zwischen Tatsache und Bedeutung handelt, wie bei dem, welcher, pflichtmäßig tötet. Keiner brandmarkt den Richter, der ein Todesurteil fällt, als Mörder, noch den Soldaten, der in der Schlacht noch soviel Feinde niederschoß. Das Pflichtmäßige wertet den Sachverhalt um. Das gleiche gilt überall vom Geist, in dem etwas geschieht: er entscheidet letzthin über den Tatbestand. Dies haben die Inder mit unerreichter Klarheit erkannt.

Aber sie haben diese Erkenntnis so sehr ihr ganzes Leben bestimmen lassen, daß es für sie überhaupt keine Facta gibt, sondern nur Symbole. Die Bedeutung gilt dermaßen als Primäres gegenüber dem Faktischen, daß diesem aller Eigensinn genommen scheint. Nun haben aber die Tatsachen einen solchen, und dieser bleibt unberücksichtigt. So ist es nicht zu verwundern, daß sie Rache nehmen. Die Nicht-Anerkennung faktischer Zusammenhänge (wie solche neuerdings unter uns die Christian Science bewußt und systematisch betreibt) wäre gut genug, wenn die Psyche wirklich die Macht hätte, alle anderen Wirklichkeiten zu verwandeln. Die hat sie nicht; sie kann sie beherrschen, nur sofern sie sie anerkennt. Wir sind zu Beherrschern der Natur geworden, weil wir gelernt haben, ihre Gesetze nicht zu ignorieren, sondern auszunutzen. Die Inder ignorieren sie durchaus. Sie leben in einer Welt rein psychischer Verknüpfungen, die als solche wirklich genug und fast immer tiefsinnig konstruiert sind, so daß, wer über sie nachdenkt, von ihrer inneren Wahrheit beeindruckt wird. Aber diese psychischen Bande sind weniger stark und fest als die objektiven der Natur; wo beide in Streit geraten, dort siegt diese. So daß man im Inderleben überall einem seltsamen Zweispalt gegenübersteht: im höchsten Grade Sinnvolles und innerlich Wahres bedeutet praktisch dennoch Aberglauben; noch so gut Begründetes vom Standpunkt der Psyche stellt sich faktisch doch als Willkürverknüpfung dar. So ist der freilich im Irrtum, der aus der Erkenntnis der unzulänglichen Tatsachen heraus über den Sinn entscheiden zu können glaubt; aber andrerseits hilft dieser zur Praxis des Lebens gar wenig. Das Inderleben ist niemals vorbildlich gewesen. Die Führer des Volkes haben verkannt, daß der Sinn sich nur dann in der Erscheinung vollkommen ausprägen kann, wenn er deren Gesetze voll berücksichtigt. So tritt bei den Indern metaphysische Erkenntnis nur zu oft in Form unzulänglichster Theorie, echteste Religiosität in Form von Aberglauben und tiefste Moralität in der eines bedenklichsten Lebenswandels in die Erscheinung.

 

Schon öfters habe ich des katholischen Charakters der indischen Religiosität Erwähnung getan. Wohl hat es auch Protestanten unter den Indern gegeben: Devendranath Tagore z. B., der Maharshi, war ausgesprochen puritanisch gesinnt; wer nicht wüßte, daß dessen Autobiographie von einem Hindu stammt, könnte beinahe glauben, ein Pilger-Vater Neu-Englands hätte sie verfaßt. Aber der allgemeine Geist der indischen Religiosität ist streng katholisch; alles Beste und Tiefste ist von ihm beseelt; so vor allem die Lehre vom Weg, der zur Erkenntnis führt.

Ich will noch einmal kurz daran erinnern, was ich unter katholisch im Gegensatz zu protestantisch verstehe. Der Katholizismus lehrt, daß Anerkennung einer objektiven Ordnung und gehorsames Befolgen autoritativer Vorschriften den Weg zum Heil bezeichnen; der Protestantismus hingegen, daß jede Seele auf persönlich selbständige Weise zu Gott hinanstreben soll. Letzteres ist gewiß nicht die Lehre Luthers oder Calvins, aber es ist die Lehre des heute lebendigen Protestantismus, ebenso wie meine Definition des Katholizismus das Lebendige an ihm allein berücksichtigt. – Der Inder, was immer er im besonderen glaube, urteilt über den Weg zum Heil als Katholik. Er verwirft das Suchen selbständiger Wege; ihm gilt Vertrauen auf die Autorität als Grundbedingung alles inneren Fortschritts. Kein großer Inder, von den Protestanten Buddha, Mahavira u. a. abgesehen, hat je am Offenbarungscharakter der Veden und Shastras gezweifelt, und alle haben Zweifel als verderbenbringend verurteilt. Das bedeutet, daß auch die größten Erkenner unter den Hindus tief durchdrungen waren vom Wert des Glaubens als Erkenntnismittel. Wer da zweifelt, könne nicht zum Wissenden werden; und da Glauben nur möglich ist an feststehende Dogmen und Normen, haben sie alle deren Unwandelbarkeit postuliert. Sie haben ferner sämtlich Gehorsam gefordert dem Guru, dem spirituellen Direktor gegenüber (wie denn alle, auch die erlauchtesten Geister unter ihnen, dem ihrigen bis zum Tod gehorsam gewesen sind), aus der Einsicht heraus, daß Lehren, von einem anderen, zu dem man sich absolut empfänglich verhält, laut mitgeteilt, stärker einwirken auf das Unterbewußtsein als dieselben Lehren, wofern man sie sich selbst erteilt.

