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Im Indischen Ozean

Wie sehr ich, trotz allem, doch Nordländer bin! Dieses Meer ist weiter und tiefer als alle, die ich bisher durchquert, und doch verfehlt es die Wirkung, die der Ozean sonst auf mich ausübt. Die milden, süßlichen Farben lassen das Bewußtsein von Erhabenheit in mir nicht wach werden. Wenn ich auf die rosiguntertönte Fläche hinausblicke, kann ich immer nur denken: dies ist die Weide der Medusen, der Spielplatz der Delphine.

Das rührt daher, daß ich Nordländer bin. Dem räumlich Großen an sich kommt keine Großheit zu: es muß eine entsprechende Steigerung des Selbstgefühls auslösen, auf daß es Großes bedeute; und ob es solche Steigerung bewirkt, hängt von persönlichen Verhältnissen ab. Prinzipiell gesprochen, wirken großartige Naturbilder, zumal das Hochgebirge, die Wüste und das Meer (ich nenne den Sternenhimmel nicht, weil sein Anblick zu alltäglich ist und daher so gut wie keine Wirkung im gemeinten Sinne ausübt), wohl auf jeden Menschen erhebend. Leichter als sonst dämmert ihm in solcher Umgebung die Ahnung auf, daß die Grenzen der vergänglichen Person sein Wesen nicht notwendig abschließen, daß es gewissermaßen von ihm abhängt, ob er unendlich oder endlich ist. Die ungeheuren Kräfte, die er außer sich am Werke sieht und doch irgendwie als ihm zugehörig betrachten muß, sprengen – wie es von innen her die Leidenschaft tut – den Panzer der Vorurteile; unwillkürlich erweitert sich sein Ich; er erkennt seine Individualität als geringfügigen Teil seiner selbst, fühlt sich größer, großmütiger und edler – oder auch unwichtiger, kleiner, was hier das gleiche bedeutet. Allein der Grad dieser typischen Wirkung ist in jedem Einzelfall von besonderen Umständen abhängig. Ob der Inder vor den glimmernden Eisbergen nördlicher Meere wohl von den Göttern träumen würde, die der Anblick des Himalajas wie selbstverständlich in seiner Seele entstehen läßt? – Vermutlich fröre er dazu zu sehr; er würde gottlos werden vor Kälteempfinden. Ich aber suche vergebens im Indischen Ozean die Stimmung wiederzufinden, die der Atlantik und die Nordsee so oft in mir wachgerufen haben. Das lastend Schwüle, das Milde, das Süße vermag ich als Elemente des Erhabenen nicht zu denken; es wirkt zu einschläfernd auf mein Nervensystem. Als ob ich ein Weib wäre, interessiere ich mich aufrichtig nur für das Kleine inmitten des Großen; so heute vorzüglich für die Kurven, welche die Fische in schwirrendem Flug zwischen Welle und Welle beschreiben.

Ja, ich bin Nordländer ... Wieder einmal steht Proteus an seiner Grenze, der Indische Ozean kann ihm nicht die Nordsee sein. So leicht es ist, seinen psychophysischen Zusammenhang umzuzentrieren, so schwer fällt es, dessen Elemente umzuwandeln; dies gelingt nur durch langsames Wachstum in der Zeit. Bin ich nicht wie ein Sträfling, dem das Ausbrechen Mal auf Mal mißglückt? Immer wieder wähne ich, meiner Person entschlüpft zu sein, und immer wieder fängt sie mich schließlich ein. Ich muß anerkennen, ob ich's will oder nicht, daß es bestimmte Gegebenheiten in mir gibt, die meiner Bestimmung nicht unterworfen sind; daß ich, so frei ich wesentlich sei, als Erscheinung nur ein Element bin im Gefüge der Welt.

