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Peshawar

Ich bin tatsächlich aus Indien hinausgeraten. Entblätterte Bäume, eine kalte klare Winterluft; breite staubige Landstraßen, auf denen Menschen einherwandeln, deren psychischer Typus mir wohlbekannt ist. Seltsam: zwischen Afghanistan und Rußland liegt eine ganze Welt. Jedes Gebiet Zentralasiens ist von anderen Stämmen bevölkert, von anderer Geschichte und Kultur, hat andere Sitten und Gebräuche; und doch breitet sich heute eine geistige Atmosphäre vom Khaiber bis über den Ural aus. In dieser Atmosphäre verflüchtigt sich alle Bedeutsamkeit. In Peshawar wird täglich gemordet, und bunte indische Tücher stehen zum Verkauf – doch was hat das zu sagen? Genau so gut könnte nichts geschehen, könnte alles ganz anders sein. Durch ein Ereignis mehr oder weniger, durch ein Ereignis so oder anders, wird der Sinn dieses Geschehens nicht gewandelt. In langen, endlosen Reihen ziehen die Kamele hintereinander her. In langem, endlosem Zuge folgt Jahrhundert auf Jahrhundert. Millionen gleichartiger Menschen sterben rhythmisch hintereinander ab, bald gewaltsam und bald wieder von selbst, mit der stereotypen Gebärde des Achselzuckens.

Mich ergreift jene bodenlose Schwermut, für die nur der Russe das rechte Wort besitzt: Unynie. Ich will nichts, vermisse auch nichts, erweisbare Gründe habe ich nicht, ich bin eben schwermütig. Meine Seele ist wie ausgehöhlt. Dieses Asien kennt keine Regungen geistiger Art. Die Schwingungen, welche ich selber ausstrahle, verflüchtigen sich im endlosen Raum, mir aber fehlt die innere Kraft, sie aufzuhalten. Das Ergebnis ist ein Gefühl der Leere, das mich tiefelend macht. Dann aber dringen fremde, brutale Gewalten in mich ein – die Gedanken und Begierden, die in den wilden Herzen afghanischer Schafsdiebe hausen mögen. Ich kann mich ihrer kaum erwehren, so plötzlich überrumpeln sie mich. Und dann erkenne ich entsetzt, daß sie mir innerlich gar nicht so fremd sind, wie ich dachte: auch in mir steckt irgendwo, tief unten, ein roher Zentralasiate, und ich verfluche die Luft, die ihn aus dem Schlummer erwachen ließ.

Freilich birgt diese Welt eine Möglichkeit zu einzigartiger Großheit. Wenn der Sturm sich über der Wüste entfesselt, dann werden ganze Sandgebirge aufgetürmt, die sich wellengleich fortwälzen. Solche Sturmgewalten sind etliche Male in Menschen verkörpert gewesen. Das waren Wesen ohne Seele noch Sinn, ohne eigentliches Ziel und ohne Wertgefühl; sie besaßen kaum menschliches Bewußtsein. Dafür wohnte in ihnen die Urkraft des Wüstensturms. Wie Sandkörner trieben sie die Völker vor sich her, wie unter Sandbergen begruben sie die Kulturen. Blieb aber der Sand nicht haften, dann war es wiederum, als wäre nichts geschehen, als wäre der Überfall ein böser Traum gewesen. – Diese Eroberer stellen schlechterdings ungeistige Mächte dar; aber Großheit, ja übermenschliche Großheit kann Attila und Dschengis-Khan nicht aberkannt werden.

 

Und zu denken, daß hier, vor nicht einmal unendlich ferner Zeit, ein Mittelpunkt buddhistischer Kultur lag! Daß das Kabul-Tal das Heilige Land des Mahâyâna-Glaubens war, die Sehnsucht aller Suchenden vom Fünfstromlande bis zum japanischen Meer, der Schauplatz jener Verschmelzung des hellenischen und des indischen Geistes in Kunst, Kultur und Religion, auf den alle spätere Gestaltung des fernen Ostens ursprünglich zurückgeht! – Zentralasien ist Jahrtausende entlang die Quelle alles Geistigen auf Erden gewesen. Aber wie die Wasser mählich versiegten und die Gärten zu Wüsten zerstaubten, da verflüchtigte sich unaufhaltsam auch der Geist aus der ausgedörrten Atmosphäre, und die äußerste Barbarei trat das Erbe der äußersten Bildung an. – Ich denke an meine Geologentage zurück und die Art, wie ich damals die Welt betrachtete; in den Alpen schaute ich das Meer, im Basalte die flüssige Lava, im Versteinert-Erstarrten das Leben selbst. Mit nicht viel anderen Augen sieht der Archäolog Zentralasien an. Allein mir scheint: beide blicken über das Eigentlich-Bedeutsame hinweg. Das Bedeutsame ist die Veränderung an sich. Wer jemals Landwirt war, der weiß, was »Geschichte« heißt: ein Jahr der Kultur mehr oder weniger stellt ein kosmisches Absolutum dar; es ist nicht vorweg zu nehmen, nicht rückgängig zu machen; solche Zeit ist wirklich vor der Ewigkeit. Denn solche Zeit schafft um. Wo zielstrebiger Wille das Werden lenkt, dort findet Entwickelung statt; es geht vorwärts, immer vorwärts, immer weiter, und kein Ende ist abzusehen. Versagt der Wille aus irgendeinem Grund, so ändert das Geschehen seinen Sinn. Das Werden biegt ab, verzweigt sich, hört gar auf, ein Beliebiges ersetzt das Vernunftgemäße. So folgt auf den Garten die Wüste, auf Kultur die Wildnis, auf den Geist der Ungeist, auf kurzes Leben ewiger Tod. – Welche Narrheit, an eine Vorsehung zu glauben, die von außen her das irdische Geschehen lenkte! Dieses könnte wohl zweckvoll verlaufen, nichts Prinzipielles steht dem im Wege; vielleicht bringen wir Menschen es einmal dahin, daß es so wird. Aber Gott scheint es ganz gleichgültig zu sein, was auf Erden vorgeht. Gestern Geist, heute Ungeist, morgen vielleicht wiederum Geist; bald Garten, bald Wüste, bald Urwald, bald Meer: mich dünkt, Er ergötzt sich an der planlosen Abwechselung, wie der müde Maharajah am Nautsch, auf daß Ihm die Ewigkeit nicht lang werde.