Das ist so katholisch gedacht wie nur möglich. Dem Wortlaute nach haben alle theologischen Doktoren unseres Mittelalters das gleiche gelehrt, unter diesen zum Teil auch Martin Luther. Aber allerdings haben die Inder den Sinn der gleichen Lehren besser verstanden, so daß der Hinduismus die Seelen nie geknechtet hat, wie der christliche Katholizismus nur zu oft. Freilich darf der Grad dieser Knechtung nicht überschätzt werden: der Idee nach gewährt der Katholizismus dem Denker genau so viel Freiheit wie der orthodoxe Protestantismus; nur in praxi geschieht es meistens anders. Der Idee nach darf der katholische Christ frei forschen und denken auf allen Gebieten, auf denen Verstand und Vernunft kompetieren, und mehr ist nicht zu verlangen, denn jenseits dieser Gebiete kann Vernunft zu keiner Erkenntnis führen. Mag diese Idee noch so selten richtig verstanden worden sein, sie ist da und wird früher oder später wohl sicher in ihrer Reinheit zur Herrschaft gelangen, wenn die Kirche keinen anderen Weg mehr sieht, um fortzubestehen. Der äußere Apparat der katholischen Kirche aber, ihr Ritualismus, ihr Zeremoniell, bezeichnet einen absoluten Vorzug, dessen der Protestantismus, gerade in seinen extremsten, dogmenfeindlichsten Formen, mehr und mehr gewahr zu werden beginnt. Um nun zum Hinduismus zurückzukommen: diesem gelten die Glaubensformen, die als solche ebenso streng gewahrt werden wie seitens katholischer Christen, nicht als Substanzen, sondern als Ausdrucksformen des Göttlichen, gleichzeitig als Mittel, dieses zu realisieren. Demzufolge werden sie einerseits weniger ernst genommen als unter uns, sie gelten nie als metaphysische Wirklichkeiten, andrerseits mehr, da kein Hindu ihre Zweckmäßigkeit verkennt. Auch das Glauben als solches wird von ihnen aus eben dem Grunde ernster genommen, als mir dies je in Europa begegnet ist: sie wissen eben, was Glauben bedeutet; daß es ein Mittel ist wie kein anderes, um das Sein zu realisieren. Deshalb gibt es unter hochgebildeten Hindus keine Freidenker, so häufig solche unter halbgebildeten vorkommen, und noch so scharfsinnige weisen die Zumutung weit von sich, an den religiösen Grundwahrheiten zu zweifeln – es sei denn, sie seien über das Glauben deshalb hinaus, weil sie aus persönlicher Erfahrung wissen. Die Hindus sind seelisch so weit gebildet, daß sie zwischen Glauben und Für-wahr-halten rein unterscheiden; daß sie glauben können an etwas, ohne zu verlangen, daß es objektiv existierte. Glauben ist ihnen ein Mittel, das souveräne Mittel; ein Narr sei daher, wer nicht glaubte. Im übrigen möge er denken, was er wolle. Meredith Townsend erzählt von einem indischen Astronomen, welcher, wissenschaftlich geschult, jede Sonnenfinsternis auf die Sekunde richtig vorausberechnete, aber jedesmal, wenn sie hereinbrach, zur Trommel griff, um den Dämon zu verscheuchen, der das Gestirn verschlingen wollte, und auf seine verwunderte Anfrage lächelnd erwiderte, Glauben und Wissen wären doch zweierlei. Er hielt wohl an der mythischen Vorstellung fest, die er selbstverständlich durchschaute, weil er aus Erfahrung wußte, daß jene dank Assoziationen mit Erlebnissen aus seinen Kindheitstagen ihm das Göttliche realisieren half.

Nur auf Realisieren kommt es den Hindus an; alles übrige ist Mittel zum Zweck. Sie legen den Akzent auf das Realisieren mit solcher Ausschließlichkeit, daß deshalb zwei Tendenzen, die im Westen immer eine namhafte Rolle gespielt haben, beinahe vollständig fehlen: das Streben nach Exaktheit der Formulierung (der Richtigkeit in der Bestimmung), und das nach Neuerung; was allein schon der indischen Metaphysik einen unverkennbar-individuellen Charakter verleiht. In der Tat – was verschlägt es, ob eine Formulierung wissenschaftlich richtig sei oder nicht, wenn sie nur das Erlebnis, auf das allein es ankommt, hervorruft oder mitteilbar macht? Und ferner: wozu neue Formen erfinden, wenn die althergebrachten alles das leisten, was jene bestenfalls bewirken könnten? So sehen wir eine Metaphysik, die an Wahrheit und Tiefe unerreicht dasteht, die unsere exaktere Forschung mehr und mehr bestätigt, in einem Körper von Theorien überliefert, die nicht selten aus primitivsten Denkstadien herstammen. Die Inder wissen eben, was sie meinen; und ihre Lehrmethodik bürgt dafür, daß der Sinn von Guru zu Chçlah lebendig fort überliefert wird; deshalb halten sie Neufassungen für überflüssig. Ja, deshalb stehen sie in ihrer göttlichen Toleranz praktisch kaum anders als engherzige Christen, sind oft sogar neuerungsfeindlicher noch als diese, eben weil sie der Vorstellung als solcher jeden Eigenwert aberkennen. Echte Wissenschaft verhindert solche Auffassung am Entstehen, und mit der ist es denn auch in Indien seit den Tagen des Altertums übel bestellt; aber den spirituellen Fortschritt befördert sie.

