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Adyar

Einer Einladung Mrs. Annie Besants Folge leistend, habe ich mich auf eine Weile in Adyar, dem herrlich belegenen Hauptquartier der Theosophischen Gesellschaft, niedergelassen. Man mag der theosophischen Bewegung gegenüberstehen, wie man will: unleugbar ist ihr Verdienst um die Erschließung der Weisheit des Orients. Diese vermittelt sie freilich persönlich in einer Form, die ihr einen guten Teil ihres eigentümlichen Charakters nimmt. Dem westlichen, speziell dem angelsächsischen Temperamente entsprechend, legt sie den Nachdruck vielfach auf das, was dem Osten als das Unwesentlichste gilt, so sehr, daß oft eine gleiche Lehre in der Theosophie mit dem entgegengesetzten Vorzeichen figuriert wie unter den Indern. So bedeutet die Aussicht endloser Wiederverkörperung den Theosophen nichts Schreckliches, sondern eine frohe Botschaft; sie sehnen sich, mit verschwindenden Ausnahmen, nicht im mindesten aus der Welt der Gestaltung hinaus. Lebensbejahend im praktisch-empirischen Sinne, wollen sie aufsteigen in der Stufenleiter der Wesen, nicht anders, wie man in diesem Leben avanciert. Alle Theosophen, die mir begegnet, hängen, im schroffen Gegensatze zu den Indern, am Individuum. Diese Akzentverlegung – als solche berechtigt genug, denn es ist offenbar eine Frage des Temperamentes, ob man das Dasein bejaht oder verneint – hat dann mittelbar auf die Lehren selbst modifizierend eingewirkt, und dies unstreitig zu deren Nachteil in philosophischer Hinsicht. Einmal hat sich der indische Spiritualismus in erheblichem Grade zu angelsächsischem Materialismus metamorphosiert: es wird in theosophischen Textbüchern so viel Gewicht auf die Erscheinungsformen des Geistes (die als solche natürlich materiell sind) gelegt, daß die meisten, die sie gläubig studieren, die Überzeugung gewinnen müssen, die Formen seien das Wesentliche, welche Überzeugung eben den Materialisten definiert. Ferner ist unter den Händen der Theosophen die indische Lehre von der wesentlichen Selbständigkeit des Individuums, die sich von Stufe zu Stufe steigert, gegenüber der anderen, daß es vorläufig der Anleitung bedarf, so sehr zurückgetreten, daß die Theosophische Religionsgemeinschaft trotz aller gegenteiligen Versicherung mehr und mehr zu einer Art katholischer Kirche auskristallisiert, innerhalb welcher Autoritätenglauben, Dienstwilligkeit und Gehorsam als Kardinaltugenden gelten. Aber das mußte wohl so kommen. Die indische Weisheit konnte wohl unter Westländern nicht popularisiert werden, ohne eine wesentliche Umdeutung zu erleiden; das Katholisieren liegt im Zuge der Zeit; und dann kommt es ja den Theosophen nicht auf Fortpflanzung der indischen Lehren an, sondern auf den Sieg ihres persönlichen Glaubens. Sie sind Anhänger einer neuen Religion. Gegen solche wird nichts Wesentliches bemerkt, indem man ihnen wissenschaftliche Irrtümer nachweist.

So unzulängliche Adepten der indischen Weisheit die Theosophen als Philosophen und Metaphysiker sein mögen – in einer Hinsicht sind sie ohne Zweifel deren echte Jünger: als Okkultisten. Dies macht sie mir äußerst interessant. Seit Jahren schon interessiere ich mich für die Geheimlehren des Altertums; so viel an wichtigeren Schriften, die sie betreffen, Nichtmitgliedern okkulter Gemeinschaften zugänglich ist, habe ich wohl gelesen und die philosophische Überzeugung gewonnen, daß sie, was die behaupteten Tatsachen betrifft, viel Wahres enthalten. Es heißt die Einbildungskraft der Menschheit stark überschätzen, wenn man ihr zutraut, alles das frei erfunden zu haben, was von anderen, »höheren«, Welten berichtet wird; es heißt allen Regeln der Kritik zuwiderhandeln, wenn man die staunenswerte Übereinstimmung der Geheimlehren aller Völker und Zeiten vom Altertum bis zur jüngsten Gegenwart in sämtlichen wesentlichen Punkten für nichts erachtet; es heißt das Problem auf unerlaubte Weise vereinfachen, wenn man, ohne eine Spur von Berechtigung dazu, sonst als ehrlich bekannte Menschen des bewußten Schwindels zeiht. Höchstwahrscheinlich, ja sicher ist viel Unrichtiges in den Geheimlehren überliefert, viel Einbildung, viel Phantasmagorie. Aber wer sich, wie ich, die Mühe nimmt, sie ernstlich zu studieren, wird die Überzeugung gewinnen, daß nicht alles Einbildung ist; daß die Möglichkeit von vielem gewiß und die Wirklichkeit wahrscheinlich ist.

Die Wirklichkeit gar vieler seltsamer Phänomene, die vor kurzem noch für unmöglich galten, ist heute erwiesen: an der Telästhesie, Telekinesie, am Vorkommen von Materialisationen – was immer diese bedeuten mögen – können nur noch Unwissende zweifeln. Ich war ihres Vorkommens gewiß, als noch nichts erwiesen war: ich wußte, daß sie möglich waren im Prinzip, hielt es ferner für ausgeschlossen, daß so viele phantasiearme Menschen so durchaus übereinstimmende merkwürdige Erfahrungen machen könnten, ohne daß diesen irgendein wirkliches Objekt entspräche. Wer sich ernstlich vertieft in das Problem der Wechselwirkung von Körper und Geist, von Lebensmaterie und Lebensprinzip, der wird erkennen, daß zwischen dem Bewegen der eigenen Hand und dem eines fernen Gegenstandes kein prinzipieller Unterschied besteht; ebensowenig zwischen jeder anderen Nah- und Fernwirkung. Wenn ich meinem Nachbarn Gedanken übertragen kann – ob durch Worte, Gebärden, Blick oder Übertragung im psychistisch-technischen Sinne, bleibt sich gleich –, so muß dies im Prinzip auch Antipoden gegenüber möglich sein, denn das Unverständliche liegt im Beeinflussen der Materie durch den Geist überhaupt; findet solche irgendwo statt, dann sind die Grenzen möglicher Wirksamkeit nicht abzusehen, denn zwischen allen Punkten des Universums vermitteln Kräfte. In eben dem Sinne ist mir vieles gewiß, was des objektiven Nachweises noch harrt: so das Dasein von Ebenen der Wirklichkeit, die den astralen, mentalen usf. der Theosophie entsprechen. Zweifellos handelt es sich beim Denken und Fühlen um das Bilden und Aussenden von Gestalten und Strömungen, die, wenn sie auch nicht materiell sind im Sinn der Faßbarkeit durch die Mittel der bisherigen Physik, doch gewiß als materiell betrachtet werden müssen. Alle Erscheinung ist ipso facto materiell, d. h. muß den Kategorien von Kraft und Stoff gemäß begriffen werden, eine Idee nicht minder als ein Chemikal: denn die Fassung einer Idee gehört unter allen Umständen dem Reich der Phänomene an, wie sehr ihr Sinn immer ein Noumenon sei, und die Fassung ist es, die sie vergegenständlicht, die sie verwirklicht und übertragbar macht. Im Fall des gesprochenen oder geschriebenen Wortes liegt dieser materielle Charakter der Gedankengebilde auf der Hand; aber sicher gilt gleiches von ihnen, sofern sie nur gedacht werden, denn auch subjektive Vorstellungen sind Erscheinungen eines vorher Unexistierten in der Welt der Anschaulichkeit, mithin echte Materialisationen, von denen auch schon nachgewiesen ist, daß sie übertragbar und folglich objektiv wirklich sind. Nun konstruiere man weiter: es gäbe eine Möglichkeit, die stofflichen Bildungen, welche beim Denken und Fühlen entstehen und vergehen, unmittelbar als solche wahrzunehmen: damit wäre man in die höheren Sphären des Okkultismus hinaufgelangt. Daß solche Möglichkeit praktisch vorliegt, steht wissenschaftlich noch nicht fest; prinzipiell vorhanden ist sie sicher, und wer nun liest, was C. W. Leadbeater z. B. über diese Sphären zu erzählen weiß, der kann kaum zweifeln, daß er in ihnen zu Hause ist, denn alle Aussagen, die unsereiner kontrollieren kann, insofern sie mit Ereignissen unserer Lebenssphäre in unmittelbarem Zusammenhang stehen, sind in sich so wahrscheinlich, stimmen mit dem bekannten Charakter des Psychischen so gut überein, daß es viel wunderbarer wäre, wenn Leadbeater unrecht hätte. Vor allem aber sind es erkenntniskritische Erwägungen, die mir die Behauptungen der Okkultisten wahrscheinlich machen. Unzweifelhaft ist die Wirklichkeit, die wir normalerweise erfahren, nur ein qualifizierter Ausschnitt der ganzen Wirklichkeit, in seinem Sosein bedingt durch unsere psycho-physische Organisation (das ist der eigentliche Sinn der Lehre Kants: »meine Welt ist Vorstellung«). Aus dieser Gewißheit ergibt sich die weitere, daß, falls es gelänge, eine andere Organisation zu erwerben, die bloß-menschlichen Grenzen und Normen ihre Gültigkeit verlieren würden. Die Natur, die wir mit den Sinnen wahrnehmen und dem Verstand verarbeiten, ist nur unsere »Merkwelt«, wie Uexküll sagen würde (vgl. seine Innenwelt und Umwelt der Tiere, Berlin 1909, J. Springer), die von Kant und seinen Nachfolgern nachgewiesenen Erkenntnisformen bezeichnen nur den Bauplan einer spezifischen Psyche (vgl. meine Prolegomena zur Naturphilosophie): also müßte, falls dessen Grenzen verschiebbar sind, nicht allein eine Erweiterung, sondern ein Überschreiten des kantischen Rahmens möglich sein. Ob es de facto möglich ist, steht wissenschaftlich nicht fest; aber mir scheint es doch sehr bedeutsam, daß die Behauptungen der Okkultisten vom Anfang bis zum Ende den Postulaten der Kritik entsprechen: sie lehren sämtlich, daß das Mehr- und Anderserfahren an die Ausbildung neuer Organe gebunden ist; daß es sich beim Hellsichtigwerden um genau das gleiche handelt, wie um den Gewinn des Augenlichts seitens eines Blinden, und das Hinübergleiten auf »höhere« Ebenen der Wirklichkeit nichts anderes bedeutet als ein teilweises Hinaustreten aus dem kantischen Erfahrungsrahmen. Jedenfalls täten alle Philosophen, Psychologen und Biologen gut, sich endlich einmal ernstlich mit dieser Literatur zu befassen. Ich wies unter den Schriftstellern, die in Betracht kommen, auf Leadbeater hin, obgleich dieser Seher auch unter den Seinen nicht allgemeine Wertschätzung genießt: ich tat es, weil ich von allen Schriften dieser Art die seinigen, trotz ihres oft kindischen Charakters, am instruktivsten finde. Er ist der einzige, den ich wüßte, der mehr oder minder als Naturforscher beobachtet, der einzige, welcher schlicht und einfach beschreibt. Er ist ferner im gewöhnlichen Verstande nicht begabt genug, um, was er zu sehen behauptet, zu erfinden, oder, gleich Rudolf Steiner, so weit geistig zu verarbeiten, daß es schwierig erschiene, etwaiges Wahrgenommenes vom Hinzugetanen abzuscheiden. Er ist seinem Stoff intellektuell kaum gewachsen. Trotzdem stoße ich wieder und wieder bei ihm auf Behauptungen, die bald in sich wahrscheinlich sind, bald philosophischen Wahrheiten entsprechen: was er auf seine Weise sieht (ohne es oft zu verstehen), ist im höchsten Grade sinnvoll. Also wird er wohl wirklich Vorhandenes gesehen haben.

Hiermit will ich keineswegs für das theosophische System, wie es heute dasteht, eintreten, noch für irgendein sonst überliefertes okkultistisches Lehrgebäude. Ich hege starke Zweifel an der Richtigkeit der meisten Deutungen, welche die beobachteten Tatsachen in diesen erfahren, und was diese selbst betrifft, so fehlt mir jede Möglichkeit, das nachzuprüfen, was mit normalen Bewußtseinsvorgängen nicht irgendwie zusammenhängt. Ich weiß nicht, ob jede Ebene besondere Faunen beherbergt, ob es Geister, Elementarwesen und Götter gibt, und ob diese Geschöpfe, falls vorhanden, die Eigenschaften haben, welche Hellseher ihnen leidlich übereinstimmend zuerkennen. Es mag wohl sein; sicher ist die Natur viel reicher, als sie von unserer beschränkenden Bewußtseinslage her erscheint, und ein ehrlicher Mann, der astrale Wesenheiten wahrzunehmen behauptet, ist unter allen Umständen beachtenswerter, als sämtliche Kritiker zusammengenommen es sind, die aus empiristischen oder rationalistischen Erwägungen heraus die Möglichkeit solchen Erfahrens ableugnen. Sicher sind endlich, um auch das Äußerste nicht unerwähnt zu lassen, ekstatische Gottschauer medizinisch nicht erschöpfend zu begreifen. Solche erleben, was keine »normale« Natur sich auch nur einigermaßen anempfinden kann, und daß ihre Erlebnisse nicht in der Richtung der Phantasmagorie allein belegen sind, erhellt unzweideutig daraus, daß Gottschauer allemal auf einer spirituell höheren Stufe stehen als die meisten anderen, und daß sie es sind, welche in alter Geschichte nicht allein die stärksten, sondern auch die segensreichsten Kräfte verkörpert haben. Den nächstliegenden Einwand gegen das Gottschauen hat schon Al Ghazzâli entkräftet. »Es gibt Menschen,« schreibt er, »die blind oder taub geboren sind. Die ersteren haben keine Idee von Licht und Farbe, noch kann man ihnen eine solche beibringen, und die letzteren können sich keinen Begriff vom Schall machen. So sind Verstandesmenschen der Intuitionsgabe beraubt: berechtigt sie das, diese zu leugnen? Die, welche sie besitzen, sehen das Göttliche mit dem Auge des Geistes. Nun könnte man freilich sagen, teilt mit, was ihr seht. Allein, was hilft es, wenn ich einem Sehenden eine Gegend, in der er nie gewesen ist, noch so lebhaft schildere, er kann sich doch keinen richtigen Begriff von ihr bilden, geschweige denn ein Blindgeborener.« Zum Erfahren des Übernormalen ist nach der ausdrücklichen Aussage sämtlicher Okkultisten eine Verschiebung der Bewußtseinslage vonnöten; also erscheint es a priori aussichtslos, von der unserigen her okkulte Erfahrungen nachzuprüfen. Man hätte ein Recht zur radikalen Skepsis, wenn zweierlei der Fall wäre: wenn erstens eine Verschiebung der Bewußtseinslage, welche neue Erfahrungsmöglichkeiten eröffnete, im Prinzip undenkbar wäre, und wenn zweitens die Mittel nicht angegeben würden, die sie herbeiführten. Beide Voraussetzungen treffen nicht zu. Das Vorhandensein verschiedener Bewußtseinslagen mit verschiedenen Erfahrungsmöglichkeiten ist Tatsache. Die Libelle bemerkt anderes als der Seestern; die Welt des Menschen ist reicher als die des Oktopus. Und kaum geringer sind die Unterschiede zwischen den Erfahrungsmöglichkeiten verschieden begabter Menschen. Der geborene Metaphysiker nimmt geistige Wirklichkeiten unmittelbar wahr, deren Dasein andere Menschen nur erschließen können, und alle Metaphysiker erleben Ähnliches. Der kluge Mensch erfährt mehr und anderes als der Dumme, denn »Verstehen« ist ein genau so unmittelbares Erfassen spezifischer Wirklichkeiten wie »Sehen«, und der Dumme kann nicht verstehen. Endlich verfügt der Mensch, wie jedermann weiß, im hypnotischen Schlaf über Fähigkeiten, die er im normalen Wachzustande nicht besitzt. Daß es also überhaupt verschiedene Bewußtseinslagen gibt, ist sicher. Nun aber, was den Weg betrifft, um die zu erreichen, die zum okkulten Erleben erforderlich scheint: dieser Weg ist mit einer Genauigkeit überliefert, die nichts zu wünschen übrig läßt; dazu seitens sämtlicher Sekten mit vollendeter Übereinstimmung. Also fällt auch das zweite prinzipielle Bedenken weg. Wer die Behauptungen der Okkultisten nachprüfen will, der unterziehe sich dem Training, das die Organe der Hellsichtigkeit ausbilden soll. Erst wer sich den Angaben gemäß geschult hat und dann nichts sieht, hat ein Recht, die Richtigkeit ihrer Aussagen zu bestreiten. Tut unsereiner dies, so ist das ebenso lächerlich, wie wenn einer mit bloßem Auge die Richtigkeit der Beobachtungen nachprüfen wollte, die der Astronom mit seinem Teleskope anstellt.

Die Methode des Trainings, das zu einer Erweiterung und Vertiefung des Bewußtseins führt, haben von allen die Inder am meisten ausgebildet; die indische Yoga ist es, der die Führer der theosophischen Bewegung eingestandenermaßen ihr okkultes Können verdanken. Ich habe mich sowohl mit Mrs. Besant als mit Leadbeater über diese Fragen ausführlich unterhalten. Beide sind zweifellos aufrichtig; beide behaupten über Erfahrungsmöglichkeiten zu verfügen, von denen einige von abnormen Zuständen her bekannt, die meisten aber ganz unbekannt sind; und beide behaupten sich ihre Kräfte erarbeitet zu haben. Leadbeater zumal hatte ursprünglich gar keine »psychistischen« Anlagen. Was nun Annie Besant betrifft, so ist eines mir gewiß: diese Frau beherrscht ihre Person von einem Zentrum her, das ich nur von ganz wenigen Menschen bisher erreicht gesehen habe. Sie ist begabt, aber längst nicht in dem Maße, wie man aus dem Eindruck ihres Lebenswerkes folgern möchte. Was ihre Bedeutung macht, ist die Tiefe des Seins, von dem aus sie ihre Gaben regiert. Wer mit einem unvollkommenen Instrument gut umzugehen weiß, vollbringt mehr mit ihm, als ein Ungeschickter mit einem besseren. Mrs. Besant hat sich – ihr Können, Denken, Fühlen, Wollen – so sehr in der Hand, daß sie dadurch größerer Leistungen fähig erscheint als höher Begabte. Das verdankt sie der Yoga. Wenn Yoga so viel vermag, dann mag sie auch mehr noch vermögen; dann erscheint sie unter den Wegen zur Selbstvervollkommnung des obersten Ranges gewiß.

