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Anuradhapura

Was müssen die alten Könige, welche Ceylons Riesendenkmäler errichtet haben, für Männer gewesen sein! Diese Bauten sind keine Monumente eitlen Reichtums, auch keine Willkürschöpfungen einer ungebändigten Phantasie: sie atmen eine herbe, schlichte Größe, die inmitten des tropischen Überschwangs ringsum beinahe unnatürlich wirkt. Neben der Felsenfeste Sigiri, dem Horste des Vatermörders Kassyapa, nehmen sich die Burgen Europas wie Kinderspielzeuge aus; allein das Bad dieses Condottiere ist ein Bau wie ein ägyptisches Königsgrab. Die Daghobas gleichen natürlichen Bergen, und doch ist es »Geist« im höchsten Sinn, der ihren Umrissen seinen Charakter gibt. Aber das Wunder der Wunder von Ceylon ist der Fels von Mihintale, woselbst Mahinda, König Asokas Sohn, der große Apostel des Buddhismus, seine Tage verbracht und abgeschlossen hat. Dessen Zelle – eine schmale Terrasse am höchsten Punkte des Berges, von Künstlerhand aus dem Stein herausgehauen – ist das Königlichste, was ich je gesehen. Von steilen, drohenden Felsen überdacht, fällt sie jäh zum Tale ab. Drunten aber breiten sich endlose Urwälder aus, deren heiliges Schweigen nur hier und da durch das Trompeten des Elefanten unterbrochen wird. Solchen Horst konnte ein König allein sich zur Wohnstatt wählen. Es ist unmöglich, ohne innerlich weiter zu werden, auch nur kurz in ihr zu weilen. Unwillkürlich stellt sich mir Mahinda in der typischen Stellung des sinnenden Buddha dar, riesengroß, wie ihn die Alten im Steine abzubilden pflegten: so muß er, unbewegt und mild, auf das blühende Leben im Tal hinabgeblickt haben, als einer, welcher entsagt hat aus der Fülle der Macht heraus.

Wie richtig hat die Legende ihre Worte gewählt, indem sie jene Herrscher mit Elefanten und Tigern verglich! Das, gerade das sind sie gewesen. Die Treibhausluft dieser Zone bringt in der Regel keine großen Individuen hervor, sie ist deren Gedeihen nicht günstig. Der Dschungel ist eine Dickung, kein Wald, und seine Fauna ist mehr reich und üppig im allgemeinen, als bedeutend, was die Sondergestalt betrifft. Wohl scheint hier und da ein einzelner Baum mit seiner Krone am Himmel anzustoßen, aber sieht man genauer hin, so gewahrt man, daß dieser Riese gar kein Einzelner ist: von den Ästen sprießen neue Wurzeln hernieder, und wo das Auge eine Persönlichkeit zu schauen wähnt, steht in Wahrheit ein Stammbaum da. Das klassische Beispiel bietet der heilige Bodhi-Baum von Anuradhapura, der nachweislich von einem Steckling stammt, den König Açoka aus Buddha-Gaya einst hingestiftet hatte: dieses älteste Gewächs der Geschichte stellt sich als schmächtiges junges Bäumchen dar; was heute lebt und grünt, sind die späten Enkel der einstigen Wipfelzweige, die ihrerseits Wurzeln in die Erde hinabgesenkt hatten. Auf Ceylon verläuft das Wachstum mit schwindelerregender Geschwindigkeit; ich habe Jahrestriebe gesehen, welche fünfzehn mitteleuropäischen Vegetationsperioden entsprechen würden; hier sprießen die Bäume wie das Gras. Aber mit gleicher Geschwindigkeit sterben sie ab; wirklich leben tut immer nur die Jugend. Gleiches gilt von den Tieren und den Menschen. Sie sind dem Typus nach ewig unausgewachsen; sie vermehren sich in beängstigender Fülle, mit rasender Hast, und ebenso rasend schnell löst eine Generation die andere ab. Aber diese Natur, die zur Bildung von Individualitäten in der Regel weder Lust noch Zeit hat, bringt zuweilen doch solche hervor; es ist, als wäre da dem Rade des Geschehens ein Hemmschuh angelegt worden. Aus solcher Energiestauung gehen dann Wesen hervor, so gewaltig, so groß, wie kein anderes Klima sie kennt: der Elefant, das Nashorn, der Tiger. Auch innerhalb des Menschengeschlechts hat sich der Strom des Werdens einige Male in einer Einzelgestalt akkumuliert: das waren dann Männer von gewaltigen Dimensionen, die der Volksmund mit Recht mit Elefanten verglichen hat.