Aus der katholischen Grundtendenz ergibt sich ferner die Eigentümlichkeit der indischen Weltanschauung, die den Westländer vielleicht am meisten befremdet: ihr Leugnen der Möglichkeit, eine Wahrheit selbständig zu entdecken; sie müsse geoffenbart, recht eigentlich gelehrt werden, von einem, der sie seinerseits empfing. Man glaube ja nicht, diese Auffassung sei nichts als ein Brahmanentrick, wie unzweifelhaft so viele der Vorschriften, die zur Mehrung des Prestiges der Gurus dienen: sie bezeichnet eine Grundanschauung der Inder und ist psychologisch gut genug begründet. Wo die Arbeit zum Zweck der Erkenntnis nicht in Denken besteht, sondern in Versenkung in einen aufgegebenen Satz, dort kann einem die Erleuchtung wirklich nur »kommen«, man erringt sie nicht; sie wird einem, um christlich zu reden, nicht durch Verdienst, sondern durch Gnade zuteil. Nun setzen alle Inder das Dasein einer Hierarchie der Wesen voraus; sie sind es gewohnt, nie ohne Anleitung Yoga zu treiben, haben keinen Begriff von »voraussetzungslosem Forschen«: also ist es nur natürlich, daß sie in aller Erkenntnis Offenbarung aus höheren Sphären sehen und diese meist auf konkrete Wesen zurückführen. Dies stimmte wieder ganz mit der katholischen Autoritätsidee überein. Nur erscheint diese hier universalisiert, so daß sie der Priesterschaft nie zu einer Waffe im großen Stile hat werden können, und ferner, was wichtiger ist, nie einer bestimmten Konfession zum Sieg verholfen hat. Alle Erkenntnis ist Offenbarung; hieraus folgt, daß kein Mensch und kein Institut aus seiner besonderen Offenbarung Kapital schlagen kann. – Auf diese Auffassung geht zum beträchtlichen Teil die Unoriginalität der indischen Denker zurück: es fehlt ihnen jeder Ansporn, originell sein zu wollen, denn Ursprünglichkeit in unserem Verstande gibt es für ihre Begriffe nicht; in ihr wurzelt die ganze Ödigkeit ihrer Scholastik; auf ihr fußt die Hypertrophie des Autoritätenglaubens in Hindustan – eine Hypertrophie, die wohl nirgends in der Welt eine Parallele findet: da alle Erkenntnis par définition »geschenkt« wird, so ist oberhalb der Autorität keine Instanz mehr denkbar. Aber auf dieser Auffassung fußt andrerseits ohne Frage die unerreichte Wesenhaftigkeit des indischen Wahrheitsbegriffs, der an sich den besten Schlüssel zur Erkenntnis bezeichnet. Originalität kommt wirklich nicht in Betracht in Wissensfragen; es besteht keinerlei notwendige Beziehung zwischen jener und Wahrheitserkenntnis. Die Wahrheit ist da, liegt jedermann vor, so wie die Sonne alle beleuchtet; wenn der Sehende vor dem Blinden einen Vorzug hat, so kann er doch nichts dafür, und die Sonne schiene auch ohne ihn. Das Genie für eine Erkenntnis, nach Westländerart, unmittelbar verantwortlich zu machen und es dementsprechend zu vergöttern, ist im Prinzip genau so lächerlich, wie in dem einen Übermenschen zu sehen, der durch Drücken auf den Knopf am Leitungsdraht eine elektrische Lampe entzündet. Erkennen heißt Gewahrwerden, Entdecken, Ausnutzen gegebener Möglichkeiten; genial sein von der Natur ein besseres Instrument überkommen haben: wo bleibt da die absolute Originalität des Erkenners? – Es ist wirklich wahr, was die Inder in noch so mythischer Ausdrucksweise lehren, daß man Wahrheit nicht eigentlich entdecken kann. Und daß sie das erkannt haben, ist mit ein Hauptgrund dessen, daß sie es im metaphysischen Wissen so wunderbar weit gebracht. – Auf dieser Auffassung fußt ferner unmittelbar die unvergleichliche indische Spiritualität. Wo es als Axiom gilt, daß es kein selbständiges Erkennen gibt, dort können in dem, der sich nach Wissen sehnt, keine hochmütigen Regungen entstehen, keine Velleitäten des Besserwissens, keine eitlen Vorurteile; er gibt sich demütig hin. So daß die spirituellen Wahrheiten, die in den heiligen Schriften verkörpert sind, in seiner Seele ein Minimum an Widerstand finden und leicht von ihm Besitz ergreifen können. Aus eben dem Grunde ist die katholische Christenheit, wo von echter Religiosität überhaupt die Rede sein kann, an Spiritualität der protestantischen so weit voraus. Daß sie darin gleichwohl hinter der indischen weit zurücksteht, erscheint verständlich genug, wenn man erwägt, daß die heiligen Schriften der Inder von allen der Welt wohl die heiligsten, weil erkenntnistiefsten, sind und in einzig geringem Grade, dank der psychologischen Bildung des Indervolkes, durch Verballhornung, Mißdeutung und falsche Behandlung in ihrer heiligenden Wirkung behindert werden.

Um spirituelles Realisieren allein war es von je den Rishis zu tun; sie sind weiter darin gelangt als alle anderen Menschen. Viele von ihnen haben wahrhaftig eine Bewußtseinslage erreicht, die man als übermenschlich bezeichnen darf – eine Lage, in welcher der Geist unbeirrt in der Sphäre des reinen Sinnes lebt, vom reinen Sinn her alles auffaßt, alles versteht. Aber eben daher rührt es, daß sie sich so seltsam gleichgültig ausgedrückt und nie Ideen in die Welt gesetzt haben von auch nur annähernd so großer Lebenskraft, wie die eines Plato oder Hegel. Wer auf der Bewußtseinsstufe steht, welche die größten Inder erstiegen haben, dem ist der Sinn der Dinge ebenso unmittelbar bewußt, wie dem Durchschnittsmenschen die physische Außenwelt; er bedarf keiner Originalität, um seiner gewahr zu werden. Eben deshalb aber kann er nicht mehr geistig schaffen. Alle Produktion stammt aus der Tiefe des Unbewußten; man gebiert nicht, was schon vor einem steht. Dieses kann man allenfalls kopieren. Kopisten und nicht mehr sind denn die Rishis als Schriftsteller und Denker gewesen; dies erklärt die Trivialität ihres Stils und den Mangel an Vitalität ihrer Ideen. Unsere großen Denker haben die Bewußtseinslage nie erreicht, von welcher aus man die Wahrheit wie eine Landschaft ausgebreitet vor sich sieht: so konnten sie dieselbe gebären. So sind ihre Erkenntnisse zu schöpferischen Ideen geworden und wirken fort, wie keine indische dies je vermocht hat.

 

Nur um Realisieren war es den indischen Weisen zu tun; so konnten sie in der Originalität keinen Wert sehen. Das, dessen Spiegelung im Bewußtsein man Wahrheit heißt, sei da; Erfinden komme nicht in Frage. Das Entdecken aber bedinge kein persönliches Verdienst, da der Mensch immer nur das entdecken könne, was die Natur oder höhere Mächte ihm offenbarten: »nur wenn er wählt, von dem wird er begriffen« (Ruysbroek). Was nun die Verkörperung der Wahrheit betrifft, so lasse sich nur eine feststehende realisieren, in Wandlungen begriffene taugten nicht; überdies verbrauche Neueinstellung Kraft, die besser anders verausgabt würde. Die Männer des Glaubens wie der Tat sind, was Vorstellungen als solche betrifft, mit physiologischer Notwendigkeit originalitätsfeindlich. Beide schaffen in einer anderen Dimension als der geistige Schöpfer; jene setzen Ideen in innere, diese in äußere Wirklichkeit um, als solche bedeuten sie ihnen nichts; sie sind ihnen Vorwürfe, Grundrisse, Ausgangspunkte, von Wert nur insofern, als sie verwirklicht werden. Solchen Naturen kommt alles Theoretisieren müßig vor. Nicht nur Napoleon, auch Bismarck hat die Ideologen von Herzen gehaßt, und beide haben fest an eine Vorsehung geglaubt. Dieser Glaube war ihnen physiologisch notwendig: ohne sichere Deckung im Rücken hätten beide nicht unbefangen vorwärts schreiten können. Und wie die Männer der Tat, so die des Glaubens. Religiös sein heißt realisieren, geistige Werte in Leben umsetzen wollen. Damit sich einer dieser Aufgabe ganz unbefangen widmen könne, müssen die Werte an sich außer Frage stehen. Also muß er an Dogmen glauben, an bestimmten Vorstellungen unverbrüchlich festhalten; ob er im übrigen tolerant oder fanatisch ist, hängt vom Grade seiner seelischen Bildung ab, der Weite seines geistigen Horizontes. Der orthodoxe Christ in seinem Wahn, das Dogma an sich verkörpere das Heil, will alle Andersgläubigen coûte que coûte bekehren, und sieht derweil auf sie herab. Ich bin keinem Hindu begegnet, der nicht felsenfest an irgendein Dogma glaubte, aber andrerseits keinem, der irgend jemanden bekehren wollte oder irgendeinen um seines Aberglaubens willen verachtete. Die Hindus sind gebildet genug, um zu wissen, daß nicht das Dogma als solches das Wichtigste ist, sondern dessen Wirkung auf das Leben.