 

Ich benutze die reichen Gelegenheiten der Adyar-Bibliothek, um meine Kenntnisse, die Yoga betreffend, zu vervollständigen Das klassische Werk über Yoga sind die Yoga-Sutras des Patânjali, die vielfach in englischer Übersetzung herausgegeben worden sind; die beste scheint mir die von Râma Prasad zu sein, schon allein deshalb, weil sie den besten indischen Kommentar, den von Vyasa, mitübersetzt. Eine Reihe wichtigerer Traktate über das gleiche Problem aus der altindischen Literatur enthält Rajaram Tookarams Compendium of the Raja-Yoga philosophy (Bombay 1901, Theosophical Publication Fund series). Sonst sind an indischen Schriften hauptsächlich zu berücksichtigen: Shankarâchâryas Crest Jewel of Wisdom, Vijnana Bhikshus Yogasara-Sangraba, Swami Sri Vidyâranyasarswatis Jivanmukti-Viveka und Swatmaram-Swami's Hatha-Yoga Pràdipika (alle bei der Theosophical Publishing Society in London und bei Otto Harrassowitz in Leipzig erhältlich). An neueren Schriften kommen vor allem die des Svami Vivekânanda in Betracht und das vortreffliche Büchlein Kishori Lal Sarkars The Hindu System of Selfculture. Lesenswert sind Annie Besants Thought-Power und An introduction to Yoga, ferner die »geisteswissenschaftlichen« Arbeiten Rudolf Steiners, obschon diese nicht der eigentlichen Yoga-Literatur angehören. (S. über deren Sondercharakter meinen Aufsatz Für und wider die Theosophie in Philosophie als Kunst, Darmstadt 1920, Otto Reichl Verlag.) Einen guten allgemeinen Überblick über die verschiedenen Methoden der Selbstvervollkommnung gibt William J. Flaggs Werk Yoga or transformation, London, William Rider & Son.. Fasse ich das, was in den Schriften der Inder enthalten ist, mit den Yoga-Vorschriften des klassischen Altertums, der Ägypter, der Chinesen, der christlichen Kirche und der modernen Wissenschaft dem Sinne nach zusammen – und das ist durchaus möglich –, so finde ich, daß es dabei, wenn ich von der Erschaffung neuer psychischer Organe absehe, welcher Prozeß noch in großes Dunkel gehüllt ist und vermutlich bleiben wird, wie alles lebendige Entstehen, das wohl ausgelöst und begünstigt, aber nie »gemacht« werden kann, im wesentlichen auf folgendes ankommt: erstens und vor allem auf Ausbildung des Konzentrationsvermögens; zweitens auf Stillung der psychischen Selbsttätigkeit; drittens auf Vitalisierung der Seelenvorgänge, deren Vorherrschen erwünscht erscheint. Im vorausgesetzten Ziel der Ausbildung gehen die Systeme natürlich auseinander: bald gelten Zauberkräfte als zu gewärtigender Erfolg, bald die Vereinigung mit Gott, Aufgehen im Absoluten, oder irdisches Wohlergehen; hier stimmen sie nur darin überein, daß Yoga das Leben potenziert. Hinsichtlich der Technik ist insoweit Divergenz vorhanden, als bald auf physische, bald auf psychische Übungen das Hauptgewicht gelegt, und unter diesen bald diese, bald jene bevorzugt wird. Aber dem Sinne nach stimmen alle überein.

Die innere Wahrheit dieses Sinns springt nun dermaßen in die Augen, daß ich mich darüber wundere, daß Yoga-Praxis nicht schon längst in den Plan jeder Erziehungsanstalt aufgenommen worden ist. Unzweifelhaft ist alle Steigerung der Lebenskräfte Funktion ihrer gesteigerten Konzentration; unzweifelhaft bezeichnet Konzentration die technische Basis jedes Fortschritts. In der Liebe, in jeder Leidenschaft, die »Wunder wirkt«, erscheinen die psychischen Kräfte konzentriert; eine starke Persönlichkeit ist gesammelter als eine schwache. Aller Fortschritt in der Erkenntnis beruht auf Zuspitzung der Aufmerksamkeit, aller charakterliche auf Verdichtung der zerstreuten Anlagen um einen ideellen Mittelpunkt herum, aller spirituelle auf Durchseelung des psychischen Komplexes durch das tiefste Selbst, was nur durch Verinnerlichung, d. h. Konzentration gelingt. Konzentration bezeichnet unzweifelhaft den Weg zur Vervollkommnung; gibt es Mittel, wie die Yoga-Philosophie behauptet, diese Fähigkeit zu einem Grade zu steigern, der alle bekannten tief unter sich läßt, so ist deren Anwendung entschieden ratsam. – Der Wert des zweiten Zieles alles Yoga-Trainings, der Stillung der psychischen Selbsttätigkeit, leuchtet ebenso ein. Mit jeder überflüssigen Bewegung wird Kraft vergeudet. Wir verfügen über ein beschränktes Maß von Energie; je weniger wir sinnlos verausgaben, desto mehr bleibt zu sinnvoller Verwendung. Nun vertut jeder gewöhnliche Mensch unverantwortlich viel Kraft auf dem Weg automatischen Vorstellungsspiels; in seinem Bewußtsein löst sich zwecklos in rasender Eile Inhalt auf Inhalt ab. Gelingt es, dies Geschehen aufzuhalten, so wird die Kraft erspart, die sonst verschleudert würde; sie sammelt sich an. Und lernt es einer, den automatischen Vorstellungslauf dauernd einzudämmen, so wie alle es lernen, den ursprünglich zappeligen Körper ruhig zu halten bis auf die Zeiten, da sie ihn wirklich brauchen, so mag es gut sein, daß die aufgespeicherte Kraft solche Umsetzungen im Organismus einleitet, daß in diesem neue Fähigkeiten erwachsen. Über den Wert des Stille-Haltens als solchen kann kein Zweifel bestehen. Alle starken Geister sind wesentlich dadurch ausgezeichnet, daß sie nicht fahrig sind; daß sie nach Willkür ein- und auszuspannen und mit der Aufmerksamkeit länger bei einer Sache zu verweilen vermögen, als schwächere. Sie sind eben Herren ihres Vorstellungsverlaufs, nicht Knechte ihres Automatismus; sie strahlen die Energie, die sie haben, nicht andauernd aus, sondern lassen sie sich ansammeln bis zum Augenblicke des Bedarfs. Dieser Stillung der Seele, um in der Sprache der Mystiker zu reden, dienen die meisten der Yoga-Übungen. Alles Meditieren besteht darin, daß das Bewußtsein angehalten wird, in regungsloser Lage zu verweilen – gleichviel, ob zu diesem Zweck ein äußerer Gegenstand, eine Idee oder Vorstellung oder das Nichts fixiert wird. Einesteils handelt es sich hierbei um eine Übung in der Konzentration, aber zum größeren Teil um ein Üben im reinen Stillehalten, und ich kann aus eigener Erfahrung sagen, daß dieses scheinbar Sinnloseste und so oft Verlachte das Wichtigere ist; denn ganz abgesehen davon, daß anfangs nicht wenig Konzentration dazu gehört, die sich drängenden Vorstellungen im Schach zu halten, bedingt die bloße Kraftansammlung, die das Stillehalten mit sich bringt, ein Anwachsen des Konzentrationsvermögens. Es ist unglaublich, wieviel Bedeutung für das innere Wachstum noch so kurze, aber regelmäßig eingehaltene Meditationsstunden haben. Ein paar Minuten bewußten Stillehaltens jeden Morgen bewirken mehr als die strengste Schulung der Aufmerksamkeit durch die Arbeit. Hierauf beruht unter anderem die stärkende Wirkung des Gebets.

Das dritte wesentliche Moment bei aller Yoga-Praxis bezeichnet das Vitalisieren erwünschter Vorstellungsabläufe. Dessen Bedeutung steht gar nicht in Frage, da jedermann weiß, daß alle Erziehung letzthin auf suggestiver Einwirkung beruht. Nur behauptet die Yoga-Philosophie, daß Suggestion sehr viel mehr noch vermag, als wissenschaftlich erwiesen ist: sie soll nicht allein das gegebene psychische Gleichgewicht umlagern, sondern ihm neue Elemente einverleiben können. Man bilde sich nur andauernd ein, daß man eine bisher nicht vorhandene, aber erwünschte Eigenschaft besitzt, im starken Verlangen, daß diese bald in einem entstehen möge, und sie wird entstehen. Man stelle sich nur lange genug vor, daß gewisse, beim normalen Menschen unausgebildete Organe des Astralkörpers entwickelt sind, und sie werden sich entwickeln. In der Welt des Psychischen erschüfen Wünsche recht eigentlich den Tatbestand. – Sicher ist das wahr im Prinzip, und es mag wohl sein, daß die Dinge durchaus so liegen, wie die Yogis behaupten. Was mich zu dieser Annahme veranlaßt, sind die ungeheuren, kaum glaublichen Veränderungen, welche die geistlichen Exerzitien des heiligen Ignatius von Loyola nachweislich in denen, die sie energisch betreiben, hervorrufen. Diese Übungen – von einem Psychologen ersten Ranges erdacht – arbeiten durchaus mit der Einbildungskraft; der Praktikant muß in der Einbildung erleben, was er wirklich erleben würde, im Fall er am Ziele wäre. Auf die Dauer verändert er sich tatsächlich im Sinn des imaginierten Ideals. Die durch diese Meditationsübungen Geschulten (und das sind nicht bloß die Jesuiten) haben in hohem Grade die Eigenschaften, die sie haben sollten. Wer nun die spirituellen Exerzitien mit eiserner Konsequenz betreibt, so daß er in der Konzentration und im Stillehalten außerordentliche Übung gewinnt, der wird zu einem Menschen mit den Fähigkeiten, die von jeher als den Mitgliedern des Jesuitenordens eigentümlich und sie unheimlich-machend mit Recht gegolten haben: sie werden zu Virtuosen der Willenskraft, zu Akrobaten der Versatilität, zu Menschenkennern und -beeinflussern ohnegleichen. Sie sind eben Yogis; sie sind im selben Sinne zu Beherrschern ihrer Seele geworden, wie Athleten Beherrscher des Körpers sind; dementsprechend sind sie stark. Der höchste Typus des Jesuitenpaters, wie er nachweislich vorkommt, verkörpert einen unzweideutigen Beweis des Wertes der Yoga-Praxis.

 

Die Reflexion auf den Jesuitenorden bringt mich auf eine der häufigst mißverstandenen Seiten des Yoga-Problems: den Glauben, daß die Potenzierung und Umsetzung der Lebenskräfte irgendwie notwendig mit moralischem und spirituellem Fortschritte zusammengehe. Yoga ist an sich ein rein Technisches, gleich jeder anderen Gymnastik, kann jedem Geist zugute kommen, mit jeder Gesinnung zusammen bestehen. Es ist nicht wahr, daß moralisches Verhalten und veredelnde Arbeit an sich selbst notwendige Bedingungen zur Erlangung »okkulter« Kräfte wären; sie sind Bedingungen nur zur Spiritualisierung, was etwas ganz anderes ist. Im allgemeinen hat vielmehr der Volksglauben recht, der im Magier einen seelischen Krüppel sieht, einen Alberich, der zwecks Erlangung von Zaubermacht aller Menschlichkeit entsagt hat. Denn ernstlich betriebene Yoga-Praxis zum Zweck der Steigerung vorhandener und Erweckung neuer psychischer Kräfte (nicht der Spiritualisierung) erfordert einen solchen Grad des Sichabschließens vom meisten dessen, was die Seele erweitert, eine so ausschließliche Beschäftigung mit sich selbst, daß wohl nicht viele innerlich ungeschädigt aus solcher Schulung hervorgehen dürften. Es kommt eben ganz darauf an, in welchem Geist, auf welche Weise und woraufhin man Yoga treibt. Die Jesuiten z. B., im Höchstfalle Yogis, die den größten indischen nicht nachstehen dürften, schulen sich im Geist einer vorausgesetzten Dogmatik, vermittelst künstlicher Evokation gewollter Stimmungen, im Zeichen unbedingten Gehorsams und unbedingter Nichtberücksichtigung des eigenen Gutdünkens, zu dem Zweck, möglichst leistungsfähige Werkzeuge der Kirche zu werden. Dies hat zur Folge, daß sie nicht allein zu keiner selbständigen Erkenntnis gelangen, sondern daß sich die Frage der Überzeugung, der metaphysischen Wahrhaftigkeit, für sie immer weniger stellt, daß sie mehr und mehr zu selbstlosen Organen dessen werden, dem sie Gehorsam gelobt, in unerhörtem Grad dazu geschickt, jede beliebige ihnen zugemessene Rolle zu spielen. Wer sich im Sinne eines vorgefaßten Glaubens schult, wird immer blinder gläubig werden, wer in ausgesprochen selbstischer Absicht, bei dem wächst auch der Egoismus an. Yoga potenziert eben alle Tendenzen, die der Übende in sich bejaht. So unter anderen die hohen und edlen. Wer voraussetzungslos nach Erkenntnis strebt, kommt der Wahrheit durch sie immer näher, und entsprechend der moralischen Vollkommenheit, der Heiligkeit, der Selbstverwirklichung. Aber der, dem es ums Höchste zu tun ist, wird selten unterwegs zum Magier; diese Kräfte liegen in anderer Richtung, sind von allen großen Heiligen auch als abliegend und abführend beurteilt worden. Sie gehören eben der »Natur« an, die es zu überwinden gilt, wo Spiritualisierung bezweckt wird. Und da die Beherrschung dieser Natur, als dem Menschen normalerweise nicht zugänglich, die Aufmerksamkeit weit ausschließlicher noch in Anspruch nimmt, als irdisches Interesse, so ist es nichts weniger als verwunderlich, daß Fortschritt im Hellsehen u. ä. meist mit menschlicher Rückbildung zu Paar geht. Man lese die Schriften Leadbeaters oder Rudolf Steiners darüber nach, was ein »Geistesschüler« alles zu berücksichtigen hat, um nicht Schaden zu nehmen an seiner Seele; wer diese Lehren befolgt und nicht gefeit ist, muß selbstsüchtig werden, wofern er es nicht schon vorher war. Darin liegt an sich kein Vorwurf: auch der Künstler, der Dichter, der Denker muß vor allem zunächst an sich denken, was seine Stimmung fördern oder benachteiligen mag, wenn er Bedeutendes hervorbringen will; das muß jeder, dem seine Person das Instrument ist, auf dem er spielt. Aber Künstler, Dichter und Denker behaupten nicht, sich zu spiritualisieren, indem sie den Erfordernissen ihres Berufes entsprechend leben, wie dies der »Geistesschüler« tut. Deshalb muß es ausdrücklich betont werden, daß Kenntnis höherer Welten und Spiritualisierung in keiner Weise notwendig zusammenhängen. Im Gegenteil: der Okkultist ist, dem Volksglauben entsprechend, in der Regel menschlich minderwertig.

Das metaphysische Interesse der Yoga beruht nun darauf, daß sie den Menschen, indem sie ihn vertieft – denn Steigerung bewirkt immer zugleich Vertiefung –, fortschreitend eindeutiger macht. Kompromisse sind Produkte der Oberfläche; wird diese durch die Vertiefung entseelt, so sammelt sich alle Kraft in den Wurzelgefühlen, und diese tragen radikalen Charakter. Der vorgeschrittene Yogi ist entweder ein Liebender oder ein Hasser, ein Wissender oder ein Glaubender, äußerst selbstsüchtig oder äußerst selbstlos. Hierauf beruht der uralte Glaube an die zwei Schulen der weißen und der schwarzen Magie, und im letzten der an Ormuzd und Ahriman; hier wurzelt der Wahrheitsgehalt der Ideen eines radikal Guten und radikal Bösen. In einer gewissen Tiefenlage steht die Seele in der Tat vor zwei gleichwertig scheinenden Alternativen; sie mag die gleiche elementare Wurzelkraft mit positivem wie mit negativem Vorzeichen ausströmen lassen; Kompromisse scheinen nicht möglich. Aber diese Lage bezeichnet nicht die äußerste. Sie ist es vom Standpunkte des Willens, denn der Wille ist blind, aber die Erkenntnis dringt über sie hinaus. Dem Wissenden offenbart sich, daß der Unterschied zwischen Gut und Böse an der Wurzel mit dem zwischen Leben und Tod zusammenfällt, daß nur die positiv wirkende Kraft das Leben hinter sich hat, vom nie versiegenden Quell fortdauernd gespeist wird. Hat einer nun wirklich verstanden, dann will und handelt er auch danach; wie Guyau sagt: celui qui n'agit pas comme il pense, pense imparfaitement. Man handelt notwendig das Positive. Hier sieht man denn, unter Blitzlicht beleuchtet gleichsam, wie recht die Inder darin haben, die Erlösung in Erkenntnis bestehen zu lassen; hier ahnt man den inneren Grund des unausrottbaren Menschheitsglaubens an absolute Werte. Diese Werte werden schlechterdings positiv gedacht; negative absolute Werte sind undenkbar. Selbstverständlich: sie bezeichnen die Bewußtseinsexponenten dessen, was der Geist im tiefsten und letzten will, und im tiefsten und letzten will er leben, d. h. ausströmen in reiner, geberischer Spontaneität. Etwas höher – in der Lage, wo der Wille an sich in zwei entgegengesetzten Tendenzen; diese verzweigen sich weiter, deren Schößlinge ihrerseits, je näher der Oberfläche, desto mehr, gehen Verbindungen ein, Vermählungen, Anastomosierungen, ohne Rücksicht auf Charakter und Herkunft, bis das Geranke und Geflecht zuletzt so wirr wird, daß eine Unterscheidung und Entscheidung kaum mehr möglich scheint. So kann alle oberflächliche Gestaltung sowohl positiv als negativ gedeutet werden; nur ganz selten ist ein sicheres Urteil darüber möglich, ob eine bestimmte Handlung »gut« oder »böse« sei. So ist alles bestimmte Leben dem Tode verfallen. Aber das Leben selbst weiß weder vom Bösen noch vom Tod.