Jetzt verstehe ich, wie in den Jugendjahren unseres Planeten, als noch Palmenhaine die Pole krönten, jene Riesengeschöpfe entstehen und leben konnten, deren Skelette uns heute in ungläubiges Staunen versetzen. Könige wie Mahinda, Parakrama Bahu, Dutthagamini waren Wesen ganz anderer Art als die großen Kaiser des Ostens. Diese waren Persönlichkeiten von solcher Macht, von so ungeheurer Willenskraft, daß ihre Größe von den äußeren Umständen schier unabhängig schien; sie schufen die Verhältnisse, die ihnen entsprachen. So wie sie dastanden, waren die Tropenkönige nicht geringer, vielleicht sogar gewaltiger noch als jene; allein ihr Seinsgrund lag weniger in ihnen als in der Natur, deren Bestandteile sie waren; nur inmitten tropischer Fülle konnten Wesen ihrer Sonderart fortkommen. Sie bedurften eines Übermaßes von Nahrung, die ihnen ohne ihr Zutun geliefert wurde, eines Mindestmaßes von materiellem Widerstand, einer Umgebung, die sich geschmeidig ihren Wünschen fügte. Nur wo solche Verhältnisse vorlagen, waren sie möglich. Nicht anders stand es einstmals mit den Sauriern. Auch diese Riesen waren streng bedingt; nur inmitten einer noch sehr viel üppigeren Natur, als sie es heute in den Tropen ist, konnten sie aufkommen, dauern und gedeihen. Auch damals wird die Hauptmasse der Schöpfung schnell wachsend und schnell verderbend gewesen sein – deren Spuren sind dahin. Zu desto gewaltigeren Dimensionen wuchsen die seltenen Einzelnen heran, die inmitten des Wechsels zur Dauer berufen waren.

Die Zeiten solcher Größe sind dahin. Zum Unterhalt so monumentalen Lebens ist die Natur zu arm geworden. Heute scheint nur mehr das Billige den Umständen gemäß. Und was das Menschengeschlecht betrifft, so ist das Unterholz zu selbstbewußt geworden, um dem einzelnen Riesen die Bahn noch freizugeben. Es mag sein, daß dieses so gut ist; ich weiß nicht, was »an sich« besser sei – eine indifferente Masse, die gewaltige Einzelne hochkommen läßt, oder ein höheres allgemeines Niveau, das ein Hinauswachsen über dasselbe nur innerhalb enger Grenzen duldet und jeden Schößling aus Gigantenstamm erstickt. Ich wollte, es wäre möglich, daß ein hohes allgemeines Niveau und Riesen im Sinne der Vorwelt zusammen beständen. Leider scheinen dem intime Naturgesetze entgegenzustehen. Man muß sich, man stelle sich, wie man wolle, für eins von zwei Übeln entscheiden. Da bekenne ich denn, daß ich freudig das ganze Geschlecht der Hasen dafür hingäbe, daß mich die Anschauung eines Atlantosaurus noch einmal die Kleinlichkeit quartären Daseins vergessen machte.

 

Auf meiner Wanderung durch die Ruinen gelangte ich heute unversehens vor eine Hütte, in welcher ein junger Engländer inmitten vieler Hunderte von Schlangen haust. Ein Exzentrik, wie nur Albion solche hervorbringt. Schlangenbändiger, Schlangenjäger, Schlangenfreunde gibt es genug, und zu den letzteren darf auch ich mich zählen, denn seit je finde ich ein besonderes Wohlgefallen an den vollendeten Kurven dieser Tiere. Aber zum näheren Verkehr mit Reptilien bedarf es einer besonderen, dem Menschen von Natur nicht liegenden Einstellung, was auch dem indischen Schlangenbeschwörer immer anzumerken ist. Dieser Engländer nun verkehrte mit seinen Hausgenossen, als ob er nicht anders könnte, als verstünde sich solcher Umgang von selbst. Nichts Außerordentliches waren sie ihm; weder bewunderte er sie, noch machte er Geschäfte mit ihnen, noch schienen sie ihn wissenschaftlich zu interessieren: die ringelnden Tiere bedeuteten ihm sein natürliches Milieu. Da waren gewaltige Pythons und wütende Brillenschlangen, im vollen Besitz ihrer Giftzähne; sie alle hatte er eigenhändig eingefangen und hantierte mit ihnen vor mir herum, daß mir angst und bange dabei wurde. Die Eingeborenen behaupten steif und fest, er sei durch einen Talisman gefeit; er aber meinte kühl, bei einiger Gewandtheit und Vertrautheit mit ihren Eigenheiten seien Kobras ganz ungefährlich. Es schien ihn zu interessieren, als ich ihm mitteilte, daß es wirksame Gegengifte gäbe: er selbst hatte noch nie von solchen gehört, die Frage auch nie im Geist erwogen. Er schrieb sich die Adresse der Anstalt auf, in der das Serum hergestellt wird, doch zweifle ich, daß er sich jemals hinwenden wird.