 

Immerhin ist es reizvoll, zeitweilig inmitten so wilder Gesellen zu leben, wie es diese Afridis sind. Prächtig wirken sie in ihrem Raubtiertum, ihrer Ursprünglichkeit, ihrer triebhaften Unverantwortlichkeit. Die Regierung sieht es nicht gern, wenn man sich unbeschützt und ungeleitet in den Basars bewegt: plötzlich könnte einem ein Dolch zwischen den Rippen sitzen, sie aber müßte einschreiten, was sie in ihrer Weisheit ungern tut, weil Morden diesen Leuten nichts Schlimmeres bedeutet, als das höfliche Äußern einer abweichenden Ansicht unter uns. Könnte ich dem Afridi gram sein, der mir nach dem Leben stellte? Kaum. Nicht mehr jedenfalls als einem Tiger. Und indem ich mich durch die engen Gassen schlängele, schaue ich aus, ob ich nicht irgendwo einen beginnenden Zwist erspähe. Im Kampfe müssen diese Männer herrlich aussehen. Solange es friedlich hergeht, schläft ihr Bestes in eben dem Sinn, wie es beim spanischen Kampfstier schläft, welcher gleichmütig wiederkäut.

Auf einmal muß ich lachen: die Afridis sind ja leibhaftige Verkörperungen jenes Übermenschenideals, dem ein guter Teil unserer Dichterjugend huldigt! Große Menschen, welche grausam sind, weil sie müssen – die ihr Schicksal erfüllen, ob es sie gleich verdirbt – deren Leidenschaft keine Schranken anerkennt – die von Verstandesüberlegungen nie verleitet werden: wahrhaftig, die Beschreibung stimmt. Es ist gar zu kurzweilig, zu was für Gestaltungen das Bedürfnis nach Heroenkult ein überbildetes Städtertum führt. Ohne Zweifel tut Ursprünglichkeit not; aber ist denn keine höhere Art denkbar, als die des Tiers? Schwerlich haben die Athener um Plato herum zu Achill und Diomedes als Vorbildern aufgeschaut; es bedurfte der modernen Dekadenten, um das Menschheitsideal so tief in das Animalische hineinzusenken; selbst Nietzsche, der zarte Pastorensohn, hat es nimmer so gemeint, was immer er sagen mochte. Aber heute sind wir wirklich dahin gelangt, daß Ursprünglichkeit und Nahrhaftigkeit identifiziert erscheinen. Gern bin ich bereit, warum auch nicht, die Unbefangenheit der Kuh zu verehren; nur knüpfe ich hieran die Bedingung, daß sie nicht schreibe; dieser Ausdruck ist nur gebildeten Menschen gemäß. Im gleichen Sinne lehne ich es ab, den Wilden als Heros zu verehren. – Die Afridis sind wahrhaftig die Übermenschen, welche die moderne Literaturjugend verehrt. Es unterhält mich, sie unter diesem Gesichtspunkte zu mustern. Einst hieß es: wer sich in der Gewalt hat, sei stark; heute: wer sich gehen lassen muß. Natürlich: wer gar keine Leidenschaften hat, dem bedeutet ihr bloßes Dasein ein Ideal. Aber es ist ja nicht wahr, daß alle modernen Menschen erschöpft wären; nur die Schreibenden sind es zumeist, die canaille écrivante, cabalante et convulsionnaire Voltaires, die unwesentlichsten Leute von allen, und heute ist es verhängnisvoller denn je, daß diese soviel Macht besitzen; das Ideal der Ausgemergelten, der Impotenten, der Schwachen, treibt die Gesunden in die Barbarei. Schreibende Kühe werden verherrlicht, wilde Kerle als Helden verehrt: so beginnen mehr und mehr Kühe zu schreiben, und mehr und mehr bildungsfähige Menschen werden wild. O wie gut täte es den Jungen von heute, ein wenig indische Weisheit in sich aufzunehmen! Zu lernen, daß es ein Zeichen der Schwäche ist, und nicht der Kraft, wenn einer grausam sein muß, seinem Schicksal unterliegt, seiner Leidenschaften nicht Herr, von Vernunftüberlegungen unbeeinflußbar ist, daß nicht allein der Übermensch neuesten, sondern auch der tragische Heros klassischen Musters einen barbarischen Zustand verkörpert! Ohne Zweifel ist der moderne Menschheitszustand wenig wert; aber das Ideal, dem wir nachstreben sollen, liegt in der Richtung der Durchgeistigung, nicht der Vertierung. Nicht nur die Kuh, auch der Gott ist unbefangen, und diesem, nicht jener, sollten wir nacheifern. Um so mehr, als wir diesem schon viel näher sind. Indem ich die Afridis betrachte, wird mir sehr deutlich, wie fern deren Wesen uns schon liegt. Vielleicht bedingt es diese Verrückung der Perspektive gegenüber dem Zustande der Antike, daß uns heute das Tier, wie den Alten der Gott, über alles ehrwürdig dünkt ...


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