 

Als ich die voranstehenden Betrachtungen niederschrieb, hatte ich mir noch nicht klar gemacht, in wie hohem Grade das Mißverständnis, an welches sie anknüpften, die Gemüter der Theosophen beherrscht. Seitdem habe ich festgestellt, daß es überaus vielen unter ihnen vor allem um die Erlangung »höherer« Kräfte zu tun ist, deren Besitz sie als Zeichen spirituellen Vorgeschrittenseins auffassen. So erweisen sie sich denn, gerade wo sie ganz indisch zu sein wähnen, am ausgesprochendsten westlich gesinnt; sie beherrscht der echtwestliche Geist des Expansionsbedürfnisses, der Jagd nach Reichtum, nach äußerem Erfolg; denn das und nichts anderes bedeutet Streben nach den Siddhis.

Es ist wirklich so, daß zwischen den Theosophen, die in die höheren Welten hinaufwollen, und amerikanischen Prospektors ein geringerer Unterschied besteht als zwischen jenen und altindischen Rishis: Erweiterung des Bewußtseins im Sinne der Extension bedeutet einen rein biologischen Fortschritt. Nicht mehr. Der Okkultist, dessen Organe ihm Einblick in hyperphysische Sphären gestatten, ist biologisch weiter als der gewöhnliche Mensch genau im gleichen Sinne, wie der moderne, technisch geschulte Ingenieur biologisch weiter ist als sein Vorfahr, der Pfahlbauer. Unzweifelhaft ist solches Fortgeschrittensein erfreulich; nur ist es spirituell bedeutungslos. Wenn die Theosophen ihre Bestrebungen als weltliche erkennen würden, so wäre nichts gegen sie zu erinnern; ich persönlich sympathisiere mit ihnen sogar durchaus, weil ich es hocherfreulich finde, daß endlich eine größere Anzahl von Menschen, ob unter noch so irrigen Voraussetzungen, systematisch okkulte Studien betreibt. Aber es ist nicht zu leugnen, daß ihr naiver Glaube eben dort, wo sie weltlichen Vorteilen nachjagen, den Pfad der Heiligung zu wandeln, sie ein klein wenig lächerlich macht.

Merkwürdig, daß die Menschen noch immer nicht im klaren darüber sind, daß Fortschritt und Spiritualisierung verschiedenen Dimensionen angehören, obgleich kein großer Religionslehrer, von Buddha und Christus abwärts, es unterlassen hat, vor dieser Verwechslung zu warnen. Ich will versuchen, mir über ihr wahres Verhältnis in klaren Worten Rechenschaft abzulegen. Spiritualisierung bedeutet Selbstverwirklichung; das Durchdrungenwerden der Erscheinung durch ihren äußersten Sinn; ihr Beseeltwerden aus der letzten lebendigen Tiefe – heiße man diese Atman, Weltseele, Gott, Prinzip des Lebens oder wie sonst. Aus dieser Bestimmung geht schon eindeutig hervor, weswegen kein biologisches Fortschreiten als solches, und führe es noch so hoch hinan, Spiritualisierung bedingt: im Fortschreiten erweitert sich die Sphäre dessen, was vom Geiste beseelt werden kann; ob sie wirklich beseelt wird, ist eine andere Frage. In der Regel geschieht dies, solange der Fortschritt andauert, nicht, denn wenn Erweiterung und Vertiefung sich auch im Prinzip nicht ausschließen, so tun sie es doch praktisch meist deshalb, weil keine außer einer exzeptionellen Vitalität sich nach zwei verschiedenen Richtungen gleichzeitig voll ausleben kann. (Hierauf beruht es, daß der fortschrittsfreudige Westländer von allen Wesen dieser Welt das unspirituellste ist.) Auch nachdem der Paroxismus des Fortschreitens vorüber ist, nachdem Festigungsstreben den Evolutionstrieb abgelöst hat, will es mit der Spiritualisierung eine Weile lang nicht vorwärtsgehen. Natürlich: der neuerschaffene Leib ist dem Geiste kein botmäßiges Ausdrucksmittel; diesem gelingt es nicht sofort, ihn zu durchseelen; der Mensch bleibt oberflächlich, weil er zu seiner lebendigen Tiefe durch die unerforschten und unerkannten Regionen nicht durchzudringen weiß. Hierher rührt es, daß so viele Propheten die Einfältigen, die Armen im Geiste, die Blind-Gläubigen gegenüber höherstehenden Menschentypen selig gepriesen haben: an sich ist es unberechtigt, denn unter allen Umständen ist der Begabte und Gebildete mehr als der Tor. Allerdings aber findet jener durch seine reichere und kompliziertere Natur hindurch den Weg zu seinem Grunde schwerer hinab als dieser, der so wenig hat, ihn aufzuhalten; weshalb Spiritualisierte tatsächlich unter Einfältigen häufiger vorkommen als unter Begabten. Eben hierauf beruht der Wahrheitsgehalt der christlichen Seligpreisung der Mühseligen und Beladenen den Glücklichen gegenüber. An sich bezeichnet auch diese einen Irrtum: alles Große stammt aus der Freude, wer im Geiste lebt, ist eitel Freudigkeit. Aber der Unglückliche, der wenig Ursache hat, seine äußeren Umstände zu bejahen, findet eher den Weg in sein Innerstes hinab als der Bevorzugte, den es auf Schritt und Tritt zum Verweilen lockt; weshalb sich Schmerz und Trübsal praktisch als die zuverlässigsten Führer zu Gott erweisen.

Welcher ist nun der Exponent der Spiritualität, sintemalen die Vorgeschrittenheit ihn nicht bezeichnet? Die Vollendung. Am Grad der Vollendung, an ihm allein, mißt sich der Grad der Durchgeistigung. Bedeutet diese Durchdrungenwerden der Erscheinung durch ihren äußersten Sinn, so bedeutet sie zugleich äußerste Verwirklichung von deren Möglichkeiten. Daß Vollendung das »Eine, was nottut« ist, habe ich nicht etwa zuerst erkannt: schon Buddha hat sich ausdrücklich den »Vollendeten« genannt, der chinesische »Weise« und »Edle« wird als wesentlich vollendet bestimmt, und früh ist die Idee der Perfektion zum Ideal auch des christlichen Heiligungsstrebens geworden. Diese schließt wirklich alles ein; auch den Gott in sich zu realisieren bedeutet nicht mehr, als seine Möglichkeit vollkommen verwirklichen. Nun ist wohl klar, weshalb Fortschritts- und Vergeistigungsstreben sich praktisch ausschließen: wer fortschreiten will, sucht nach neuen Möglichkeiten, wer da Gott sucht, die gegebenen zu erfüllen. Wer erfüllen will, braucht weder aufzuheben noch zu verändern; wenn Erfüllung an sich das Ideal ist, dann sind alle Möglichkeiten der Idee nach gleichwertig. Daß Vollendung wirklich das spirituelle Ideal bezeichnet, läßt sich noch durch eine andere, rein kritische Erwägung nachweisen. Alle spirituellen Werte – die Schönheit, die Wahrheit, die Güte – sind durch den Charakter der Absolutheit ausgezeichnet; diese ihre wesentliche Qualität kann keine Skepsis hinwegdisputieren. Was bedeutet das? Die Gegenständlichkeit des rationalistischen Begriffs vom Absoluten kann bezweifelt werden; dieser steht und fällt mit einer petitio principii, so daß wenig für die Erkenntnis geleistet wird, indem man die Schönheit eines Kunstwerkes z. B. auf Teilhabe an der Idee des absolut Schönen zurückführt. Ein Wesen oder ein Gegenstand verkörpert dann einen absoluten Wert, wenn in ihm die gegebenen Möglichkeiten ihre äußerste Erfüllung und Vollendung erfuhren. Und man wähne nicht, daß im Worte »äußerst« seinerseits eine petitio principii verschleiert liegt: man kann ganz gegenständlich von »äußerster Erfüllung« reden, weil alle konkreten Möglichkeiten begrenzt sind; für jedes Wesen gibt es einen äußersten Grad der Selbstverwirklichung. Ist dieser nun erreicht, dann erscheinen wie durch magischen Spruch auf einmal auch absolute Werte dargestellt: sind physische Möglichkeiten ganz verwirklicht, so schauen wir Schönheit, geistig-intellektuelle, so ist die Wahrheit erkannt, menschlich-sittliche, so ist ein Gottmensch erstanden. Vollendung ist das spirituelle Ideal.

Nun erscheint die Mißverständlichkeit alles Fortschrittsstrebens, sofern einem um spirituelle Verwirklichung zu tun ist, ganz deutlich. Da Vollendung der Exponent der Spiritualität ist, da der Grad jener den Grad dieser zum Ausdruck bringt, so ist ein vollendeter niederer Zustand Gott offenbar näher als ein unvollendeter höherer. Vollkommene physische Schönheit ist ein Geistigeres, als eine unvollkommene Philosophie, ein vollkommenes Tier ein Spirituelleres, als ein unvollkommener Okkultist. Im geringsten kommt der Atman ganz zum Ausdruck, sofern es vollendet ist. Äußere Grenzen beschränken überhaupt nicht innerlich, weil das Spirituelle ein Prinzip ist, das als solches keinen Extensitätsfaktor besitzt. Das Prinzip der Welt kann eine Monere genau so vollständig zum Ausdruck bringen, wie der hunderttausendfache Brahman. Das Prinzip aber ist das Eigentliche, das Ewige, das lebendig bleibt über alles Entstehen und Vergehen hinaus. Weswegen finden wir so viele Aussprüche antiker Weisen tief, tiefsinniger als alles, was später geäußert ward, obschon die konkreten Vorstellungen, die sie hegten, als irrtümlich erwiesen sind? Weil sie mit noch so unvollkommenen Mitteln das Prinzip dessen, was sie meinten, vollkommen zum Ausdruck gebracht haben. Diese Aussprüche sind wesentlich wahr, wie sehr sie an der Oberfläche falsch sein mögen, werden durch noch so große Fortschritte in der Begriffserkenntnis nie widerlegt werden. So überwindet Spiritualisierung bis zum Tod. Gestalt auf Gestalt ist dahingeschwunden im Laufe der Geschichte der Erkenntnis, und mit ihnen der Geist aller derer, die in der Gestaltung ganz enthalten waren. Aber die Wenigen, denen diese nur ein Ausdrucksmittel war für einen tieferbelegenen Sinn, die diesen Sinn in ihr vollkommen verkörpert hatten, die leben fort. Die vermag keine Zeit zu töten. Und manchmal glaube ich zu wissen, daß auch der persönliche Mensch in eben dem Sinn der Unsterblichkeit teilhaftig werden kann. Freilich ist sein Leib dem Tode versprochen; freilich ist auch seine Seele der schließlichen Auflösung gewiß. Das Prinzip jedoch ist unzerstörbar. Das wirkt objektiv fort von Verkörperung zu Verkörperung, wie diesseits so auch jenseits des Grabes, in irgendeinem unbekannten Sinn. Sein Träger wechselt; ahnt nicht oder nur schwach, daß er wesentlich ewig ist. Der seltene Mensch nun, dem es gelang, sein Bewußtsein im Wesen zu verankern, der weiß sich unsterblich. Dem bedeutet der Tod kein Ende mehr ...

– Steht Fortschreiten (im biologischen Verstande) mit Spiritualisierung in gar keinem Zusammenhang? So daß das Streben der Theosophen, okkulte Kräfte in sich auszubilden, so wie sie es meinen, ein radikales Mißverständnis bedeutet? Sie stehen wohl im Zusammenhang, aber in einem anderen, als jene wähnen. Jede höhere biologische Stufe gewährt dem Geist eine reichere Ausdrucksmöglichkeit. Nicht absolut verstanden zwar, denn überall in der Natur wird Gewinn durch Verluste wenn auch noch so billig bezahlt; der Mensch hat viele Fähigkeiten nicht, die das Tier besitzt; der Weise ist unzulänglich in vielem, was das Weltkind kann. Aber soviel ist wohl wahr, daß der Geist sich auf jeder höheren biologischen Stufe freier äußert. Insofern kann er sich, nach menschlichem Maßstabe beurteilt, auf jeder folgenden besser manifestieren. Also haben wir, als empirische Wesen, wohl auch spirituelles, nicht nur temporelles Interesse daran, auf der Stufenleiter der Schöpfung hinanzusteigen. Uns bedeutet es nichts, wenn wir in Form der Schönheit vollkommen durchgeistigt sind, denn nur das Bewußtgewordene berührt uns persönlich; nur was wir als Subjekte bewußt erfahren, erlebt, verstanden haben, existiert für uns. Die Erfahrungsmöglichkeiten nun werden durch psychische Entwickelung allerdings bereichert und gesteigert. Hier aber stellt sich die Frage: worauf kommt es im letzten an: zu sehen oder zu sein? Offenbar zu sein. Die Erkenntnis ist das Vorläufige; sie muß sich in Leben umsetzen, um spirituell bedeutsam zu werden. Also bezeichnet die Erwünschtheit psychischer Vervollkommnung nur die Notwendigkeit eines Umweges für Wesen gewisser Art; sie bedingt keine Abkürzung des Wegs. Und über diesen Umweg gelangen, wie die Erfahrung lehrt, weniger Menschen zum Ziel, als ohne ihn. Hierher rührt, noch einmal, die spirituelle Vorzugsstellung der Einfältigen und der auffallende Mangel an Spiritualität, der die meisten psychistisch begabten Menschen kennzeichnet. Was also tun? Die altindische Lehre »lieber seinem eigenen, noch so niedrigen Dharma folgen, als dem noch so erlauchten eines anderen«, bezeichnet den Weg. Jedes Wesen soll einzig und allein nach seiner spezifischen Vollendung streben, in welcher Richtung diese immer liege. Wer zum Tun berufen ist, der werde als Täter vollkommen, der Kunstbegabte trachte nach vollendeter Künstlerschaft; nur der zur Heiligkeit Berufene strebe nach Heiligkeit, und vor allem nur der geborene Hellseher nach Vollendung in der Form des Okkultisten. Wer eine Art der Vollendung anstrebt, die seinen inneren Möglichkeiten nicht entspricht, der verliert seine Zeit und verfehlt sein Ziel. Dafür erreicht dieses unzweifelhaft irgendeinmal, wer sein eigenes Dharma treu befolgt, wohin immer es ihn führe. Und dies nicht allein im Sinn spiritueller Vollendung, sondern auch in dem biologischer Vervollkommnung. Jede erschöpfte Möglichkeit bringt, phönixartig, neue aus sich hervor. Wie die ausgekostete Jugend die Fähigkeiten des Mannesalters erweckt, gebiert jeder vollendete Lebensausdruck, sofern das Prinzip, das hinter ihm steht, noch lebt, neue Lebensmöglichkeiten. Es bleibt ewig wahr, was Jesus Christus in seiner mythischen Ausdrucksweise gesagt hat: »Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen.« Strebt nur nach Vollendung, und der biologische Fortschritt wird sich von selbst ergeben. Dies ist die einzige Art, wie Fortschritts- und Spiritualisierungsstreben sich vereinen lassen; wer zuvörderst nach Fortschritt strebt, wird nie die Vollendung erreichen. Wunderbar plastisch bringt der Mythos von der Seelenwanderung das wahre Verhältnis zum Ausdruck: wer in niederer Lebensstellung sein Dharma treulich erfüllt, wird in höherer wiedergeboren; wer den Pfad der Heiligung betreten hat, dem werden von Verkörperung zu Verkörperung günstigere Lebensumstände zuteil. Ja, wer ganz selbstlos nach Spiritualisierung strebt, kann nicht allein in einem Leben sämtliche Stadien durchlaufen – er kann sogar während seines fleischlichen Daseins die endgültige Befreiung finden (ein Jivanmukta werden). Freilich kann er das; denn diese Befreiung besteht eben, ganz unabhängig von den Zufällen von Leben und Tod, im Einswerden des Bewußtseins mit dem Lebensgrund.

 

Ich lasse mir viel davon erzählen, was in anderen Welten passiert und wie es in ihnen aussehen soll. Die meisten meiner Unterredner glauben nur, aber einige sind überzeugt, daß sie wissen, und berichten über unerhörte Erlebnisse so sachlich-ruhig, wie ein Naturforscher über seine jüngsten Experimente referiert. Ich befinde mich ihnen gegenüber in eigentümlicher Lage: ich weiß nicht, wieviel objektiv wahr an ihren Behauptungen ist, und kann sie nicht nachprüfen. Aber als unmöglich kann ich sie nicht abweisen, nicht einmal mit einiger Zuversicht ihre Unwahrscheinlichkeit behaupten, da mir jeglicher Maßstab dafür fehlt, was in anderen Sphären vorgehen kann. Ich verspüre auch kaum Neigung hiezu: wieder und wieder vernehme ich Aussagen, deren innere Wahrscheinlichkeit mich frappiert, wieder und wieder sagt mein Innerstes: selbstverständlich; es kann ja gar nicht anders sein, und du weißt es ja eigentlich selbst. Aber diese Anamnesis wage ich nicht ernst zu nehmen, da ja Märchen, als Geist von seinem Geist, dem Menschen immer wahrscheinlich vorkommen, viel wahrscheinlicher als die Vorgänge in der unmenschlichen Natur, weil ferner in jedem lebendigen Gemüt die Sehnsucht nach dem Wunderbaren lebt. So schalte ich zur inneren Beruhigung für ein Weilchen den Mann der Wissenschaft aus und gebe mich mit kindlicher Unbefangenheit den neuen Eindrücken hin. Jede Erzählung lasse ich in mich hinein; jede Idee nehme ich rückhaltlos auf; und lasse es gern geschehen, wenn Chiromantiker die Linien meiner Hand, Phrenologen meine Schädelform und Astrologen meine Nativität untersuchen.