Das wirklich Interessante an diesem Schlangenheime war nun dies, daß die Mentalität seines wunderlichen Direktors ein Milieu geschaffen hat, in dem die Schlangen im gleichen Verstande harmlos erscheinen, wie die Tobsüchtigen und »Unruhigen« in einem gutgeleiteten Irrenhaus. Wirklich ungefährlich sind Unruhige ja nie, aber in der Anstalt läßt man sie doch frei gewähren, und dort richten sie tatsächlich kein Unheil an. Ebenso werden auch Kobras nie wirklich zahm – sie sind und bleiben stumpfsinnige, sinnlos wütende Geschöpfe, weder der Einsicht noch der Zuneigung fähig; gleichwohl nahm mein Engländer auch die ungebärdigsten unbeschadet in die Hand und wußte solche, welche eben noch wütend um sich hauten, nach altbewährter Psychiaterpraxis schnell zu beruhigen, indem er ihnen die Hand sanft aufs Haupt legte und dieses dann sachte niederdrückte. Ja, in seiner Gesellschaft konnte auch ich unter den Schlangen mit nur geringer Lebensgefahr einherspazieren. Diese Erfahrung rechne ich zu den wichtigsten, die ich gemacht habe. Bei intelligenten Geschöpfen, wie normalen Menschen und höheren Tieren, erscheint der ungeheure Einfluß, den Milieu und Behandlungsart ausüben, nicht weiter wunderbar, weil in ihrem Falle psychische Schranken, deren sie sich als eines objektiv Wirklichen bewußt werden, ein ebenso Objektives bedeuten wie materielle; wer halbwegs frei ist in seiner Wahl, reagiert im Guten wie im Bösen meist so, wie dies den Umständen am besten entspricht. Nur stumpfsinnige Tiere sind gleich stumpfsinnigen Menschen in diesem Sinne unbeeinflußbar. Aber die Irrenanstalten und das Schlangenheim, das ich heute besichtigte, beweisen, daß eine Beeinflussung noch möglich ist, wo das Auffassen psychischer Schranken kaum mehr in Frage kommt; sie wirken eben objektiv schlechthin, und es hängt bloß von der Intensität der Einwirkung ab, ob sie eine Verwandlung der Erscheinung zur Folge hat oder nicht. Auch für die Kobra ist eine Umwelt denkbar, in der sie harmlos erscheint. Nun sind die Unruhigen in der Anstalt, wo sie sich gut gebärden, viel glücklicher als außerhalb: also muß das moralisch Bessere irgendwie einem objektiv Zweckmäßigeren entsprechen; was ich mir seinerseits nur dahin zu deuten weiß, daß moralisches Verhalten (ich spreche nur vom Verhalten, nicht der Gesinnung!) nichts anderes als der natürliche Ausdruck von Angepaßtheit ist. Verbrecher untereinander sind gewöhnlich sehr ehrenhaft; ein vollendeter Menschenkenner findet unter noch so unzuverlässigen Subjekten treue Diener; der Zufriedene ist selten bösartig: lauter Beweise, daß Angepaßtheit moralisches Verhalten bedingt. Übersetze ich nun diesen Tatbestand ins Innerliche oder betrachte ich ihn von innen her, so darf ich weiter folgern, daß ein »moralischer Instinkt«, wie ihn das 18. Jahrhundert postulierte, insofern wohl vorliegt, als psychisches Wohlbefinden an äußere Angepaßtheit gebunden ist und ein jeder nach Wohlbefinden strebt. Freilich ist dieser »moralische Instinkt« an sich nichts Ethisches; die Schlange ist ganz gesinnungslos; erst von einer höheren seelischen Entwicklungsstufe ab kann sich der Naturtrieb ethischen Kategorien einordnen (auch der psychisch Abnorme gilt uns ja als »unverantwortlich«). Aber sicher bedeutet ethisches Streben nur die Durchgeistigung oder Durchseelung einer Tendenz, die als solche schon bei der Naja vorhanden ist.