Aber die ablehnende Haltung des Inders der Originalität gegenüber hat noch einen tieferen Grund als den bisher betrachteten. Aus der Tiefe ihrer Bewußtseinslage heraus, die ihnen ein unmittelbares Schauen des Sinns ermöglichte, dachten die Rishis: wozu eine Erscheinung mehr in die Welt setzen, wo es deren schon so viele gibt? Was sind denn schöpferische Ideen mehr als die Blümelein, die aus dem Rasen sprießen? Was verschlägt es, wie weit es die einzelne bringt? – So dachten sie nicht als Skeptiker, sondern als Allwissende. Oft ist bemerkt worden, daß Skeptizismus und tiefste metaphysische Erkenntnis an der Oberfläche zusammenfallen; das ist auch so. Skeptiker sowohl als Mystiker erkennen die Relativität der Gestaltung, also stimmen sie in deren Bewertung überein; nur wissen diese, was jene nicht ahnen, daß sich die Wirklichkeit im Relativen nicht erschöpft. Sie sind sich des Wesens bewußt, das sich vermittelst der Erscheinung ausdrückt. Dies gilt im kleinen von jedem Mann der Tat, jedem Schöpfer, jedem überhaupt, der irgend etwas ganz ernst nimmt, den denn die Menschheit, mit richtigem Instinkte, von jeher dem noch so klugen Zweifler vorangestellt hat. Aber es gilt von ihm eben nur im kleinen; daher die Beschränktheiten aller Täter, ihre Einseitigkeiten, Unzulänglichkeiten, Vorurteile, denen gegenüber der skeptische Betrachter so leichtes Spiel hat. Im großen gilt das gleiche vom Weisen: er nimmt alle Erscheinung nicht gleich unernst, sondern gleich ernst. So ist er, gleich Gott, über alle Engigkeit hinaus.

Aber kann solche Erkenntnis zu fruchtbarem Leben werden? Im Falle Gottes wird sie es. Er kennt die Relativität jeder Erscheinung, und lebt sich doch in jeder mit äußerster Einseitigkeit aus; er kennt die Unzulänglichkeit jeder Sonderäußerung, und das schwächt ihm doch niemals die Energie. Er schafft eben im Zusammenhang. Der Mensch kann als Versteher wohl göttliche Universalität erreichen, aber als Handelnder bleibt er streng beschränkt; als Lebender gelangt er nimmer hinaus über die Einseitigkeiten des Sonderdaseins. So lähmt ihm die allzu tiefe Einsicht die Kraft. Sie brauchte es nicht zu tun, jedoch sie tut es meist; sie hat es im Fall der Inder getan. Gegen die Wahrheit ihrer Auffassung ist nichts zu sagen. Unzweifelhaft bedeuten die Ideen Alexanders dem Kosmos nicht mehr als Blümelein; beide sind Naturerscheinungen, jede in ihrer Art. Wer Ideen gebiert, tut im Prinzip nichts anderes als die kalbende Kuh, wenn Erkenntnisse sich entwickeln und das Leben ergreifen, so ist das ein Naturvorgang unter anderen. Der Kampf der Künstler um Anerkennung, der Staaten um Macht, der Menschheit um Ideale ist eine Form unter anderen des allgemeinen Kampfes ums Dasein, und der Fortschritt ein biologischer Prozeß, der überall seine Parallelen findet. So ist kein Ehrgeiz wesentlich mehr als animalischer Wachstumsdrang, kein Idealismus mehr als ein Exponent unter anderen des allgemeinen Strebens alles Lebens nach Aufstieg und Steigerung, und ob dieses oder das geschieht, ob ein Meisterwerk, eine Erkenntnis, eine Heldentat mehr die Welt bereichert, bedeutet im Zusammenhang wenig genug. Desto weniger, als der Sinn überall Einer ist und durch Vermehrung oder Verbesserung seiner Ausdrucksformen von seinem Standpunkte aus nichts hinzugewinnt. Ja, die Ideen Alexanders bedeuten nicht mehr vor Gott als Blümelein. Aber hätte es Alexander gefrommt, also zu denken? Ja, wenn er so groß gewesen wäre, daß er trotzdem als Alexander sein Schicksal erfüllt hätte; aber das hätte er dann schwerlich getan.