Wie reich muß doch das Leben derer sein, die an alle die Zusammenhänge glauben, deren Dasein die Theosophie behauptet! Schon banal-abergläubische Menschen sind mir in häufigen Stimmungen ein Gegenstand des aufrichtigen Neids; eine Zeitlang habe ich mich selbst dazu abgerichtet, die Superstitionen meines jeweiligen Aufenthaltsorts für die Zeit meines Dortseins zu übernehmen, denn wunderbar farbig wird das Leben durch das Anerkennen mysteriöser Verknüpfungen. Das System der Theosophie nun hat den ferneren Vorzug, daß es nicht nur die Einbildungskraft, sondern auch den Verstand erfreut. Wenn es der Wahrheit entsprechen sollte, so erschiene dieses Dasein damit vor der Vernunft in hohem Grade gerechtfertigt. Mich persönlich macht freilich gerade die übergroße Rationalität des theosophischen Weltenplanes stutzig. Die Vernunft reicht sonst so wenig tief in das Herz der Dinge hinab, alles Wesentliche ist sonst so irrational, Theorien erweisen sich sonst als desto unzulänglicher, je Wesentlicherem sie gerecht werden sollen – sollte da wirklich ein dermaßen simplistisches Schema dem Sinn der Wirklichkeit gemäß sein? Tut es das, so würde ich persönlich es bedauern ... Zu entscheiden ist die Frage wohl nicht. Möglicherweise hat die Theosophie trotz meiner Philosophenbedenken recht. Alles stimmt doch nicht zusammen in dieser Welt. Mir aber bleibt es zu hoffen unbenommen, daß die Theorien der Theosophie nicht mehr als grobe Allegorien bezeichnen mögen.

Im übrigen steckte ich nicht ungern in deren Haut, welche willkürlich von einer Ebene des Daseins auf andere hinübergleiten: deren Leben muß gar abwechselungsreich sein. Was habe ich mein Lebtag darunter gelitten, daß ich immer den gleichen Körper tragen, mit immer gleichen äußeren Organen zur Welt in Beziehung treten muß! Die, welche es gelernt haben, ihrem Leib zu entschlüpfen, und nun mit anderen Sinnen, in anderer Form die Bilder der Natur in sich aufnehmen, haben es besser. Sie können ihres Daseins nicht leicht überdrüssig werden. Leider kranken diejenigen unter meinen Bekannten, die sich der Fähigkeit, ihre Daseinsform zu verändern, mit dem größten Anschein von Berechtigung rühmen, an der Krankheit aller Spezialisten: sie überschätzen die Bedeutung ihrer Kunst; sie wähnen dem Atman näher zu kommen, indem sie ihren Aufenthaltsort wechseln und behaupten, jede verstiegenere Sphäre verkörpere einen »höheren« Grad der Wirklichkeit. So können sie meine Frage nicht recht würdigen, ob die Verkündigung Jesu, die Ersten würden einmal die Letzten sein, vielleicht buchstäblich wahr sei in dem Verstand, daß jede Sphäre besondere Ausdrucksgelegenheiten bietet, dank welchen der, dem es auf Erden am besten gelingt, sich in der Astralwelt vielleicht am hilflosesten erweisen wird, in deren dünner Luft die Träumer hingegen, die Untüchtigen im irdischen Verstande, sich desto wohler befinden werden? Ich neige stark zum Glauben, daß dem so ist, vorausgesetzt natürlich, was ich nicht weiß, daß es eine Astralwelt gibt. Aber nie werde ich glauben, es sei denn, man bewiese es mir, daß die, deren wahre Heimat nicht die Erde ist, deswegen die Wertvolleren seien: entweder ist eine Anlage die andere wert, oder aber die Ausdrucksfähigkeit auf Erden bestimmt den Rang. Ich persönlich bin fest überzeugt, daß alle Hauptentscheidungen auf Erden fallen, daß die, welche das Leben nach dem Tode als das vollere beurteilen, im Irrtum sind. Da ich über dieses aus eigener Erfahrung nichts weiß, kann ich kein assertorisches Urteil fällen. Aber die Berichte anderer habe ich aufmerksam studiert, und diese sprechen durchaus für meine Auffassung. Unser vielgeschmähtes Erdendasein hat den einzigen Vorzug, ernsthafte Widerstände zu bieten. Nur aus widerstehenden Medien können substantielle Gebilde geformt werden, nur wo Widerstand ist, kann Fortschritt stattfinden: insofern gewährt dieses Leben von allen die reichsten Gelegenheiten. Die heiligen Schriften der Inder lehren denn auch ausdrücklich, daß von allen Geburten die ins Menschenleben hinein die günstigste sei, so sehr, daß selbst die Götter als Menschen wiedergeboren werden müßten, wenn sie über das Göttertum hinausgelangen wollten; in ihrer allzu leichtflüssigen Welt blieben sie ewig, was sie sind; der Mensch hingegen, dem es ernst ist, könne unmittelbar ins Nirwana hinübergelangen. Wohl kann ich mir vorstellen, daß es Menschen gibt, die in anderen Welten besser zu Hause sind als hier; aber das sind die Impotenten, die Schwachen. Wer sich deutlich ausdrücken kann, ist im absoluten Verstande mehr als der, welcher bloß meint und stammelt. Zum Träumen, zum Ahnen, zum Schwelgen in Gefühlen und Stimmungen gehört nicht viel. Erst wenn das Wort Fleisch geworden, ist es vollkommen realisiert. Und diese Realisierung gelingt am besten auf Erden. So bekenne ich mich für meine Person, je mehr ich von anderen Lebensmöglichkeiten höre, desto entschiedener zur äußersten Ausnutzung dieser. Das, was in ihr vollbracht werden kann, ist so bedeutend, daß es wenig verschlägt, wenn der auf Erden Ausdrucksfähige hinterher in anderen Sphären entsprechend versagen mag. Hätte Odysseus den klagenden Schatten Achills gefragt, ob er, zum Gewinn eines besseren Lebens nach dem Tode, sein Heldendasein rückgängig machen wollte, dieser hätte ihm verächtlich den Rücken gekehrt.

Die meisten Theosophen sind Spekulationen dieser Art nicht hold. Sie glauben, wollen, daß alle glauben, und verhalten sich kaum weniger feindlich zu jedem Versuch der Kritik an ihrem Dogmenbau, wie nur irgendein religiöser Verband. So wenig wird der Grundcharakter des Menschen durch ein noch so weitherziges Bekenntnis verändert! Die meisten Theosophen verkennen eben, daß unter allen Religionsformen auch die ihre nur auf relative Gültigkeit Anspruch erheben kann. (Denn die Theosophie ist eine besondere Religion, trotz aller Statuten der Gesellschaft, und muß es sein, sofern sie lebendig wirken will.) Wird die Menschheit nie über die Vorstellung hinauswachsen, daß ein bestimmter Glaube allein seelig macht? Fast fürchte ich es, denn sie liegt allzu nahe, und ihre vermeintliche Wahrheit scheint allzu evident. Wahrscheinlich entspricht ja die Theorie, daß nur der Gläubige erlöst werden kann, dem Tatbestande wirklich insofern, als nur der, dem sein Unsterbliches bewußt ward, der das göttliche Licht in sich entzündet, Aussicht hat, den Tod bewußt zu überdauern. Da nun jeder Religionsstifter aus Erfahrung nur ein Mittel kennt, dieses Licht zu entzünden, so kann ihm nicht verdacht werden, wenn er verkündet: wer mir nicht glaubt, verfällt dem Gericht.

 

In nur zu vielen Hinsichten erleben alte Menschheitsirrtümer im Theosophenglauben keine Aufhebung, sondern eine Wiedergeburt. Heute habe ich, durch die Anschauung der vielen Psycho- und Neuropathen, die zur Theosophischen Gesellschaft gehören, angeregt, speziell die altehrwürdige Überschätzung krankhafter Zustände im Auge. Befremdlich ist diese keineswegs: zweifelsohne bezeichnet Kranksein einen positiven Zustand, weniger ein Minus an Gleichgewicht als eine andere Form desselben, welche der normalen für viele Zwecke überlegen ist. Unlängst ist mir das wieder einmal sehr deutlich geworden, als ich mir (aus ganz guten Gründen) eingebildet hatte, von der Pest infiziert zu sein, und die bloße Vorstellung mich, wie bei mir üblich, wirklich krank machte, so sehr, daß mir war, als ginge schon das Sterben an: alles selbstische Interesse verschwand, ich befand mich vollkommen frei, sämtliche Seelenkräfte strahlten geradeaus ins Unbegrenzte aus, was mir ein Wirklichkeitsbewußtsein von solcher Intensität verlieh, wie ich es gewöhnlich nicht kenne. Das sogenannte normale Bewußtsein ist schon deshalb nicht das reichste, weil es vorzüglich Bewußtsein des Körpers ist. Wo die Lebensenergie diesen voll beseelt, sind die psychischen Kräfte zumeist auf den gleichen Mittelpunkt bezogen – unstreitig das biologische Optimum –, so daß die Seele nur tut, will und erkennt, was dem physischen Organismus gemäß ist. Wo hingegen der Körper aus irgendwelchen Gründen als Vehikel des Lebens versagt, oder wo dieses ihm absichtlich entzogen wird, dort erweitert sich das Bewußtsein bei jedem, in dem die Möglichkeit dazu besteht. Nun lebt die Psyche ganz in ihrer Welt, unbehindert durch körperhafte Schranken. Daher die wunderbare Serenität so vieler Sterbender oder Schwerkranker, daher das so häufige Zusammenbestehen eines großen Geists mit einem schwächlichen Leib, daher die Idee der Mortifikation, der künstlichen Schwächung des Körpers durch Fasten, Wachen, Geißelung und was sonst. Unzweifelhaft ist durch Gewaltmaßregeln solcher Art das Bewußtsein einer Erweiterung und Potenzierung fähig. Deren sind sogar weit mehr noch denkbar, als die asketische Technik, soweit ich sie kenne, je zur Anwendung gebracht hat. Bei innerlichen Naturen führt z. B. eine zu sehr schönen Ergebnissen, die, meines Wissens niemals zu diesem Zwecke gehandhabt worden ist: ich meine Blendung. Ich bin einmal, nach einer Augenoperation, eine Zeitlang blind gewesen, und muß sagen, daß diese Periode zu den reichsten meines Lebens gehört; sie war so reich, daß ich eine unverkennbare Verarmung spürte, als ich mein Augenlicht wiedergewann. Während des Blindseins wurde mir mein Geistesleben durch nichts Äußerliches und Fremdes gestört, so daß ich mich an dessen Selbsttätigkeit ohne Unterlaß erfreuen konnte. Dieser war ich mir viel intensiver bewußt als sonst: die sich folgenden Einfälle, die sonst so schwer zu fassen sind, erschienen mir nun wie auf einen dunkeln Hintergrund hinausprojiziert, von dem sie sich in wunderbarer Plastik abhoben. Das Fehlen eines wichtigen Organs schärft ferner nicht allein die übrigen, es mutet ihnen neue Aufgaben zu, und dies verändert die Gesamtlage auf die Dauer so sehr, daß mir das Bewußtsein eines Verlustes in kurzer Frist vollständig abhanden kam und ich nur das Gefühl hatte, auf eine neue, höchst interessante Weise, welche derjenigen augenloser Tiere entsprechen mag, zur Welt in Beziehung zu stehen.

Begründet ist also die Auffassung, die in krankhaften Zuständen ein Höheres sieht, den Tatsachen nach gut genug; muß zumal den Theosophen so erscheinen, die im Erwerb abnormer psychischer Fähigkeiten ein Ideal sehen, denn solche treten bei pathologischen Naturen ohne Zweifel am häufigsten in Kraft. Gleichwohl ist sie von Grund aus verfehlt: Besitz höherer Fähigkeiten in abnormen Zuständen bedeutet nichts, beweist nicht den mindesten inneren Fortschritt; hier erscheint das Abnorme durch Verlust oder Beeinträchtigung des Normalen erkauft, und insofern, wenn nicht überzahlt (was meist der Fall ist), so doch sicher ohne Reingewinn erworben. Fromme Seelen sind häufig befremdet durch die nicht abzuleugnenden moralischen Gebrechen bewunderter »Heiliger«: deren außergewöhnliches Können war eben nur zu oft kein Normalausdruck einer höheren Seinsstufe, sondern das Zufallsprodukt krankhafter Verschiebung eines durchschnittlichen psychischen Gleichgewichts. Von solchen »Heiligen« zu den landläufigen Medien hinab, die fast alle menschlich nichts taugen, führt nur ein Schritt. Es ist buchstäblich keine Kunst, in Krankheitszuständen seren, detachiert, überfeinfühlig, ja hellsichtig zu sein; man kuriere solche höhere Wesen aus, und sie entpuppen sich schnell genug zu Durchschnittsmenschen. Das sind sie eben wesentlich; das sind sie vor Gott. Wer Magie als Metier betreibt, gegen den ist natürlich nichts zu sagen; der muß eben zusehen, wie er sich in dem Zustand erhält, von dem seine Leistungsfähigkeit abhängt. Auch gegen die Leistungen der Psychopathen als solche spricht ihre wesentliche Minderwertigkeit nicht: die Perle ist ein Krankheitsprodukt der Auster. Man hüte sich ferner, jeden abnorm Begabten, welcher krankhafte Eigentümlichkeiten aufweist, gleich als pathologische Erscheinung zu brandmarken: wenn Mohammed und der heilige Franz an hysterischen Anfällen litten, so gilt Ähnliches auch von Napoleon und von Cäsar; höchstkomplizierte Mechanismen, die unter Hochdruck arbeiten, gelangen leicht in gelegentliche Unordnung, und diese Unordnung bedeutet doch nichts. Cäsar war nicht wesentlich Epileptiker, sondern die ungeheure geistige Spannung, unter welcher er lebte, fand auf diese Weise ihre für ihn normale Auslösung, und Gleiches gilt mutatis mutandis von vielen der größten geistigen Heroen. Aber der Aberglaube muß ausgerottet werden, daß durch krankhafte Überreizung erkaufte Wundergaben deren Besitzer zu einem höheren Wesen stempeln. Freilich kann in der Erweiterung des Bewußtseins und seiner Wirkungssphäre ein biologischer Fortschritt zutage treten. Aber nur dann, wenn das Neue zum Alten hinzukommt, nicht es verdrängt. Jeder Krankheitszustand ist ein absolutes Übel; nur der Siddha darf als höheres Wesen passieren, der im übrigen nicht weniger ist als ein normaler Mensch; nur er darf als Beispiel gelten.

Was ich hier sage, dürfte allen wissenden Indern, im Gegensatz zu den meisten ihrer europäischen Jünger, selbstverständlich klingen. Es ist bewunderungswürdig, wie richtig sie von je diese Verhältnisse eingeschätzt haben. Den Gurus des Altertums galten eine gute Gesundheit, ein vollkommen einwandfreies Nervensystem und eine robuste moralische Komplexion bei einem Schüler als Grundbedingungen zur Aufnahme. Geistersehen als Naturanlage beurteilen sie als Symptom von Gehirnerkrankung – nicht weil es keine Geister gäbe, sondern weil deren Sichtbarwerden, außer nach sorgfältig sachverständiger Schulung, keine Erweiterung, sondern eine pathologische Verschiebung der normalen Bewußtseinslage bezeichne. Nur die vollkommen Gesunden bildeten sie aus; und auch von diesen, so geht die Überlieferung, erreichten nur wenige ihr Ziel, da der meisten Nerven die Spannung nicht aushielten, weshalb es geboten schien, die Ausbildung abzubrechen. Jedenfalls sollte keine moderne Bewegung, die sich an der indischen Yoga inspiriert, unterlassen, deren Grundpostulat zum ihren zu machen: der Yogi ist wesentlich gesund; er ist unbeschränkter Herr seiner Nerven; er ist jederzeit im Gleichgewicht, in jeder Hinsicht absolut normal. – Sie sollte ferner nie aus den Augen verlieren, daß der indische Yogi – von allen sicher der, welcher es am weitesten gebracht auf dieser Linie – ein Feind der Kasteiung ist. Wohl übt er Askese, d. h. er führt das Leben, das erfahrungsgemäß der spirituellen Entwickelung am förderlichsten ist; allein er mortifiziert niemals sein Fleisch. Weder schweift er im Fasten aus, noch im Wachen, noch in der Observanz; er befolgt die Diät, die seine Natur am meisten zu kräftigen, nicht zu schwächen geeignet erscheint, und kultiviert im übrigen eine andauernd freudige, das Leben bejahende, optimistische Seelenstimmung. – Endlich sollte eines niemals vergessen werden: wenn ein Mensch auch tatsächlich, nicht bloß scheinbar, auf höherer, biologischer Entwicklungsstufe steht, so braucht er deshalb noch kein höheres Wesen zu sein. Der Mensch ist biologisch weiter als das Tier, doch gibt es Narren und Schufte genug unter uns, und der niedere Mensch steht oft unter dem Affen. So bezeichnen nur zu viele unter denen, die abnorme Kräfte in sich ausgebildet haben, wohl Vertreter einer höheren Naturordnung, aber minderwertige Vertreter. Man tut nicht gut, sie als Götter zu verehren. Schätzt man ihr Wesen nun richtig ein, so wird man ihnen besser gerecht; man läuft nicht Gefahr, durch blinde Nachahmung an seiner Seele Schaden zu nehmen, noch unterliegt man der Versuchung, um erkannter Gebrechen willen das Positive zu verleugnen oder abzuweisen. Unzweifelhaft waren nicht allein Buddha und Christus, sondern auch Mohammed, Walt Whitman, Swedenborg, William Blake und noch Geringere biologisch weiter als wir. Aber sie waren weder vollkommen noch allwissend, noch auch von vielen ernsten Gebrechen frei. Sie waren mittelmäßige Vertreter einer höheren Spezies.

