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Agra

Daß es so etwas geben kann, hätte ich nicht für möglich gehalten. Ein massiver Marmorbau, ohne Schwere, wie aus Äther gebildet; vollendet rationell und doch rein dekorativ; ohne bestimmbaren Gehalt und doch sinnvoll im höchsten Grade: der Taj Mahal ist nicht nur eins der größten Kunstwerke, er ist vielleicht das größte aller Kunststücke, das der bildende Menschengeist je vollbracht hat. Das Maximum an Vollendung, das hier erreicht erscheint, ist allen Maßstäben, die ich wüßte, entrückt, denn Halbvollendetes auf der gleichen Linie gibt es nicht. Anlagen gleichen Planes liegen zu Dutzenden auf der weiten Ebene Hindostans verstreut, aber keine von ihnen läßt die Synthese auch nur ahnen, welche die Schöpfung Schah Dschehans in sich beschließt. Jene sind vernunftgemäß angelegte Gebäude, mit schönen Dekorationen obendrein; das Vernunftgemäße wirkt als solches, das Dekorative seinerseits, und über das Gesamtbild läßt sich von den gleichen Voraussetzungen aus urteilen, wie über alle sonstige Architektur. Im Falle des Taj liegt unverkennbar ein Dimensionswechsel vor. Das Vernunftgemäße ist im Dekorativen eingeschmolzen, welches bedeutet, daß die Schwere, deren Ausnutzung das Realmotiv aller sonstigen Baukunst ist, ihr Gewicht verloren hat; umgekehrt ist dem Dekorativen sein Arabeskencharakter genommen, da hier die Arabeske alle Vernunft in sich eingesogen hat und vom gleichen Gehalt durchgeistigt erscheint, den sonst nur Rationelles besitzt. So wirkt der Taj nicht nur als schön, sondern zugleich, so befremdlich dies klingen mag, als wunderhübsch; er ist ein erlesenstes Bijou. Ihm fehlt, bei vollendeter Schönheit, bei unerreichter Lieblichkeit und Anmut, jedwede Erhabenheit. Und nun was den Sinn betrifft: Ausdruckswert im Verstande der bekannten architektonischen Ausdrucksmöglichkeiten hat er keinen, nicht mehr als irgendein Kabinettstück der Goldschmiedekunst. Weder spricht aus ihm Geistigkeit, wie aus dem Parthenon, noch Sammlung und Kraft, wie aus den typischen mohammedanischen Bauten; seine Formen haben weder einen seelischen Hintergrund, wie diejenigen gotischer Kathedralen, noch einen animalisch-emotionellen, wie die drawidischer Tempel. Der Taj ist nicht einmal notwendig ein Grabdenkmal: ebensogut oder so schlecht könnte er ein Lusthaus sein, wie jeder erkennen wird, der sich durch die Zypressen ringsum und die tausenderlei geläufigen Kommentare seinen unbefangenen Blick nicht trüben läßt. Freilich ist es gar anheimelnd zu denken, daß dieser Bau ein Denkmal treuer Gattenliebe sei und die im Tode Wiedervereinten überwölbe. Allein die tote Königin ist mit nichten die Seele des Taj. Dieser hat keine Seele, keinen Sinn, der sich irgendwoher ableiten ließe. Eben darum aber stellt er das absoluteste Kunstwerk dar, das Architekten jemals aufgeführt haben.

Die Architektur gilt als unfreie Kunst; sie ist es insofern, als geistige Schönheit in ihr nur durch das Medium empirischer Zweckmäßigkeit dargestellt werden kann. Was schön erscheint, ohne zweckmäßig zu sein, ist eben deshalb sinn- und gehaltlos – die Arabeske ist da und gefällt, doch sie bedeutet nichts. Daher der merkwürdige Antagonismus zwischen dem Rationellen und dem Dekorativen: im Fall vollendet rationaler Kunst, wie der hellenischen, wirkt dieses als überflüssig; je weniger Schmuck und Beiwerk, desto besser. Umgekehrt bedarf das Dekorative notwendig eines Objektes, das ihm Sinn verleiht. Am wesenhaftesten mutet es dort an, wo es ein ihm entsprechendes Leben voraussetzt, wie in den Palästen Italiens und Indiens; je mehr selbständige Bedeutung es beansprucht, desto leerer und sinnloser wirkt es. Beim Taj nun erscheint der Geist nicht als empirisch gebunden, und das Dekorative nicht als innerlich leer; dieser Bau ist absolut zwecklos trotz vollendeter Rationalität, und vollkommen gehaltvoll trotz seines Arabeskencharakters. Er gehört eben einer besonderen Sphäre an. In dieser gelten die üblichen Kategorien nicht. Hier bedeutet das Dekorative ein ebenso Innerliches, wie sonst das Zweckmäßigschöne, und die Vernunft erscheint nicht tiefer als der Schimmer. Der Taj ist wohl das absoluteste Kunstwerk, das es gibt; er ist so ausschließlich, daß seine Seele, gleich seinem Körper, keine Fenster hat. Wir können sie nur ahnen, nur verehren, wirklich hin zu ihr führt kein Weg.