Die Inder haben gewußt, daß keine Erkenntnis das Handeln dem Dharma gemäß beeinträchtigen darf; dieses ist zumal die Grundidee der Bhagavat-Gîta. Dort lehrt Sri Krishna den Arjuna, daß er kämpfen soll, was immer er weiß und erkennt, denn zum Kämpfen sei er geboren. Die gleiche Grundidee durchdringt die ganze Lehre vom Nichtattachement: töte den Ehrgeiz in dir, aber handele so, als ob du vom äußersten Ehrgeize beseelt wärest; ersticke allen Egoismus, aber lebe dein Sonderleben so tatkräftig wie nur irgendein Egoist; liebe gleichmäßig alle Kreatur, aber versäume darum nie, das Nächstliegende zunächst zu tun. Gewußt haben die Inder eben alles. Aber Wissen und Leben sind zweierlei, und nirgends erweist sich dies eindrucksvoller als bei ihnen. Wir wissen von keinem Inder, der als lebendiger Mensch diese Weisheit im großen verwirklicht hätte; und es gibt wahrscheinlich weniger Hindus, die es im kleinen tun, als unter Türken und unter Chinesen. Das ist der Fluch jenes Primates des Psychischen, das, wie nichts anderes, den indischen Bewußtseinszustand charakterisiert. Die Inder haben von je den Akzent des Daseins auf das psychische Erleben gelegt, also das Realisieren des Lebens in der Sphäre des Psychischen. Dank dem sind sie als Erkenner und als Schauer des Göttlichen wunderbar weit gelangt; aber eben dank dem sind sie nie auch nur ein Bruchteil dessen gewesen, als lebendige, handelnde Menschen, was ihre Theorie postuliert. Und das ist nur natürlich. Wenn der Geist sich in der Vorstellungswelt zentriert, so entstehen Erkenntnisse als selbständige Wesenheiten, ohne Zusammenhang mit dem persönlichen Leben; dieses bleibt, trotz aller Erkenntnis, wo es war. Es bedarf einer anderen Einstellung, um einen großen Menschen zu machen. So illustrieren die Hindus mit vorbildlicher Deutlichkeit die Vorteile sowohl als die Nachteile eines rein auf Erkennen gerichteten Daseins. Es führt zur Erkenntnis wie kein anderes; es führt ferner die geborenen Weisen und Heiligen zu einer Vollendung, wie sie unter anderen Voraussetzungen unerreichbar scheint; aber dem Leben der übrigen Menschen tut es nicht gut. Neuerdings weisen des Englischen mächtige Hindus, aufgestachelt durch ihnen mißfällige Urteile Europas, immer wieder darauf hin, daß die indischen Lehren dem praktischen Leben wohl gerecht werden und mitnichten Quietismus predigen. Gewiß tun sie das nicht; sie sind als Lehren die wahrsten und tiefsten, die umfassendsten und erschöpfendsten, die es gibt. Aber sie haben auf das indische Leben nie eingewirkt. Dem Durchschnittsmenschen tut es nicht gut, so viel zu wissen; hört Alexander einmal, daß er vor Gott nur ein Blümlein ist, so dankt er nur allzu bereitwillig als Alexander ab. Er entscheidet für sich, daß kein bestimmtes Dasein Zweck habe, tut bestenfalls das Nächstliegende, füllt schlecht und recht die Stellung aus, in die er hineingeboren ward. Er verleugnet allzufrüh allen Ehrgeiz. Wohl lehren die heiligen Schriften, zum höchsten Leben sei nur der Höchste reif; die übrigen hätten zu kämpfen, zu streiten, tätig zu leben, ehrgeizig zu sein, denn nur das bringe sie innerlich vorwärts. Aber welcher nicht Höchstgebildete bescheidet sich dabei, nicht zum Höchsten geboren zu sein? Wo einmal ein Zustand als höchster proklamiert ward, dort sucht ihn jeder auf seine Art darzustellen. Im Osten gilt Ehrgeiz allgemein als unwürdig: das ist ein Unglück. Wohl bezeichnet es das Höchste, wenn ein Gewaltiger ohne Ehrgeiz ist, aber der Kleine, der keinen Ehrgeiz hat, kommt nicht vorwärts. Den Hindus, gleich Christus, gilt Sanftmut als höchste Tugend: dies ist ein Unglück. Nur wer die Leidenschaft eines Peters des Großen besitzt, darf sich zum Ideal der Sanftmut bekennen; die Schwachen – und schwach sind die Hindus – macht es noch schwächer. Allverstehen gilt als Höchstes: von Unverständigen bekannt, hemmt dieses Ideal wie kein anderes die Entwicklung, denn es macht sie zu energielosen Skeptikern. So hat gerade die einzigartige Tiefe ihrer Erkenntnis den Indern als Volk zum Verderben gereicht. Sie hat sie schlaff und schwach gemacht. Das ist höchst bedeutsam. Es ist wieder ein Beispiel, das Indien der ganzen Menschheit gibt. Es zeigt, wie wenig gut es tut, wenn alle als Philosophen nach Vollendung streben. Dieser Weg ist nur den ganz wenigen gemäß, die diesem Wesenstypus angehören; alle anderen führt er ins Verderben. So bedeutet denn die indische Theorie, nach welcher der Rishi, der Yogi, ja der Sanyassi von allen Menschen der höchste sei, ein anderes, als es den Anschein hat. Sie bedeutet nicht, daß diese Typen von allen tatsächlich die höchsten seien, nicht daß alle in deren Rahmen ihre äußerste Selbstverwirklichung finden würden: sie bedeutet, daß unter indischen Voraussetzungen nur geborene Philosophen und Heilige vollkommen werden können. Während die übrigen Menschen verkümmern.

 

Dies denn wäre die wahre Ursache dessen, daß die Weltanschauung der Inder nicht mit Unrecht als quietistisch gilt: nicht die Lehre als solche erkennt dem Nichthandeln gegenüber dem Handeln, der Apathie gegenüber der Energie den Vorrang zu, sondern dies ist der Sinn, in dem sie eingewirkt hat auf das Leben. Nicht nur die Theosophen haben aus den theoretischen Lehren der Alten, die als solche wohl auf Allgemeingültigkeit Anspruch erheben können, besondere praktische Folgerungen gezogen, gegen welche mancherlei zu erinnern ist, ein Gleiches gilt von den Indern selbst. Als Erkenner haben sich die Hindus, wie sonst kein Volk, über die Zufälle der Empirie hinausgehoben; aber das praktische Leben ist dem Hochflug des Geistes nicht nachgefolgt; es hat ihn durch desto ausgesprochenere Spezifität als Ausdruck jener Hybris entlarvt, welche die Götter niemals ungestraft lassen.