 

Wer die Masse der Theosophen genauer mustert, unterdrückt nicht leicht ein Lächeln ob deren Vorgabe, den Kern der neuen »Rasse« zu bilden, welche die große Kultur der Zukunft herbeiführen soll. In der überwiegenden Mehrzahl sind es Leute von weniger als durchschnittlichem Geistesniveau, zum Aberglauben neigend, neuropathisch, mit eben dem leicht-schadenfreudigen Egoismus auf das persönliche Heil bedacht, welcher von je für alle, die sich für auserwählt halten, bezeichnend gewesen ist. Dennoch ist es nicht ausgeschlossen, daß die Geschichte ihre Anmaßung rechtfertigen wird. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird der Kern der Lehren, die unter anderen religiösen Gemeinschaften auch die Theosophische Gesellschaft vertritt, bald von Millionen als Glauben bekannt werden (man vergesse nicht, wieviele seiner Bekenner verheiratet sind!); unter welchem Banner dieser Glaube seinen offiziellen Einzug halten wird (falls es zu solchem kommt), hängt von Inkommensurabilien ab; es könnte das der Theosophischen Gesellschaft sein. Welche Religionsgemeinschaft bestand nicht am Anfang aus ganz kleinen Leuten? Nie hätte sich Paulus oder Augustin oder Kalvin oder irgendeine der Leuchten der späteren Christenheit bei dessen Lebzeiten Jesu angeschlossen. Bedeutende Menschen können nicht Jünger sein; es ist ihnen physiologisch unmöglich. So fähig sie sind, sich einem Ideal, einer Institution, einem objektivierten Geiste unterzuordnen – einem lebenden Menschen, nicht als beglaubigtem Repräsentanten, sondern als solchem blind zu folgen, widerstrebt nicht allein ihrem Stolz, sondern vor allem ihrer inneren Wahrhaftigkeit; wo sie nur einen Menschen vor sich sehen, mit menschlichen Gebrechen und Schwächen behaftet, können sie nicht an Gottheit glauben. So hat sogar in Indien, dem Land des Glaubens par excellence, kein Religionsstifter, von dem ich gehört hätte, bei Lebzeiten geistig bedeutende Jünger gefunden. Die ersten, die sich um ein neues Glaubenszentrum scharen, sind ausnahmslos die Armen im Geiste, die Abergläubischen, die Psychopathen, denn die wollen vor allen Dingen geleitet werden; dann folgen biedere Männer des praktischen Lebens, meist von Frauen hierzu verführt; und erst wenn die Geschichte sich zum Mythos verfärbt hat (was im Orient freilich in Windeseile geschehen kann), wenn keine Tatsächlichkeit mehr dem Prozeß der Idealisierung im Wege steht, rücken die ersten bedeutenderen Geister nach. So kann es kommen, daß die Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft von heute, wenn das Glück ihr hold ist, in der Geschichte tatsächlich als Pioniere fortleben werden.

Wer in die Mechanik religionsgeschichtlichen Werdens tiefer eingedrungen ist, wird sich hüten, die Unmöglichkeit irgendeines Ereignisses zu behaupten. Nirgends bestehen hier notwendige Zusammenhänge solcher Art, wie die Vernunft sie postulieren muß, um überhaupt konstruieren zu können. Darauf, daß von der Bedeutung des Gläubigen auf die des Glaubens keine Schlüsse zulässig sind, wies ich schon hin. Ebensowenig aber kann von der Bedeutung einer Idee auf die ihres Urhebers zurückgefolgert werden. Es ist bekannt, wie selten menschliche Größe mit geistiger zusammenfällt; ein schwächliches Männchen nicht allein, ein höchst bedenkliches mag gleichwohl weltbewegende Ideen gebären. Eben dieses Verhältnis hat bis zu einem gewissen Grade auch bei den Stiftern der meisten Religionen zu Recht bestanden. Mag die Legende noch so sehr von ihrer allbezwingenden Persönlichkeit berichten – sicher ist, daß sie bei ihren Lebzeiten meist nur auf minderwertiges Publikum einwirken konnten; was mit leidlicher Sicherheit beweist, daß sie starke Persönlichkeiten im gewöhnlichen Sinne nicht waren, denn solche erzwingen sich Anerkennung. So wenig besteht ein notwendiges Verhältnis zwischen der Entelechie einer Idee und derjenigen dessen, der sie gebar, daß von manchen Religionsstiftern nicht gewiß erscheint, ob sie überhaupt existiert haben. Wohl hat sich der spätere Mythos überall um eine historische Persönlichkeit herum verdichtet, aber ob diese die wirkliche Urheberin der weltbewegenden Ideen war, bleibt vielfach zweifelhaft. Der südliche Buddhismus stammt freilich von Buddha her; aber die Mahâyâna-Lehre, die dem nördlichen zugrunde liegt, geht sicher nur auf das erste Jahrhundert nach Christo zurück, ist in jenem Grenzlande zwischen Indien und Zentralasien aufgekommen, woselbst griechische und brahmanische Ideen sich gegenseitig durchdrangen, und steht dem Sinne nach dem Christentum so viel näher als der Religion des Sakyersohnes, daß man wohl berechtigt ist, daran zu zweifeln, ob sie mehr als dem Namen nach buddhistisch ist. Die ursprüngliche Lehre Jesu bezeichnet hinsichtlich des Christentums, das seither die Welt erobert hat, nur ein Element; sein Name ist zum Symbol und zum Brennpunkt all der vielfältigen Tendenzen geworden, die in namenloser Tiefe die Geschicke des Westens bestimmten; daher seine ungeheure historische Bedeutung, die in gar keinem Verhältnis steht zu dem geringen Grade, in dem seine Ideen bis heute verwirklicht worden sind. Und so geht es überall. Der Nietzscheanismus steht vielfach in direktem Gegensatz zu Nietzsche; um Bergsons Namen scharen sich Tausende, denen seine wahre Lehre, sofern sie dieselbe verstehen könnten, ein reines Ärgernis wäre. Es kann einer zu einem Größten im Sinne der Geschichte werden, ohne überhaupt gelebt zu haben; ohne das gelehrt zu haben, was seine historische Bedeutung bedingt; ohne überhaupt etwas gelehrt zu haben; ohne bedeutend gewesen zu sein; und so fort. Gottes Wege sind unerforschlich, heißt es. Sicher spotten die Wege der Geschichte jeder noch so weitausholenden Vernunftkonstruktion. So töricht Antisemitismus als Weltanschauung ist – er muß doch seine Berechtigung haben, da die Juden auf dem ganzen Erdenrund, im Orient noch mehr als im Okzident, allgemein und gleichmäßig verachtet werden und von jeher verachtet worden sind. Und doch: wenn irgendein Volk ein Recht hat, sich für »auserwählt« zu halten, so gilt dies vom jüdischen. Sein Glaube liegt Christentum und Islam zugrunde und beherrscht so indirekt die Welt; trotz aller Unterdrückung und Verachtung ist es nie entartet, und heute gar gehören ihm die meisten geistigen Führer Europas an. So mag auch die Theosophische Gesellschaft, trotz des problematischen Charakters mehrerer ihrer ersten Größen, trotz des Unbefriedigenden vieler ihrer Lehren, trotz der Minderwertigkeit der meisten ihrer heutigen Mitglieder, noch eine große Zukunft vor sich haben.

Ich berührte vorhin einen Punkt, der eine eingehendere Betrachtung verdient: die offenbare Unfähigkeit vieler derer, die von der Nachwelt als allbezwingende Persönlichkeiten gefeiert werden, ihre Zeitgenossen, einige wenige unbedeutende ausgenommen, unmittelbar zu beeinflussen. Alle Propheten sind verlacht worden. Das beweist, wie ich schon schrieb, daß sie wirklich nicht die Macht hatten, so zu wirken, wie die große Persönlichkeit dies tut, denn diese wird, wenn auch regelmäßig angefeindet, so doch immer bei Lebzeiten von allen als solche anerkannt. Bei näherer Betrachtung erscheint diese ihre Unzulänglichkeit nicht weiter wunderbar. Die Kraft solcher Geister manifestiert sich in einer anderen Sphäre als die der weltlich Großen, und für wen diese Sphäre nicht in Betracht kommt, auf den können sie nicht einwirken. Gleichwie die Macht eines abstrakten Intellekts nur von dem gespürt wird, der gleichen Denkens fähig ist, gleichwie der Genius nur vom Genius erkannt wird, so ist der gewaltigste spirituelle Riese über den doch machtlos, der keine Spiritualität besitzt. Natürlich kann es vorkommen, daß er überdies noch weltlich-gewaltig ist – dies gilt in hohem Grade von Augustin, von Savonarola, Luther und wenigen anderen –, aber in der Regel ist er dies nicht, denn Spiritualität verlangt einerseits, erzeugt andererseits, je sublimierter sie wird, ein desto zarteres Naturell. Spirituelle Genien heischen ausnahmslos von vornherein Glauben, während weltliche dies selten tun, des gewiß, daß der Glaube der Erfahrung folgen wird – warum? Weil jene auf nicht gleichgestimmte Seelen genau nur soweit einwirken können, als diese ihnen entgegenkommen. Sie sind also typischerweise im gewöhnlichen Verstande schwach. Ihre Kraft steht gleichwohl außer Frage. Sie erweist sich am wenigsten in den unmittelbaren Bekehrungen oder Erneuerungen, die sie bewirkt – deren Gegenstände sind selten ernst zu nehmen; sie äußert sich darin, daß sie durch alle Zeit dem Geschehen Sinn und Richtung gibt. Die Ideen des Christentums, zunächst von kleinen Leuten aufgenommen, welche kaum mehr wußten, was sie taten, als die Schergen, die den Heiland kreuzigten, haben mehr und mehr, je weiter die Geschichte fortschritt, alle Lebensgestaltung durchdrungen; so sehr, daß heute eigentlich alles, was im Westen lebendig ist, auf den Geist Jesu Christi zurückgeht; ein Gleiches gilt von Buddha, von Mohammed. Überall erweisen sich die spirituellen Kräfte auf die Dauer als die stärksten. Sie wirken auf geheimnisvolle Art: selten sind es die authentischen Worte der Erleuchteten, welche ihre Lehren durch die Zukunft tragen, so gut wie nie sind es originale Schriften, und die meisten Überlieferungen, die sich auf sie beziehen, sind sagenhaft. Es sind unfaßbare Impulse, die, von den Meistern ausgehend, durch tausend Geister hindurch, durch tausend Umbildungen, Verdichtungen, Mißverständnisse, ihre magische Kraft gleichwohl bewahrend, dem Geschehen fortan die Richtung geben. Vielleicht trägt die Theosophie zurzeit einen solchen Impuls? Wer vermag das zu sagen? Die Zeit allein kann es erweisen. Sie behauptet, von den »Meistern« inspiriert zu sein, allwissenden Übermenschen, die aus anerkannter Abgeschiedenheit heraus die Geschicke des Menschengeschlechtes lenken. Dieser Glaube an die Meister wird viel verlacht: warum verbergen sie sich denn? warum wirken sie nicht unmittelbar ein? weshalb rührt keine der Großtaten des Menschengeistes von ihresgleichen her? Wozu bedienen sie sich zur Erfüllung ihrer Absichten so auffallend unzulänglicher Organe? – Ich weiß nicht, ob es Meister gibt; aber theoretisch möglich sind Wesen ihrer Beschreibung gewiß. Sind es Übermenschen im Sinne der Spiritualität, dann mag von ihnen im äußersten Maße gelten, was von allen geistlich Großen gegolten hat: sie erscheinen machtlos in allen niederen Sphären, können überhaupt nicht mehr unmittelbar in ihnen wirken, so daß es seinen triftigen Grund hat, wenn sie im Verborgenen bleiben wollen. Überall in der Natur muß Aufsteigen bezahlt werden: der Zarte ist dem Rohen unterlegen, der Spiritualisierte dem groben Patron, der Weise kann vieles nicht, was der Weltmann vermag usf. Aber freilich: gibt es Meister, dann kann nicht wahr sein, was die Theosophen von ihnen behaupten – sie könnten alles, täten es nur nicht, weil ihnen solches in ihrem unbegreiflichen Ratschluß besser dünkt. Sie können sicher nicht, was wir vermögen. Gott kann auch nicht, was wir können, sonst würde Er uns nicht so frei gewähren lassen. Jede Daseinsstufe hat spezifische Schranken. Und diese erscheinen desto auffallender, vom Standpunkte des Durchschnittsmenschen her gesehen, je geistiger ein Wesen ist.

 

Immer wieder versichert man, die Wiederverkörperungslehre sei keine Interpretation, sondern der unmittelbare Ausdruck eines nachweisbaren Tatbestandes. Ich kann diese Versicherung nicht nachprüfen, enthalte mich daher des Urteils: immerhin ist die Lehre eine Theorie, und Theorien sind keine Tatbestände. Mich wundert, daß es noch keinem Reinkarnationsgläubigen aufgefallen ist, daß sein Glaube praktisch auf das gleiche hinausläuft, wie der entgegengesetzte an die gottgewollte Einfürallemaligkeit jeder Lebensstellung, wie Konfuzianismus und lutherisches Christentum sie voraussetzen. Denn auch er behauptet ja nicht, daß eine gleiche Person von Verkörperung zu Verkörperung fortschreitet (wie wenig dies der Überzahl seiner Bekenner klar sein mag, die sich ja meistens aus Selbsterhaltungstrieb zu ihm bekehrt haben), sondern nur, daß von innen her ein objektiver Zusammenhang besteht zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen des Lebens. Eben das behauptet das Luthertum; nur das vereinigende Band interpretiert es anders. Darum wäre ich, als kritischer Philosoph, bis auf weiteres geneigt, den sich ausschließenden Theorien den gleichen Wahrheitsgrad zuzusprechen. Die eine drückt den Tatbestand in kinematischer, die andere in statischer Sprache aus.

Die kinematische Auffassung des Lebensprozesses hat nun unzweifelhaft sehr große Vorzüge. Wie keine andere rechtfertigt sie das Geschehen vor der Vernunft; sie nimmt ihm seinen trostlosen Charakter, stimmt das Herz vertrauens- und hoffnungsvoll. Es sollte mich sehr wundern, wenn sie nicht früh oder spät auch im Westen zur Vorherrschaft gelangte. Trotzdem muß ich es jetzt, wo ich Reinkarnationsgläubige aus eigener Anschauung kenne, als die vielleicht größte bonne fortune der westlichen Menschheit ansprechen, daß sie ein paar Jahrtausende lang diesen Glauben nicht gehegt hat. Die weitaus meisten seiner Bekenner sind indolent. Kein Wunder: da sie Jahrtausende vor sich haben, um weiterzukommen, da der Weltprozeß sie ferner von sich aus vorwärts treibt (denn der objektive Sinn des Geschehens gilt ihnen als ein aufwärtsgerichteter), so sehen sie keine Veranlassung zur Eile. Sie lassen sich mehr leben, als daß sie leben, verschieben auf übermorgen, was heute geschehen sollte, vertrauen in allem auf die allesvollbringende Zeit. Hiergegen der Christ, der nur ein Leben vor sich hat, eine kurze Frist, deren Ausnutzung unwiderruflich darüber entscheiden wird, ob er errettet werden kann oder ewig wird braten müssen: der hat wahrlich Veranlassung, sein Äußerstes dranzusetzen, mit aller verfügbaren Kraft augenblicklich zu tun, was im Augenblick geschehen kann, denn eine Sekunde später ist es vielleicht zu spät. Seine Vorstellung vom Weltlauf ist entsetzlich, gewiß – aber wie sehr stählt sie! Wie verbrüht sie alle Sentimentalität! Wie spornt sie die Lebensgeister an! Wie sehr beschleunigt sie die Entwickelung! Und welches Pathos verleiht sie dem Dasein! Die ganze Dichtigkeit und Effikazität des Abendländers, seine ganze Charakterstärke und Willensenergie, sein ganzer trotziger Mut und männlicher Stolz rührt daher, daß sein Glauben ihn dazu erzogen hat, die schwerste Verantwortung zu tragen und sich ohne Umschweife zu entscheiden. Der Europäer (wie übrigens auch der Muslim) stellt dem Inder gegenüber die viel potenziertere Lebenseinheit dar, er ist viel gespannter, vitaler. Das verdankt er zum nicht geringen Teil dem Glauben seiner Väter an das Jüngste Gericht. Auch ich meine, daß dieser seine Arbeit getan hat; daß er jetzt einem weiseren Platz machen kann. Fortan mag sich auch die Christenheit, wenn es ihr so gefällt, zum Wiederverkörperungsglauben bekennen, denn jetzt sind die Eigenschaften, die der alte ins Leben rief, schon so fest unserer Erbmasse eingebildet, daß sie sich ohne äußere Stützungen forterhalten werden. Immerhin ist es unwahrscheinlich, daß sich dieser Vorstellungswechsel ohne Verlust vollziehen wird: das Pathos, das die Überzeugung vom einmaligen und entscheidenden Charakter des jeweiligen Lebens bedingt, geht verloren.

Aber wenn die Seelenwanderungslehre auch große Zukunftsaussichten hat, so steht doch zu hoffen, daß sie niemals die Rolle spielen wird, wie heute im Bewußtsein der Theosophen. Anstatt, wie die Inder, den vorausgesetzten Tatbestand gelassen anzuerkennen und im übrigen an anderes zu denken, beschäftigen diese sich unausgesetzt mit den Möglichkeiten der Vergangenheit und Zukunft. Sie studieren ihre okkulten Stammbäume mit einer Eitelkeit, die vielfach widerlich wirkt, arbeiten mit kleinlichster Vorsorge ihrem künftigen Leben vor und schweifen, was das Okkulte betrifft, in der Neugierde in einem Grade aus, der auf der Ebene des Manifesten mit Recht als unanständig gilt ... Ich muß an Plato denken, auch einen Gläubigen der Seelenwanderung: wieviel angemessener war die lächelnd weltmännische Art, mit der er die großen Probleme behandelte, als die irdisch-schwerfällige der Theosophen! Er sagte: freilich wird die Seele wiedergeboren – aber vielleicht wird sie es auch nicht? Wer kann das wissen? Ich selber weiß nicht, was ich weiß; es ist wohl nur eine Redensart, diese Theorie, oder ein schönes Märchen, an das man glauben mag oder auch nicht, je nach der Stimmung ...