Hier wurzelte denn der Wahrheitsgehalt der Vorstellung vom Paradies. Ohne Zweifel könnte es eine Welt geben, in der insofern nichts Böses geschähe, als keiner Handlung böse Absicht zugrunde läge. Wir Europäer werden nie ein Paradies erschaffen, trotz aller zur Schau getragenen Barmherzigkeit, weil unsere animalischen Instinkte dazu zu stark sind. Die indisch-buddhistische Welt wirkt in vielen Hinsichten paradiesisch. Da der Glaube es verbietet, den Tieren ein Leid zu tun, stehen diese in keinem Feindschaftsverhältnis zum Menschen; sie lassen ihn gelten, wie eine Art die andere gelten läßt, des eingedenk, daß es für alle Raum gibt. Der Tiger wird in Indien weniger gefürchtet, und dies mit Recht, als in Europa ein Rothirsch zur Brunftzeit. – Hier wurzelt ferner der Wahrheitsgehalt der auf Plato zurückgehenden, allen christlichen Mystikern vertrauten, aber von den persischen am vollkommensten ausgebildeten Theorie, daß die göttliche Liebe jedem innewohnt und es von Äußerlichkeiten abhängt, ob sie sich äußert oder nicht. Dieses Äußerliche mag die Neigung zu einem Weib, der Einfluß kongenialer Umgebung, ein schweres Schicksal sein, das die Seele umkehrt – immer handelt es sich darum, daß das Instrument »Mensch« so gestimmt werde, daß Gott darauf spielen kann. Freilich ist es so.

 

Noch einmal durchwandere ich die gewaltige Ruinenstadt, mit ihren berggroßen Stupas, ihren ungeheuren Palastanlagen, ihren mächtig eingedämmten Teichen. Es wird Abend. Vor der Ruangweli-Daghoba beten fromme Pilger. Ein Mönch beginnt mit getragener Stimme die Liturgie, und die Laien fallen rhythmisch ein. Auf dem Altar stehen duftende Blumenspenden. Rings um das Heiligtum, soweit der Vorrat reichte, haben die Frommen Kerzen aufgestellt, und nun, wo sie angezündet sind und die Dämmerung zur Nacht wird, heben sie sich ab vom steinernen Grund wie die Sterne vom dunklen Himmelsraum. – Welch tiefe Poesie liegt im Reliquiendienst! Hier hat ein frommes Volk, von einem frommeren Herrscher geführt, in jahrelanger, mühsamer Arbeit einen Berg über einem Andenken aufgetürmt, auf daß es nie und nimmer zu Schaden käme. Wahrscheinlich stammt die Reliquie nicht wirklich vom Buddha her: was tut es? Die Hauptsache ist, daß sie der Andacht einen Anhalt gebe. Der Liebende zieht oft ein wertloses Andenken dem kostbaren vor, weil jenes das, was es bedeutet, am reinsten, weil unvermengtesten, zum Ausdruck bringt.

Es ist tief bedeutsam, daß der Reliquiendienst gerade innerhalb des Glaubens, der vom Vergänglichen am geringsten denkt, eine so große Entfaltung erlebt hat. Je vergänglicher ein Besitz, desto kostbarer erscheint er dem Menschen: so hat die Versicherung Buddhas, daß es nach seinem Tode mit ihm für immer zu Ende sein werde, zum Gegenteil dessen geführt, was er beabsichtigt hatte: man hat desto mehr an dem festgehalten, was von ihm übrig blieb. Nicht nur alle seine Worte hat man treulich aufbewahrt, seine Lehren, die Geschichten aus seinem Leben: seine irdischen Reste sind zum Kultobjekt geworden, und er selbst ward zum Gott verklärt. Das Volk kann die Nirwanalehre nicht so verstehen, wie der Erleuchtete sie verstanden wissen wollte: ihm bedeutet das Nirwana des Vollendeten, daß er, der Zeit zwar entrückt, desto ewiger weiterdauert. Aber freilich weiß es dieses nicht gewiß; täglich belehren es ja die Mönche des Gegenteils. So hat das Gebet an den heiligen Stätten den Charakter der Panichide. Eine süße Schwermut durchzittert die Liturgie, wie die Trauer um ein teures Wesen, das man selig hofft.


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