Ein Allgemeines kann nicht zur Lebensmacht werden, nur Bestimmtem gelingt dies; was im Falle einer Weltanschauung besagt: eine bestimmte Auffassung und Ausdeutung ihrer, eine bestimmte praktische Anwendung. So sind die noch so universellen Erkenntnisse des Rishis von vornherein spezifisch verstanden worden. Der Atman, lehren die Veden, ruht jenseits der Erscheinungen rein in sich, nicht Name, nicht Gestalt, nicht leidend, nicht handelnd. Des Daseins höchstes Ziel ist, eins mit ihm zu werden, d. h. sich so tief zu verinnerlichen, daß das Bewußtsein im Prinzip des Lebens Wurzel faßt. Aus dieser Lehre können mehrfache praktische Konsequenzen gezogen werden. Die Hindus haben als Höchstes hingestellt, sich aus dem Leben in die Gottheit zurückzuziehen, mithin die Schöpfung zu eskamotieren. Plus royalistes que le roi, weiser als Brahman selbst, der es für gut befand, sich zum Weltall zu entfalten, haben sie ihr ganzes Streben darauf gerichtet, über das Werden hinauszugelangen. So mußten ihnen die Entsager als absolut höchste Menschentypen gelten, konnten sie in der Gestaltung dieses Lebens keinen Wert erkennen. Ich würde aus den gleichen Lehren mit gleicher logischer Berechtigung die entgegengesetzten praktischen Schlüsse ziehen. Wir sollen den Atman in uns erkennen und dann verwirklichen in dieser Welt; wir sollen Brahman, dessen Teilausdrücke wir sind, dazu verhelfen, sich in der Erscheinung zu vollenden. So aufgefaßt, wirken die vedischen Lehren nicht sterilisierend, sondern im höchsten Grade produktiv. Unsere Handlungen, erkennt die Vernunft, stehen in keinem notwendigen Verhältnis zum Selbst: man bringe es dahin, daß alle den Atman spiegeln! Das Bewußtsein, das der Synthesis des Verstandes entspricht, ist an sich nicht das tiefste Ich: man bilde es soweit aus, daß es diesem zum Ausdrucksmittel wird. Und so fort. Hätte einer nun dieses erreicht, hätte er sein Göttliches im Irdischen ganz verwirklicht, dann stellte sich für ihn die ganze Frage des Unterschiedes zwischen Absolutem und Relativem nicht mehr, dann brauchte er sie weder zu bejahen noch zu verneinen, da er als Wesen in der Erscheinung lebte. Daß die Inder nicht diese Alternative gewählt, die sie doch wieder und wieder als höhere erkannt haben und die zweifelsohne alle Vorzüge für sich hat, ist auf empirische Umstände zurückzuführen: vorzüglich wohlauf die Einflüsse der Tropenwelt. Diese haben die arischen Einwanderer mehr und mehr aus energischen zu indolenten Geschöpfen umgewandelt, ihrem Leben mehr und mehr jenen vegetationsartigen Charakter verliehen, der seinen vollendeten Ausdruck dann im Buddhismus fand. Es hat nichts genützt, daß sie diesen als solchen überwunden haben, wohl aus der unbewußten Erkenntnis seines Entartungscharakters heraus; seine Tendenz war die Tendenz ihres Blutes.

Nun fragt es sich: Hätten die Hindus als Erkenner und Schauer des Göttlichen eine so einzig hohe Stufe erreicht, wenn sie als Menschen anders gewesen wären? Hätten sie das, was not tut, so klar erkannt, wenn sie fähig gewesen wären, es zu verwirklichen? Wahrscheinlich nicht. Der große Moralist ist typischerweise amoralisch, weil Vorurteilsfreiheit Hemmungslosigkeit bedingt; der große Versteher typischerweise charakterlos, weil er keine Gestaltung als absolut beste beurteilen kann; umgekehrt ist der große Täter typischerweise beschränkt. Hier bestätigen die Ausnahmen nur die Regel, sofern sie nicht einer höheren Daseinsstufe angehören, auf welcher die menschliche Kompensationsnorm nicht mehr gilt. Daß die Inder sich der Einseitigkeit ihrer Veranlagung gefühlsmäßig auch bewußt sind, beweist ihre gut katholische Gesinnung, ihre ausgesprochene Abneigung gegen alles Protestantisieren: sie fühlen, daß sie, innerlich allzu frei, der festen äußeren Normen bedürfen, um nicht auseinanderzugehen. Es wird ferner bewiesen dadurch, daß sie in unerhörtem Grad bei allen Erkenntnisfähigen das Erwerben vollkommener Erkenntnis (nicht eines edlen Charakters, einer vornehmen Gesinnung usw.) als das Ziel des Lebens hingestellt haben: der wesentlich erkennende Mensch kann sich nur aus der Verstandeseinsicht heraus entscheiden. Aber gleichviel, ob sie es gewußt haben oder nicht: die Tatsache steht fest. Zur höchsten Vollendung in den Sphären des Erkennens und des religiösen Realisierens ist eine Naturbasis erforderlich, die Vollendung in anderen Richtungen, wenn nicht ausschließt, so doch äußerst erschwert. Das weiß das Volk, sofern es sich wundert, wenn ein »Kluger« gleichzeitig »gut« ist; das weiß die Wissenschaft, sofern sie konstatiert, daß ein höheres Maß von Religiosität außerordentlich häufig an eine Naturanlage gebunden erscheint, die sie als »pathologisch« beurteilt; das weiß im Fall der Künstler die öffentliche Meinung der ganzen Welt. Nur ganz selten sind solche menschlich vollwertig. Es ist, um eine Analogie aus der Biologie, die vielleicht mehr als eine Analogie ist, anzuführen, als ob im Erkenner, im Religiösen, im Dichter »Gene« in Kraft träten, welche die Äußerung derer des Täters, des Charakters, des Ethikers hindern. Bei jenen verläuft das eigentliche Leben in der Sphäre des Psychischen; dessen Umsetzen in und Wirkung auf das, was anderen das »wirkliche« Leben ist, bedeutet fast nichts in bezug auf ihr Wesen. Um vollkommen zu erkennen, muß man nicht allein ganz der Erkenntnis leben, man muß gewissermaßen Erkenntnis sein; man muß sich ausleben im Erkennen, wie Frauen in der Liebe. Wer dies nun tut, der kann seine primäre Energie der Anwendung seines Wissens auf das Leben nicht zuwenden, denn sie ist schon anderweitig gebunden.

So bedeutet es letzthin ein Mißverständnis, den Hindus einen Vorwurf daraus zu machen, daß sie sich in der Welt des praktisch tätigen Lebens nicht ebenso groß erwiesen haben wie in denen der Erkenntnis und des religiösen Gefühls. Ihre Schwächen bezeichnen den Kaufpreis ihrer Vorzüge. Freilich sind nicht alle Hindus Erkenner, und die Nichterkenner unter ihnen sind dementsprechend minderwertiger als europäische. Aber im gleichen Sinn sind die Faulenzer Europas unverhältnismäßig viel schlimmer als die von Indien. Jedes Kultursystem ist am Durchschnittscharakter des Volkes orientiert, das es erfand, und Erziehung in dessen Geist und Rahmen gereicht mit Unvermeidlichkeit denen zum Nachteil, deren Art von der durchschnittlichen abweicht. Nun mag man die Frage aufwerfen, ob nicht irgendeine Richtung in der Gestaltung vor den anderen absolute Vorzüge besitze? so die christlich-europäische vor der indischen? Viele halten dafür; ich kann mich nicht entscheiden. Sofern die größte Vollkommenheit der Massen als Maßstab angesetzt wird, ist es wohl möglich, daß wir das bessere Teil erwählt haben. Aber kommen quantitative Gesichtspunkte in wesentlichen Verhältnissen in Frage? – Ich bescheide mich bei der Feststellung der Tatsache, daß Indien und nicht Europa die bisher tiefste Metaphysik und das bisher vollkommenste religiöse System hervorgebracht hat.