Und was ist es, das diese Einzigkeit bedingt? Es ist das Zusammenwirken vieler Kleinigkeiten; das Dasein von Nuancen, denen man es nimmer zutrauen würde, daß sie so Ungeheures bedeuten könnten. Der allgemeine Plan des Taj liegt hunderten indischer Mausoleen zugrunde, die völlig gleichgültig wirken; die Chromatik ist hundertfach nachgeahmt worden, mit keinem besseren Erfolg, als daß die also geschmückten Gebäude den Eindruck von Konditorware machen. Man verschiebe nur ein wenig die Proportionen, man ändere um ein Jota die Dimensionen, man nehme ein anderes Material; man versetze den Taj, wie er ist, in eine Gegend von anderen Luftfeuchtigkeits- und Lichtbrechungsverhältnissen: er wäre nicht mehr der Taj Mahal. Ich habe den gleichen weißen Marmor keine hundert Kilometer entfernt von Agra zu Moscheen verwandt gesehen: dort hat er nichts vom Schmelze des Taj. An diesem Kunstwerke wird einem besonders deutlich, was es mit der Individualität für eine Bewandtnis hat. Man stelle noch so viel Kausalreihen her, weise noch so viel Beziehungen nach: nie wird man das Eigentliche fassen; irgendein geringfügig scheinender Umstand falle weg, und das Wesen erscheint alsbald verwandelt. Dies spricht wenig zugunsten der metaphysischen Wirklichkeit des Individuums; wie sollte etwas metaphysisch wirklich sein, was so augenscheinlich von empirischen Verhältnissen abhängt? Es beweist andrerseits jedoch die Absolutheit des Phänomens. Dieses ist schlechterdings einzig, auf nichts anderes und Äußeres zurückzuführen. Und manchmal, zu Zeiten platonisierender Stimmung, neige ich zum Glauben, daß es insofern an Metaphysisch-Wirklichem doch teil haben könnte. Ein bestimmter Aspekt des ewigen Geistes kann nur unter bestimmten empirischen Bedingungen sichtbar werden. Diese Bedingungen als solche sind nichts Wesenhaftes, und in ihnen erschöpft sich das Individuelle. Allein der Geist, der es beseelt, existiert an sich selbst, gleichviel, ob und wie er sich äußert. So mag das Urbild des Taj von Ewigkeit her die Welt der Ideen geziert haben.

 

Ist es, weil italienische Architekten für das Wunder des Taj mit verantwortlich sind, daß meine Gedanken nach dem fernen Italien hinüberschweifen? Oder wegen des renaissanceartigen Charakters der Mogulkultur? – Wohl aus letzterem Grunde. Diese Kultur bedeutet recht eigentlich dasselbe, wie das Rinascimento in Italien vom 15. bis zum 17. Jahrhundert.

Das heißt, sie bietet ein gleich großes Rätsel. Mir ist es immer unklar geblieben, wie einsichtsfähige Menschen wähnen können, die Renaissance begriffen zu haben, indem sie feststellen, daß diese auf das Neuanknüpfen mit dem klassischen Altertum zurückgeht. Wie kommt es, daß dieses Neuanknüpfen so Ungeheures zur Folge gehabt hat – nur damals (denn zerrissen war der Zusammenhang nie), nur auf einige Jahrhunderte und nie wieder? Wie kommt es, daß die Italiener nur um diese eine Zeit des Größten fähig waren? Biologisch sind sie heute noch die gleichen; sie sind nicht im mindesten entartet; noch immer ist wahr, was Alfieri behauptete, daß die Pflanze Mensch nirgends auf Erden besser gedeihe, als in Italien. Die Italiener von heute sind künstlerisch genau so begabt wie ihre Vorfahren: warum waren sie nur im Renaissancezeitalter groß? Damals kam offenbar ein »Geist« über sie, wie er ähnlich zur Zeit der großen Mogulkaiser über die Künstler Indiens gekommen ist; die empirischen Konstellationen waren derart, daß sie einem »Geiste« zum Ausdrucksmittel werden konnten.