 

Kleider sollen ohne Bedeutung sein? – Bei Geschöpfen, die es gewohnt sind, gekleidet zu gehen, die überdies ihr Bild im Bewußtsein widerspiegeln, ist das Gewand nicht unwesentlicher als der Leib. Die bedeutenden Menschen dürften auch selten sein (so häufig die Esel sind), die ihren äußeren Stil nicht irgendeinmal gefunden und dann treu an ihm festgehalten hätten. Die Gottesgabe der Eitelkeit hat viel Gutes zur Folge: wer seine Tracht mit seiner Natur in Einklang gebracht hat, genügt damit nicht allein seinem persönlichen ästhetischen Bedürfnis, beweist nicht nur seinen Mitmenschen Rücksicht, er hat sich recht eigentlich ein Ausdrucksmittel geschaffen. Weshalb zieht sich der feinfühlige Mensch zum geselligen Beisammensein um? Weil er mit dem Gewand den Menschen wechselt. Im gleichen Sinn macht erst der gefundene äußere Stil den inneren Menschen ganz frei. Keiner ist wirklich ohne Eitelkeit, noch soll er es sein; jeder sieht sich selbst im Spiegel. Daher tritt er viel unbefangener auf, wenn seine Erscheinung seinem Wesen entspricht. Hiermit ist der Mode ihre Berechtigung nicht aberkannt, im Gegenteil: dem Durchschnitte wird immer sie die bestmöglichen Ausdrucksmittel verleihen, weil diesem das hervorragend Besondere fehlt, und die allgemeinen Umrisse eines Menschenschlages von der Mode meist vollkommen verstanden werden; und gleiches gilt vom bedeutenden Einzelnen, dessen Größe in der Vollendung des Typus liegt, einem Castiglione, einem Edward VII. Wenn jedoch Künstler mit abnormer Schädelbildung keine Mähnen trügen, so würden sie stillos sein und eben damit einen Teil ihrer Ausdrucksfähigkeit einbüßen. – Wie komme ich auf diese Betrachtung? An Bord ist heute Maskerade, der ich beiwohnen muß, ob ich mag oder nicht.

Verkleidungen sind doch sehr lehrreich. Nicht zwar beim Komödianten, bei dem Erscheinung und Wesen von vornherein zwei Welten angehören, sondern gerade bei dem, der kein oder wenig Talent zum Schauspieler besitzt. Hier bleiben Schein und Wesen trotz aller Absicht in Gleichung gesetzt, und das führt zu wahren Offenbarungen. Ich will nicht behaupten, daß der, dem die Tracht des XVIII. Jahrhunderts am besten steht, damit beweist, daß dessen Geist ihn beseele, wohl aber ist es wahr, daß Verkleidung (die ja nichts anderes als Kleidung mit bestimmter Absicht ist) dazu verhilft, Wesenszüge zum Ausdruck zu bringen, die normalerweise im Hintergrund verbleiben. Auf diese Weise kann sie Steigerung sowohl als Herabminderung, sie kann geradezu Selbstverwirklichung bedingen. Herabminderung ist der häufigste Fall, weil der natürliche Ausdruck den meisten am besten entspricht; hier offenbart die Maskierung, was der Mensch zwar ist, jedoch nicht wesentlich ist, sie verrückt das Zentrum seines Seins. Steigerung bedingt sie bei denen, welchen ihr Beruf, ihr Milieu und dessen Suggestionen nur eine teilweise Selbstverwirklichung gestatten; diese sind in entsprechender Verkleidung mehr oder in besserem Sinne sie selbst, als sonst, in ihrem »wirklichen« Dasein. Der interessanteste Fall ist das Extrem des Zuletztbetrachteten – der Fall, wo der Mensch im Leben gar nicht er selbst ist und erst auf der Mummenschanz seine Geburt ins Dasein erlebt. Zweifelsohne passen so manche weder in ihre Zeit, noch in ihren Beruf, noch in die Welt hinein, der sie entsprossen sind; deren Wirklichkeit ist, metaphysisch betrachtet, Schein. Solche werden mitunter dank einer Maske echt. Vor mir bewegen sich zwei Weltmänner, die das Gewand von Apachen tragen: fast möchte ich schwören darauf, daß nicht ihr heutiges Spiel, sondern ihr gewohntes Leben vor Gott die Komödie bedeutet.