 

Das Faszinierendste für mich an Adyar ist die Atmosphäre der Messiaserwartung. Unter den Residenten befindet sich ein indischer Jüngling, von dem es heißt, daß der Heilige Geist sich seiner einmal als Gefäßes bedienen werde; das hätten die Meister geoffenbart. Er werde dem kommenden Zeitalter zum Heiland werden. Für einige Tage habe ich diesen Glauben übernommen, um möglichst alles zu erleben, was er bedingt, und gestehe, daß ich ihn ungern wieder abgelegt habe: denn es ist eine Lust zu leben unter solcher Voraussetzung. Welch ungeheuren Hintergrund gibt sie dem unscheinbarsten Dasein! Wie steigert sie das Selbstgefühl! Wie spannt und begeistert sie alle Kräfte! Ich bin überzeugt: wenn ich mit meinem ganzen Wesen diesen Glauben dauernd bekennte, ich würde zehnmal leistungsfähiger sein, und, sei er noch so unbegründet, zehnmal schneller meinem inneren Ziele nahekommen. Denn was bedeutet er? eine Objektivierung des Ideals. Nie ist es der Heiland als solcher, welcher erlöst, sondern das Ideal seiner Gläubigen, das er verkörpert. Gleichwie die Anschauung des Kreuzes oder eines Heiligenbildes die Konzentration der Aufmerksamkeit auf das Göttliche erleichtert und verstärkt, genau im gleichen Sinne, nur in höherem Grade, hilft ein fleischgewordenes Ideal. Jeder hat das im kleinen erfahren. Aufschauen erhebt. Wen immer man verehrt und bewundert hat – solange man ernsthaft verehrte, hat auch das Mißverständnis einen weiter gebracht. Es kommt eben nicht darauf an, was das verehrte Objekt an sich sei, sondern auf das, was es einem bedeutet. Hierher rührt es, daß unerreichbare Ideale – unerreichbar nicht allein, weil sie transzendent wären, sondern weil ihre Träger fern oder tot sind – sich auf die Dauer am besten bewähren: deren Wirkung kann durch kein empirisches Versagen beeinträchtigt werden; hierher rührt es, daß es religiös so gleichgültig ist, ob ein Gottmensch je gelebt hat oder nicht. Glauben im religiösen Sinne heißt nicht Für-wahr-Halten, sondern Streben nach Selbstrealisierung durch Konzentration der Gemütskräfte auf ein vorausgesetztes Ideal. Und die unvergleichliche Wirkung lebender Gottmenschen (wo von solchen die Rede sein kann) rührt daher, daß diese ihrer Gefolgschaft das ihre unvergleichlich deutlich machten und seine bildende Kraft dadurch in ungeheurem Maße steigerten. So bezeichnet der theosophische Messiasglaube zunächst ohne jeden Zweifel ein produktives Moment. Wie es später sein wird, steht freilich in Frage. Daran zweifle ich nicht, daß der betreffende Jüngling, falls er lebt und sonst kein Unglück geschieht, zum Religionsstifter werden wird: das würden viele werden unter gleich starker Suggestion. Aber sollte sich sein Kaliber als zu klein erweisen, so daß er der Kritik gar nicht standhalten kann, so könnte das desaströse Folgen haben. In früheren Zeiten, wo Heilande, wenn nicht zu den alltäglichen, so doch den nicht allzu seltenen Gästen gehörten, war die Glaubenskraft der Menschen so groß, daß keine Entgleisung und Enttäuschung sie innerlich schädigte; desto weniger, als sie gar nicht wirklich enttäuscht werden konnten – sie glaubten trotz allem und durch alles hindurch. Das war ihr Glück: Glauben ist ein a priori, eine selbständige schöpferische Macht, die sich als solche selber rechtfertigt. Diesen Glauben kennt der Moderne nicht. Der seinige ist ein zartes Gewächs, das der geringsten Verwundung erliegen mag, und von allen Geschädigten ist der Enttäuschte am übelsten dran, weil der Verlust des Glaubens recht eigentlich entvitalisiert. Ohne ihn ist volles Selbstbewußtsein nicht möglich. Weil der Glaube fehlt, deshalb sehnen sich heute so viele nach einer neuen Religion: sie bedürfen eines äußeren Brennpunktes, um ihre inneren Kräfte zur Einheit zu sammeln, denn noch sind die wenigsten so weit, dies von innen her selbsttätig zu vermögen, ohne äußeren Halt enttäuschungsunfähig zu sein. Die jüngste, so tiefsinnige Ausdeutung des Christenglaubens auf den einen Spruch hin, daß das Himmelreich inwendig in uns sei, geht im allgemeinen noch auf kein vertieftes Selbstgefühl zurück, sondern die Erkenntnis einer dem Leben vorausgeeilten Vernunft. Insofern ist die Zeit, da religiöse Führer nützen können, auch für Europa noch nicht vorüber. Aber wie gesagt: die Glaubenskraft ist heute gar zu schwach, und wird ein bestimmter, glücklich erwachsener Glaube auf einmal zerstört, so kann dies allen Glauben ruinieren, was unabwendbar zu Nihilismus und Zersetzung führen würde. So sehe ich dem Schicksal des neuen Welterlösers, der im übrigen meiner Sympathie gewiß ist, wie jeder, der ein beschleunigendes Motiv ins Leben bringt, nicht ohne ernste Sorgen entgegen.

Natürlich wollen es die orthodoxen Theosophen ebensowenig wahrhaben, wie die Christen, daß die empirische Tatsächlichkeit eines Heilandes nicht sein Wesentliches sei. Und scheinbar mit Recht, denn zweifellos kommt es darauf an, wer der ist, dem man sich gläubig hingibt. Ein erleuchteter Geist kann noch dunkele Existenzen erhellen, ein Genius der Liebe noch verhärtete Herzen erweichen, was Geringere, die noch so starken Glauben finden, nicht vermögen. Aber das ändert nichts an der Wahrheit meiner Behauptung. Kein Lehrer vermag zu geben, was nicht latent in einem vorhanden war: er vermag nur das Schlummernde zu wecken, das Verschlossene zu befreien, das Verborgene hervorzuziehen. Das genügt, um ihm den Rang zu sichern, den ihm die Menschheit immer zuerkannt hat, denn allzu selten geschieht es, daß einer sich beistandslos seiner selbst bewußt werden kann; ohne Hilfe von außen her wird das Latente nur ausnahmsweise manifest. Aber nie darf dies doch so gedeutet werden, daß Lehrer geben, was man von sich aus nicht besaß; sie sind immer nur Auslöser, nicht Schenker. Und was einmal da ist, kann im Prinzip auf tausend Weisen zutage gefördert werden. So haben die Menschen auch von je auf vielen Wegen sich selbst gesucht und gefunden. Die Stärksten ohne äußere Hilfe, weniger Starke mit geringer, noch Schwächere mit größerem äußerem Aufgebot; dementsprechend gibt es Systeme der Asketik von monumentaler Einfachheit abwärts bis zur äußersten Komplikation, Religionsformen mit und ohne Vermittler, auf Autorität oder auf Selbstbestimmung aufgebaut. Sinn und Zweck sind überall die gleichen. Da die Masse nirgends selbständig ist, so haben alle Religionen überall, wo sie der Gesamtheit ein Evangelium sein wollten, den Nachdruck auf die Vermittlungen gelegt; im modernen Hinduismus spielt Sri Krishna und im nördlichen Buddhismus Amidha-Buddha genau die Rolle, wie Jesus innerhalb des Christentums. Gleiche Nöte erheischen gleiche Heilmittel. Aber das ist ein Aberglauben, daß die Heilande als solche, als bestimmte Menschen, die Erlöser wären: persönlich kommen sie nur als Auslöser in Betracht. Und von den meisten, vielleicht von allen, gilt nicht einmal so viel, da ihre eigentliche Wirksamkeit erst spät nach ihrem Tode begonnen hat: sie wirkten als reine Verkörperungen des Ideals. Hier komme ich denn nochmals auf den Vorzug unerreichbarer Ideale vor erreichbaren zurück: was die Phantasie unbehindert idealisieren darf, ist das bei weitem zuverlässigere Gefäß. Im glaubenskräftigen Orient mag ein gebrechlicher Mensch trotz aller Schwächen als Avatar verehrt werden; dies geschah jüngst erst Ramakrishna Paramahamsa, dem ekstatischen Heiligen von Dakshineswar. Unter modernen Europäern, selbst unter Theosophen, wird solches schwer mehr zustande kommen. Wie denn auch Ramakrishna nur seitens eines kleinsten Kreises bei Lebzeiten gottgleiche Verehrung genoß und erst jetzt, über dreißig Jahre nach seinem Tod, zum katholischen Heiligen auszuwachsen beginnt.

Worauf beruht nun im Letzten, im Metaphysischen, der Trieb, sich einem Höheren hinzugeben, unser Glück, wenn wir Höheres schauen dürfen, die gewaltige innere Förderung, die es bedingt? – Sie beruht darauf, daß der Mensch in dem, was über ihm steht, einen wahreren Ausdruck seiner selbst erkennt, als er ihn selber darzustellen vermag. Jeder fühlt nur zu sehr, wie unvollkommen er in seiner Erscheinung sein wahres Wesen realisiert. Er handelt nicht seinem Selbst entsprechend, denkt nicht so, wie er es meint, ist anders, als er sich innerlich sein fühlt. In jedem Individuum sind, mit seltenen Ausnahmen, so disparate Anlagen vereinigt, daß es ihm mit der vorhandenen Kraft nicht gelingen kann, sie sämtlich zu durchseelen. So sind Schöne meist dumm, große Täter selten verständnisreich, geistig produktive Naturen nur ausnahmsweise als Menschen der Vollendung fähig. Aber jeder weiß, daß er wesentlich mehr ist, als er zur Darstellung zu bringen vermag; und erkennt sich daher im Vollendeten besser wieder, als in der eigenen unvollkommenen Gestalt. So verstehen wir augenblicklich eine Wahrheit, die wir nimmer selbst gefunden hätten und sagen dabei: so meinten wir's eigentlich. So fühlen wir uns wunderbar gesteigert, ausgeweitet, wenn wir vollkommener Schönheit gegenüberstehen, denn in vollendeter Gestalt erst findet das Wesen die ihm ganz gemäße Ausdrucksform. In eben dem Sinne schaut der schwache Mensch beglückt in der großen Seele eines anderen sein endlich entsprechend ausgedrücktes Selbst. Wer je einem Großen begegnet ist, hat sich gesagt: den habe ich immer gekannt. Freilich hat er das. Hierher rührt denn im letzten die ungeheure Wirkung, die das bloße Dasein eines solchen ausstrahlt. Er zeigt den Menschen, was alle sein könnten, was alle im Tiefsten, im Geiste und in der Wahrheit sind. Und wie immer der klare Ausdruck dessen, was das Bewußtsein im Stillen und Dunkeln meint, nicht nur beglückt, sondern die Fortentwickelung beschleunigt, so hilft der antizipierte Ausdruck ihrer Selbst, das ein Großer allen bedeutet, ihnen allen zu beschleunigter Selbstverwirklichung. Hier wurzelt die alte Erkenntnis, daß das bloße Dasein eines Heiligen mehr Segen bringt, als alle guten Handlungen der Welt; hier wurzelt im Letzten die Bedeutung eines Heilands. Er gibt der Menschheit ein Beispiel; so hat es auch Christus gemeint. Damit tut er aber das Äußerste, was ein Wesen für ein anderes tun kann. Er zeigt den Menschen ihr tiefstes Selbst im Spiegel; er schafft ihnen Klarheit über ihr Ideal. Er verkörpert es sichtbarlich und gibt damit den schöpferischen Kräften, die vom Wesen her jeden himmelwärts treiben, das ersehnte Vorbild und Ziel. Nun wissen sie, wohin sie hinaussollen, nun wissen sie, was ihnen möglich ist. So kann es geschehen, daß das absichtslose Dasein eines großen Menschen dem Leben aller eine Wendung gibt.

 

Und doch, und doch – kann die Menschheit einen Heiland noch brauchen? Kann er noch das für sie bedeuten, was ihn allererst zum Heiland macht? Spricht nicht Iwan Karamasoffs Vision vom wiedererstandenen Christus und dem Großinquisitor in dieser Frage das letzte Wort? – Insofern wohl nicht, als es noch keine homogene Menschheit gibt; noch steht die Mehrzahl auf einer Entwicklungsstufe, die sie zur Aufnahme eines Erlösers im Prinzip wohl geeignet erscheinen läßt. Es treten ja deren auch wieder und wieder auf, nicht nur im Orient, sondern auch mitten in unserer Welt, und finden bereitwilligst Glauben. Bisher hat keiner von ihnen posthum sehr große Karriere gemacht (mit der einzigen Ausnahme Mrs. Baker-Eddys, die aber schwerlich, so weit sie es gebracht, bis zur Welterlöserin aufsteigen wird), aber was geschehen kann, ist unberechenbar; kein Römer noch zur Zeit Diokletians hätte für möglich gehalten, daß der ganze Westen sich dereinst zu Christo bekennen würde. Immerhin scheint so viel mir gewiß: die Kreise, auf die es ankommt, insofern sie die Träger der geschichtlichen Bewegung sind, können einen neuen Heiland wohl nicht mehr gebrauchen. Woraus folgt, daß – sofern keine Barbarisierung hereinbricht, wie nach dem Zusammenbruch des römischen Reichs – kein Religionsstifter es fortan mehr, soweit sich absehen läßt, zur Stellung eines Welterlösers bringen wird.

Ich will nicht von den technischen Hindernissen reden, die solcher Laufbahn heute im Wege stehen: dem Prestige der wissenschaftlichen Kritik, der wachsenden Aufklärung, dem Schwächerwerden der Glaubenskraft, der Publizität; die könnten überwunden werden. Was einer neuen Messiaslaufbahn unter uns recht eigentlich den Boden untergräbt, ist die wachsende Neigung aller Vorgeschrittenen, ihre eigenen Erlöser zu sein. Es ist nicht zu leugnen: der Geist des Protestantismus siegt. Höchst interessant und charakteristisch ist es, was aus Christus im Laufe seiner jüngsten Entwickelung wird. Schon tritt der historische Jesus ganz zurück; schon wird von objektiver Erlösung ganz geschwiegen; schon wird die ganze Theodicee des Mittelalters ignoriert. Was übrig bleibt, ist der inwendige Christus, den Jesus als erster Mensch in sich zum Leben erweckt hätte, den nunmehr jeder für sich, auf seine persönliche Weise, in sich zur Herrschaft bringen soll. Wer schon Christus als Person nicht berücksichtigt, wird schwerlich einen neuen Heiland anerkennen. Und diesen selbständigen Geistern gehört die Zukunft; darüber kann kein Zweifel sein. Man beurteile den Tatbestand wie man will – ich persönlich bin alles eher als blind gegenüber den Nachteilen übertriebener Protestantisierung –: es ist keine Frage, daß der »objektive Geist« sich unaufhaltsam einem Zustande zubewegt, in dem der einzelne, aller Vermittelungen entratend, persönlich und unmittelbar über alles, was ihn innerlich angeht, entscheiden will. Dieses Ergebnis war seit den Tagen der Reformation vorauszusehen; was damals angebahnt ward, wird restlos verwirklicht werden. Und bis das geschehen ist, bis sich gezeigt hat, was dieser neue Zustand objektiv wert ist, besteht keine Aussicht, daß andere Tendenzen historische Bedeutung gewännen.

So werden die Träume der Theosophen vom kommenden Welterlöser wohl schwerlich eine Verwirklichung erleben. Aber zu einer Sektenheilandsschaft könnte ihr Messias es wohl bringen; und das wäre schon genug. Es wäre an der Zeit, die Idee einer »Weltreligion« ein für alle Male fallen zu lassen; wie denn alle Verallgemeinerungsversuche im Konkreten, diese letzten Überreste aus primitiven Denkstadien. Es konnte Weltreligionen geben – und gibt deren ja heute noch –, wo die Menschheit wenig individualisiert war und gleichzeitig weite geschlossene Verbände bestanden. Aber die Menschheit individualisiert sich mehr und mehr von Tag zu Tag; sie wird sich dessen mehr und mehr bewußt, und immer stolzer auf das Persönliche. So verliert die Idee der Universalität in allen innerlichen Fragen mit jedem Tage an Bedeutung und Macht, erweisen sich allgemeine Formeln als immer unzulänglicher. In immer besonderer Gestalt offenbart sich der Sinn dem einzelnen, und das ist gut, denn, wie Adele Kamm sich ausdrückt, Gott wird mächtiger dadurch. Die Theosophische Gesellschaft hat die Idee der Universalität dadurch zu retten und ihren Zwecken dienstbar zu machen versucht, daß sie alle Religionsformen in sich beschließen will. Dieses macht sie, fern davon sie zu stärken, schwach. Ein so weites kann als Monade nicht bestehen. Es kann keinem eine innere Form geben, der eigentliche Zweck der Konfession. Nun will sie zwar auch keine Konfession sein, aber diesen Willen gibt sie unwillkürlich auf; sie muß es, sofern sie als Lebendiges dauern will; als bloß wissenschaftliche Vereinigung vermöchte sie nichts. Ersteht der erhoffte Messias, dann wird ein Teil der Theosophischen Gesellschaft von heute sich wohl um ihn gruppieren. Indessen aber kristallisieren die Gefolgschaften Annie Besants, Katherine Tingleys, Rudolf Steiners und mancher anderer in aller Stille zu abgeschlossenen Sekten aus. Und das ist gut. Nur in dieser Form hat die Theosophie als konkrete Gestaltung Zukunft. Natürlich wollen es die Führer von heute nicht wahrhaben, daß der grandiose Traum Madame Blavatskys keiner dauerhaften Verwirklichung fähig ist. Es schadet auch nicht, daß sie sich an ihn festklammern, denn das gibt ihrem Schaffen einen großen Zug. Aber früher oder später werden sie es einsehen müssen, daß das Streben nach Katholizität ein Mißverständnis ist, und sogar dankbar sein dafür, daß die Natur der Dinge sie am Ausführen ihres Vorhabens verhindert. So, wie sie geplant ward, könnte die Theosophische Gesellschaft nicht auch annähernd so viel wirken und bedeuten, wie sie in ihrer tatsächlichen Gestalt bedeuten kann und wird.