Sintemalen nun den Indern das Psychische das Primäre bedeutet, insofern ihr Realisieren in der Vorstellung biologisch äquivalent ist dem Realisieren in der Praxis unter uns, ist es klar, daß ihnen die Erkenner, die Versteher, die weltfeindlichen Schauer und Ekstatiker als höchste Typen gelten müssen. Unter ihren Voraussetzungen sind sie es. Und es ist nicht weiter befremdlich, daß sie verwundert aufschauen, wenn ein Europäer sie fragt, ob nicht höhere Daseinsformen denkbar seien.

 

So bezeichnen denn die Rishis, die stillen Weisen aus den Himalayas, nicht den höchsten Menschentypus überhaupt? Ist ein höherer denkbar? – Beide Fragen sind zu verneinen; die erste schlechthin, die zweite, weil sie ein Mißverständnis einschließt.

Daß der höchste Erkenner nicht gleichzeitig der höchste Mensch überhaupt ist, geht aus den vorhergehenden Betrachtungen eindeutig hervor; jener setzt eine Naturbasis voraus, die, als solche beschränkt, viel wertvolle Möglichkeiten ausschließt. Die Frage aber, ob ein höherer denkbar sei, schließt ein Mißverständnis ein, insofern sie der Voraussetzung entspringt, es könne einen absolut höchsten geben. Es gibt keinen solchen, kann ihn nicht geben, weil jeder bestimmte Typus an Grenzen gebunden ist, die ihn vom Standpunkte der Universalität entwerten. Keine Beschränkung ist ein Vorzug, kein Trieb sollte erstickt werden; der absolut höchste Mensch wäre der, welcher sämtliche Potenzen des Menschentums in sich zu vollendeter Verkörperung brächte; dies aber kann nicht gelingen, weil jede verwirklichte Möglichkeit viele andere aufhebt oder ausschließt. Alle konkretisierbaren Ideale stehen in Wechselbeziehung zu einer bestimmten Naturbasis; so lassen sich vollendete Engländer oder Franzosen, vollendete Weise, Heilige, Könige, Künstler denken, aber keine vollendeten Menschen schlechthin. »Der vollendete Mensch«, als Typus gedacht, ist ein Unbegriff. Daß die Menschheit dies so lange nicht begriff, hat ihr unberechenbaren Schaden zugefügt. Wie teuer ist uns die Nachfolge Christi zu stehen gekommen! Auch er bezeichnet nur die Vollendung eines bestimmten Typus (der freilich gewechselt hat, je nach der Vorstellung, die man sich von Jesus machte), und dessen Hypostasierung zum allgemeingültigen Menschheitsideal hat Millionen schönster Anlagen an der Entfaltung verhindert. Daher die in so vielen Hinsichten niedrigere Kulturstufe der christlichen Menschheit gegenüber der antiken, daher gewisse auf Verdrängungen zurückgehende unreinliche Züge, die den Christen überall noch heute vor allen Andersgläubigen unvorteilhaft auszeichnen. Die indische Weltanschauung hat freilich in der Theorie diesen Gefahren vorgebeugt; aber eben, wie wir sahen, nur in der Theorie. In der Praxis hat die Idealisierung der entsagenden Erkenner den Tätern die Kraft gelähmt, alle äußere Lebensgestaltung entmutigt, den Tonus des ganzen Daseins herabgestimmt. Immerhin ist die Theorie gar wundersam. Sie lehrt einerseits, daß jeder Typus sein besonderes Dharma habe und nur diesem nachstreben soll, andererseits aber statuiert sie eine normale Folge: aus dem Dharma des Çudra erstehe das des Vaiçya, aus dem des Vaiçya das des Kschattrya, aus dem des Kschattrya das Dharma des Brahmana, und wer dieses vollkommen erfüllt, verkörpere den höchstdenkbaren Menschentypus. Sie statuiert also wohl den Zustand des Rishi als höchstes Menschheitsideal, lehrt aber andrerseits, daß dieser Zustand nur einer bestimmten Anlage erreichbar sei, die ihrerseits vom – Alter der Seele abhänge. Das höchste Ideal ist ihr sonach das höchste nicht eigentlich im Sinn absoluter Allgemeingültigkeit, sondern in dem, daß es das letztmögliche darstelle. Damit haben die Inder in der Tat die Wahrheit erfaßt, welche wahr bleibt, auch wenn man das mythische Gerüst, das sie trägt, ganz fallen läßt. Unzweifelhaft trägt die Weisheit Alterszüge, unzweifelhaft steht sie der Jugend nicht an; unzweifelhaft läßt sie den alt erscheinen, der sie in noch so jungen Jahren gewann. Aber ebenso unzweifelhaft bezeichnet sie die Krönung des Lebens. Mehr als weise kann man nicht sein. – Wären die Inder in der Praxis ebenso einsichtig gewesen wie in der Theorie, so könnte man wohl sagen, sie hätten das Lebensproblem gelöst. Aber die Voraussetzung trifft eben nicht zu. Trotz ihrer besseren Einsicht haben sie im Weisen als Typus ein allgemeingültiges Vorbild gesehen. So ist es zu erklären, daß die modern-europäische Menschheit, trotz ihrer Roheit, Erdbefangenheit und Seelenblindheit, ja wegen ihrer materialistischen Ideale, die eben die echten Ideale ihrer Naturstufe sind, im ganzen auf einer menschlich höheren Stufe steht als die von Indien.