Hier muß ich an die in James Moriers unsterblichem Hadji-Baba of Ispahan so unvergleichlich dargestellte Umstellungsfähigkeit des Orientalen denken: der heute Großvezier, morgen Barbier und übermorgen Asket ist und sich in jeder Rolle vollkommen heimisch fühlt. Die Unbeständigkeit aller Lebenslagen im Orient legt es dort nahe, keine Gestaltung ganz ernst zu nehmen. Diesem Umstande tragen dann die Werturteile Rechnung: der Mann wird immer nur für das genommen, was er vorstellt, dementsprechend das Benehmen eine Wichtigkeit gewinnt, die der moderne Okzidentale kaum begreift. Wie sollte es anders sein? Wo die Erscheinung nicht wesentlich ernst genommen wird, muß der Schein hypostasiert werden. Wir Westländer glauben instinktiv an die Gottgewolltheit der äußeren Lebensstellung, weswegen wir einerseits viel weniger auf Form geben als der Osten, andererseits aber dort, wo sie uns notwendig scheinen, den Formen metaphysische Wirklichkeit zusprechen. Der Ritter muß sich in jeder Lage als Ritter gebärden usw. – Allein, was uns in Amerika möglich dünkt, beweist, daß auch wir es im Grunde besser wissen: über den Ozean verpflanzen wir unsere Forderungen nicht. Drüben darf auch der Ritter, dem es daheim nicht glücken wollte, als Kellner sein Brot verdienen; dort nimmt auch er, ohne Wimpernzucken, douceurs und Trinkgelder an.

 

Ein Forscher, den sein Beruf durch alle Provinzen Indiens führt und ein hervorragender Kenner von Land und Leuten zu sein scheint, schlägt mir vor, mich ihm anzuschließen: so würde ich tieferen Einblick in das Inderleben gewinnen. Ich muß lächeln über das seltsame Verhältnis, daß eine bonne fortune wie diese mich, im Falle ich sie ausnützte, um den ganzen Zweck meiner Reise brächte. Was gehen mich die Tatsachen als solche an? Und wenn sie mich angingen, würde ich deshalb reisen? Überall sind Berufene schon gewesen, ihre Feststellungen liegen jedermann vor; die Beobachtungen, die ich persönlich anstellen könnte, hätten sicher weniger Wert als diejenigen anderer, besser hierzu veranlagter. Das selbst zu tun, was andere besser täten, ist Kräfteverschwendung und Zeitverlust. Junge, begabte Leute verkünden gern: der Mensch muß alles können. Er kann aber nun einmal nicht alles, und was er wirklich kann, das leidet unter der Zerstreuung der Aufmerksamkeit. Es ist merkwürdig, daß von allen Menschentypen die politischen allein, die doch sonst die am wenigsten metaphysisch-besonnenen sind, zwischen sich und dem verwandten Gehirn zu scheiden wissen; ihnen allein gilt es gleich, wer eine Arbeit praktisch leistet, wenn sie nur gut geleistet wird. Der Philosoph aber schämt sich meist der bloßen Möglichkeit, daß sein Gehirn nicht allvermögend sein könnte, und statt durch richtige Selbsteinschätzung seine Leistung aufs äußerste zu steigern, indem er das selbst vornimmt, wozu er Organe besitzt, zur Bewältigung ihm weniger liegender Probleme jedoch geeignetere Gehirne verwendet, verdirbt er sein Werk durch die Vorspiegelung, er sei der liebe Herrgott in Person. Diese Schutzgebärde der Eitelkeit kann ich bei kleinen Leuten gut verstehen; aber der Philosoph ist Organisator im ganz Großen; er könnte es sich leisten, innerlich freier zu sein. Nun, ich selbst bin es – so weit ich's bin – auch erst seit gestern. Was habe ich nicht alles unternommen in den ersten Zeiten des Flüggeseins! Die Jahre machen einen weiser. Heute ziehe ich die Augen anderer meinen eigenen vor, wenn es gilt, exakt zu beobachten; wo ein Experiment durch die Eindrucksfähigkeit des Experimentators an Beweiskraft verlieren könnte, ersetze ich mein Nervensystem durch ein robusteres; ist eine logische Kette zu konstruieren, um eine erkannte Prämisse mit einem erahnten Ergebnis zu verbinden, so überlasse ich das, wo immer es geht, besseren Logikern, als ich einer bin, und alle Intuitionen, die Spezialgebiete betreffen, gebe ich, sofern sie irgend beachtenswert erscheinen, als Anregungen den Herren vom Fache weiter. Ich für meine Person beschränke mich darauf, mich in den Sinn der Dinge zu versenken. Hierbei nun wirkt der Andrang zu vieler Tatsachen nicht fördernd, sondern hinderlich. Die Grundtöne einer Welt sind dem, der sie überhaupt heraushören kann, aus wenigen Akkorden vernehmlich; zuviel Musik verwirrt das Ohr.