 

Natürlich wird man der Theosophie nicht gerecht, indem man ihren Ideenkreis mit der Messiaserwartung des Adyarkreises in notwendigen Zusammenhang bringt. Allein ich fürchte, was ich über die Unwahrscheinlichkeit einer Weltmission der Theosophie bemerkte, besteht unter allen Umständen zu Recht. Es ist gut möglich, daß ihr System in höherem Grade, als ich selber wahrhaben möchte, den wirklichen Verhältnissen entspricht, es ist sehr wahrscheinlich, daß es dereinst dem Geiste (wenn auch schwerlich dem Buchstaben) nach von der Mehrzahl der Menschen anerkannt werden wird, denn schon heute gilt dies, unter noch so verschiedenen Namen, in hohem Maße. Theo- und Anthroposophie, New Thought, Christian Science, die neue Gnosis, Vivekanandas Vedântismus, der neu-persische und indisch-islamitische Esoterismus, von dem der Hindus und Buddhisten zu schweigen, das Bahaitum, die Weltanschauungen der verschiedenen spiritualistischen und okkultistischen Zirkel, sogar die der Freimaurer gehen ja alle von einer wesentlich gleichen Grundauffassung aus, und sicher haben alle diese Bewegungen mehr Zukunft, als das offizielle Christentum. Aber dies sichert der Theosophie als lebendiger Entelechie doch keine. Was diese zu dem macht, was sie heute ist, ist nicht ihr theoretisches Lehrgebäude, dessen Grundriß Millionen anerkennen, die um keinen Preis als Theosophen gelten möchten, sondern eine bestimmte Auffassung, Ausdeutung und praktische Anwendung desselben. Das Wort Theosophie bezeichnet heute die besondere Konfession eines bestimmten religiösen Verbandes, und daß dem eine Weltmission bevorstünde, bezweifle ich. Die Theosophie als Religion wird fortfahren, viele einzelne glücklich zu machen, beschränkten Sekten einen Inhalt zu geben, allein im Leben als historische Bewegung wird sie keine bedeutende Rolle spielen. Ich will die wichtigsten prinzipiellen Momente zusammenstellen, die dem entgegenstehen Eine Ergänzung zum Folgenden bildet der Aufsatz: Für und wider die Theosophie, in meinem Buche Philosophie als Kunst, Darmstadt 1920..

Der erste Einwand gegen die Theosophie als Lebenskraft bezieht sich auf ihre Hinneigung zum Okkultismus. So wünschenswert ich es finde, daß die okkulten Kräfte, soweit es sie gibt, möglichst genau und eingehend studiert würden – der Gewinn wird der Wissenschaft, nicht der Religion und dem Leben zugute kommen. Übersinnliche Erkenntnis ist spirituell nicht bedeutsamer als sinnliche, und die »Geheimwissenschaft« als Religion oder als Weg zu ihr, wie sie von den meisten Theosophen angesehen wird, ist keinen roten Heller mehr wert als die energetische Weltanschauung Wilhelm Ostwalds. Sogar mittelbar werden die etwaigen Ergebnisse der Geheimforschung weit weniger für das Leben bedeuten, als ihre Adepten wähnen. Diese träumen von einem Zustand, wo die Telepathie alle äußeren Verständigungsmittel ersetzen und Willenskraft alle physischen Energien überflüssig machen wird: das sind ebensoviel törichte Utopien. Mag das Physische noch so sehr durch die Psyche beeinflußbar sein: auf Jahrhunderte hinaus wird es billiger und insofern zweckmäßiger bleiben, das Körperliche, in allen akuten Fällen wenigstens, mit körperlichen Mitteln zu behandeln. Zur Erledigung der normalen Geschäfte dieses Lebens werden die normalen Kräfte nicht nur für immer ausreichen, sondern auch für immer als einzige in Betracht kommen, oder wenn nicht für immer, so doch sicher solange, als die Menschen sich nicht wesentlich verändert haben werden. Die verborgenen Sphären der Wirklichkeit, welche die Ausbildung der seelischen Organe erfahrbar machen soll, gehen uns hier nichts an; je weniger wir sie beachten, desto besser. Wir sind weiter als das Mittelalter hauptsächlich deshalb, weil wir den Glauben verloren haben an mysteriöse Verknüpfungen, was doch beweist, daß deren Anerkennung nicht fördert. Sie kann nicht fördern, weil sie nichts anderes bedeutet, als ein Rechnen mit Einflüssen, die, falls überhaupt wirksam, geringfügig sind gegenüber den offenbaren dieser Sphäre, und sie schädigt direkt, wo jene ursprünglich gar nicht erfahren werden und nun alles darangesetzt wird, sie erfahrbar zu machen. Wer darauf hinarbeitet, kommt notwendig herunter innerlich genau wie der, welcher ständig an seine Gesundheit denkt; er verliert zuletzt jegliche Unbefangenheit. Wir sollen möglichst geradeaus leben, möglichst mutig, möglichst unbeirrt von innen heraus, möglichst unbekümmert um alles Abliegende und Äußerliche; je mehr wir das tun, desto stärker und reiner werden wir. Je weniger der Mensch sich auf fremde Mächte verläßt, je mehr er auf sich nimmt, desto wohler will ihm die Natur. Das Ideal ist, nicht allen Verhältnissen Rechnung zu tragen, sondern so fest in sich gegründet zu sein, daß Verhältnisse gleichgültig werden. Der Okkultist nun schielt ständig seitwärts, vor- und rückwärts, er ist nie wirklich unbefangen. Also kann er kein Führer sein in diesem Leben, so nützlich er sich als Organ erweisen mag. Da nun das Streben nach psychistischer Entwickelung der Spiritualisierung, wie bereits auseinandergesetzt, nicht zugute kommt, sondern entgegenwirkt, so gehe ich schwerlich fehl, indem ich die Hinneigung zum Okkultismus der Theosophie, vom Standpunkte einer möglichen Bedeutung für das Leben, als schlechthiniges Passivum buche.

Das zweite, mit dem vorher betrachteten zusammenhängende Moment, das gegen sie spricht, ist die Veräußerlichung, welche der religiöse Trieb mit Unvermeidlichkeit in ihr und durch sie erleidet. Gesetzt, es sei alles das wahr, was die Theosophie über die Hierarchie der Geister, die Götter, Halbgötter und Meister, die Führung des Menschengeschlechts usw. lehrt – sicher tut es diesem nicht gut, sich allzuviel darum zu kümmern. Aller religiöser Glaube hat nur den einen Sinn, der Selbstverwirklichung zuzuführen; er bezeichnet den imaginativen Exponenten des Seins, das Spiegelbild des Seinszentrums im Bewußtsein. Der unentwickelte Mensch muß an Äußerliches glauben, weil es für ihn kein anderes Mittel gibt, seine Kräfte auf einen Mittelpunkt zu beziehen, zu dynamischer Einheit zu verdichten; der entwickelte glaubt an sich selbst – den »Gott in sich« –, oder er glaubt überhaupt nicht, sondern ist einfach, denn wo das Seinsbewußtsein voll entfaltet ist, fallen Sein und Glauben zusammen. Welcher Art das Äußerliche ist, das jener glaubt, ist an sich gleichgültig; aber da es eben nur ein Mittel ist, kein Zweck, da religiöses Glauben mit Für-wahr-Halten im theoretischen Sinne nichts zu tun hat und der Existenz oder Nicht-Existenz eines Glaubensobjektes in der Wirklichkeit keine Bedeutung zukommt, so ist es gut, wenn dieses möglichst unerwiesen ist. Man braucht nicht so weit zu gehen, wie Tertullian, der da verkündete credo quia absurdum, aber sicher ist es günstig für die Religion, wenn sich die Frage der Existenz ihrer Götter möglichst wenig stellt. Im Hinduismus wird sie bewußt ungestellt gelassen; dort gelten die Divinitäten offiziell als Manifestationen des Allerhöchsten Einen – sie mögen im übrigen empirisch wirklich sein oder auch nicht. Den Theosophen hingegen wird das Dasein übermenschlicher Wesen von ihren Führern als wissenschaftlich erwiesen dargestellt. Glauben sie an Götter, so neigen sie sich vor Äußerlichem; sie folgen, halten für wahr, beten an im Sinne der Fetischisten, und entsprechend verkümmert die echte Religiosität. Sie macht recht eigentlich Aberglauben Platz, denn jeder Glaube an das Nicht-Selbst ist Aberglaube, und verkörpere dieses die absolute Wahrheit in Person. Hieraus erhellt denn, einen wie verhängnisvollen Fehler die Theosophie begeht durch ihre Wiedererweckung des antiken Polytheismus. Sie hätte aus ihrer Entdeckung, daß es wirklich Götter gibt (sofern solche objektiv vorliegt), die entgegengesetzte Konsequenz ziehen sollen, wenn es ihr um die Stiftung einer neuen Religion oder Vertiefung der bisherigen zu tun war. Jeden Gott, den sie wissenschaftlich nachwies, hätte sie stracks aus ihrem Pantheon verbannen sollen, als hinfürder religiös bedeutungslos. Es mag noch so viel Götter und höhere Wesen geben, mit noch so großer Machtfülle ausgestattet – sofern wir spirituelle Wesen sind, auf spirituellen Fortschritt bedacht, gehen sie uns gar nichts an. So hat denn der New thought – dieses Wort nicht als Sektenbezeichnung, sondern als Inbegriff der geistlichen Bewegungen verstanden, die auf den amerikanischen New thought ursprünglich zurückgehen – die Lehren des alten Mystizismus unstreitig in glücklicherem Sinne fortgebildet als die Theosophie. Er sieht in allen Vermittelungen nur Vorstufen; er weist alles Geheimwissen ab, verneint den Lebenswert okkulter Ausbildung und des Hinausstrebens aus der Erdgebundenheit, und legt Nachdruck einzig auf individuelle Selbstverwirklichung in diesem Leben. Dies ist in der Tat das einzige, was nottut. So sehr es der wissenschaftlichen Erkenntnis zugute kommen mag – das neuerwachte Interesse am Okkultismus bezeichnet für das religiöse Leben unserer Zeit eine direkte Gefahr, wahrscheinlich die ernsteste von allen, denn die droht eine Veräußerlichung herbeizuführen, die viel verhängnisvoller (weil schwerer bekämpfbar) werden kann, als alle durch Materialismus bedingte. Ein erwiesener Gott, fortan als Tatsache verehrt, wäre ein schlimmerer Fetisch als das goldene Kalb. Je mehr wir erfahren von den verborgenen Kräften in der Natur, desto notwendiger wird es, einzusehen, daß nur Selbstverwirklichung in Betracht kommt, daß es spirituell ganz gleichgültig ist, nicht allein, ob wir hellsichtig oder blind sind, sondern auch, ob es Götter gibt oder nicht. Mehr denn je gilt es heute zu beherzigen, was Buddha und Christus gegen die Wunderwirker gesagt: beide haben immer wieder hervorgehoben, daß es auf psychistische Ausbildung nicht ankommt, sondern auf ein Anderes, in anderer Dimension belegenes. Jedes Schielen nach dem Wunderbaren schädigt. Nur der Unbefangene kommt vorwärts. Und unbefangen sind die Theosophen nicht nur nicht – sie können es, wie gesagt, gar nicht sein. Dazu werden sie viel zu sehr von ihren Führern angehalten, zu bedenken, wie sie den Meistern gefallen, die okkulten Mächte richtig behandeln, üblen Einflüssen entgehen möchten. Deshalb steht der durchschnittliche Theosoph, soviel näher er der Wahrheit sein mag, spirituell meist unter gläubigen Christen. Ich erblicke im New thought, speziell in der Gestaltung, welche Adela Curtis ihm gegeben hat Die Schriften Adela Curtis': The new mysticism, Meditation and Health, The way of Silence (zu beziehen von der School of Silence, 10 Scarsdale Villas, Kensington W., deren erste auch deutsch vom Anthropos-Verlag, Prien, Oberbayern) sind jedem zu empfehlen. Ihren vollen Wert wird freilich nicht der noch so aufmerksame Leser beurteilen können, sondern nur der, welcher die in ihnen enthaltenen Lehren eine Weile praktiziert; wie denn kein Mystiker auf anderem Wege wirklich verstanden werden kann. – Leider hat die Verfasserin seither begonnen, wie dies so häufig geschieht, sich selbst ad absurdum zu führen. Von der Lektüre ihrer späteren Veröffentlichungen rate ich ab., wirklich die einzige auf Mystizismus fußende religiöse Bewegung unserer Zeit, die sich der Mehrzahl förderlich erweisen wird. In ihr allein wird sowohl verständig als methodisch auf Verinnerlichung und Spiritualisierung hingearbeitet; in ihr allein ist das Wesentliche klar erkannt, bestimmt es durchaus Mittel und Wege; in ihr allein, das ich wüßte, werden keine psychologischen Fehler begangen. An philosophischer Besonnenheit ist ihr die von Johannes Müller ausgehende Bewegung, die recht eigentlich das lutherische Äquivalent jener darstellt, wohl überlegen, allein in dieser wirkt kein beschleunigendes Motiv, worauf es vor allem ankommt, auf daß ein geistlicher Fortschritt eingeleitet werde. Sie weist nicht unmittelbar den Weg dazu, wie die Erkenntnis in Leben umzusetzen sei. Vor der Theosophie hat der New Thought vom Standpunkte des Westens noch einen weiteren Vorzug voraus, einen Vorzug zwar zufällig-empirischen Charakters, der aber eben deshalb für den empirischen Erfolg entscheidend ins Gewicht fallen dürfte: er bezeichnet eine logisch mögliche Fortbildung des Christentums, ist, obschon auf der Weisheit des Ostens fußend, von ihr inspiriert, rein christlich dem Geiste nach und verwendet keine oder fast keine fremdländischen Vorstellungen. Selbstverwirklichung ist nur im Rahmen vertrauter Vorstellungen möglich; in fremder Sprache kann man sich nicht ausdrücken, muß man überdies zu viel Aufmerksamkeit auf die Mittel verwenden. (Deshalb haben weder Buddha noch Christus das vorhandene Gesetz »aufheben«, sondern nur »erfüllen« wollen.) Nun sind uns Abendländern die indischen Vorstellungskreise fremd; die meisten sind unfähig – gerade die Theosophen beweisen dies – ein inneres Verhältnis zu ihnen zu gewinnen. Ferner sind wir alle physiologisch Christen, ob unser Bewußtsein dies anerkennt oder nicht. So hat jede Lehre, die in christlichem Geiste fortbaut, mehr Aussicht unser Innerstes zu ergreifen, als eine noch so tiefsinnige von fremdem Stamm. Ich persönlich glaube nicht, daß das Christentum jemals aussterben wird; in fortschreitender Umdeutung und Neuverkörperung wird es fortleben im Westen bis zum jüngsten Tag. Ich glaube auch nicht an die Notwendigkeit, kaum an die Möglichkeit einer neuen Religion. Wir sind prinzipiell über das Stadium hinaus, wo wir Formen metaphysisch ernst nehmen können, was sich erweisen wird, sobald eine neue sich Geltung verschaffen will. Die Besten unter uns sind nicht mehr bekehrungsfähig. Dagegen werden die meisten und gerade die Einsichtigsten noch lange bereit bleiben, die überkommenen Vorstellungen und Gestaltungen als Ausdrucksmittel weiterzuverwenden, weil diese ihnen die Selbstverwirklichung erleichtern. Das Geschrei unserer Tage nach einer neuen Religion ist kaum ernst zu nehmen; es entspricht meist mangelhafter Selbsterkenntnis. Die Vorgeschrittensten werden sich mehr und mehr ohne Konfession zu behelfen wissen, die Konfessionsbedürftigen nach wie vor an den alten ihr bestes Medium finden. Die, welche am lautesten nach neuen Glaubensformen schreien, sind, soweit ich urteilen kann, wesentlich areligiös. Sie werden, wenn sie reifer werden, erkennen, daß es ihnen nicht um einen neuen Glauben, sondern eine neue Seinsgestaltung zu tun ist; daß solches Streben nicht notwendig religiöse Färbung trägt und daß sie sich selbst viel schneller finden würden, wenn sie ihr Wesen ohne Seitenblicke auf Gott in der Erscheinung auszuprägen versuchten. Man nennt viel zu vielerlei in unseren Tagen Religion; wer sich irgendwie zur Geltung bringen will, bildet sich deshalb schon ein, religiöses Gefühl zu beweisen. Nur das Streben nach Selbstverwirklichung ist religiös, das auf spirituelle Durchdringung der Erscheinung aus ist. Wer sich bloß kraftvoll betätigen, nur schöpferisch gestalten will, der ist eben ein Kraftmensch, ein Organisator, vielleicht ein Dichter, aber nichts wesentlich anderes und nicht mehr.