Es ist ein Aberglaube – vielleicht der Aberglaube, welchen abzulegen heute am meisten not tut –, daß das Ideal in irgendeinem bestimmten Zustande verkörpert liegt. Kein Wesen steht vereinzelt da; vom Standpunkte des Alls ist die ganze lebendige Natur ein Zusammenhang, ist das Einzelne nie mehr als ein Element, und keins ist denkbar, welches die übrigen resümierte, wie dies der Fall sein müßte, damit es allen als Vorbild gelten könnte. Jedes ist ein Organ des Lebens, nicht mehr, und daher nur vom Ganzen her zu verstehen, nur in Wechselbeziehung zu anderen, anders qualifizierten Organen in seiner Sonderart daseinsberechtigt. Aber es gibt Elemente von verschiedener Bedeutung; auf einigen ruht viel Nachdruck, auf anderen wenig. Und auf die hin, welche viel bedeuten, ist das übrige abgestimmt. Die Typen, welche die Menschheit seit je als höchste verehrt hat, verkörpern die Grundtöne in der Symphonie; je richtiger diese verteilt sind, je voller und reiner sie erklingen, desto schöner die Musik. Die Heiligen und Weisen verkörpern die Grundtöne, während in den übrigen Typen nur Mittel- und Obertöne inkarniert sind: dies ist der einzige Sinn, in welchem jene über den anderen stehen. Aus dieser Bestimmung ergibt sich von selbst, wie sich die einen zu den anderen verhalten sollen. Die Obertöne sollen nicht zu Grundtönen werden wollen, aber abstimmen sollen sie sich nach ihnen: in diesem Verstand tut allen Menschen die Verehrung der Weisen und Heiligen gut. Insofern diese Grundtöne sind, ist ihr Dasein auch notwendig – notwendiger fürwahr als alles nützliche Handeln der Männer der Tat: sogar ein verhaltener, ja ein nicht angeschlagener Grundton wirkt; ist die Musik auf ihn nur abgestimmt, so ist es gut. Deshalb schadet es nicht, daß Heilige selten sind, daß ein Christus, wie wir ihn verehren, vielleicht niemals gelebt hat. So ist es durchaus in der Ordnung, daß die verehrten Großen Metamorphosen durchmachen im Laufe der Zeit: wo die Melodie ihre Tonart ändert, muß gleiches mit den Grundtönen geschehen. Aber diese allein tun es nicht; keine Baßgeige ersetzt das Orchester; nur in diesem kommt sie selber zur Geltung. So macht der Heilige das Weltkind nicht überflüssig, sondern beide sind unmittelbar aufeinander angewiesen.

Von hier aus scheint denn die alte Frage der absoluten Werte gelöst. Freilich gibt es solche, aber nur im Sinn von Grundtönen. Auf sie ist das Lebensganze bezogen; immer gelingt es, sie als das Wesentliche zu erweisen. Aber andrerseits mißlingt es je und je, von ihnen allein aus dem Leben theoretisch gerecht zu werden oder es praktisch zu gestalten. Sooft dies versucht ward, erschien es verdürftigt, verarmt; es war, als ob die Pastoralsymphonie von lauter Kontrabässen aufgeführt würde. Eine puritanische Weltauffassung hat immer nur geschädigt; wo das Moralische oder das Spirituelle allein als wertvoll anerkannt ward, ist dieses immer zum Nachteil der menschlichen Vollkommenheit geschehen. So mußte es kommen. Allerdings sind die absoluten Werte an sich selbst in den Typen des Heiligen und des Weisen verkörpert, aber für sich allein sind diese nichts; sie setzen alle anderen voraus. Drum ist es lächerlich, verfehlt, ja frevelhaft, vom Standpunkt absoluter Werte her irgendwelche Erscheinungen vernichten zu wollen, die in ihrer Art vollkommen sind: was immer sie seien, sie widerstreiten den absoluten Werten nicht; diese bedingen vielmehr jene von innen her, wie der Grundton die Diskantfolgen bedingt. So münden denn auch diese Betrachtungen in der Erkenntnis ein, die sich so oft schon als letztes Wort erwies: Vollendung, spezifische Vollendung ist das eine, einzige Ideal, welches jedem gemäß ist. Ob einer zum Grund- oder zum Oberton geboren ward, ist Gottes Sache; die seine ist, rein zu erklingen.

Nun ist klar, inwiefern Buddha und Christus nicht allein, sondern auch die großen indischen Erkenner, die Rishis, doch als allgemeingültige Vorbilder gelten dürfen: nicht als Typen, sondern als Vollendete. Als Typen bezeichnen sie Sondererscheinungen, nur denen als Ideale ersprießlich, die dem gleichen Typus angehören wie sie. Aber als Vollendete, als Wesen, die im Rahmen eines beliebigen Typus ihre Möglichkeiten vollkommen erfüllt haben, können und sollen sie allen ein Beispiel sein.

 

Heute, um Sonnenuntergang, zum Abschied von Benares, bin ich noch einmal in Sarnath gewesen, dem Ruinenkomplex, der den Ort bezeichnet, an welchem Buddha seine erste berühmt gewordene Predigt hielt. Mehrere Besucher aus Ceylon waren anwesend, unter diesen zwei gelbgewandige Bhikshus. Sie scharten sich um die von Açoka errichtete Stupa und hielten im kleinsten Kreis einen liturgischen Gottesdienst ab. Welcher Gegensatz mit den Riten der Hindutempel! Wie schlicht, wie einfach, wie unkompliziert ist die buddhistische Frömmigkeit! – Ich ließ die Stimmung von Sarnath von meiner Seele ganz Besitz ergreifen und vergegenwärtigte mir dann alles das, was ich in Benares gesehen und erlebt. Ja, der Buddhismus kann dem wohl eine frohe Botschaft sein, dessen Seele müde geworden ist des Reichtums und der Vielfältigkeit; der sich abgehetzt fühlt nach so vielen Wiedergeburten, dem es um Weiterkommen nicht mehr zu tun ist, welcher nur noch das Ende will. Im Buddhismus geht die Sonne Indiens unter; ihm eignet der ganze Stimmungsgehalt der Dämmerstunde, die ganze Süßigkeit der Hoffnung auf baldige Ruh, die ganze Heilkraft des liebreich gegebenen Versprechens: nun wird bald alles, alles überstanden sein.

Noch hält mich die Stimmung von Sarnath. Nur Ruhe will ich heute nacht, Ruhe um jeden Preis. Und da denke ich mir, wie wunderbar wäre es doch, wenn Buddha wahrgesprochen hätte mit seiner Behauptung, es sei möglich, für immer zu verlöschen. Aber ist es möglich? Steckt nicht vieltausendmal mehr Hybris in dieser Vorstellung, als in der vieltausendfacher Wiedergeburt? Als Hybris faßten die Götter das Unterfangen Buddhas auf; und er wußte wohl, wie Ungeheures er vollbracht hatte. Die ganze Schöpfung von Brahma abwärts muß ewig weiter werden, nur er, ein Menschensohn, vermochte es, aus dem Kreislauf herauszutreten ... Das Nirwana Buddhas ist ein anderes als das des Hindutums; diesem galt es als positivster Zustand, Buddha faßte es wesentlich als Ende auf. Er hat nichts darüber geoffenbart, was es sei, hat alle Möglichkeiten offen gelassen; aber der Nachdruck lag ihm unstreitig auf dem Ende. Dies gibt dem Buddhismus seinen einzigartigen Stimmungsgehalt, seine süße Sonnenuntergangsfärbung. Von allen Götterdämmerungen, die es gegeben, ist die, zu welcher die Predigt von Benares den Anstoß gab, einer Dämmerung am ähnlichsten gewesen.


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