Die Notwendigkeit der Beschränkung wird, was das Objekt betrifft, wohl von allen theoretisch anerkannt. Die wenigsten aber scheinen zu wissen, daß auch das Werkzeug, das Ich, der Beschränkung bedarf, vor allem bezüglich der Einflüsse, denen es ausgesetzt wird; daher verschreit man unsereinen so oft als Sonderling, Egoisten und Eigenbrötler. Mir z. B. wird es an Bord als Hochmut ausgelegt, daß ich mich von meinen Mitreisenden soweit als tunlich fernhalte. Die wahre Ursache ist die, daß ich mein spezifisches Geistesvermögen nur in vollendeter Abgeschiedenheit ausüben kann. Wenn ich leisten soll, wozu ich da bin, muß mein Nervensystem reingestimmt, die Aufmerksamkeit unbefangen, mein Gemüt seren sein; und diese Bedingungen sind ihrerseits an Vorbedingungen geknüpft. Es mag wohl sein, daß solche Rücksichtnahmen den Menschenwert auf die Dauer beeinträchtigen, aber dieser Einwand bedeutet nichts: der Geistesarbeiter muß soweit selbstlos sein, daß er die mögliche Schädigung auf sich nimmt; er muß – um das Verhältnis durch eine mythisch-extreme Formulierung desto eindringlicher darzustellen – seine ewige Seligkeit zu verscherzen bereit sein, sofern er dank unheiligem Leben zu tieferen Erkenntnissen gelangt; er muß im selben Sinn ausschließlich seiner Aufgabe leben, wie eine gute Mutter ihrem Kind. Leider ist es ja nicht wahr, daß alle Vollkommenheiten in einer Richtung belegen seien; die Vollendung eines Werks erfordert andere Bedingungen als die persönlichen Daseins. Wo es nun zu wählen gilt zwischen einer mittelmäßigen Selbstverwirklichung im Leben und einer bedeutenden im Werk, ist diese jener vorzuziehen. Eine tiefe Erkenntnis, von einem unvollkommenen Menschen gefunden und ausgedrückt, kann der ganzen Menschheit zum Heil werden. Die menschliche Vollendung in dem Sinn über die anderen zu stellen, wie dies gemeiniglich geschieht, ist ein Beweis primitivsten Egoismus nicht allein, sondern auch grundsätzlichen Mißverstehens. Wer lebt denn buchstäblich »sich selbst«, wer kann es tun? Keiner. Zwischen dem, der seiner persönlichen Vollendung lebt, seinem Werk, seinen Mitmenschen oder seinem Kinde, besteht vor Gott kein Unterschied. Jeder lebt einem Überindividuellen. Denn ja auch das, was wahrscheinlich den Tod überdauert, jenes Ich, dessen Unsterblichkeit der Christ postuliert, ist nicht die Person: es ist die Frucht, die sie nur austrägt und gebiert.