Das dritte und wohl wichtigste Moment, das einer möglichen Weltmission der Theosophie im Westen entgegensteht, ist ihr Bekenntnis zu Idealen, die, historisch betrachtet, abgewirtschaftet haben. Der neue Erlöser wird als »Herr des Erbarmens« vorausgepriesen, die Tugenden der Demut, des Gehorsams, der Dienstbeflissenheit, des Mitleids, der sanftmütigen Liebe werden als äußerste hingestellt. Es sind wohl vielleicht die äußersten weiblichen Tugenden, aber männliche allein haben bis auf weiteres historische Zukunft. Schon sind wir im Begriff, das Mitleid zu überwinden, den so verhängnisvollen Aberglauben, daß Glücklich-Machen an sich verdienstlich, Altruismus als solcher ein Wert, Attachiertsein ein Zeichen von Spiritualität und Dulden besser als Ummachen sei, durch die allgemeine Erkenntnis zu ersetzen, daß nur das Produktive ethisch gerechtfertigt ist: also Leidenmachen besser als Mit-Leiden, sofern jenes aufwärts führt, Nichtberücksichtigung fremder Gefühle besser als Rücksichtnahme, sofern jene töricht sind, und so fort. Und dies nicht aus Gefühllosigkeit, sondern weil wir hinauszuwachsen beginnen über die Bestimmtheit durch emotionelle Zusammenhänge, weil wir aufhören, uns mit unserem Empirischen zu identifizieren und nur das noch als absolut wertvoll anerkennen, was nicht den gegebenen Menschen zufriedenstellt, sondern diesem, unter noch so viel Schmerzen, hinaushilft über sich selbst. Das ist die männliche, produktive Form der Humanität, im Gegensatz zur weiblichen, konservierenden, deren Ideale die Theosophie in extremer Form vertritt. Männliches aber und Weibliches können sich nicht auf einmal aktualisieren. Die westliche Menschheit hat sich nun bald zwei Jahrtausende lang offiziell zu weiblichen Idealen bekannt, und das war gut, denn nur dank dieser Erziehung im Frauengemach ist sie halbwegs gezähmt worden. Mehr vielleicht als irgendeinem anderen verdanken wir Nordländer unser heutiges Gesittetsein dem mittelalterlichen Mariendienst – jener wunderbar poetischen Abart des Christentums, der die Heilige Jungfrau als Gottheit in sich aufgesogen hatte. Nicht als mütterliches Prinzip wurde sie damals verehrt, noch als Personifizierung des Ewig-Weiblichen, sondern als Königin, als hohe Frau, als grande Dame, die keine Roheit, keinen Verstoß gegen höfische Sitte duldete. Zumal im 13. Jahrhundert dominierte die weibliche Idealität so absolut, daß, wer nur seine Vorstellungen kennte und von seinen Taten nichts wüßte, allen Grund hätte, es als Periode der Effeminiertheit zu beurteilen. Die westliche Menschheit hatte sich damals, in unterbewußter Selbsterkenntnis, die Weltanschauung zurechtgemacht, die sie am meisten zu veredeln geeignet war. Heute nun hat sie ihren eigentlichen Charakter erkannt, wie Achill, als Odysseus ihn unter den Mädchen aufsuchte, und nun müßte sie lügen, wenn sie weiter weiblich dächte; nun wird sie desto schneller ihre Vollendung finden, je bewußter-männlich sie sich gibt.

So wird mir, durch Projektion auf den Hintergrund der Theosophie, der Sinn unserer westlichen Eigenart und unseres Westländerschicksals deutlicher als jemals früher. Unsere Fortschrittlichkeit beruht darauf, daß in uns zum allerersten Male das männliche Prinzip in seiner Reinheit zur Alleinherrschaft gelangt ist. Sintemalen wir nun fortschrittlich sind, kann es nicht fehlen, daß wir mehr und mehr zu Herren werden dieser Welt: wo Traditionalismus und Progressismus konkurrieren, muß dieser siegen, weil sein Prinzip über die empirischen Zufälligkeiten erhaben ist. In der Idee war der Katholizismus in dem Augenblicke als historische Vormacht niedergerungen, wo der nackte Geist des Protestantismus geboren ward. Dieser allein wird fortan dem Geschehen die Richtung geben, gleichviel in welcher Gestalt, ob zu gutem oder zu bösem Ende. Es nützt nichts, sich diesem Schicksal entgegenzustemmen; alle Erkenntnis der Nachteile, die es bedingt, wird es nicht ändern. Mit der Idee der absoluten Autonomie ist eine Kraft in die Welt gesetzt worden, die mächtiger ist als alles, was ihr entgegensteht, und sich über alle Hindernisse hinweg auswirken wird. Sie wird auch das theosophische Subordinationsideal (unter allwissende Meister) wenn nicht entthronen, so doch an weiterer Wirksamkeit verhindern, wie sie denn das katholische schon unwirksam gemacht hat (in allen katholischen Ländern sind die meisten führenden Geister bezeichnenderweise fanatisch antiklerikal). Wir Westländer sind die Träger dieser Kraft. Wir haben uns zu ihr zu bekennen. Wir müssen erkennen, daß wir durchaus Männer sind und nun auch durchaus Männer sein wollen. Unbeschreiblich armselig wirken alle modernen westlichen Apostel einer weiblich-sentimentalen Idealität (falls sie nicht selber Frauen sind), und das kann nicht anders sein: insofern sie weiblich empfinden, sind es minderwertige Typen. Alles Gute, was neuerdings aus dem Westen stammt, trägt den Stempel männlichen Geistes. In diesem Geiste, in diesem allein, werden wir auch ferner Großes und Gutes wirken.

 

Mit dem Hinweise auf den weiblichen Charakter der Theosophie gegenüber dem ausgesprochen männlichen aller geistigen Mächte, welche Träger der modernen geschichtlichen Bewegung sind, ist wohl der Mittelpunkt des Problems berührt, was die Weisheit des Orients uns bedeuten kann und was nicht. Es liegt ein grundsätzliches Mißverständnis darin, zu erwarten, daß die Theosophie unter uns eine geschichtliche Rolle spielen wird: sie enthält kein beschleunigendes Motiv. Sie predigt eine empfangend-abwartende Haltung gegenüber den höheren Mächten, die allwissend-weise die Geschicke der Menschheit lenken, und wo diese sich einmal zu selbständigem Tun entschlossen hat, dort wälzt sich das Geschehen rücksichtslos über alle Erwartungen hinweg. Männlicher, mannhafter von Epoche zu Epoche stellt sich der Geist des Westens dar. Immer weniger Unabänderliches läßt er gelten, mehr und mehr Verantwortung lädt er sich freiwillig auf, und die Idee der Prädestination verliert entsprechend von Epoche zu Epoche an Wahrheit. Die Theosophie läßt keine Neuentstehung gelten: alle Zukunft sei von Ewigkeit her vorgemerkt, jede Neubegegnung sei durch altes Karma vorausbedingt, alles geschehe nach vorgezeichnetem Plan. Der Geist des Westens geht immer mehr davon aus, daß kein Plan den schöpferischen Willen bindet: mit jeder freien Tat finde absolute Neuschöpfung statt. Vom Atman her gesehen widersprechen sich beide Auffassungen vielleicht nicht; vielleicht stellen sie nur verschiedene Aspekte des absolut-seienden Verhältnisses dar und bedeuten das gleiche. Aber in der Erscheinungswelt und für unsere Begriffe bedingen sie den radikalsten Unterschied, der sich denken läßt: in unserer Welt hat die Vorsehung buchstäblich zugunsten des freibestimmenden Individuums abgedankt. Mythen sind oft wahrhaftigere Ausdrucksformen des Wirklichen als wissenschaftliche Fassungen: so kann man sagen, daß Gott immer nur dort persönlich eingreift, wo Ihm nichts anderes übrig bleibt, weil niemand sonst die Verantwortung tragen mag, und daß Er sich jetzt, wo die okzidentalische Welt gar so verantwortungsfreudig geworden ist, von den Geschäften ganz zurückgezogen hat. Jetzt handelt der Mensch als Gott, mit den gleichen Hoheitsrechten, und die Wendung der Dinge beweist, daß diese Stellung keine angemaßte ist. Wo der Mensch nun souverän geworden ist, dort verlieren die aus dem Geist der Abhängigkeit geborenen Ideale mehr und mehr an Bedeutung und Macht. Der Souverän sehnt sich weder nach Frieden noch nach Gnade, weder nach Trost noch nach Barmherzigkeit, denn er bestimmt; unterliegt er, so erkennt er sich selbst als schuldig an und trägt die Folgen in gelassenem Stolz. Das ist Mannesart. Das Weib erwartet, duldet, hofft, empfängt. Dementsprechend sehnt es sich nach Erbarmen, Gnade und Friede. Weil es sich so verhält, ist es im Recht, an die Übermacht des Schicksals zu glauben. Aber der Mann braucht sich um Gott und Teufel nicht zu scheren, weil seine Initiative ihn deren Macht entrückt. Wo nun der eine von zweien Initiative hat, der andere nicht, gerät dieser unweigerlich ins Hintertreffen. Deshalb haben alle weiblichen Religionsformen als historisch wirksame Faktoren ausgespielt, seitdem der Männergeist erwacht ist.

Hierher rührt im letzten und tiefsten die größere Effikazität des Westens dem Osten gegenüber. Nun schreitet der westliche Geist auf seiner Bahn unaufhaltsam vorwärts, und wird selbstbewußter von Tag zu Tag. Immer entschiedener bekennt er sich zur Mannesart. Es hat lange gedauert, bis er die überkommenen weiblichen Ideale zu verleugnen wagte. Für eine kurze Spanne Zeit erschuf er sich wohl eine Form, in der er ganz aufrichtig er selbst sein und sich gleichzeitig aufrichtig vor jenen neigen konnte: das war die Zeit des Marien- und Minnedienstes. Aber diese Form entseelte sich bald. Jahrhunderte lang schleppte er nun Überzeugungen mit sich fort, die zu seinem intimen Wollen wie auch oft zu seinem Gebaren und Tun in schreiendem Widerspruche standen. Noch heute gestehen es sich nicht viele vielleicht ein, daß ihnen an Frieden gar nichts liegt, noch an Entrückung aus diesem Jammertal; daß sie in Erbarmen und Liebe kein Höchstes sehen und entschlossenes Tun unter allen Umständen höher werten als Hinnehmen und Dulden. Aber so ist es in Wahrheit; und mehr und mehr, oft durch krampfartige Krisen hindurch, wird sich der Westländer seines eigentlichen Seins bewußt. Den schwersten Krampf bezeichnete Friedrich Nietzsche. Es mag sein, daß er der letzte war; daß die Entwicklung fortan ohne Rückstauungen ihren Lauf nehmen wird. Aber sicher ist es nicht. Jedesmal, wo ich die inneren Gärungen unserer Zeit überschaue, wundere ich mich darüber, wie wenig klar sich die Menschen noch immer über ihr eigentliches Wesen und Wollen sind. Sie tappen nach neuen Glaubensinhalten, Glaubensformen, haschen nach neuen Idealen nah und fern. Die Wahrheit ist, daß sie selbst, als persönlich handelnde Wesen, an die Stelle aller möglichen Ideale getreten sind; daß die Zeit äußerer Exponenten vorüber ist, daß die Brennpunkte der Ellipse zu einem Kreiszentrum zu verschmelzen beginnen, daß Glaube und Sein zu eins werden und es nun gilt, vollkommen ernst zu machen mit der Selbstbestimmung. Wären wir nicht unbewußt schon selbstbestimmt, wir suchten nicht vergeblich nach Idealen außer uns. Zur Zeit befinden wir uns, wie Hegel sagen würde, im Zustande des »unglücklichen Bewußtseins«. Aber machen wir ganz ernst mit der Wahrhaftigkeit, dem Mut zur Entscheidung und Verantwortung, dann wird es früher oder später ganz von selbst einem »glücklicheren« Platz machen. Ist dieses nun geschehen, dann wird sich erweisen, daß wir keine der alten Ideale, wie Nietzsche wähnte, zu verleugnen haben, daß wir im Gegenteil viel fähiger sein werden als vorher, ihnen Genüge zu tun. Es gibt männliche Äquivalente für das weibliche Mitleid, die weibliche Liebe und Barmherzigkeit. So steht nicht zu befürchten, daß unsere Kultur durch bewußte Schwenkung zum Männlichen zu eine Einbuße erleiden wird.

Aber freilich: die Menschen, welche die Geschichte machen, die allein vielleicht für deren Lauf in Betracht kommen, sind nur ein Teil der Menschheit. Es ist ein Irrtum, zu glauben, daß, weil der Zug der Zeit nach wachsender Vermännlichung geht, das Weibliche deswegen abstirbt: dieses beweist deutlich genug die ungeheure Werbekraft der Religionen des Ostens unter uns. Viele zieht es zu ihnen, wie den Mann zum Weibe; aber die meisten doch wohl, wie die Frau zur verstehenden Frau. Je männlicher der Zeitgeist einerseits wird, desto bewußter wird sich der weibliche Teil seiner Sinnesart. Und das ist gut. Denn so vertieft er sich wiederum dem Weiblichen zu. Die weibliche Anlage ist dem Verständnis günstiger; sie ist die tiefsinnigere im eigentlichen Sinne des Worts. Die Verständnisarbeit wird bis zum Jüngsten Tag die weibliche Menschheit am besten leisten. Unser in der Geschichte einzig dastehendes Erkenntnisstreben rührt ja nicht daher, daß wir von Hause aus weise, sondern daß wir unweise sind; wo Wissen schon vorhanden ist, entsteht keine Wissenschaft; wir sehnen uns nach Licht aus unserer Tatmenschen-Blindheit heraus. Deshalb ist es trotz allem zu bewillkommnen, daß die Gesinnung der Theosophie in immer weitere Kreise des Westens dringt. Der Erkenntnis kommt dies uneingeschränkt zugute: als theoretische Seinslehre steht die indische Weisheit, deren Lehren die Theosophie, wenn auch noch so mißdeutet, vertritt, jenseits des Gegensatzes von Mann und Weib; sie bezeichnet unstreitig das Maximum bisher erreichter Wesenserkenntnis, wie der Westen mehr und mehr einsehen wird, je weiter er auf seinem Wege gelangt; was ich an ihr als weiblich bezeichnete, ist nicht diese Weisheit an sich, es sind die Folgerungen, welche Inder und Theosophen aus ihr für das praktische Leben gezogen haben. Diese Folgerungen können Männer nicht anerkennen, brauchen es auch nicht; sie sind nicht notwendig, nicht verbindlich; aber die Weiber mögen es tun. Um so mehr, als wenig Gefahr besteht, daß weibliche Ideale unter uns je wieder zur Vorherrschaft gelangen werden.

... Mann und Weib ... Vielleicht ist es gut, wenn ich bei dieser Gelegenheit ausspreche, was es mit ihrem Verhältnis im Letzten für eine Bewandtnis hat. Man darf bei ihrer Entgegengesetztheit nicht verweilen: sobald man es tut, zerrinnt ihre Wahrheit, wie ein Wolkengebilde – wie denn wohl alle Gedanken nur von einer gewissen Distanz aus und innerhalb einer beschränkten Zeitdauer wahr erscheinen.

Es sieht so aus, als ob die Polarität der Geschlechter ein absolut Wirkliches wäre. Genauer und tiefer betrachtet hält nicht allein ihr vorausgesetzter Sinn, sondern sogar die Tatsache selbst nicht stich. Es geht nicht an, in den polaren Koordinaten Absoluta zu sehen, wie dies von Empedokles ab bis auf Schelling und über diesen hinaus immer wieder geschehen ist. Was, in der Tat, bezeichnet die Grundeigentümlichkeit des Weiblichen dem Männlichen gegenüber? Daß jenes nur nach vorhergehender Empfängnis schaffen kann. Ist dem aber also, dann sind nicht allein sämtliche Künstler Weiber, alle Denker und Philosophen (insofern sie anregungsbedürftig sind), sondern auch die männlichsten unter den Männern: die Genies der Tat. Denn auch deren Lebenswerk hat immer darin bestanden, daß sie eine Idee empfangen und aus ihr ein Lebendiges gestaltet haben. Man wende nicht ein, daß sie Ideen nicht empfangen, sondern gezeugt hätten: erstens war letzteres nur selten der Fall, denn fast alle historisch Großen waren Träger präexistierender Tendenzen, dann aber handelt es sich, wo die Idee tatsächlich ihr Ureigenstes war, nicht um Zeugen, sondern um Parthenogenese, denn der männliche Samen als solcher hat keine Entwickelungstendenz. Als rein männlich wäre allenfalls Gott zu denken, insofern Er ohne vorhergehende Empfängnis schafft. Aber Er ist über den Geschlechtsgegensatz hinaus; und sucht man Sein Schaffen zu begreifen, so muß man, wenn man Ihn um keinen Preis mit weiblichen Eigenschaften ausstatten will, der Materie Präexistenz sowohl als alle die Fähigkeiten zuerkennen, die einem Mutterschoße eignen.

Es handelt sich eben bei der geschlechtlichen Polarität um keine Absoluta, sondern um ein formales Schema, innerhalb dessen sich das schöpferische Geschehen bewegt. Männlich nennen wir das variierende, weiblich das erhaltende Prinzip; männlich das Anregende, weiblich das Ausgestaltende: männlich das Handelnde, weiblich das Aufnehmend-Verstehende. Der Mann gestaltet die Erscheinung, das Weib verkörpert den Grund. Diese Pole treten auf die verschiedenste Weise in die Erscheinung, und in jedem Individuum sind beide in vielfachen Aspekten gegenwärtig. Jeder Mensch ist eine Synthese von Männlichkeit und Weiblichkeit und kann, je nach den Umständen, als Mann oder Weib in die Erscheinung treten. Zwar geht dies bei ihm nicht so weit wie bei den Echinodermen, als bei welchen das männliche Prinzip durch Chemikalien zu ersetzen ist, oder bei den Copepoden und Daphniden, die je nach den Witterungsverhältnissen ihr Geschlecht verändern; die Wandlungsfähigkeit erscheint hier, wie überall beim Menschen, auf die psychische Sphäre beschränkt. Hier aber tritt sie desto deutlicher zutage. Als Künstler, als Gestalter, als Versteher ist der männlichste Mann ein Weib. So handelt es sich, wo in der Weltgeschichte, wie heut, ein Prinzip die Alleinherrschaft zu erringen scheint, um weniger Extremes, als man denkt: auch innerhalb unserer noch so sehr vermännlichten Kultur wird die Stimme des Ewig-Weiblichen vernehmbar bleiben.


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