Was das heißt, weiß ich selber nicht; seit Jahren ringe ich mit dem Problem. Aber der Tatbestand steht außer Frage: Höheperioden der Kultur, gleich der Renaissance, sind aus den nachweisbaren Kausalreihen nicht restlos zu erklären. Sie sind qualitativ verschieden von dem, was ihnen voranging und auf sie folgte. Sie verdanken ihr Dasein letztlich einem spirituellen Influx, der unverkennbar den Charakter der »Gnade« trägt. Diese Gnade verwandelt zeitweilig alle Natur. Ist aber ihr Quell versiegt, dann hilft keine Anstrengung mehr und kein Talent. Seit der Hochrenaissance ist es abwärts gegangen in Italien mit der künstlerischen Kultur, trotz aller Genies, die wieder und wieder geboren wurden, und heute besitzen die Italiener von allen Völkern vielleicht am wenigsten schöpferischen Geschmack, obgleich sie noch immer die Kunstbegabtesten sind. Was bedeutet das? – Ich weiß es nicht. Aber seit ich den Taj gesehen, kommen mir allerhand kuriose Gedanken über das Verhältnis von Erscheinung und Sinn. Eine kleine Verschiebung innerhalb der empirischen Verhältnisse, und der Taj wäre nicht das Wunder, das er ist. Die richtigen können leicht durch Zufall gefunden worden sein. Eine geringfügige Veränderung in Wortwahl und Syntax verwandelt eine Trivialität zum Urwort und umgekehrt; eine versehentlich gezogene Linie, ein von ungefähr aufgesetzter Farbenfleck gibt dem Bild einen unnachahmlichen Ausdruck. Und dieser Ausdruck ist doch das Eigentliche, das, worauf der ganze Wert der Gioconda z. B. beruht. Sollte zwischen Notwendigkeit dem Geiste nach und empirischer Zufälligkeit ein geheimer Zusammenhang bestehen? So daß es einer Notwendigkeit entspricht vor Gott, wenn zufällig auf Erden ein Genie ersteht, zu bestimmter Zeit in die Geschichte eingreift, von ungefähr eine bestimmte Linie zieht? – Ich weiß nichts Bestimmtes, so vieles ich ahne. Aber durch die unmittelbare Manifestation eines selbständigen Sinnes allein scheinen mir die Wunder der Renaissance- und der Mogulenkunst erklärbar.

 

Ich verstehe gut, daß den meisten Europäern die Residenzen der Mogulkaiser als das Sehenswerteste von ganz Indien erscheinen; denn die meisten interessiert doch nur das, was zu ihrem Individuum in unmittelbarer Beziehung steht. Diese Welt ist unmittelbar verständlich, man kann sich heimisch in ihr fühlen; sie ist überdies so reizvoll, wie wenige andere. Mich aber zieht es aus ihr fort. Was soll ich inmitten dieser Schätze? Anregen tut mich ihr Anblick nicht, dazu ist mir ihr Geist zu verwandt. Und um inmitten dieser Kunst dahinzuleben, ist sie zu groß. Sie störte mich auf allen meinen Wegen. So könnte ich auch in Florenz nicht existieren, wo der vollendete Geist des Quattrocento alles Wollen des Novecento entmutigt. Aber Florenz besuche ich doch immer wieder, und jedes neue Mal lieber als vorher, weil dort die sichtbare Schönheit die Blüte des Geistes bezeichnet, eben das bedeutet, wie die platonisierende Philosophie der gleichen Zeit. Wenn ich den Glockenturm Giottos betrachte, offenbart sich mir die gleiche Vernunftqualität, die im Humanismus ihren abstrakten Ausdruck fand, und betrete ich die Mediceerkapelle, so spüre ich gar die Gegenwart eines Genies, der unter anderen Bedingungen die Welt hätte erschaffen können. In Florenz hat alle Kunst einen tiefen metaphysischen Sinn, der noch ihre verstiegensten Ausläufer durchgeistigt. Der indisch-mohammedanischen Kunst geht solcher ab. So kann sie meiner Seele nichts geben.

Je mehr Kunst ich sehe, die nichts als Kunst ist, desto stärker tritt mir meine Anlage ins Bewußtsein, welche die Kunst nur als unmittelbaren Ausdruck von Metaphysisch-Wirklichem zu würdigen weiß. Wahrhaft große Kunst sagt mir insofern wohl mehr, als der Mehrzahl ihrer Verehrer, aber der Kleinkunst kann ich nicht gerecht werden, und als Werk der Kleinkunst gilt mir so manches Meisterwerk. Zumal das Dekorative läßt mich kalt. Die Zierlichkeit, die Anmut der Arabeske hat keinen tieferen unmittelbaren Hintergrund als den erlesenen Geschmack ihres Erfinders; und ich wüßte nicht, inwiefern es mich angehen sollte, daß ein bestimmtes Menschenkind Geschmack besessen hat. Natürlich beweist dies bloß meine Beschränktheit, nicht den Unwert des Dekorativen. Ohne Zweifel ist dieses oberflächlichen Charakters, und Sansovino Michelangelo zu vergleichen, ist lächerlich. Aber nicht das Tiefe allein hat Daseinsberechtigung. Sonst weiß ich das Oberflächliche auch zu schätzen, nur im Falle der Kunst vermag ich's nicht, und dies beweist, daß gewisse Organe mir fehlen. Es beweist vor allem Mangel an Kultur. Die Gründe für diesen liegen nicht fern: nirgends wohl in Europa weht eine unkünstlerischere Luft als in meiner Heimat; so hat mir die Kinderstube gefehlt, dank der mir gleichgestellte Florentiner wie selbstverständlich Geschmack und Freude am Schein besitzen. Es ist hiermit wie mit jedem Vorzug der Geburt: der Vorsprung, den er gewährt, ist ein absoluter Vorsprung, den nur produktive Befähigung einholen kann. – So freue ich mich, demnächst in Benares anzulangen. Dort werde ich mehr in meinem Elemente sein.


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