 

Ich habe nachgezählt: unter den Reisenden sind wirklich dreiundzwanzig verschiedene Nationalitäten nachweisbar. Man sollte also meinen, daß die Besatzung einen äußerst uneinheitlichen Eindruck machen würde. Das Gegenteil davon ist der Fall: die Leute unterscheiden sich kaum voneinander, wenn ich vom Äußerlichen absehe und der innerstseelischen Welt und mich an den greifbaren Charakter halte.

Dies ist der Erfolg eines bloß vierzehntägigen Zusammenseins im nicht einmal engen Raume eines Ozeandampfers. Wird zwischen Noah, Löwe und Schaf gegen Ende der Sintflut überhaupt ein Unterschied bestanden haben? – Jeder ist als Erscheinung immer nur so viel, als er zur Geltung bringen kann, und wird mehr oder weniger, so oder anders je nach den Zügen, die von seiner Umgebung aufgefaßt werden: dies erklärt die ungeheure Macht des Milieus. Das von Paris z. B. steigert jeden Geist, dem es einigermaßen kongenial ist. Man versteht auch, was einem selbst nie eingefallen wäre, und das Verständnis löst neue Einfälle aus: in Paris, dessen gebildete Kreise die geistig behendesten der Welt sind, findet diese Fortentwicklung mit solcher Geschwindigkeit statt, daß das Denken überhaupt nicht zum Stillstand gelangt und von einem Standpunkt oft mit einem Ruck zu einem so viel höheren hinaufgetrieben wird, wie es ihn in anderer Umgebung nie erklommen hätte. Deswegen sind Geister, die in Hauptstädten ausgebildet wurden – wie dem alten Athen, Florenz, Alexandrien, Rom, Paris –, provinziellen immer überlegen. – Genau im gleichen Verstand bewirkt langwieriges Zusammengepferchtsein auf einem Dampfer eine solche Banalisierung, daß zuletzt der Unterschied zwischen Mensch und Tier verschwimmt. In dieser Welt kommen nur die allerbanalsten Züge (eben die, welche der wertvollere Mensch aus Taktgefühl bei sich und anderen ignoriert) zur Geltung, und deren Spiegelbild, das ihm die nächste Umgebung dauernd vorhält, macht sie ihm schließlich dermaßen bewußt, daß er so wird, wie seine Umgebung ihn auffaßt. – Das Milieu eines Ozeandampfers bezeichnet die beste mir bekannte Karikatur der »Welt«, dieses mächtigen Verdürftigungsmittels. Ich bin alles eher als weltfeindlich gesinnt; jeder, wer es auch sei, muß mit seinen Mitmenschen Fühlung behalten, wenn er nicht innerlich verkrüppeln soll, und der Verkehr in der vornehmen Gesellschaft ist der vielleicht fördersamste Weg hierzu. Hier zwingt einen die Sitte, auf den zu achten, über den man sonst wahrscheinlich hinwegsähe, hier herrscht das durchschnittlich, d. h. allgemein Menschliche vor und äußert sich zugleich in einer Form, die es annehmbar erscheinen läßt. Gerade der innerlich Einsame, der Philosoph, muß Weltmann sein, wenn er verderblichen Rückbildungen vorbeugen will. Aber es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen einem Besuchen der Welt und dem Aufgehen in ihr. Dieses wirkt immer und auf jeden verdürftigend. Auf jeden, bis auf den, dessen Typus ich den repräsentativen heißen möchte. Es gibt Männer, es gibt vor allem Frauen, die ihr Leben auf die sinnloseste Weise vertun und daran nicht verkümmern, sondern wachsen. Seine Vollendung hat dieser Typus im 18. Jahrhundert gefunden. Was läßt sich Leereres erdenken als das Leben der großen Damen von dazumal? Keine echte Liebe kannten sie, kein ernstes Interesse, ihr Dasein ging ganz in Gerede und Getändel auf. Und doch waren viele unter ihnen tief, und ihre Tiefe fand an ihrer Existenz kein Hemmnis, sondern ein Ausdrucksmittel: sie beseelte ihren esprit, ihre Lebenskunst. Daher kommt es, daß die Frivolität jener Zeit mitunter einen Eindruck von Ernst und Tiefe hervorbringt, der einen befremdet und träumen macht ...

Das Milieu ... da ich gerade dabei bin, möchte ich doch einen Gedankengang niederschreiben, der von Zeit zu Zeit, so kurios er ist, immer wieder in meinem Bewußtsein auftaucht. Je nach der Umwelt, in der man sich befindet, gewinnen andere Züge die Oberhand: sollte das nicht auch im Fall der inneren Umwelt wahr sein, im Falle dessen, was die meisten mit »sich« identifizieren? Ich kann in den Charakterunterschieden zwischen Kind, Mann und Greis nur eine Reflexwirkung des Milieus erblicken. Ein tiefbewußtes Kind nimmt die Weisheit des Greises vorweg, und der innerlich freie Greis kann jung bleiben bis zur Stunde seines Todes: dieses deute ich mir manchmal dahin, daß sich je nach der physischen Konjunktur andere Eigenschaften manifestieren. Die Nerven des Greises können nicht kindlich reagieren und umgekehrt. Ein gleiches gilt sicher wohl auch von Mann und Weib, wenn ich deren Unterschiede vom metaphysischen Selbst her betrachte. Die Tatsachen der Vererbung legen die Deutung nahe, daß in jedem Individuum sämtliche Eigenschaften der Voreltern latent enthalten sind; welche sich jeweilig ausprägen, hängt von den Umständen ab. Tritt sonach ein Individuum – an sich selbst der Träger sämtlicher Vererbungsfaktoren – als Weib in die Erscheinung, so können sich die männlichen Züge nicht äußern und umgekehrt. Von hier aus sieht man, wie töricht es ist, vom Mann weibliche Tugenden zu verlangen und dem Weibe seine Unzulänglichkeit auf der männlichen Linie zum Vorwurf zu machen. Möglicherweise hätte die Entität, die als Mann den Cesare Borgia ergab, als Weib in einer Krankenschwester ihren entsprechenden Ausdruck gefunden ... Warum soll ich nicht noch weiteren Möglichkeiten nachsinnen? – In dieser feuchten Hitze entspannen sich alle Hemmungen; ich beginne sehr gleichgültig zu werden gegenüber der Erkenntniskritik; ich spüre Lust, im Reich unbegrenzter Möglichkeiten zu verfließen. – Gesetzt, es gäbe so etwas wie ein Himmelreich, wie ein seliges Leben nach dem Tode. Diese Existenzform, wie sie von der Mythologie aller Völker einsinnig dargestellt wird, scheint schlechterdings undenkbar, solange man voraussetzt, daß die Menschen nach dem Tode das bleiben, was sie vorher waren. Aber könnte es nicht sein, daß unter »Himmel« ein inneres Milieu verstanden wird, in dem das Negative, das Schlechte, das Verderbliche im selben Sinn nicht zur Äußerung gelangt, wie die weiblichen Potenzen im männlichen Organismus? Dagegen läßt sich a priori nichts sagen. Nur kann das Leben im Himmel dann freilich kein Schlußstadium bedeuten ... Wieder einmal durchfährt das Schiff eine Herde rosenroter Quallen, deren Schirme nun im aufgeregten Wasser direktionslos hin und her klappen. Wie wäre es, wenn sich mein Selbst durch einen Medusenkörper auszudrücken hätte? Das meiste dessen, was eine Menschenseele ausmacht, fiele dann fort; nur ein geringer Bruchteil meines Wesens träte in die Erscheinung. Aber dieser Bruchteil wäre vermutlich einer, der im Menschen keine Äußerungsmöglichkeit findet.


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